Zwischen biologischem Determinismus und konstruktivem Autismus liegt ein weites Feld

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

Ähnliche Themen

Die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) ist ein Unglück für die Rechtssoziologie

Vor mir liegt ein neues Buch von Hubert Treiber: Max Webers Rechtssoziologie – eine Einladung zur Lektüre, Harrassowitz Verlag Wiesbaden, 2017. Ich vermute einmal, dass es ein interessantes Buch ist, denn Treiber ist (nicht nur) ein ausgewiesener Weber-Kenner. Aber der Titel des Buches wirkt wie blanke Ironie. Eine Einladung zur Lektüre sollte an erster Stelle eine handliche und zugängliche Textausgabe benennen. Treiber benutzt – selbstverständlich, würden die Editoren sagen – die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG). Die aber ist für Normalos nicht verfügbar und, wenn sie sie denn entliehen haben, ungenießbar.

Die seit 1984 erscheinende MWG ist noch immer nicht ganz abgeschlossen. Schon seit längerem liegen aber 24 der 25 Bände von Teil I (Schriften und Reden) vor. Die Bandzählung täuscht, denn mehrere Bände sind in Teilbände aufgespalten, so insbesondere auch Band I/22, der Webers eigene Beiträge zu dem »Grundriß der Sozialökonomik« enthält, die unter dem Titel »Wirtschaft und Gesellschaft« (WuG) vertraut sind. Der Teilband I/22, 3 mit dem Untertitel »Recht«, hg. von Werner Gephart und Siegfried Hermes, ist 2010 erschienen.[1] Er umfasst 842 Seiten und eine Einlage und kostet 319 EUR. Der eigentlich interessierende Text, der bisher als Webers Rechtssoziologie geläufig war, ist hier von S.191-247 und von S. 274-639 abgedruckt. Die Lektüre ist trotz der erfreulich großen und gut lesbaren Drucktype wegen der doppelten Serie von editorischen und kommentierenden Fußnoten kein Vergnügen, zumal den Texten keine Gliederung vorangestellt wird.

So verdienstvoll die Gesamtausgabe auch sein mag[2], sie hat den kontraproduktiven Effekt, dass der Zugang zu Weber für den Durchschnittsleser erschwert ist, ohne dass dem ein entsprechender Mehrwert gegenübersteht. Zuvor wurde »Wirtschaft und Gesellschaft« vornehmlich in den von Johannes Winckelmann besorgten Ausgaben, zuletzt in der 5. Auflage von 1972, als einheitliches Werk rezipiert. Das gilt erst recht für die Kapitel VI (Die Wirtschaft und die Ordnungen) und VII (Rechtssoziologie) von WuG Teil II, die Winckelmann 1960 in einem eigenen Band als »Rechtssoziologie« herausgegeben hatte, und die seither Max Webers Rechtssoziologie im engeren Sinne bilden.

Die Gesamtausgabe hat diese Einheit zerrissen, und »kritisch« vorgeführt, dass es sich bei den überkommenen Editionen von WuG um »unterschiedliche Zusammenstellungen von heterogenen Textbeständen«[3] handelt. Die von Winckelmann als »Rechtssoziologie« herausgegebenen Teile von WuG stammen schon aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im Erstdruck von WuG bildeten sie Teil 2 Kapitel VI (»Die Wirtschaft und die Ordnungen«) und VII. Nun werden sie auseinanderdividiert. Kapitel VII, das im Erstdruck als »Rechtssoziologie (Wirtschaft und Recht)« firmierte, erhält den Titel »Entwicklungsbedingungen des Rechts« und wird zur »so genannten« Rechtssoziologie, zur Rechtssoziologie in Anführungszeichen.

