Frege und die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften

Die traditionelle Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften hat an Bedeutung verloren. Man orientiert sich eher an der Unterscheidung zwischen sciences und humanities und differenziert letztere in Lebens- und Kulturwissenschaften. Moderne Rechtswissenschaft ist durch die Vielfalt ihrer Ansätze gekennzeichnet. Dennoch bleibt die Einordnung der Jurisprudenz als Geisteswissenschaft so zentral, dass die Frage nach Gegenstand und Methode der Geisteswissenschaften jedenfalls aufgeworfen werden muss, auch wenn keine definitive Antwort in Ausicht steht.

Es liegt nahe, Gedankeninhalte als solche, also unabhängig von ihren Trägern, als objektiven Geist zu kennzeichnen. Diese Benennung ist gefährlich. Sie lässt sich nicht verwenden, ohne dass Hegel in den Sinn kommt, der bekanntlich in seiner »Philosophie des Geistes«, dem Dritten Teil der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«, zwischen subjektivem, objektivem und absolutem Geist unterschied. Objektiver Geist ist bei Hegel mehr als ein bloßer Gegenstand der Betrachtung. Er bezeichnet das einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder einem Volk gemeinsame Überindividuelle, das im Bewusstsein der Menschen auch als deren »subjektiver Geist« präsent sein kann, das aber zugleich »objektiv« im Sinne von vernünftig, richtig und historisch notwendig sein soll. Recht, Staat und Sittlichkeit bilden für Hegel geradezu das Dasein des Geistes, auf das sich die Geisteswissenschaften richten.[1]

Philosophen unterscheiden Immanenz und Transzendenz. Unter Immanenz wird die erfahrbare Welt verstanden, während Transzendenz ein Jenseits bezeichnet, zu dem Menschen nur im Gedankenflug Zugang haben. Dieser Ausgangspunkt legt eine dualistische Unterscheidung von Leib und Seele, Natur und Geist nahe. Das wäre der berühmte oder berüchtigte cartesianische Dualismus. Im 19. Jahrhundert beförderten die enormen Erfolge der Naturwissenschaften die Vorstellung, dass auch Gesellschaft und Geist naturwissenschaftlich erklärt werden könnten. Aus dem Dualismus schien ein psychologischer Monismus (Materialismus, Physikalismus) zu werden. Die Philosophie sah sich vor der Frage, ob die Geisteswissenschaften neben Soziologie und Psychologie noch einen Platz behaupten könnten.

Nicht alles ist Psyche oder »Vorstellung«, meinte der Mathematiker Gottlob Frege:

»Sonst enthielte die Psychologie alle Wissenschaften in sich oder wäre wenigstens die oberste Richterin über alle Wissenschaften. Sonst beherrschte die Psychologie auch die Logik und die Mathematik.«[2]

»Gedanken« haben Inhalte, die bestehen bleiben, wenn sie von ihren menschlichen Trägern losgelöst (abstrahiert) werden. Frege schrieb deshalb:

»Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden.«[3]

So postulierte Frege mit dem dritten Reich der Gedanken oder des Geistes einen ontologischen Trialismus. Fast gleichzeitig, aber unabhängig von Frege entwickelten die Juristen Gustav Radbruch und Hermann Kantorowicz einen Trialismus eigener Art.

Als Neukantianer lösten Radbruch und Kantorowicz das Problem des psychologischen Monismus, indem sie einen Methodendualismus postulierten. In einer Formulierung des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der sich dazu in der ersten Fußnote (auf S. 91) auf »die philosophischen Lehren Windelbands, Rickerts und Lasks« bezogen hatte:

»Die Kantische Philosophie hat uns über die Unmöglichkeit belehrt, aus dem, was ist, zu schließen, was wertvoll, was richtig ist, was sein soll. … Sollenssätze, Werturteile, Beurteilungen können nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur auf andere Sätze gleicher Artgegründet werden. … Das ist das Wesen des Methodendualismus[4]

Radbruch ging also nicht »ontologisch« von einem besonderen Objektbereich der Geisteswissenschaften aus, sondern hob auf die Methode des Umgangs der Wissenschaft mit ihrem Gegenstand ab. So sollte der Gegenstand der Wisssenschaft aus der Methode entstehen.[5] (Bald darauf wird es besonders Hans Kelsen sein, der immer wieder betont, dass die Methode ihren Gegenstand konstituiere.)

Um die Methode ging es auch Hermann Kantorowicz. Auch er behandelte Sein und Sollen als grundsätzlich verschiedene Bereiche, die unterschiedlicher Methoden zu ihrer Erforschung bedürfen. Klar war, dass das Sein (auch des Rechts) der Empirie zugänglich ist. Klar war auch, dass sich aus dem Sein keine Sollenssätze ableiten lassen. Problematisch blieb damit, wie denn mit Rechtssätzen als Sollenssätzen überhaupt wissenschaftlich umgegangen werden könnte. Für Radbruch galt:

»Sollenssätze sind nur durch andere Sollenssätze begründbar und beweisbar. Eben deshalb sind die letzten Sollenssätze unbeweisbar, axiomatisch, nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig.«[6]

Wegen dieses Bezugs auf verschiedene wissenschaftlich nicht belegbare Endpunkte spricht man von Relativismus. Wenn man jedoch von bestimmten höchsten Werten ausgeht, lässt sich immerhin systematisch = wissenschaftlich entwickeln, wie das Recht gestaltet werden soll und die Rechtswirklichkeit daraufhin überprüfen, ob sie den vorausgesetzten Wertenfolgt. Das ist die Lehre des systematischen Relativismus.

Aus dem Methodendualismus wurde bei Radbruch später ein »Trialismus der Betrachtungsweisen«, den er allerdings nur andeutete:

» … daß … mit der bloßen Antithese von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Wert nicht auszukommen ist, daß vielmehr zwischen Wirklichkeitsurteil und Wertbeurteilung die Wertbeziehung, zwischen Natur und Ideal der Kultur ihr Platz gewährt werden muß: die Rechtsidee ist Wert, das Recht aber wertbezogene Wirklichkeit, Kulturerscheinung. So wird der Übergang vollzogen von einem Dualismus zu einem Trialismus der Betrachtungsweisen. … Dieser Trialismus macht die Rechtsphilosophie zu einer Kulturphilosophie des Rechts.«[7]

In einer Fußnote bezog Radbruch sich u. a. auf Emil Lask und Kantorowicz. Bei Lask ist zu einem Trialismus nichts zu finden[8]. In seiner »Rechtsphilosophie« heißt es nur, »aller Streit um die bloße Methodologie« werde »erst in einem System überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung« finden[9]. Bei Kantorowicz ist dagegen zu lesen:

»Jeder Gegenstand der Erkenntnis, und so auch der Staat, kann auf die grundlegend verschiedene Weisen betrachtet werden: er muß sich als ein Stück Wirklichkeit erfahren, als ein Sinngebilde konstruieren, auf seinen Wert hin beurteilen lassen. … Dies ist die erkenntnistheoretische Grundlage, von der ich ausgehe; man kann sie als Drei-Weltenlehre oder erkenntnistheoretischen Trialismus bezeichnen.«[10]

Ausführlicher erklärt Kantorowicz seinen Trialismus – ohne diesen Begriff zu verwenden – in einem Aufsatz von 1928:

Bezüglich ihres Gegenstandes können die Wissenschaften in drei Gruppen eingeteilt werden: 1. Wirklichkeitswissenschaften, 2. Sinneswissenschaften, 3. Wertwissenschaften. … Ein Rechtsanwalt erklärt seinen Klienten: ›1. Ihr Fall fällt unter ein veraltetes, aber wenn es richtig ausgelegt wird, noch geltendes Gesetz, und Sie müßten den Prozeß daher eigentlich gewinnen. 2. Dieses Gesetz steht jedoch im Widerspruch zu unseren modernen Ansichten und erscheint daher ungerecht. 3. Also wird der Richter Braun, den ich zufällig kenne, das Gesetz so eng auslegen, daß Sie den Prozeß verlieren werden.‹ Hier befaßt sich der erste Satz mit dem Sinn, der zweite mit dem Wert und der Dritte mit der Wirklichkeit.«[11]

»Geist« findet man sicher in der »Welt des Sinnes (objective meaning), die ausschließlich aus »Sinngebilden (ideal‹ things)« bestehen soll. Aber auch »Werte« erscheinen uns, anders als die Werturteile konkreter Menschen, als »geistige« Phänomene. Kantorowicz verwendet an dieser Stelle einen weiten Wertbegriff:

»Die Welt der Werte umfasst den logischen (oder theoretischen) Wert der Wahrheit, den ästhetischen Wert der Schönheit und die ethischen (oder praktischen) Werte der Sittlichkeit, der Gerechtigkeit, der Sittsamkeit usw.«[12]

Diese Gleichstellung von Wahrheit mit Schönheit und Gerechtigkeit macht die Sache schwierig. Schwieriger noch wird, es, wenn Kantorowicz für die Werte objektive und notwendige Geltung postuliert. Von den Werten heißt es nämlich weiter, sie seien, anders als Sinngebilde,

»nicht …ohne Beziehung zur Wirklichkeit, sondern positiv oder negativ mit ihr verbunden, d. h., sie sollten oder sie sollten nicht verwirklicht werden. Dies ›Dasein-sollen‹ (ought-to-being), diese Geltung (validity) der Werte ist eine objektive und notwendige, d. h. die Werte sind gültig unabhängig von unserem Wissen und unserem Willen. … Die objektive Gültigkeit der Werte schließt jedoch nicht ihre Allgemeingültigkeit in sich, d. h. sie hat nicht für alle gleich bindenden Charakter. Die Allgemeingültigkeit ist freilich gewiß im Falle des theoretischen Wertes, da mehr als eine Wahrheit logisch undenkbar ist. Doch sie ist nur wahrscheinlich im Falle des ästhetischen Wertes und höchst unwahrscheinlich im Falle praktischer Werte. Daher ist die Gültigkeit praktischer Werte nur eine relative … .«[13]

Zum Umgang mit den praktischen Werten erläutert Kantorowicz anschließend, was wir bei Radbruch als systematischen Relativismus kennen gelernt haben. Das Verhältnis des Trialismus zum Methodendualismus wird daraus aber nicht klar. Er erschließt sich vielleicht, wenn man Radbruchs Lehre von der Rechtsidee dazwischenschaltet.[14] In dem Radbruch-Zitat von S. 128 hieß es, die Rechtsidee sei der Wert. Eine Seite zuvor las man, Recht sei »die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen«. »Gerechtigkeit« heißt in diesem Zusammenhang nur, dass das Recht einen Wertbezug hat, nicht aber welchen. Der Trialismus soll dann diesen Wertzusammenhang für verschiedene Gerechtigkeitskonzepte ausbuchstabieren und fällt damit unter den systematischen Relativismus.

Aus heutiger Sicht erscheint bemerkenswert, dass Radbruch und Kantorowicz nicht auf die Drei-Welten-Lehre Gottlob Freges Bezug zu nahmen, die sie anscheinend gar nicht kannten. Auch die heutigen Interpreten von Radbruch und Kantorowicz wie Muscheler,[15] Auer[16], Saliger[17]oder Zhao[18] stellen diesen Bezug nicht her. Umgekehrt erwähnt ein neues Buch von Neves, das sich ausführlich auf Freges Drei-Welten-Lehre stützt, weder Radbruch noch Kantorowicz (und auch nicht Popper).[19] Eine Erklärung bietet vielleicht der Umstand, dass Kantorowicz und Radbruch ihren Trialismus ausdrücklich nicht als ontologisch, sondern als erkenntnistheoretischen oder Methodentrialismus einordneten, während Freges Trialismus ontologisch zu sein scheint. Aber was bleibt von der objektiven und notwendigen Gültigkeit der praktischen Werte, wenn ihnen die Allgemeingültigkeit abgesprochen wird? Doch wohl nur ein ontologischer Status in der Transzendenz. Daher ist der Abstand zu Frege wohl doch nicht so kategorial. So hat der Germanist Friedrich Vollhardt kein Problem damit; die Erkenntnistheorie Heinrich Rickerts, (auf die Radbruch und Kantorowicz sich beziehen) mit Freges Ansatz zu vergleichen.[20] Was bei letzterem zur »dritten Welt« gehört, erscheint bei Rickert als eine Art transzendentaler Wirklichkeit. Deshalb hier noch einmal die Frage: Wo bleibt der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaft.