Das Wissenschaftlergewissen verlangt eigentlich, nun auf die kritisch edierten Texte zurückzugehen. Aber das erfordert unverhältnismäßige Anstrengung. An die Stelle eines handlichen Bandes mit 280 Seiten Weber-Text sind die fünf Teilbände von MWG Band I/22 mit 3273 Seiten getreten. Dazu kommen noch die Bände I/23 (Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie), I/24 (Entstehungsgeschichte und Dokumente) und I/25 mit dem Gesamtregister. Verwirrender noch wird die Sache durch eine sechsbändige »Studienausgabe« von MWG I 22 und 23 mit noch einmal anderer Seitenzählung. Sie hat insgesamt 16 Bände, sechs davon für WuG. Wer soll das lesen oder sich darin auch nur zurechtfinden? Der Verlag selbst gibt die Antwort mit einem Zitat aus einer Rezension von Dirk Kaesler: »Max Weber-Schriftgelehrte«[4]. Für alle anderen ist die MWG schlicht überflüssig. Sie ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich, weil sie, was inzwischen drei ganze Generationen von Wissenschaftlern aussortiert haben, wieder aus der Müllhalde der Geistesgeschichte hervorholt. Mir ist bisher kein Fundstück untergekommen, welches das für die Rechtssoziologie rezipierte Weberbild wesentlich verändert. Ich bin gespannt, ob Treiber mich eines Besseren belehren wird (wiewohl das kaum seine Absicht war).

Die Kritik an der Editionspraxis von Marianne Weber und später von Johannes Winckelmann[5] betrifft in erster Linie die Zusammenstellung von Texten aus verschiedenen Schaffensperioden als einheitliches Werk unter dem Titel »Wirtschaft und Gesellschaft«. Die heute als Rechtssoziologie geläufigen Abschnitte von WuG waren, von Überarbeitungen und Ergänzungen im Manuskript abgesehen, schon 1913 abgeschlossen. Das spricht dafür, weiterhin die Winckelmann-Ausgaben zu benutzen, zumal Winckelmann seit 1958 das Originalmanuskript der Kapitel I und VII von WuG Teil 2 zur Verfügung hatte.[6] Wer die Winckelmann-Ausgabe nicht zur Hand hat, ist mit der bei Zeno.org online verfügbaren, von Marianne Weber besorgten Erstausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft (WuG) gut bedient. Besser noch die Druckausgabe, die man sich im Internet Archive herunterladen kann. Ich zitiere sie hier und sonst als WuG 1922.

Winckelmann wird vorgeworfen, dass er eigenmächtige Änderungen und Ergänzungen an den ihm verfügbaren Texten vorgenommen habe. Auch die Herausgeber von I/22, 3 MWG scheuen Ameliorationen nicht ganz. Was einmal Kapitel VII von WuG war, steht in MWG I/22, 3 (S. 274-639) unter der Überschrift »Entwicklungsbedingungen des Rechts«. Die Begründung der Editoren für diese Wahl[7] ist wenig überzeugend. Der alte Titel war besser begründet, hatte Weber doch selbst auf diese Texte als »Rechtssoziologie« verwiesen. Die neue Überschrift trägt nur einem von drei Aspekten des Textes Rechnung. Die Entwicklungsbedingungen sind sogar eher sekundär im Verhältnis zu dem Rationalisierungskonzept und dem damit verbundenen Stufenmodell. Den »thematischen Kern« trifft sie daher nicht. In summa ist die MWG zur Hürde für alle geworden, die sich auf die Schulter des Riesen stellen wollen.

Ich bin kein Weber-Kenner und will auch keiner werden. Aber selbstverständlich kann ich mir eine Rechtssoziologie ohne Max Weber nicht vorstellen.[8] Im Hinterkopf habe ich dabei noch immer das Modell einer »kumulativen Erkenntnisentwicklung«, mit dem ich anscheinend nicht völlig vereinsamt bin.[9] In einem weiteren Sinne gehört dazu allerdings viel mehr als Webers Rechtssoziologie im engeren Sinne; dazu gehören der Grundsatz der Wertfreiheit der Wissenschaft, die individualistisch und handlungstheoretisch einsetzende verstehende Soziologie mit ihren Grundbegriffen, die Lehre von den Idealtypen, Herrschaftssoziologie und Bürokratietheorie. Für den Rechtssoziologen, der nicht zum Weber-Schriftgelehrten mutieren will, sind insoweit neben der WuG 1922 die gleichfalls längst im Internet verfügbaren Erstdrucke der fünf Bände mit »Gesammelten Aufsätzen« ausreichend. Dort findet man insbesondere den Objektivitätsaufsatz von 1904[10], die Stammler-Kritik von 1906[11] und den Kategorienaufsatzes von 1913[12], der auch als Logos-Aufsatz geläufig ist.