Freges Drei-Welten-Lehre ist insofern eng, als sie als »Gedanken«, die jenseits von Natur und Psyche eine eigene Wirklichkeit bilden, nur wahrheitsfähige Sätze anerkennt. Damit bleiben wesentliche Aspekte des Rechts außerhalb der drei Wirklichkeiten. Hier hilft eine Erweiterung der Lehre Freges durch Karl R. Popper: Danach

»… besteht die Welt aus mindestens drei ontologisch verschiedenen Teilwelten; oder, wie ich sagen werde, es gibt drei Welten: Die Welt 1 ist die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen Zustände; die Welt 2 ist die geistige Welt, die Welt unserer psychischen Erlebnisse (Wünsche, Hoffnungen, Gedanken …), die Welt 3 ist die Welt der intellegibilia oder der Ideen im objektiven Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens, die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der gültigen Argumente an sich und die Welt der ungültigen Argumente an sich, die Welt der Problemsituationen an sich.«[21]

Poppers Welt 3 ist weiter als die dritte Welt Freges.

»By world 3 I mean the world of the products of the human mind, such as languages; tales and stories and religious myths; scientific conjectures or theories, and mathematical constructions; songs and symphonies; paintings and sculptures. But also aeroplanes and airports and other feats of engineering.«[22]

Freges dritte Welt – das sind in der Sprache Poppers die nicht materialisierten Gegenstände, also mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten, die gelten, unabhängig, ob sie schon entdeckt worden sind. Poppers Welt 3 dagegen ist ein Produkt menschlichen Verstandes.[23] Dort finden sich Gegenstände, die einmal als Kulturerzeugnisse »materialisiert« waren: Theorien, Sprache, Literatur, Kunstwerke. Auch Rechtsnormen snd hier zu finden. Popper nennt die amerikanische Verfassung (Tanner Lecture S. 145). Popper bezweifelt zwar am Ende der Tanner Lecture, dass Computer denken können. Aber künstliche Intelligenz oder vielmehr die ihr zugrunde liegende Software müsste in Poppers Welt 3 gehören.[24]

»Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt, noch abstrakter als physikalische Kräfte, aber nichtsdestoweniger wirklich … .«[25]

In der Tanner Lecture betont Popper den Unterschied zwischen Gedankenprozessen, die in Welt 2 ablaufen, und dem Gedankeninhalt, der in die Welt 3 gehört, am Beispiel der Relativitätstheorie Einsteins. Wenn immer jemand diese Theorie referiert, kritisiert, daraus Konsequenzen ableitet usw., geht es um konkrete Gedankenprozesse in Welt 2. Unabhängig von diesen Gedankenprozessen existiert die Theorie jedoch abstrakt in Welt 3. Das wäre selbst dann der Fall, wenn sie falsch wäre. Ein anderes Beispiel Poppers liefert die Sprache: Eine konkrete Sprache mit ihren Vokabeln gehört in Welt 2. In die Welt 3 fällt, was bei der Übersetzung von einer in die andere Sprache als Inhalt gleich bleibt.

Der Trialismus von Frege und Popper ist im Unterschied zu demjenigen von Radbruch und Kantorowicz nicht methodisch, sondern ontologisch. Die »dritte Welt« ist immateriell, aber sie ist doch wirklich, denn sie kann in die materielle Welt hineinwirken. Die von ihren Trägern, also von Menschenköpfen und Medien losgelösten Gedanken werden als einen Teil der erkennbaren Wirklichkeit behandelt. Zugleich können Gedanken aus Welt 3 in der Welt 1 und 2 kausal für Veränderungen werden. Erfahrbar ist die dritte Welt der Gedanken allerdings nur, soweit sie in irgendeiner Weise ihren Niederschlag in einem materiellen Kommunikations­medium gefunden hat, und sei es so flüchtig wie das gesprochene Wort oder eine bloße Geste. Das gilt umgekehrt auch für die Kausalität von Gedanken.

Dagegen fehlt der Gedankenwelt ein inhärenter Zusammenhang im Sinne des Hegelschen objektiven Geistes. Sie ist nicht in sich vernünftig oder gerichtet. Aber vielleicht entwickelt sie sich im Sinne einer ungerichteten Evolution. Die Gegenstände in Poppers Welt 3 bilden zwar kein System, aber auch kein bloßes Sammelsurium.

»What is most characteristic of this kind of world 3 object is that such objects can stand in logical relationships to each other.«[26]

Es soll wohl nicht jeder simple Gedanke in die Welt 3 gelangen wie z. B.: Morgen wird es regnen. Aber der Qualitätsfilter bleibt undeutlich. Ausgeschlossen werden anscheinend simple Protokollsätze, die eine individuelle Beobachtung festhalten. In Welt 2 verblieben wohl triviale Gedanken, wie sie jedem Menschen unzählig durch den Kopf gehen und ausgesprochen werden, wie sie im Meer der Akten und Presseerzeugnisse, der Notizen und sozialen Netzwerke ihren Niederschlag finden.

Popper bemüht sich zwar, seine Konstruktion gegen die Ideenwelt Platons abzusetzen.[27] Die Welt 3 soll keine päexistenten, sondern nur von Menschen gemachte Gegenstände beinhalten. Sie bilden ein »evolutionäres Produkt« der Welt 2. Man kann sich aber schwer vorstellen, dass abstrahierte Gedankeninhalte wieder verloren gehen. Es wirkt auch inkonsequent, dass anscheinend nur Gedanken, die einem (undefinierten) Qualitätsanspruch genügen, die Welt 3 erreichen. In der Schulphilosophie ist Poppers Welt-3-Realismus wenig Beifall gefunden.

Popper spricht von der Welt 3 auch als einer Welt objektiven Wissens. Der Wissensbegriff bringt neue Probleme mit sich. Ich ziehe es daher vor, mit Nicolai Hartmann von der dritten Welt des Geistes als von objektiviertem Geist zu sprechen.

»Wir haben es ausschließlich mit dem Geist in den Grenzen unseres Erfahrungsfeldes zu tun, mit dem, was allein wir kennen und nachweisen können, dem ›empirischen Geist‹.«[28]

Der ontologische Status des objektivierten oder empirischen Geistes kann für Juristen dahinstehen. Sie können den Trialismen Freges und Poppers jedenfalls so viel abgewinnen, dass sie das Universum der Gedanken in vielen Zusammenhängen losgelöst von ihren Trägern behandeln, so als ob es sich wirklich um eine dritte Wirklichkeit handelte. [29]

Der Gedanken sind so viele wie Sand am Meer und Blätter im Wald. Ein Als-Ob-Trialismus in Anlehnung an Frege und Popper lässt offen, mit welcher Methode man die Welt des Geistes erforschen kann. Am Ende kommt man doch wieder auf die klassischen Methoden der Geisteswissenschaften zurück. Das gilt vorab für die Hermeneutik, ist doch die dritte Welt des Geistes immer nur über Kommunikationsangebote zugänglich, die interpretiert werden müssen. Stets gilt es, aus der Überfülle der Gedanken einen Ausschnitt zu wählen. Unvermeidbares Selektionskriterium bleibt dabei ein Wertbezug. Immerhin legt der Trialismus nahe, die Geisteswissenschaften auf eine mit allen anderen Wissenschaften gemeinsame Rationalität zu verpflichten.

An erster Stelle ist die Informationstheorie zu nennen, denn der Informationsbegriff wird gerne mit dem Sinnbegriff verglichen, wie er um die Wende zum 20. Jahrhundert die Philosophie entwickelt hat.

  • Niklas Luhmann hat auch Kommunikation und Beobachtung zu universalen Konzepten gemacht. Information wird zur Kommunikation, wenn sie absichtsvoll mitgeteilt und diese Mitteilung von anderen beobachtet und als solche verstanden wird. Hier findet die geisteswissenschaftliche Tradition der Hermeneutik Anschluss.
  • Als universelles Konzept dient seit jeher der Systemgedanke. Der Systemgedanke ist besonders hilfreich, wenn es um komplexe Phänomene geht. Das sind solche, die aus vielen, oft sehr einfach gebauten Teilchen oder Agenten bestehen, die durch ihr Zusammenspiel das für das System charakteristische Verhalten zustande bringen. Das Verhalten der einzelnen Teilchen ist oft relativ gut erforscht und verstanden. Aber das genügt nicht, um den (emergenten) Gesamteffekt zu erklären. Klassisches Beispiel ist das Gehirn. Es ist aufgebaut aus Milliarden relativ einfacher Synapsen, deren Funktion gut erforscht und verstanden ist. Durch ihre Verschaltung bringt das Gehirn unglaubliche Leistungen wie Lernen, Vergessen, Fühlen und Bewusstsein hervor, die sich noch längst nicht voll erklären lassen. Genauso sind die Handlungen einzelner Akteure in Märkten oder Gesellschaften relativ gut bekannt. Wie aus deren Wechselwirkungen Aufschwung oder Rezession, Spekulationsblasen oder Börsenralleys werden, bleibt dagegen weitgehend unverstanden. Zunächst hat man Systeme notgedrungen als Black Box behandelt, das heißt, man hat sich mit der bloßen Tatsache zufriedengegeben, dass aus der Verknüpfung einzelner Elemente zu einem System ein neues »emergentes« Gesamtverhalten entsteht. Im Laufe der Zeit ist aber eine Reihe von Konzepten hinzugekommen, die jedenfalls partiell eine Brücke von dem Verhalten der Systemelemente auf das Gesamtsystem schlagen. Norbert Wiener wollte nach 1945 mit der Kybernetik eine Universalwissenschaft zu Erklärung des Innenlebens aller Systeme begründen. Dieser Anspruch ist zwar nicht eingelöst worden. Geblieben ist aber die Idee der Rückkopplung und des Regelkreises.
  • Zu den universellen Rationalitäten zählt die Idee der Evolution, deren glänzende Formulierung Darwin vor 150 Jahren (1849) gelungen war. Evolution ereignet sich überall, wo Leben ist. Eine wichtige Anpassungsstrategie der meisten Lebewesen, die zur Erhaltung der Art beiträgt, ist die Überproduktion von Samen und Nachkommen. In der dritten Welt des Geistes beobachten wir eine Überproduktion von Gedanken, von Normen, Ideen und Kritik. Da drängt sich die Frage auf, welche (Rechts-)Gedanken sich durchsetzen. Die Evolution des Rechts ist ein großes Thema der Rechtssoziologie. Sie beobachtet den sozialen Wandel nicht nur, aber auch als Wirkung von Gedanken.[30]
  • Gedanken sind so häufig wie Sand am Meer. Aber sie sind alle nicht so unverbunden wie einzelne Sandkörner. Sie bilden Ketten oder Gebäude und sind vielfach untereinander vernetzt. Daher ist auch die Netzwerktheorie relevant, die sich zu einem transdisziplinär wichtigen Instrument entwickelt hat.[31]
  • Die Spieltheorie zeigt einen Weg von der individuellen zu einer strukturellen Rationalität.[32] Im Objektbereich des Rechts hat die Spieltheorie Bedeutung für die Suche nach (alternativen) Konfliktlösungen gewonnen.

[1] Zur Orientierung können Lexikon-Einträge dienen, z. B. Siegfried Blasche: Geist, objektiver. In: Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2008. Verwiesen sei zudem auf das Buch des französischen Rechtsphilosophen Jean-François Kervégan, Die verwirklichte Vernunft. Hegels Begriff des objektiven Geistes, 2019.

[2] Gottlob Frege, Der Gedanke – eine logische Untersuchung, Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 2, 1918-1919, 58-77, S. 75. (Abgedruckt in den Sammelbänden Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, 5. Aufl. 2003, sowie in: Gottlob Frege, Kleine Schriften, 1967)

[3] Ebd. S. 69.

[4] Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie [1914], hier zitiert nach der 5. Aufl. 1956, dort S. 97.

[5] Als Begründer einer geisteswissenschaftlichen Methode gelten Wilhelm Dilthey (1833-1911), Wilhelm Windelband (1848-19015) und dessen Schüler Heinrich Rickert (1863-1936). Dilthey hat die Geisteswissenschaften auf die Hermeneutik ausgerichtet hat. Der Neukantianer Windelband stellte in seiner Straßburger Rektoratsrede von 1894 über »Geschichte und Naturwissenschaft« die Geschichtswissenschaft als »idiographische« (individualisierende) den »nomothetischen« (generalisierenden) Naturwissenschaft gegenüber. Diese Charakterisierung wurde von Rickert für alle Kulturwissenschaften verallgemeinert, aber auch relativiert, insofern als Rickert das Material, dass die Geisteswissenschaften erforschen, durch seinen Bezug auf Werte konstituiert sah, die ihm Sinn verliehen. »Sinn« wurde zum Synonym für »Geist«.

Die Begriffe Geisteswissenschaft und Kulturwissenschaft wurden weithin gleichsinnig verwendet. Mit dem cultural turn der Postmoderne hat der Begriff der Kulturwissenschaften dagegen als universale Gesellschaftswissenschaft neue Bedeutung erhalten; vgl. dazu Rechtssoziologie-online § 15.

[6] Ebd. S. 100.

[7] A. a. O. S. 118.

[8] Vgl. Jing Zhao, Die Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs unter dem Einfluss von Emil Lask, 2020, S.222.

[9] Emil Lask, Rechtsphilosophie (Sonderdruck aus einer Festschrift für Kuno Fischer), 1905;

[10] Staatsauffassungen, 1925, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 69-81, S. 69.

[11] Hermann Kantorowicz, Staatsauffassungen, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, dort S. 64f.

[12] Hermann Kantorowicz, Legal Science. A Summary of its Methodology, Columbia Law Review 28, 1928, 679-707, zitiert nach der Übersetzung als: Die Rechtswissenschaft – eine kurze Zusammenfassung, in: Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 83-99, S. 86.

[13] Ebd.

[14] Zhao a. a. O S. 213, 222ff)

[15] Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht. Ein Versuch über Hermann Kantorowicz, 1984.

[16] Marietta Auer, Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz, ZEuP 2015, 773-805, S. 803.

[17] Frank Saliger, Radbruch und Kantorowicz, ARSP 93, 2007, 236-251.

[18] A. a. O.

[19] Henrique Gonçalves Neves, Die Geltung als Tatsache, 2022. Viel anfangen kann ich mit diesem Buch, einer Dissertation, die von Alexy betreut wurde, nicht,

[20] Friedrich Vollhardt, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, KulturPoetik 3, 2003, 279-285.

[21]  Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl., 1998, S. 160.

[22] Karl R. Popper, The Tanner Lecture on Human Values, 1978, S. 144.

[23] Popper setzt sich mit Frege nicht ernsthaft auseinander. Er zitiert nur die Fußnote 5 von Freges Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung«, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik NF 100, 1892, 25-50, dort S. 32. Sie lautet vollständig: »Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein.«, nicht aber den Gedanken-Aufsatz von 1918/1919.

[24] Dazu Walter Hehl, Wechselwirkung. Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern, 2016; dort Kap 10 »Und wo bleibt der Geist?«.

[25] Karl R. Popper, Die Welten 1, 2 Die Welten 1, 2, und 3,, und 3, in: Popper/John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 1982, 61-77, S. 74.

[26] Tanner-Lecture S. 158)

[27] Die Welten 1, 2, und 3, S. 69ff.

[28] Nicolai Hartmann,.Das Problem des geistigen Seins, 1933, S. 51)

[29] Auch Juristen reden von objektiviertem Geist, so Helmut Coing in den »Grundzügen der Rechtsphilosophie« (Aufl. 1976, S. 287):

»Die Rechtsordnung ist mit anderen Worten ›geistiges Sein‹ und zwar ›objektiviertes‹ oder fixiertes geistiges Sein, d. h. ein in einem Text niedergelegter geistiger Gehalt.«

Soweit, so gut. Aber dann packt Coing in das »geistige Sein« mehr hinein, nämlich eine Geltungstheorie. Insoweit hat ihn Ulfried Neumann in einer Rezension (Neuere Schriften zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Philosophische Rundschau 28, 1981, 189-216, S. 191ff) gehörig zurechtgewiesen. Eine Normativierung des objektiven Geistes sei in Hartmanns Philosophie nicht angelegt. Das geistige Sein habe per se keinen Geltungsanspruch wie eine Rechtsnorm. So könne der Gesetzgeber die mit dem Gesetzestext in die Welt gesetzten Gedanken durch einen actus contrarius nicht wieder aus der Welt schaffen.

[30] Niklas Luhmann hatte schon relativ früh eine Evolutionstheorie des Rechts entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132 ff.). Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«. Auch andere Autoren, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts an die biologische Theorie an.

[31] Dazu meine eher zurückhaltende Einschätzung: »Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, 2013, S. 537-565.

[32] Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, 2001.

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Die Verteidigung der natürlichen Ordnung

Zur Erinnerung: Die Reihe der Einträge zum Natural Turn soll die These begründen, dass der Interdisziplinaritätsimperativ die neue Formel für die »Natur der Sache« bildet. Was den Bereich des Rechts der Reproduktionsmedizin und der Gentechnik angeht, muss die Jurisprudenz auf die durch Gentechnik und Medizin eröffneten Perspektiven und die umfangreiche philosophische und soziologische Diskussion reagieren und ihre Schlüsse ziehen. Die Diskussion hat längst Dimensionen erreicht, die der Durchschnittsjurist nicht mehr adäquat übersehen und verarbeiten kann. In dieser Situation liegt es nahe, die Situation auf Natürlichkeitsargumente zu verkürzen. Meine These lautet dagegen: Die Berufung auf die Natur bedeutet keine (populistische?) Reduktion. Natürlichkeitsargumente sind vielmehr sachlich, politisch und philosophisch ernst zu nehmen. Das zeigt sich am Beispiel des reproduktiven Klonens.

Im Seinsbereich gibt es eine natürliche Ordnung der Welt. Die Naturwissenschaften betreiben erfolgreich deren Entzifferung. Wer sich heute für Moral oder Recht auf die Verteidigung der natürlichen Ordnung beruft, wenn er Reproduktionsmedizin generell oder auch nur für gleichgeschlechtliche Paare ablehnt, muss mit einem Sturm der Entrüstung rechnen. Aber es gibt einen Grenzfall, in dem die Berufung auf die natürliche Ordnung als Argument noch akzeptiert wird, nämlich den Fall des reproduktiven Klonens.[1] Die vielen Versuche, das Verbot reproduktiven Klonens, wie es in Art. 3 II der Grundrechte-Charta der EU positiviert ist, durch eine universalistische Ethik zu begründen, reichen anscheinend nicht aus. Man beruft sich auf das Prinzip der Menschenwürde oder auf ein Tabu. Aber das Prinzip ist unscharf, und Tabus fordern dazu heraus gebrochen zu werden. In dieser Situation wird »die Verteidigung der natürlichen Ordnung« als moralisches und letztlich auch als juristisches Argument angeführt.

Es besteht kein Grund, das Argument der Natürlichkeit für diese besondere Situation zu reservieren. Es ist ebenso wenig zwingend wie alle anderen Argumente dieser Art. Aber der Appell an die Natur hat eine schwer zu übertreffende Überzeugungskraft. Zwar kommt dann sofort wieder die Frage auf, was im konkreten Streitfall als natürlich zu gelten hat. Aber es ist nicht verboten, diese Frage zu stellen und Antworten zu versuchen. Die Suche ist nicht hoffnungslos. Es ist, wie auch sonst im Recht. Ein Übermaß an philosophischer Reflexion macht entscheidungsunfähig. Das zeigt Birnbachers Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus (oder Posthumanismus).[2]

Den Begriff der Gattungsethik hat Jürgen Habermas eingebracht.[3] Der Begriff bezeichnet eine Kategorie von Normen, die über die Individuen hinaus dem Schutz der Integrität der menschlichen Gattung dienen sollen. Schon zuvor hatten Juristen eine unverletzliche Menschenwürde nicht nur für Individuen, sondern auch für die Menschheit als Gattung postuliert.[4] Unter Transhumanismus wird die Auffassung verstanden, dass die Gattung über ihre überkommene biologische Ausstattung hinaus verbessert werden könne. Ein Zündfunke dieses Gedankens war Donna Haraways »Manifesto for Cyborgs« von 1985.[5]

Birnbacher bietet eine schulmäßig perfekte Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus. Wie es die philosophische Anthropologie formuliert hat, ist der Mensch ein Mängelwesen, der allein mit seiner biologischen Substanz nicht lebensfähig wäre. Daher ist er immer schon auf die Künstlichkeit der Kultur angewiesen. Wenn aber Kultur zur Substanz des Menschen gehört, gibt es keine »natürliche« Grenze, an der sich die Ontogenese aufhalten ließe. Der Gattungsbegriff ist unbestimmt. Wo die Gattung Mensch endet, lässt sich weder genetisch noch genealogisch noch funktionell eindeutig bestimmen. Eine immerhin mögliche typologische Bestimmung bleibt historisch zeitgebunden. Birnbacher findet daher im Zweikampf zwischen Gattungsethik und Transhumanismus keinen Sieger.

Der Fehler in dieser Argumentation liegt darin, dass Birnbacher eine eindeutige Bestimmung der Gattungsgrenzen fordert. In der lebendigen Natur gibt es keine absoluten, unverrückbaren Grenzen. Aber es gibt doch Phänomene, die als universal wahrgenommen werden. Scharfe Grenzen gibt es nur in der Logik. Insbesondere binäre Denkmuster zur Ordnung der realen Welt sind immer (oft nützliche) Vereinfachungen.

Der Begriff der Gattung Mensch ist immerhin so brauchbar, dass bislang kein Fall bekannt geworden ist, indem man die Menschqualität eines Lebewesens nicht eindeutig hätte feststellen können. Gewissheiten darf man nicht beiseiteschieben, weil sie in dem Sinne kontingent sind, dass sie über (lange) Zeit verloren gehen könnten. Recht und Politik müssen mit solchen Gewissheiten leben.

Gutmann weist den Gedanken einer restriktiven Biopolitik unter Berufung auf den Gedanken der Gattungsethik zurück als Versuch, »die verbürgten subjektiven Freiheitsrechte der Betroffenen klein zu reden und klandestin aus dem Prozess der Abwägung zu entfernen, bevor dieser begonnen« habe.[6] Tatsächlich liegt es wohl umgekehrt. Das Natürlichkeitsargument wird kleingeredet. Wenn es nicht zum Frankenstein-Argument deklassiert wird, wird es als »intuitiv« und »bloß rhetorisch« beiseitegeschoben.[7] Natürlichkeit ist natürlich nur eine »vermeintliche«. Gutmann ironisiert das Argument als Wunsch nach einer »mit verfassungsrechtlichen Weihen versehenen bioethischen Leitkultur«.[8] Indessen ist das Freiheitsargument nicht stringenter als das Natürlichkeitsargument. Der Freiheitsbegriff ist ebenso schwierig wie der Naturbegriff. Die Kantische Kompatibilitätsformel hat längst ausgedient. Freiheit wird an vielen Stellen zugunsten nicht individualisierter Gemeinschaftsgüter beschränkt. Die »grundrechtlich garantierte Fortpflanzungsfreiheit«[9] ist kein Erfolgsversprechen. Sie begründet kein Recht auf ein Kind.[10]

Politik und Jurisprudenz müssen Grenzen ziehen. In der jeweiligen historischen Situation müssen sie entscheiden, wieweit die technisch mögliche Verfügung über die Natur rechtlich beschränkt werden soll. Seitdem mit dem Klimawandel das Gefüge der natürlichen Umwelt ins Wanken geraten ist, besteht weithin Konsens, dass insoweit eine Kontrolle des technisch Möglichen notwendig ist. Eingriffe in das Genom überschreiten die nächste Schwelle, denn sie greifen »in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer Person ein« und verfügen damit über die Natur des Menschen wie  über Sachen.[11] Das bedeutet nicht, dass alle Eingriffe in das Genom von vornherein unzulässig wären. Aber sie lassen sich als Eingriff in die Natur kritisieren.