_________________________________________________________

[1] Ausführlich zu diesem Band François Chazel, Max Webers »Rechtssoziologie« im Lichte der Max Weber Gesamtausgabe, ZfRSoz 33, 2012/13, 151-173; Hubert Treiber, Zu Max Webers »Rechtssoziologie«. Rezensionsessay zur Max Weber-Gesamtausgabe (MWG I/22-3), Sociologia Internationalis 49, 2011, 139-155.

[2] Nicht zuletzt, weil sie eine Flut neuer Sekundärliteratur ausgelöst hat, gespeist vor allem von den vielen an der Edition beteiligten Wissenschaftlern.

[3] MWG Hinweise der Herausgeber, MWG 22-3, S. XII.

[4] Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101, 2014, 218-219.

[5] Grundlegend Friedrich H. Tenbruck, Abschied von Wirtschaft und Gesellschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 133, 1977, 703-736 (Besprechung der 5. revidierten Auflage von WuG mit textkritischen Erläuterungen von Johannes Winckelmann).

[6] Marianne Weber schenkte es nach dem Erstdruck von WuG 1922 Karl Löwenstein, der zum Heidelberger Weberkreis gehört hatte (und der sich nach 1945 gegen die gegen die insbesondere von Wolfgang J. Mommsein in die Welt gesetzte These wandte, Weber sei mit seinem Konzept der charismatischen Herrschaft ein Wegbereiter Hitlers gewesen). Dazu Winckelmann, Vorbericht zu Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, 50ff.

[7] MWG I/22-3 S. 141f.

[8] Wie ich sie mir mit Max Weber vorstelle, zeige ich auf Rechtssoziologie-online.de.

[9] Gert Albert, Weber-Paradigma, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, 2009, 517-554, S. 517. Da stand wohl doch ziemlich lange die Autorität Tenbrucks im Wege, der Webers Schritt (oder Sprung) von der Kulturwissenschaft im Objektivitätsaufsatz von 1904 zur Soziologie in den »Grundbegriffen« von 1921 nicht nachvollziehen wollte oder konnte (Friedrich H. Tenbruck, Das Werk Max Webers: Methodologie und Sozialwissenschaften, KZfSS 38,1984, 3-12; mehrfach nachgedruckt).

[10] Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, meistens zitiert nach: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 6. Aufl. 1985, 146-214.

[11] R. Stammlers »Überwindung« der materialistischen Geschichtsauffassung. Besprechung von Rudolf Stammlers »Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung«, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 22, 1906, 143-207,

[12] Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, Logos IV, 1913, 253-294.

Ähnliche Themen

Bourdieus Ethnologie der Beischlafpositionen

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

Ähnliche Themen

Woran erkennt Bourdieu männliche Herrschaft?

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

 

Ähnliche Themen

Warum befolgen wir Recht? Eindrücke von einer Tagung in Heidelberg

Am 26. und 27. März gab es in Heidelberg eine Tagung unter der Überschrift »Warum befolgen wir Recht? Rechtsverbindlichkeit und Rechtsbefolgung in interdisziplinärer Perspektive«.[1] Sie wurde ausgerichtet von zwei Heidelberger Habilitanden, Patrick Hilbert und Jochen Rauber. Die Veranstalter hielten sich mit ihren eigenen Arbeiten und Themen dezent im Hintergrund und sorgten mit einer sachlichen Einleitung, am Ende mit einer gekonnten Zusammenfassung und mit perfekter Organisation für gutes Gelingen. Auch die etwa 35 geladenen Teilnehmer waren überwiegend Habilitanden aus juristischen Fakultäten. Unter ihnen war neben dem offiziellen Programm Netzwerkpflege angesagt.