Politik und Jurisprudenz müssen sich entscheiden. Freilich finden auch Juristen nicht zu einem verbindlichen Ergebnis, wenn sie die Entscheidung auf die Menschenwürde abladen. Das zeigen die Sätze, mit denen Gutmann seine an Sorgfalt und Umsicht schwer zu überbietende Erörterung des Themas beendet:

»Die Prinzipien der Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat verlangen, die Rechte der Individuen ernst zu nehmen. Der demokratische Souverän kann diesen Grenzen setzen und konkurrierende, individuelle wie kollektive Schutzgüter auszeichnen. Dies kann auf angemessene Weise geschehen, wenn der primär symbolische und expressive Diskurs über die Menschenwürde, der politische Entscheidungen gerade verhindern will, einer öffentlichen Debatte über Chancen und konkrete Gefahren der Humangenetik weicht.«[12]

Die öffentliche Debatte begnügt sich nicht damit, Chancen und Gefahren mehr oder weniger vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Sie endet früher oder später mit einer Wertung, der das Natürlichkeitsargument Gewicht hat.

Am Ende werden weder die analytische Ethik noch der juristische Fachdiskurs den Ausschlag geben. Die öffentliche Debatte wird von einer Grünstimmung getragen, und grün ist die Farbe der Natur. Noch ist ihr das Weltklima wichtiger als die Gattung Mensch. Die Bio-Welle hat die akademische Diskussion noch nicht erreicht. Als Wellenbrecher fungieren die Gender Studies. Dort wird das Natürlichkeitsargument zum Naturalisierungsargument umgedreht. So wird ein natural turn geradezu herausgefordert. Naturam expelles furca, tamen usque recurret.[13] Auch wenn du die Natur mit der Mistgabel austreibst, kehrt sie doch alsbald zurück. Dieses bekannte Horaz-Zitat lässt sich vordergründig »natürlich« dahin verstehen, dass die Natur sich zurückerobert, was man ihr abgerungen hat. Das heißt: Wenn du das Unkraut beseitigt hast, kommt es doch bald wieder. In einem übertragenen Sinne: Auch wenn wir in unseren ethischen und politischen Diskursen Natürlichkeitsargumente verbannen, kehren sie doch wieder zurück.

Natürlichkeitsargumente sind rechtspolitische Argumente unter anderen. Als solche sollten sie immerhin die Kraft haben, gegenüber Eingriffen in die Erbsubstanz zur Vorsicht zu mahnen. Dahinter steckt mehr als dumpfe Furcht vor dem Unbekannten, sondern eine handfeste Besorgnis vor einer Eugenik auf Gen-Ebene. In der jeweiligen historischen Situation lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, ob neue Technologien in einer bisher nicht erprobten Weise in natürliche biologische Abläufe eingreifen. Dagegen lässt sich viel schwerer abschätzen, ob diese Technologien negative Folgen für Dritte, das heißt für die Familienstruktur im Allgemeinen, für den künstlich gezeugten Nachwuchs im Besonderen und für das menschliche Erbgut haben werden.

Das Natürlichkeitsargument hat immerhin die Kraft, gegenüber solchen Eingriffen zur Vorsicht zu mahnen und eine besondere Rechtfertigung zu fordern. Freiheitsbeschränkungen sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig.[14] Aber legitimationspflichtig sind heute auch Eingriffe in die Natur. Der wissenschaftliche Diskurs wird Natürlichkeitsargumente ehe beiseite schieben als der demokratisch politische Meinungskampf. Es wäre aber zu billig, diese Argumente als populistisch zurückzuweisen.


[1] Wolfgang van den Daele, Soziologische Aufklärung zur Biopolitik, Leviathan, Sonderheft Biopolitik 23/2005, 7-41, S. 29.

[2] Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006, S. 169ff.

[3] Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2002.

[4] Thomas Gutmann, »Gattungsethik« als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, in: Wolfgang van den Daele (Hg.), Biopolitik (Leviathan Sonderheft 23), 2005, 235-264, S. 247ff.

[5] Donna Haraway, Manifesto for Cyborgs, Socialist Review 80, 1985, 65-108, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, 1995, 33-72.

[6]Gutmann S. 259.

[7] Katharina Beier/Claudia Wiesemann, Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie: Eine ethische Analyse, in: Claudia Wiesemann u. a. (Hg.), Patientenautonomie, 2013, 205-221.

[8] Gutmann S. 254.

[9]  Gutmann S. 259.

[10] Christian Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 2020, 12-20.

[11] Habermas S. 30.

[12] Gutmann S. 259.

[13]  Horaz, Episteln 1, 10, 24.

[14] Gutmann S.. 235.

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Naturschutz für den Menschen?

Naturschutz auch für den Menschen? Bio-Sex? Bio-Ehe? Bio-Kinder? Da wird die Sache heikel. Wer wäre »der Mensch«, der geschützt werden sollte? Die Frage nach der Natur des Menschen wird schnell zu einem normativen Unternehmen. Der Gedanke drängt sich auf, dass man sich seiner »Natur«, seinem »Wesen« entsprechend »menschlich« verhalten müsse. Wesensbestimmungen der menschlichen Natur haben zu unmenschlichen Konsequenzen geführt. Viele halten deshalb eine deskriptive Bestimmung der Natur des Menschen von vornherein für ausgeschlossen. Wer jedoch grundsätzlich die Unterscheidung von Sein und Sollen akzeptiert, wiewohl sie praktisch immer gefährdet ist, der wird auch Versuche einer wertfreien Bestimmung der »Natur« des Menschen nicht von vornherein abweisen.

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur. Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um das Denken aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[1]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht mit der Anthropologie eine ganze Disziplin mit Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie bereit. Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Anschein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Für die Unterscheidung von Natur und Kultur ist Anthropologie jedoch wenig hilfreich.

Handfestere Aussagen findet man in Biologie, Psychologie und Medizin. Auch zwischen diesen Disziplinen und der Kultur gibt es unscharfe Grenzen, verändert doch Kultur auch körperliche Vorgänge, die lange als unveränderlich galten. Aber das ist nicht eigentlich das Problem. Biologen, Mediziner und Psychologen greifen ohne Schwierigkeiten auf die erste Natur des Menschen zurück, die ihnen mindestens als relative Unverfügbarkeit begegnet, und zwar relativ in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, das seit Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil sie sich erst im Laufe der Evolution entwickelt hat und weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution auch wieder verloren geht. Aber in diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eben doch unverfügbar. Dieser Rahmen erscheint uns als Normalität. Was aus der Normalität fällt, ist deshalb nicht unnatürlich. Das Anormale ist Teil der Natur. Das wertend normative Urteil ist damit offen, wiewohl es unreflektiert von der normativen Kraft des Faktischen getrieben wird.

Was folgt daraus? In unserem Kulturkreis wird keiner, den wir ernst nehmen, widersprechen, wenn wir sagen, aus der »Natur der Sache« folge, dass Homosexualität nicht unmoralisch und schon garkeine Straftat sein kann, weil sie zur Natur gehört. Naturalia non sunt turpia. Die Einmütigkeit endet aber schon, wenn jemand erklärt, aus der »Natur der Sache« ergebe sich, dass Homosexualität als Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX anzusehen sei, weil für Homosexuelle die Mehrzahl der Menschen als Geschlechtspartner ausscheidet und weil sie ohne Unterstützung Dritter keine Kinder bekommen können. Man wird sogleich entgegenhalten, damit werde ein natürlicher Zustand pathologisiert und in das binäre Geschlechterschema eingepasst. Zum Glück ist die Frage, ob Homosexualität als Behinderung subsumierbar ist, gegenstandslos, weil es keine Hilfemöglichkeiten oder gar Therapien gibt. Immerhin spricht das Natürlichkeitsargument für eine Privilegierung der traditionellen heterosexuellen Ehe. Doch insoweit ist der Zug längst abgefahren. Es bleibt nur noch Denkmalschutz.

Entscheidungsbedarf gibt es aber schon, wenn man fragt, ob Transsexualität und Intersexualität als Behinderung im Rechtssinne einzuordnen sind, denn hier ist medizinische Hilfe möglich, und sie wird auch gewünscht. Das ändert nichts daran, dass der Zustand ebenso natürlich ist wie ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte. Die Situation der Betroffenen ist so individuell, dass Dritte sich schwerlich hineinversetzen können. Oft braucht es einen längeren Entwicklungsprozess, bis die geschlechtliche Identität subjektiv klar ist. Diesen Menschen darf man die sexuelle Selbstbestimmung, die eigentlich gar keine ist, nicht verwehren. Als Argument zulässig bleibt jedoch die Behauptung, die Natur spreche dagegen, fluide Geschlechtlichkeit schlechthin für wünschenswert zu halten. Dieses Argument wendet sich die Forderung nach einem Menschenrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als Jedermann-Recht. Hier wird das Dilemma der Differenz relevant. Man muss sich entscheiden, was schwerer wiegt, die Vermutung, dass ein unbeschränktes Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eine gefährliche Jugendmode befördern könnte oder die Aussicht, dass die wirklich Betroffenen entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

Auch bei trivialeren Problemen sind Natürlichkeitsargumente einschlägig, so etwa bei Bekleidungsvorschriften im Schwimmbad. In Berlin war eine Frau mit ihrer Antidiskriminierungsbeschwerde erfolgreich, die beanspruchte, sich im Schwimmbad ebenso mit bloßem Oberkörper aufzuhalten wie Männer. Gleichberechtigung ist hier der falsche Ansatz. Das Natürlichkeitsargument spricht gegen die Heranziehung des Gleichheitssatzes, denn der Oberkörper einer Frau ist »natürlich« anders als der eines Mannes. Viel eher kommt eine unzulässige Freiheitsbeschränkung in Betracht. Da wäre dann abzuwägen, was schwerer wiegt, Bekleidungs-Freiheit oder die Befürchtung vor einer Sexualisierung öffentlicher Plätze. Befürworter des Brustfrei-Schwimmens erhoffen sich im Gegenteil eine Entsexualisierung der weiblichen Brust. Dagegen ließe sich wiederum als Natürlichkeitsargument vorbringen, dass die sexuell stimulierende Wirkung sekundärer Geschlechtsmerkmale biologisch verankert sein könnte. Allein darüber könnte man dann wieder lange streiten. Während dessen käme auf einer anderen Ebene die Diskussion auf, ob aus der Erlaubnis des Brustfrei-Schwimmens nicht alsbald ein sozialer Zwang zum Frei-Schwimmen werden könnte mit der Folge, dass sich die Liste der diskriminierenden Praktiken analog zum fat shaming um ein tit-shaming verlängerte. Man sieht, es gibt keine zwingenden Argumente pro oder contra. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Natürlichkeitsargumente nicht a limine unzulässig sind.

Natürlichkeitsargumente stützen einen Differenzfeminismus. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daraus folgt aber nicht, dass man dem einen oder dem anderen Geschlecht irgendwelche gesellschaftlichen Positionen verwehren dürfte. Das Natürlichkeitsargument zieht jedoch gegenüber der Forderung, dass alle Geschlechter in allen gesellschaftlichen Positionen gleichmäßig repräsentiert sein müssten.