Den Eröffnungsvortrag hielt Doris Lucke aus Bonn. »Wirkungsforschung ist überall«, konstatierte sie ganz am Anfang. Aber die Tagung über Gesetzesevaluation und Wirkungsforschung, die fast genau ein Jahr früher am Wissenschaftszentrum in Berlin stattgefunden hatte, war und blieb in Heidelberg ebenso unbekannt wie das einschlägige Buch von Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior von 2016. Frau Lucke machte gar nicht erst den Versuch, einen Überblick über die rechtssoziologische Forschung zur Befolgung von Recht zu geben, sondern öffnete elegant und interessant den Blick auf Fragestellungen, die sich angesichts von Ökonomisierung, Digitalisierung und Cyborgisierung auftun. Ihr kritischer Ansatz gegenüber dem »Humanozentrismus« und der »mechanisch-kausalen Denkwelt« der Wirkungsforschung wurde jedoch in den (immer lebhaften) Diskussionen nicht aufgenommen.

Der Obertitel der Tagung erinnert an Tom R. Tylers »Why People Obey the Law«. Tylers Name wurde in der Diskussion einmal beiläufig von Katharina Gangl erwähnt. In ihrem Vortrag über »Die Psychologie der Steuerehrlichkeit« ging sie auf die Motivation der Steuerbürger ein. Der Schwerpunkt des Referats lag bei möglichen Maßnahmen zur Beförderung der Steuerwilligkeit auf der von der von der OECD ausgegebenen Linie Managing and Improving Tax Compliance.

Danach verengte sich die Frage nach der Befolgung von Recht weiter auf ökonomische und/oder verhaltenswissenschaftliche Aspekte der Rechtsbefolgung. Nachdem Johannes Paha die ökonomische Perspektive sehr »rationalistisch« dargestellt hatte, wurde Anne van Aakens Vortrag über die »Befolgung des Völkerrechts« beinahe zur Gegendarstellung. Im Vergleich zu ihrem einschlägigen Aufsatz von 2013[2] betonte sie die Bedeutung der Verhaltensökonomik auch für das Völkerrecht und kündigte im Rahmen ihrer Humboldt-Professur in Hamburg »die Rechtstheorie ins Labor« zu bringen. Das Problem sah van Aaken in der Übertragbarkeit der an Individuen gewonnenen Einsichten auf Staaten als Akteure. Mit diesem Problem setzte sich das Paper von Cornelia Frank über den »unzulässigen oder gebotenen Anthropomorphismus« bei der Erklärung staatlichen Rechtsverhaltens auseinander, das aber nicht vorgetragen und diskutiert wurde, weil Frau Frank nicht anwesend war.

Am Ende nahm Johanna Wolff den verhaltenswissenschaftlichen Faden auf der Individualebene noch einmal auf, u. a. um zu erklären, dass es bei den heute so populären »nudges« nicht um die Förderung der Rechtsbefolgung gehe, sondern um paternalistische Fürsorge.[3] So ganz konnte ich ihr bei dieser Entgegensetzung nicht folgen, umso mehr allerdings bei ihrer Absicht, die verhaltenswissenschaftlich informierten Instrumente der Rechtspolitik zu typisieren und sie den verfolgten Zwecken gegenüberzustellen, um so zu einer Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit zu gelangen. In der Tat, »Nudging« ist inzwischen eher überstrapaziert.[4] Das Thema ist viel größer. Das zeigt der OECD-Band Behavioural Insights and Public Policy, 2017, auf den Wolff hinwies. (Der Band zeigt außerdem die große Bedeutung der OECD für Politikberatung und Rechtswirkungsforschung. Die OECD übernimmt international mehr und mehr die Rolle, die im nationalen Kontext die Bertelsmann-Stiftung usurpiert hat. Die Agenda dieser Institutionen wäre einmal eine eigene Tagung wert.)

Überrascht war ich von der von Jan Henrik Klement vorgetragenen These, eine wirksamkeitsorientierte Auslegung gehöre nicht in den Methodenkasten der Dogmatik, eine Auslegungsmodalität dürfe nicht verworfen werden, weil die Adressaten ihr nicht folgten. Immerhin hatte Eberhard Schmidt-Aßmann (zusammen mit Hoffmann-Riem) eine Neue Verwaltungsrechtswissenschaft konzipiert, die nach meiner Erinnerung durchaus auch auf »Wirkungs- und Folgenorientierung« abstellt[5]. Diese Heidelberger Erfindung kam überhaupt nicht zur Sprache. Ist es Zufall, dass sich Schüler des Schmidt-Aßmann-Nachfolgers zunächst von der »Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft« distanzieren[6] und sie dann ignorieren?