Streiten muss man über die Frage, ob auch erworbene, aber kontingente Verhaltensmuster des Menschen als natürlich gelten und damit als Basis für Natürlichkeitsargumente gelten können. Der Streit beginnt schon bei der Frage, ob es solche Muster überhaupt gibt, ob sie genetisch oder jedenfalls epigenetisch verankert sind oder ob es sich um sozialevolutionäre Errungenschaften bzw. Überbleibsel handelt. Ich habe mich auf die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers bezogen. Mayer hatte die Vorstellung biologisch angelegter Verhaltensweisen zurückgewiesen, aber ein beträchtliches Erbe an Verhaltensmustern aus der Kleingruppenphase der Menschheitsgeschichte behauptet. Zwei Verhaltensmuser stehen immer noch und immer wieder zur Debatte: Männer zeigen ein stärkeres Wettbewerbsverhalten. Frauen haben eine größere Affinität zur Sorge für andere Menschen. Selbst wenn das zuträfe, folgte daraus kein Argument für ethische, politische oder juristische Normen. Der Gleichheitssatz ist stärker.


[1] Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

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Natur und Kultur: Natur als komparativer Begriff

Der Appell an die Natur weckt die stärksten moralischen Intuitionen. »Die Natur schreit uns an«, so der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit Blick auf Corona-Pandemie und Klimawandel. Alle wollen es »grün« und »bio«. Es ist »natürlich« vollkommen richtig, dass sich aus der Natur unmittelbar keine ethischen oder juristischen Normen ableiten lassen. Natürlichkeit ist nur ein Argument unter vielen anderen. Das Problem mit diesem Argument ist, dass mächtige Diskurse es in Verruf gebracht haben. Während Natürlichkeit in der Alltagsmoral einen hohen Stellenwert besitzt, wird das Argument von der akademischen Ethik eher verachtet. Zwei spezifischere Diskurse haben das Natürlichkeitsargument besonders ins Abseits gestellt. Da war zuerst die antireligiöse Aufklärung mit ihrem Kampf gegen eine Kosmologie, die die Berufung auf Natürlichkeit einer Aufladung durch gottgewollte Normativität verdächtigte. Später kam der gendertheoretische Diskurs, für den sich hinter Natürlichkeitsargumenten soziale Zwänge verbergen.

Natürlichkeitsargumente im engeren Sinne sind solche, welche die Natur im Sinne von physikalischen und biologischen Vorgegebenheiten zur Begründung politischer, rechtlicher oder moralischer Forderungen anführen. Sie begegnen damit allen Einwänden, die mit Wesensargumenten verbunden sind, insbesondere »natürlich« dem Einwand, sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss. Dieser Einwand ist allerdings unbegründet, wenn das Argument nicht als zwingende Ableitung vorgetragen wird, sondern lediglich fordert, bei der Abwägung auch einen (näher bezeichneten) Gesichtspunkt der Natürlichkeit einzustellen. Natürlichkeitsargumente bringen aber ein anderes Problem mit sich, das schwerer auszuräumen ist, nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur.

Wenn der (evangelische) Theologe Thomas Kaufmann in einem Artikel über »Den radikalen Umbruch der Reformation« (FAZ vom 25. 10. 2021) am Ende formuliert:

»Ja – der Pflichtzölibat ist eine Konsequenz des priesterlichen Jungfräulichkeitsideals; der massenhafte Kindesmissbrauch ist auch eine Folge dieser rigiden, der menschlichen Natur widerstreitenden Norm.«

gibt es vermutlich Beifall. Wer dagegen unter Berufung auf die Natur die heterosexuelle Ehe und die aus Vater, Mutter und Kindern bestehende Familie verteidigt, stellt sich ins diskursive Abseits. Aus Sicht der Gender Studies wird ein »diskursiver Klassenkampf« geführt (Sabine Hark, Dissidente Partizipation, 2005, S. 34), in dem jede Berufung auf Natur und Biologie als frauenfeindlich und homophob gilt. Die Begründung lautet, dass Natur als solche nicht erkennbar sei: Alles ist Kultur. Das unausgesprochene Motiv für diese Ablehnung liegt »natürlich« darin, dass es eben doch natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt und dass sich die natürliche Normalität der Zweigeschlechtlichkeit schwerlich leugnen lässt mit der Folge, dass dadurch unerwünschte normative Konsequenzen nahegelegt werden.

Die Ansicht, dass man sich nicht auf Natürlichkeit berufen dürfe, weil zwischen Natur und Kultur nicht zu unterscheiden sei, ist in der Akademie heute »h.M.«[1]. Ich halte dagegen. Die Unterscheidung ist schwierig, deshalb aber nicht unmöglich. Daher sind Natürlichkeitsargumente nicht von vornherein ausgeschlossen.

Kultur als Gegenbegriff zu Natur versteht sich im weitesten Sinne unter Einschluss aller Technik. Das Antonym natürlich/künstlich bringt das Werden aller Erscheinungen, für die Natur in Anspruch genommen wird, die Prozesshaftigkeit ihrer Entstehung, zum Ausdruck. Die Grenzen der diskurs-extern vorgegebenen Natur ändern sich laufend. Schon die Saat, die der Landmann in die mit einem Grabstock gezogene Furche legt, wächst nunmehr künstlich. Heute wird selbst das Wetter als änderbar gedacht. Nachdem klar ist, dass auch der Klimawandel menschengemacht ist, bleibt anscheinend nur noch die Sonne als reine Natur. Doch so weit müssen die Gdanken nicht ausholen. Wenn Teile der Türkei und Syriens von einem Erdbeben verwüstet werden, handelt es sich um nackte Naturgewalt, und es wäre lächerlich, dieses Ereignis als kulturelle Konstruktion begreifen zu wollen.

Die Unterscheidung von Natur und Kultur bleibt schwierig, ist aber nicht hoffnungslos. Laien wissen in der Regel recht gut, was natürlich ist. Sie reden von natürlicher Geburt oder Naturheilkunde und wünschen naturbelassene Nahrungsmittel. Zwar ist auch »Bio« heute künstlich. Aber wenn es Alternativen gibt, lässt sich doch meistens zwischen mehr oder weniger natürlich unterscheiden. Und so unterscheiden nicht nur Laien, sondern auch Politik und Recht. Naturschutz wäre eine Illusion, wenn Politik und Recht keine Vorstellung hätten, was es zu schützen gilt und wie das geschehen könnte.

Kommentare zu § 1 BNSchG definieren Natur als »nicht vom Menschen geschaffene, belebte und unbelebte Welt und die in ihr lebenden Lebewesen«. Im Anthropozän ist von einer nicht vom Menschen in irgendeiner Weise mitgestalteten Welt wenig übrig. Aus der Natur ist ein Prozess geworden, an dem Menschen mehr oder weniger beteiligt sind. Naturschutz bedeutet deshalb, die menschliche Beteiligung am Entwicklungsprozess zurückzunehmen. Als »natürlich« gilt in erster Linie der Verzicht auf einen Eingriff in den Ablauf der Dinge, auch wenn der Ausgangszustand längst nicht mehr natürlich ist. Manche Wälder, die unter Naturschutz gestellt werden, sind von Menschen angelegt worden. Landschaftsbau und Wasserwirtschaft betreiben in großem Umfang Renaturierung. Ehemalige Industrieflächen werden »der natürlichen Entwicklung überlassen«, um sich zu regenerieren (§ 1 III Nr. 2 BNSchG). Freilich genügt es nicht immer, die Natur gewähren zu lassen. Sonst kommt es zu so »unnatürlichen« Zuständen wie der explosionsartigen Vermehrung von Wildgänsen und Kormoranen. Natur wird damit zu einem komparativen Begriff gegenüber Technik und Kultur. Es geht um mehr oder weniger Natur. Aus »natürlich« wird »naturnah«. Der Umgang mit solchen Begriffen ist der Jurisprudenz vertraut. Die Natur ist kein ontologisches Nullum, aber sie ist auch »keine vom Normanwender bloß hinzunehmende, fixe Gegebenheit, sondern eine normative Zielvorstellung, die durch weitere, ihrerseits mit normativem Gehalt zu vesehende Unterkriterien – etwa Biodiversität – weiter spezifiziert und damit operationalisiert werden kann«[2]. Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz scheitern jedenfalls nicht an einem ungeklärten Naturbegriff. Im Klimabeschluss (E 157, 30ff) tanzt auch das Bundesverfassungsgericht zur Melodie von Art. 20a GG den »Natural Turn«.


[1]Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006;  Alan Levinovitz, Natural: How Faith in Nature‘s Goodness Leads to Harmful Fads, Unjust Laws, and Flawed Science, 2020; Frauke Rostalski, Das Natürlichkeitsargument bei biotechnologischen Maßnahmen, 2017.

[2]  Ino Augsberg, Natur als Norm, in: Annette Meyer/Stephan Schleissing (Hg.), Projektion Natur, 2014, 164-178, S. 177.

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Von der Soziologie der Waschmaschine zur Natur der Sache

Der vorhergehende Eintrag endete mit der Feststellung, der material turn bleibe eine Antwort, wie man aus dem Materiellen  – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, schuldig. Immerhin gibt es ein Sachgebiet, auf dem der material turn hilfreich zu sein scheint, nämlich auf dem Gebiet der Technik im weitesten Sinne. Da hätte es freilich einer »Wende« kaum bedurft, denn es gab und gibt schon längst eine gehaltvolle Techniksoziologie. Ein Beispiel wäre das immer noch lesenswerte Buch von Ingo Braun über die Soziologie der Waschmaschine.[1]

Der Umgang mit menschlichen Keimzellen ist durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1990 streng reguliert. Neue Techniken der Reproduktionsmedizin rufen nach Änderungen. 2010 zog der BGH die strengen Grenzen des ESchG für Manipulationen an menschlichen Eizellen etwas weiter, als er einen Frauenarzt von der Anklage der missbräuchlichen Verwendung menschlicher Embryonen freisprach, der befruchtete Eizellen auf Genanomalien untersucht hatte, um sie ggfs. zu verwerfen.[2] Zehn Jahre später gewährte das BVerwG genetisch vorbelasteten Eltern einen Anspruch auf Präimplantationsdignostik (PID).[3]

Exemplarisch ist die Eigendynamik neuer Techniken und die Problematik ihrer Regulierung an den relativ neuen und stetig verbesserten Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin zu beobachten. Von den Optionen, die diese Technik bietet, wird in großem Umfang Gebrauch gemacht. Von 1997 bis 2018 wurden in Deutschland 319.119 Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren. Seit 2015 liegt die Zahl jährlich über 20.000 oder etwa 2,7 % aller Geburten (Daten im Jahrbuch des Deutschen IVF-Registers, zuletzt 2021).

Vor der Inanspruchnahme neuer Technikoptionen liegt oft eine gewisse soziale Normierung. Am Beispiel der vorsorglichen Eizellkonservierung (social freezing): Es gibt keine soziale Norm, nach der man Kinder haben soll und dafür erforderlichenfalls auch medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen hat. Aber es gibt soziale Muster für das, was als gelungener Lebenslauf gilt, und daran orientiert man sich mehr oder weniger souverän. Kritische Beobachter sprechen von neoliberalen Diskursen, die wie eine Aufforderung wirken, von den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin Gebrauch zu machen.[4]

Was Soziologie dazu beitragen kann, um zunächst die Entscheidungen des Gesetzgebers und dann auch die Rechtsanwendung zu informieren, hat van den Daele dargestellt. Vorab muss das Recht zur Kenntnis nehmen, dass »die Entstehung von (Technik-)Optionen nicht beherrschbar« ist.

 »Möglichkeiten, die irgendwo entstehen, sind im Prinzip überall verfügbar. Techniken sind der Form nach Wissen. Wissen aber ist übertragbar und stets allgemeiner als jeder Zweck, für den es geplant wird. Auch eine noch so gezielte Technikentwicklung erzeugt daher unvermeidlich einen unkontrollierbaren Überschuss weiterer Möglichkeiten.«[5]

Sodann greifen die Freiheitsrechte, im Fall der Biotechnik allen voran das Recht auf Gesundheit. Die Optionen entfalten eine Eigendynamik, indem Rechtsansprüche geltend gemacht werden »in demselben Maße, wie das faktische Können wächst«.