Andreas Funke unternahm den erfolgreichen »Versuch über die Möglichkeit, Rechtsbefolgung als Ausdruck personaler Autonomie zu denken«. Dazu stellte er dem »Gehorsamsmodell« des Rechts »Rechtfertigungsmodelle« gegenüber. Allein die Verbindung zwischen einer normativen Legitimation qua Rechtfertigung und der faktischen Rechtsbefolgung war nicht ohne weiteres ersichtlich. Zwei Stichworte, mit denen man die Verbindung vielleicht hätte herstellen können (mindset und Selbstanwendung) wurden nicht weiter ausgeführt. Mindset ist ja wohl ein psychologischer Begriff, und Selbstanwendung konnotiert mit Selbstmanagement und Selbstoptimierung.

Mich erinnerte die Entgegensetzung von Gehorsamsmodell und Rechtfertigungsmodell an eine alte Diskussion um imperatives und responsives Recht. Der Begriff des responsiven Rechts stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung des postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat vor vielen Jahren das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen.«[7] Responsivität könnte den Raum bezeichnen, den Funke den Normadressaten bei der Konkretisierung des Rechts zubilligen wollte. »Responsive Regulierung« bietet sich aber auch als Brückenbegriff für die verhaltensökonomischen Überlegungen an, die im Mittelpunkt der Heidelberger Tagung standen.[8] Solche Responsivität wird bisher vor allem für die Regulierung von Organisationen diskutiert. Dort ist der der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig geworden.

Auf Peter Rinderles Vortrag über »Rechtsverbindlichkeit und -befolgung aus (rechts-)philosophischer Perspektive« hätte ich mich durch die Lektüre seines Buches über den »Zweifel des Anarchisten« vorbereiten sollen. Habe ich aber nicht. So dauerte es, bis ich seine Ausführungen in die Schublade »Positivismusdebatte« einordnen konnte. (Ich bin und bleibe ein Schubladendenker.) Zunächst hatte ich einige Schwierigkeiten mit der Ausgangsthese, dass es um eine politische und damit auch eine moralische Verpflichtung unabhängig vom moralischen Inhalt der Rechtsnorm gehen solle. Bekanntlich besagt die Trennungsthese des Rechtspositivismus, dass es kein notwendiges moralisches Kriterium für die Geltung des Rechts gibt. Sie lässt aber offen, ob ein solches Kriterium möglich ist. Um ein solches rechtsexternes Kriterium schien mir Rinderle bemüht, genauer, nicht um ein singuläres Kriterium, sondern um eine Kombination von Argumenten, die selbst für »philosophische Anarchisten« eine »moralische Pflicht zur Nicht-Intervention in legitime Staaten« begründen soll. Neu für mich der Begriff des multiprinzipiellen Etatismus.

___________________________________________________________

[1] Tagungsprogramm.

[2] Anne van Aaken, Die vielen Wege zur Effektuierung des Völkerrechts, Rechtswissenschaft 4, 2013, 227-262.

[3] Dazu schon Johanna Wolff, Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtswissenschaft 6, 2015, 195-223.

[4] Zuletzt etwa Franziska Weber/Hans-Bernd Schäfer, »Nudging«. Ein Spross der Verhal-tensökonomie. Überlegungen zum liberalen Paternalismus auf gesetzgeberischer Ebene, Der Staat 56, 2017, 561-592. In der Diskussion tauchte noch eine frische, von Klement betreute Dissertation zum Thema auf.

[5] So eine Überschrift bei Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, 1-61, S. 28.

[6] Klaus Ferdinand Gärditz, Die »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« — Alter Wein in neuen Schläuchen?, Die Verwaltung, Beiheft 12, 2017, 105-145.-

[7] Gunther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP: Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie, 1982, 13-59, S. 14.

[8] Vgl. dazu etwa den Band Kilian Bizer/Martin Führ/Christoph Hüttig (Hg.), Responsive Regulierung. Beiträge zur interdisziplinären Institutionenanalyse und Gesetzesfolgenabschätzung, 2002.