»Die technischen Optionen der modernen Biotechniken fallen automatisch in den Legitimationskreis des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Selbstbestimmung. Das macht sie rechtlich und politisch praktisch unverfügbar. Die technische Entwicklung der Medizin löst ambivalente Reaktionen aus. Erkaufen wir das Versprechen, Krankheit und Tod abzuwenden, nicht mit einer immer bedrohlicheren totalen Manipulierbarkeit des Menschen? Diese Frage wurde schon oft gestellt und immer wieder in derselben Richtung beantwortet: Neue Techniken wurden schließlich akzeptiert und in das professionelle Repertoire der Medizin aufgenommen. Das gilt für die Reanimationstechniken, die Organtransplantationen, künstliche Organe und die Neurochirurgie. Es wird auch für die Keimbahntherapie und (vermutlich auch) für embryonale Transplantate gelten, falls sie je möglich und medizinisch sinnvoll sind.«[6]

30 Jahre später hat sich diese Prognose hinsichtlich des Embryonentransfers realisiert, und auch die PID lässt sich rechtlich nicht mehr abwehren, wenn sich die Betroffenen auf Gesundheitsvorsorge berufen.

Setzen sich also Technikoptionen »in the long run immer durch«?[7] Blickt man nur auf die Medizin, spricht vieles dafür. Andere Techniken werden dagegen relativ wirkungsvoll reguliert. Zu den Rechtstechniken der Regulierung gehört die Einräumung subjektiver Rechte zur Abwehr von Gefahren und unerwünschten Folgen des Technikgebrauchs.

»Subjektive Rechte auf Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung werden als Positionen des Widerstands gegen die Überwältigung durch Techniken in Anspruch genommen.« Aber: »paradoxerweise kann man nicht Sicherheit und Selbstbestimmung gegen neue Techniken ins Feld führen, ohne damit zugleich die Werthaltungen zu fördern, die auch das Plädoyer für die Techniken tragen. Subjektive Rechte gegenüber technischen Optionen wirken asymmetrisch: Sie implizieren im Detail Restriktionen der Technik, im ganzen schieben sie deren Entwicklung eher weiter an.«[8]

Darauf bezieht sich Karavas und fügt noch eine systemtheoretische Begründung hinzu. Das Wollen habe sich als Kommunikationsmedium verselbständigt. »Für den liberal-demokratischen Rechtsstaat, der auf der Idee der subjektiven Rechte beruht, bedeutet das aber, dass er das Wollen nicht unterbinden kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen.«[9] Das klingt klug, ist aber nur sophistisch. Das ganze Strafrecht ist eine Veranstaltung, um »Wollen zu unterbinden«. Das Problem stellt sich vielmehr mit der Frage, ob Ziel der Regulierung die Verteidigung der natürlichen Ordnung sein kann.


[1] Ingo Braun, Stoff, Wechsel, Technik. Zur Soziologie und Ökologie der Waschmaschinen, 1988.

[2]  U. v. 06.07.2010, 5 StR 386/09.

[3]  U. v. 5.11.2020 – 3 C 12.19.

[4] Vagias Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120.

[5] Van den Daele, Freiheiten gegenüber Technikoptionen: Zur Abwehr und Begründung neuer Techniken durch subjektive Rechte, KritiV 74, 1991, 257-278, S. 276.

[6]  Van den Daele S. 277.

[7] Karavas, Ermächtigung durch Technik? Zum Umgang mit Technikoptionen im liberal-demokratischen Rechtsstaat am Beispiel der Eizellkonservierung, Ancilla Iuris, 2019, 102-120.

[8] Van den Daele S. 258.

[9]  Van den Daele S. 278; Karavas S. 119.

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Der Material Turn verspricht mehr als er hält

»Wirklichkeit« als Begriff und Phänomen hat in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften einen eher schweren Stand. Wohl auch aus Angst, eines naiven Wirklichkeitsverständnisses überfuhrt zu werden, pluralisiert man Wirklichkeit zu beobachterabhängigen Wirklichkeiten, man verflüssigt sie in kulturellen Konstruktionen, oder man löst sie gleich ganz in einem Kosmos referenzloser Simulakren auf, bis man dann in einer Art überschießender Umkehr die Materialität der Dinge unter nicht minder umständlichen Vorkehrungen wieder zum Vorschein bringen möchte.«[1]

Bis ins 20. Jahrhundert hinein standen sich Kultur und Materie weitgehend unvermittelt gegenüber. Kultur wurde als geistiges Phänomen betrachtet, für das materielle Objekte allenfalls als Aufzeichnungs- und Transportmittel dienten. Nur in der Kunst war die Verbindung enger. Spätestens die Medientheorie zeigte dann aber unübersehbar, dass das Material und seine äußere Form sich von dem Inhalt nicht vollständig trennen lassen. »The medium is the message.« Seit den 1980er Jahren gibt es ein verstärktes Interesse an stofflichen Objekten, an Dingen und Artefakten aus Natur, Technik und Kultur, das als material turn[2] geläufig ist.[3] Entsteht daraus eine neue Formel für die Natur der Sache?

Die Phänomenologie entdeckt den Körper (und qua embodiment den Menschen als Artefakt). Überall entdeckt man die Medialität des Sozialen. Cornelia Vismann entdeckt die Akten in Gericht und Verwaltung, der französische Soziologie Bruno Latour Treppenhäuser und Büroklammern im Conseil d‘Etat. Latour verkündet eine Akteur-Netzwerk-Theorie, die Menschen und Gegenstände zu einer hybriden Einheit zusammenfasst (und gleich ihr Akronym ANT mitliefert).[4] Die Dinge beginnen zu vibrieren oder zu performen. Sie zeigen Eigenlogik und Handlungsmacht. Die neue Sichtweise mündet etwa in der Frage, ob Flüssen, Tieren oder Automaten Rechtspersönlichkeit zukommt.

Latour erklärt den Unterschied zwischen der herkömmlichen Sichtweise (»soziologische Version«) und seiner eigenen Theorie (»materialistische Version«) am Beispiel einer Schusswaffe. Nach der soziologischen Version gilt: »Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen«, und Latour erläutert:

»Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Träger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausgeführt. … die soziologische Version [macht] die Waffe zu einem neutralen Willensträger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos Fließen.«

Die »materialistische Version« sagt dagegen: »Schusswaffen töten Leute«, und wiederum erläutert Latour:

»Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug – und wer hätte nicht, mit einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.«[5]

Das hatte die klassische Phänomenologie schon besser im Griff, in dem sie den Aufforderungscharakter von Situationen unter Einschluss iher Dingwelt beschrieb. Nunmehr wird den Objekten selbst agency zugeschrieben, ein schwer übersetzbarer soziologischer Begriff für Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit, der zu neuen Wortschöpfungen führt: Materie wird zum Aktanten, sie ist wirkmächtig, eigensinnig oder gar agentativ. Es werden Studien über Naturjoghurt als Resonanz der industriellen Landwirtschaft[6] oder Biografien von Kunststofftüten verfasst, die im Feuilleton einen Ehrenplatz fänden.

Wenn man sich dem Recht zuwendet, geht es darum, wie belebte und unbelebte Körper, Akten, Gerichtsäle, Gebäude, Roben, Büroklammern und Stempel, im Konzert des Rechts mitspielen. Keine Frage, dass man Richter als Frauen oder Männer ansehen kann, die Roben und Unterwäsche tragen, die in Gerichtsgebäuden auf Bürostühlen vor Desktops oder Laptops sitzen, die Dateien und Akten produzieren und Toiletten benutzen. Keine Frage, dass Nichtjuristen beim Paragraphenzeichen oder im Kriminalmuseum Rothenburg an Recht denken. Keine Frage, dass Historiker aus Artefakten Rechtsgeschichte rekonstruieren können. Keine Frage, dass Material und Materialisierungen des Rechts auch ästhetisches Interesse wecken. [7] Doch die »Natur der Sache«, die für die juristische Argumentation von Interesse ist, findet sich hier nicht.

Für die Beziehungen zwischen der materiellen und der sozialen Welt wird eine Fülle von Umschreibungen angeboten: Der Mensch als Teil eines sozio-materiellen Arrangements; Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum, von biologischen und psychischen Phänomenen mit sozialem Handeln; Mitwirkung des Materiellen in sozialen Praktiken; Eigengesetzlichkeit von Materialität, soziale Vorgängigkeit der Objekte; Mitwirkung des Materiellen in sozialen Praktiken; Widerständigkeit von Dingen und von Körpern; usw. usw. Daran schließen sich Forderungen wie die, die Blindheit für die materiale Dimension des Sozialen zu überwinden, hegemoniale Konzeptionen des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zu irritieren, Sozialität und Materialität zu resymmetrieren; materialitätssensibel zu verfahren; Körper, Dinge, Objekte und sogar Materie selbst als prozesshaft und relational zu verstehen, Materie in ihrer Unverfügbarkeit als immer schon grundlegend medial zu erfassen, die interaktive Verschränkung von Sozialem und Materie in den Blick zu nehmen, Akteure als leiblich zu begreifen, sie in ihrer Leiblichkeit ernst zu nehmen; die Relevanz von Materialität und Leiblichkeit für die soziologische Analyse anzuerkennen; die Technik und Medien weder als distinktive Bereiche der sozialen Wirklichkeit zu verhandeln noch diese essentiell in eins zu setzen, usw. Das alles soll zu einer radikalen Neuverhandlung der Frage der Materialität führen mit dem Ergebnis einer Neurahmung von Dinghaftigkeit als Relationalität und Materie als Materialisierung, die in relationalen Konzepten von Körper, Natur und Materie; in pluralen und offenen Ontologien oder postessentialistische Theorien des Materiellen mündet. Eine konsolidierte Theorie ist nicht in Sicht.

Als Neuer Materialismus ist der material turn ein feministisches Unternehmen geworden.[8] Es wendet sich, anders als der Neorealismus, nicht grundsätzlich gegen den kulturalistischen Konstruktivismus, sondern reagiert auf ein selbstgeschaffenes Problem der Queer-Theorie, die Umdeutung des biologisch-anatomischen Geschlechts zu einer sozialen Konstruktion. Der Neue Materialismus kommt mit einer epistemologischen und mit einer normativen Botschaft. Epistemologisch richtet sich er gegen einen positivistischen Tatsachenbegriff und damit gegen die Dualismen von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Natur und Kultur. Normativ fordert er einen sorgsameren Umgang mit materiellen Objekten, zu denen auch der menschliche Körper zählt.

Der Neue Materialismus widmet sich kaum der Materie an sich, sondern wissensgenerierenden Prozessen und kehrt so zu einem Konstruktivismus der Kontingenz und Unbestimmtheit der Materie zurück. Erneut steht dahinter das Anliegen des queertheoretischen Feminismus, auf epistemologischer Ebene die empirische Differenz der Geschlechter auszuhebeln. Das Startzeichen setzte Donna Haraway. Sie verlangte von einem

»feminist empiricism … simultaneously an account of radical historical contingency for all knowledge claims and knowing subjects, … and a no-nonsense commitment to faithful accounts of a ›real‹ world, one that can be partially shared and that is friendly to earthwide projects of finite freedom, adequate material abundance, modest meaning in suffering, and limited happiness«[9].

Karan Barad entwickelt einen agential realism, der Realität nicht vorfindet, sondern erst aus der Begegnung von Menschen und Dingen entstehen lässt.[10] Barad hatte sich als Physikerin dem Feminismus zugewandt. Da lag es nahe, an den Welle-Teilchen-Dualismus und die damit verbundene Unschärferelation anzuknüpfen. Das berühmte Diktum von Nils Bohr, es gebe keine Realität jenseits der Beobachtung, stützte sich auf das Phänomen, dass subatomare Teilchen nicht unabhängig von ihrer Beobachtung zu lokalisieren sind. Barad schließt daraus, dass Materie und menschliche Erkenntnistätigkeit erst in aktivem Zusammenwirken zum Wissenserwerb führen. Die Analogie zur Teilchenphysik überzeugt nicht. Die Analogiebasis taugt nichts, hängt doch die Lokalisierbarkeit subatomarer Teilchen keineswegs von menschlicher Beobachtung ab, sondern von der Nachbarschaft anderer Teilchen. Albert Einstein soll Bohr gefragt haben: Glaubst Du wirklich, dass der Mond nicht da ist, wenn niemand hinsieht? Die Antwort Bohrs war nicht weniger spitzfindig als die Frage: Beweise mir das Gegenteil! Es kommt nicht darauf an, ob Menschen hinsehen. Entscheidend ist, dass in der Masse des Mondes subatomare Teilchen kein Eigenleben führen und als solche nicht beobachtbar sind. Man kann schwerlich von fehlender Realität sprechen, wenn sich das Verhalten der Teilchen so berechnen und steuern lässt, dass man damit funktionierende Quantencomputer bauen kann.

Plausibel wäre dagegen die Wissenschaftstheorie des Biologen Hans Mohr, welche die Leistungsfähigkeit und Grenzen der menschlichen Denk- und Erkenntnisstrukturen durch die Evolution bestimmt sieht.[11] Damit wären letztlich auch die apriorisch gedachten Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität sowie die klassische Logik nur das Ergebnis evolutionär verfestigter Erfahrung. Die Erfahrung ist durch die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane begrenzt mit der Folge, dass unsere kognitiven Strukturen nur dem Bereich der »mittleren Dimensionen«, dem so genannten Mesokosmos angepasst sind. Insoweit entsprechen sie den Realstrukturen der Welt.

»Die Auflösungskraft unseres Sehvermögens z. B. ist etwa 1/10 mm im Raum und 1/16 s in der Zeit. Der Grund für die Begrenzung unseres sensorischen Systems und damit unserer Anschauungsformen und kognitiven Strukturen ist darin zu suchen, daß die genetische Evolution des Menschen abhing von der Struktur und Auflösungskraft jener Sinnesorgane, die ihrer prinzipiellen Konstruktion nach viel früher in der tierischen Evolution angelegt waren und kaum noch verbessert werden konnten. Demgemäß war die genetische Evolution der Hominiden in den letzten zwei Millionen Jahren in erster Linie eine Evolution des Gehirns, eine Evolution der Datenverarbeitung.«[12]

Die Folge ist, dass unser Vorstellungsvermögen für Mikrokosmos und Makrokosmos nicht ausreicht, wiewohl auch dort die Realstrukturen mehr oder weniger denen des Mesokosmos entsprechen dürften, so dass indirekte Methoden der Beobachtung und die Mathematik nicht versagen. Die Quantenphysik hat jedenfalls die Suche nach einer Realität mit Ursache und Wirkung nicht aufgegeben.[13]

Es sind Menschen, die über das Verhältnis von Materie und Mensch theoretisieren. Sie können nicht aus ihrer Haut, schreiben aber über etwas außerhalb ihrer selbst, bestätigen damit den Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, den sie doch überwinden wollen. Das ist der performative Widerspruch der Beobachtung. Der Beobachter ist Teil der Welt, die er beobachtet, und hat doch keine Wahl als die Welt wie etwas Fremdes anzusehen, also als Subjekt über Objekte zu denken und zu reden.

Normativ wendet der Neue Materialismus sich gegen den mit den beklagten Dualismen verbundenen Anthropozentrismus und fordert einen sorgsameren Umgang mit Natur und Umwelt. Barad spricht von verantwortungsvoller Objektivität. Solche Forderungen sind gerne akzeptiert. Dazu braucht es keinen Umweg über die Epistemologie. Mit Epistemologie lässt sich keine Ethik begründen. Der Begriff des Anthropozentrismus entwickelt insoweit eine Eigendynamik, weil er einerseits für die epistemologische Position des Repräsentationalismus und andererseits für ein normatives Konzept steht. Beides hängt allenfalls historisch zusammen. Anthropozentrismus als normatives Konzept hat auch keineswegs zwangsläufig eine Geringschätzung von Natur und Umwelt zum Inhalt. Im Gegenteil: Allein der Mensch kann und muss Verantwortung gegenüber Umwelt und Natur übernehmen.

Es ist keine Frage, dass Raum, Zeit und Materialitäten aller Art menschliches Handeln bestimmen. Aber solche Bestimmung findet ihren Weg immer nur über das menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen, oft auf vielen Umwegen, so dass es an aktuellem Bewusstsein fehlen mag. Materie wirkt, aber sie handelt nicht. Sie liefert Dispositive, nicht mehr und nicht weniger. In letzter Instanz bleibt es der Mensch, der handelt.

Eine Antwort, wie man aus dem Materiellen im weitesten Sinne – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, bleibt der material turn schuldig. Nur wenn man ihn oberflächlich beim Namen nimmt, kann man daraus einigen Nutzen ziehen, sei es, dass man öfter ins Museum geht, um die Materialisierungen der Kultur zu bewundern, sei es, dass man sich ermutigt fühlt, um mit der »Natur der Sache« zu argumentieren.


[1] Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, 2015, Einleitung S. 9.

[2] Dazu allgemein Tony Bennett/Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, 2010 (Einleitung der Hg. S. 1-19); Peter J. Bräunlein, Material Turn, in: Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), Dinge des Wissens 2012, 30-44; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Neue Materialismen zur Einführung, 2021 (Rezension von Martin Küpper, Zeitschrift für philosophische Literatur 9, 2021, 52-57; Martin Küpper, Materialismus, 2017; Hyo Yoon Kang/Sara Kendall, Introduction, Law Text Culture 23, 2019, 1-15; Chandra Mukerji, The Material Turn, in: Robert A. Scott/Stephan M. Kosslyn (Hg.), Emerging Trends in the Social and Behavioral Sciences 2015, S. 1-13. Seit 1996 erscheint bei SAGE ein Journal of Material Culture.

[3] uf der gleichen Ebene liegen temporal turn und spatial turn, die aber selten mit mit dem material turn zusammen gebracht werden.

[4] Bruno Latour, Das Parlament der Dinge: für eine politische Ökologie, 2001 [La fabrique du droit, Une ethnologie du Conseil d‘Etat, 2002], Rezension von Fabian Steinhauer, Der Staat, 56, 2017, 293-304.

[5] Über technische Vermittlung, in: Belliger/Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.

[6] Gianna Behrendt, Soziologie der Resonanz Der Naturjoghurt, in: Anna Henkel (Hg.), 10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 29-39.

[7] Hyo Yoon Kang, Law‘s Materiality: Between Concrete Matters and Abstract Forms. How Matter Becomes Material, in: Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos (Hg.), Routledge Handbook of Law and Theory, 2019, 453-474, S. 454 u. 458.

[8] Martin Kallmeyer, New Materialism: neue Materialitätskonzepte für die Gender Studies, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), HB Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2017, 1-10; Nina Lykke, Feministische Postkonstruktionismus, in: Tobias Goll u. a. (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, 2013, S. 36-48.

[9] Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies 14, 1988, 575-599, S. 579.

[10] Karen Barad, Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, Signs: Journal of Women in Culture and Society 28, 2003, 801-831; dies., Agentieller Realismus, Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, 4. Aufl. 2020; dazu; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Die Macht der Materie: Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad, Soziale Welt 66, 2015, 261-279; Sigrid Schmitz, Karen Barad: Agentieller Realismus als Rahmenwerk für die Science & Technology Studies, in: Diana Lengersdorf/Matthias Wieser (Hg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, 2014, 279-291. .

[11] Hans Mohr, Natur und Moral, 1987.

[12] Mohr S. 26f.

[13] Das lässt sich der Nobelpreisrede von Anton Zeilinger entnehmen: https://www.youtube.com/embed/fW4SwcMQYdA.

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Relevante Ähnlichkeit

Will man Fragen beantworten oder gar Probleme mit einer Analogie lösen, so hilft nicht jede Ähnlichkeit. Es kommt auf relevante Ähnlichkeiten an.[1] Der Relevanzbegriff ist allerdings kaum schärfer als derjenige der Ähnlichkeit.[2] Der Relevanz kommt man jedoch auf die Spur, wenn man die Beispiele für (mögliche) Analogien nicht abstrakt ansieht, sondern mit den Augen unterschiedlicher Betrachter, die jeweils ihre eigenen Fragen stellen.

Aristoteles wollte bei der Bildung seines Beispiels zeigen, was Sprache leisten kann. Mit Dionysos und Ares hatte er zwei Götter und Söhne des Zeus vor Augen, also zwei gleiche Objekte. Vor Augen hatte er aber auch die verschiedenen Attribute, den einen Gott mit Becher, den anderen mit Schild. Gleichheit und Ungleichheit zusammen ergibt Ähnlichkeit. In dieser Situation, so zeigt Aristoteles uns mit seinem Beispiel, können die Attribute als Ersatz für die Namen dienen.

Den Besucher der Antikenabteilung des Museums, der nebeneinander zwei Vasen mit figürlichen Darstellungen erblickt, bewegt die Frage, wen die Figuren darstellen könnten. Er wird zunächst Gleichheit konstatieren: Auf beiden Vasen sind Figuren aus der Mythologie abgebildet. Dann wird er nach Unterschieden suchen und bemerken, dass beide Figuren einen anderen Gegenstand in der Hand tragen. Nun erscheinen ihm die Figuren nicht länger als gleich, sondern nur noch als ähnlich. Wenn sein Vorwissen ausreicht, wird er mit Hilfe der Attribute aus seinem Vorwissen die Namen der dargestellten Figuren erschließen.

Der Aristoteles-Übersetzer will einen passenden Ausdruck für die Vokabel φιάλη finden, mit der Aristoteles den Becher des Dionysos bezeichnete. Der Übersetzer weiß, dass Dionysos im Bild meistens mit dem κάνθαρος, dem zweihenkligen Weinbecher, dargestellt wurde. Gigon übersetzte daher mit »Becher«, Fuhrmann dagegen mit »Schale«, vielleicht, um sprachlich eine Ähnlichkeit der unterschiedlichen Attribute zum Ausdruck zu bringen, die vielleicht schon Aristoteles im Sinn hatte, hat doch ein Schild umgedreht die Form einer Schale (und im Deutschen kommt die passende Alliteration hinzu). Anstelle des Bechers hätte Aristoteles auch den Thyrsos wählen können. So hat jeder einen anderen Blick auf die Dinge. Was als Ähnlichkeit wahrgenommen wird, liegt im Auge des Betrachters.

Für das »Auge des Betrachters« nutzen Psychologie, Soziologie und Linguistik das Konzept des Framing.[3] Frames sind kognitive Strukturen, die Wissen über bestimmte Phänomene oder Situationen ad personam bündeln. Diese Rahmung hängt von der Position (dem Aspekt) des Fragers ab und bestimmt damit dessen Definition der Situation. Damit schließt sich der Kreis zum Mapping und Encoding. Eine komplexe Situation wird subjektiv durch eine Auswahl konkreter Merkmale strukturiert, die als handlungsleitende Rahmung die Wahrnehmung lenkt. Merkmale, die im frame nicht enkodiert sind, bleiben draußen vor. Unberücksichtigt bleiben so im Beispiel des Aristoteles etwa die verschiedenen Mütter der beiden Zeus-Söhne, aber auch deren weitere Attribute.

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Zwischen zwei beliebigen Objekten gibt es praktisch immer Unterschiede und ebenso Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeiten wahrgenommen werden können. Jedes Mapping einer Situation, das durch das die Enkodierung von Merkmalen und Relationen die Erkennung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden möglich macht, lässt viele Merkmale unberücksichtigt. Was verschieden, gleich oder ähnlich ist, ist relativ zum frame desjenigen, der die Antwort auf eine von ihm gestellte Frage sucht. Gelegentlich springen Ähnlichkeiten aber auch unabhängig von bestimmten Problem- oder Fragestellungen ins Auge.