Ähnliche Themen

Von der gesellschaftlichen Organisation der Zweigeschlechtlichkeit zur männlichen Herrschaft – führt bei Bourdieu kein Weg

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

Ähnliche Themen

Bourdieus Diagnose männlicher Herrschaft bei den Kabylen als normativer Rückschaufehler

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch istz jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

Nachtrag vom 19. 12. 2023: Auf die Frage, wsas unter einem normativen Rückschaufehler zu verstehen sei, antowrtet ChatGPT, als ob es meine Texte gelesen hätte:

Der Begriff “normativer Rückschaufehler” bezieht sich auf die Tendenz von Menschen, vergangene Ereignisse oder Entscheidungen rückblickend auf der Grundlage aktueller Normen, Werte oder Kenntnisse zu beurteilen. Dieser Fehler tritt auf, wenn man vergangene Ereignisse mit dem Wissen und den Maßstäben von heute betrachtet und dann Annahmen darüber macht, dass die damaligen Akteure die gleichen Informationen und Einsichten hatten.

Im Wesentlichen begehen Menschen den normativen Rückschaufehler, indem sie die Vergangenheit durch die Brille des gegenwärtigen Wissens und der aktuellen sozialen Normen betrachten. Das führt oft dazu, dass man Entscheidungen oder Handlungen von früheren Zeiten als unvernünftig oder fehlerhaft beurteilt, obwohl die damaligen Akteure möglicherweise nicht über das gleiche Wissen oder die gleichen Ressourcen verfügten.

Es ist wichtig zu beachten, dass der normative Rückschaufehler ein kognitives Verzerrungsmuster ist und nicht die tatsächliche Perspektive der Menschen in der Vergangenheit widerspiegelt. Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler berücksichtigen diesen Fehler oft, wenn sie versuchen, vergangene Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren.

Ähnliche Themen

Das Undenkbare denken: #Metoo in der Kabylei. Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Ähnliche Themen

Methodologischer Soziologismus und Genetic Turn

Wandern an sich ist langweilig. Aber angenehme Gesellschaft und ein nicht alltäglicher Weg, auf dem es etwas zu erforschen gibt, lässt es zum Vergnügen werden. Ich bin den Freunden dankbar, die mich jedes Jahr im August wieder zu einer Wanderung antreiben. In diesem Jahr sind wir nach dem Motto »Warum in die Ferne schweifen …« auf dem Wupperweg an der Quelle in Börlinghausen gestartet, um zu erforschen, wie die Wipper zur Wupper wird.

Bis zum Einbruch des Dauerregens zeigte sich das Bergische Land von seiner besten Seite, viele Stunden mit Wäldern und Auen ohne den Blick auf Windräder, Freileitungen oder Gebäude. Und obwohl Ferienzeit und die Großstädte von Dortmund bis Köln in weniger als einer Autostunde zu erreichen sind, war sonst absolut niemand unterwegs. Warum die Wipper zur Wupper wird, ist mir nicht ganz klar geworden. An diesem gewaltigen Zufluss wird es nicht liegen.

Zu entdecken war stattdessen eine nachhaltige Moderne in Gestalt von 15 Stauseen, die sich an der Wupper aufreihen. Sie sehen aus, als wären sie immer schon dagewesen, und tatsächlich sind sie fast alle schon über 100 Jahre alt. Wer genauer hinsah, konnte an den Anfangs- oder Endpunkten der Etappen auch einige von Deutschlands Hidden Champions entdecken, versteckt nicht nur zwischen den Stars und Skandalnudeln der Weltwirtschaft, sondern eben auch im Tal der Wupper.

Wenn man gemeinsam durch Wälder und Auen läuft, spricht man über viel Wichtiges und Unwichtiges. Ein Thema sind natürlich auch Kinder und Enkelkinder. Und alsbald waren da Beobachtungen über die Ordnungsliebe der einen, die noch die Krümel vom Tischtuch fegen, und die Unordnung der anderen, die von Kleidung und Frisur einmal abgesehen, jedenfalls im häuslichen Bereich alles um sich fallen lassen. Erklärungsversuche scheiterten zunächst daran, dass gerade auch unter Geschwistern das Verhältnis zur Ordnung als extrem variabel beschrieben wurde. Bis dann jemand einwarf: Meine Freundin hat gesagt, dass ihre Freundin, die Psychiaterin, immer gesagt habe, der Ordnungssinn liege in den Genen. Da habe ich natürlich (?) protestiert. Im Anschluss an die abendliche Bierphilosophie habe ich mir dann aber die Frage gestellt, ob ich vielleicht soziologisch verbildet bin und unter methodologischem Soziologismus leide.

Es ist heute verpönt, Verhaltens- und Charaktereigenschaften auf Anlagefaktoren zurückzuführen. Eine solche Argumentation gilt als biologistisch und, sobald sie geschlechtsspezifisch wird, als sexistisch, und sie hat gerade einen Google-Mitarbeiter seinen Job gekostet. Aber auf der anderen Seite beobachte ich derzeit Anzeichen eines genetic turn. Google kennt ihn zwar noch nicht. Aber Indizien sind nicht zu übersehen.

Im Bielefelder ZIF hat im vergangenen Jahr eine Forschungsgruppe Genetische und soziale Ursachen von Lebenschancen ihre Arbeit abgeschlossen. In der Beschreibung heißt es

»Neuere Forschungen belegen, dass soziale Ungleichheiten, soziale Mobilität und soziale Integration ebenso substantiell genetisch beeinflusst sind wie Persönlichkeits- und Fähigkeitseigenschaften. Daher sollte auf die ›Tabula rasa‹-Metapher, die insbesondere die sozialwissenschaftliche Forschung noch weitgehend leitet, für die Erklärung von Lebenschancen verzichtet und die Berücksichtigung genetischer Einflüsse integriert werden.«

Die DFG fördert seit 2014 ein Langzeitvorhaben Twin Life, das mit großem Aufwand die altbekannte Zwillingsforschung fortsetzt.[1] Es handelt sich um »eine auf zwölf Jahre angelegte repräsentative verhaltensgenetische Studie zur Entwicklung von sozialer Ungleichheit«. Die beiden Projekte sind nicht ganz unabhängig voneinander, weil in beiden der Bielefelder Soziologie Martin Diewald im Mittelpunkt steht. Sie zeigen aber doch, dass Behavioral Genetics auch für Soziologen[2] wieder zu einem Thema geworden ist.

Dazu kommt die Neubewertung der Epigenetik. Nach der klassischen neo-darwinistischen Theorie ist für das Evolutionsgeschehen ausschließlich die genetisch bedingte Variabilität von Bedeutung. Von epigenetischer Vererbung hält sie wenig.[3] Das hat sich inzwischen wohl geändert. Epigenetische Vorgänge beruhen auf biochemischen Prozessen, die den Zellen das Ablesen von bestimmten Teilen des genetischen Codes ermöglichen oder verhindern. Diese Prozesse wiederum werden auch von Umwelteinwirkungen beeinflusst. Sie sind anscheinend teilweise vererblich. Die Vererblichkeit ist aber reversibel. Sie reicht nur über eine oder wenige Generationen. Während also Diekmann und Engelhardt 1995 über die »soziale« Vererbung des Scheidungsrisikos sprachen[4], darf man heute über eine epigenetische Vererbung des Scheidungsrisikos (oder der Ordnungsliebe) spekulieren.

________________________________________________

[1] Dazu etwa Espen Røysamb/Kristian Tambs, The Beauty, Logic and Limitations of Twin Studies, Norsk Epidemiologi 26, 2016, 35-46.

[2] Für Genetiker und Psychologen war es immer ein Thema; vgl. Robert Plomin/John C. DeFries/Valerie S. Knopik/Jenae M. Neiderhiser, Behavioral Genetics, 6. Aufl. 2013. dies., Top 10 Replicated Findings From Behavioral Genetics, Perspectives on Psychological Science 11, 2016, 3-23.

[3] Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008; S. 62.

[4] Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.

Ähnliche Themen

Stand und Perspektiven der Rechtswirkungsforschung in der Rechtssoziologie

Hier die (leicht ergänzte) Inhaltsübersicht zu meinem Vortrag auf der Veranstaltung im WZB:

Download (PDF, 162KB)

Ähnliche Themen