In vielen Situationen bietet der Rechtsstandpunkt einen Bezugsrahmen, der sich gegenüber anderen Rahmungen (wirtschaftlicher Standpunkt, politischer Standpunkt, Interessenstandpunkte) abgrenzen lässt. Der Rechtsrahmen kann jedoch zerfallen, wenn eine Analogie herangezogen werden soll, um ihn auszufüllen. Weinreb versucht zu beruhigen mit der These, dass juristische Ausbildung und Praxis zu einem einheitlichen Urteilsvermögen verhelfen:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them (…) that some similarities count for the matter at hand and others do not.« [4]

Brozek ist kritisch.[5]

»I find Weinreb’s conception problematic for one simple reason: he offers no structural account of analogical reasoning and the fact that we do (and often successfully) use analogies on daily basis is not a strong argument to the effect that analogy can serve as justification in rational legal discourse.«

Volle Skepsis gegenüber dem Ähnlichkeitsurteil der Juristen formuliert Schauer, wenn er schreibt:

» … lawyers do not select analogies that they will believe will not lead someone – judge or jury – to the conclusion that they are advocating, and judges do not select analogies that they believe will not help the reader of an opinion see the wisdom in heir conclusion.«[6]

Ich bin hin- und hergerissen. Deshalb will ich Weinreb ausführlicher zitieren.

»Although no rule dictates a decision, in the manner of a deductive argument, the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is iformed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decisionbeing made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.« (S. 59f)

»Without having any general rule or principle to work with, we often can tell with reasonable assurance what is likely to be relevant, because we have had more or less similar experiences, of how things work. Sometimes experience fails us. Who would have thought that the mold that forms on brad and other foods would be the source of an invaluable medicine? But over the lare range, our experience is ordely and serve us well.« (S. 122)

»The coherence and stability of a legal order is an analog of the orderliness of nature. The Analogy is not complete because our knowledge of the natural order depends on the overriding premise that its regularities are part of an objective reality that is there to be discovered. Regularities of the legal order , on the other hand, are the product of human design and have to be constructed. Nevertheless, in an ongoing legal order, they enable us to subject analogies in the law to the ordinary demands of substantive reasonableness, in light of what we know.

In short, support for the analogy on which an analogical legal argument depends is found in its legal context, or, more simply, in the law itself. Those who insist, that there is no basis for validating a legal argument except by deduction or induction suppose that lawyers and judges make their argument in a vacuum, as if they have no more reason to choose one analogy over another than would a visitor from Mars who was asked to explain why the lawn is wet.« (S. 125)

Und noch einmal vollständiger von S. 127:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them … that some similarities count for the matter at hand and others not. Their ability to make such distinctions is no more mysterious in the one case than it is in the other. If a legal analogy cannot be put to the test in the same way that a practical analogy can, it is nevertheless subject to tests of consistency and coherence with rules of law that together indicate the relevance of particular facts to the issue in question, although neither individually nor collectively do they prescribe conclusively for the specific situation.«

Weinreb findet in der Fähigkeit, situationsadäquat Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit wahrzunehmen, eine jedem Menschen angewachsene Kompetenz.[7]

»Ther is no question, however, that the ability is acquired very early and that it cannot be assimilated or reduced to deductive reasoning, because deductive reasoning depends on it.«

Dazu bezieht sich Weinreb auf W. V. Quine, bei dem zu lesen ist [8]:

»A standard of similarity is in some sense innate.«

Das Zitat stammt aus dem berühmten Aufsatz »Natural Kinds« (dort S. 274), in dem Quine dem Induktionsproblem mit einem realistischen Gattungsbegriff auf die Spur kommen wollte. Auch daraus sei ausführlicher (von S. 272) zitiert:

»For surely there is nothing more basic to thought and language than our sense of [similarity]; our sorting of things into kinds. The usual general term, whether a common noun or a verb or an adjective, owes its generality to some resemblance among the things referred to. Indeed, learning to use a word de pends on a double resemblance: first, a resemblance between the present circumstances and past circumstances in which the word was used, and second, a phonetic resemblance between the present utterance of the word and past utterances of it. And every reasonable expectation depends on resemblance of circumstances, together with our tendency to expect similar causes to have similar effects. The notion of a kind and the notion of similarity or resemblance seem to be variants or adaptations of a single notion. Similarity is immediately definable in terms of kind; for, things are similar when they are two of a kind. The very words for ›kind‹ and ›similar‹ tend to run in etymologically cognate pairs. Cognate with ›kind› we have ›akin‹ and ›kindred‹. Cognate with ›like‹ we have ›ilk‹. Cognate with ›similar‹ and ›same‹ and ›resemble‹ there are ›sammeln‹ and ›assemble‹, suggesting a gathering into kinds. We cannot easily imagine a more familiar or fundamental notion than this, or a notion more ubiquitous in its applications. On this score it is like the notions of logic: like identity, negation, alternation, and the rest. And yet, strangely, there is something logically repugnant about it. For we are baffled when we try to relate the general notion of similarity significantly to logical terms. One’s first hasty suggestion might be to say that things are similar when they have all or most or many properties in common.«

Was folgt aus alledem? Anscheinend gibt es so etwas wie einen Naturalized Turn in Epistemology (Chase Wrenn im der Routledge Handbook of Social Epistemology, 2019). Die Epistemologie kann den Alltagsrealismus doch nicht ganz ingnorieren. Es kommt auf die Suchrichtung an. Wenn man eine Matter of Question im Kopf hat und nach Ähnlichkeiten sucht, findet man nur relevante Ähnlichkeit. Fragt man dagegen nach Gleichheit, vergleicht man also zwei Objekte, so drängen sich auch natürliche (ontologische) Ähnlichkeiten auf.


[1] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[2] Brewer (wie Fn. 5) S. 933.

[3] Für die philosophische Argumentationstheorie baut Harald Wohlrapp auf dieses Konzept: wie Fn. 24 und ausführlich in: The Concept of Argument. A Philosophical Foundation, 2014, S. 175ff. .

[4] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 127.

[5] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[6] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S. 88.

[7] S. 114ff.

[8] Willard van Orman Quine, Natural Kinds, in: Essays in Honor of Carl G. Hempel,1969. Ich zitiere nach dem Abdruck in: Jaegwon Kim/Daniel Z. Korman/Sosa (Hg.), Metaphysic. An Anthology, 2012, 271-280, S. 272.

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Analogie als Prozess

Die Überlegung, was am Anfang einer Analogie stehen könnte, nämlich die »Matter in Question«, deutet darauf hin, dass die Folgerung am Ende das Ergebnis eines gedanklichen Prozesses sein muss, den man in seinen verschiedenen Stadien beschreiben kann.

Der gedankliche Prozess beginnt mit der Identifizierung eine Ausgangssituation, für die eine Erklärung gesucht, eine Frage zu beantworten oder ein Problem zu entscheiden ist. In juristischem Zusammenhang geht es stets darum, eine Norm zu finden, die eine Rechtsbehauptung stützen könnte. Brewer spricht von der analogy-warranting rule und liefert gleich eine Abkürzung mit (AWR).[1]

Im zweiten Schritt folgt die Suche nach Vergleichssituationen, die als Beispiel oder Vorbild dienen und damit zur Basis der Analogie werden können. In juristischem Zusammenhang geht es darum, einen bereits durch Gesetz oder Präjudiz geregelten ähnlichen Fall zu finden.

Im dritten Schritt wird ein Mapping der Ausgangssituation und der Vergleichssituation auf Ähnlichkeiten und Unterschiede angestellt. In juristischem Zusammenhang geht es darum, den Tatbestand der Vergleichssituation und den Tatbestand der Ausgangssituation zu vergleichen, also um einen Fallvergleich.

Im vierten Schritt werden die Merkmale oder Relationen identifiziert, die das Ausgangsproblem lösen könnten, wenn sie vom Vergleichsfall auf den Ausgangsfall übertragen würden. In juristischem Zusammenhang ist dieser Schritt schon mit dem ersten Schritt erledigt. Zu übertragen wäre die Rechtsfolge der Norm, die den Vergleichsfall regiert.

Im fünften Schritt wird nach Gründen gesucht, die für oder gegen die Übertragung sprechen. In juristischem Zusammenhang ist hier die wichtigste Arbeit zu leisten. Dabei wird man wiederholt auf den dritten Schritt zurückgeworfen, weil Ähnlichkeiten und Unterschiede in Abhängigkeit von den Gründen wahrgenommen werden.

Der sechste und letzte Schritt ist dann die Entscheidung für oder gegen den Analogieschluss.

Brozek fasst die ersten vier Schritte als Heuristik zusammen, den funften und sechsten als Abwägung.

Brewers Abhandlung ist weitgehend als Verteidigung der Analogie als eines selbständigen Arguments rezipiert worden. Dagegen macht Weinreb mit guten Gründen geltend, Brewer lege tatsächlich der Analogie nur als Heuristik einen Eigenwert bei. Alle weiteren Schritte, mit denen die durch die Analogie entdeckte Regel bestätigt oder verworfen werden, liefen auf eine Kombination von induktiven und deduktiven Argumenten hinaus.[2] Es lohnt sich indessen, noch einmal auf das heuristische Anfangsstadium zurückzukommen, das Brewer als Abduktion einordnet. Mit Peirce kann man davon ausgehen, dass die Auffindung von brauchbaren Erklärungen für neue Probleme am besten dem Wissenschaftler gelingt, der im Allgemeinen mit dem Problembereich vertraut ist. Analog gilt das auch für normative Analogien. Was am Anfang die Qualität der Abduktion bestimmt, könnte am Ende nach der Durchmusterung der konduktiven Argumente noch einmal für das abschließende Werturteil für oder gegen die Analogie wichtig werden. Die juristische Expertise überbrückt mit Hilfe der Analogie den dezisionistischen Rest der Entscheidung.


[1] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics. Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. 962.

[2] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 109.

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Analogie und »Matter in Question«

Viele Überlegungen zur Struktur der Analogiebildung gehen davon aus, dass Analogiebildung mit der Wahrnehmung einer Problemsituation beginnt, im Rechtsdenken also etwa mit der Wahrnehmung einer Lücke. In der Argumentationsliteratur wird Analogiebildung als ein Verfahren zur Gewinnung von Schlussfolgerungen behandelt. Am Anfang steht eine Frage, ein Streitpunkt, ein Problem, ein Ausgangsfall, bei Wohlrapp in einem englischen Text »matter in question«[1]. Es ist aber denkbar, dass erst die Feststellung einer Ähnlichkeit auf Fragen und Probleme hinführt. Einem Touristen etwa, der eine fremde Stadt besichtigt, fällt auf, dass dort viele Gebäude einander ähnlich sehen. Der Besucher eines Museums bemerkt Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kunstwerken. Die Ähnlichkeit wird zunächst auf der Ebene phänomenologischer Betrachtung konstatiert. Erst ex post stellen sich Fragen ein. Man bemerkt einen Menschen, der einem Bekannten frappierend ähnelt und fragt sich: ist das Verwandtschaft oder eine Laune der Natur. Einige Autoren sprechen insoweit von figurativen[2] Analogien, die keine bestimmte Frage beantworten. Explanatorische Analogien sollen allein dem besseren Verständnis dienen.[3] Ein berühmtes Beispiel ist der Vergleich von Strom mit Strom, also Elektrizität mit einem Fluss:

»Did you ever stop to think how words mold science and make it what it is? The scientists who first described electricity as a ›current‹ forever shaped science in this field. It then quite naturally began seriously to be assumed that electricity was something that flowed through wires as water flows between riverbanks. Naturally then it had a potential rate of flow influenced by the resistance it met. One term followed another and soon this cloud of symbols veiled the mystery of electricity and we felt that we completely understood.«[4]

Die Fähigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit zu konstatieren und daraus Schlüsse zu ziehen, ist eine menschliche Basiskompetenz, die sich von früher Kindheit an entwickelt. Zuerst werden nur Attribute unterschieden. Dann auch Funktionen und Kausalitäten und damit Strukturen. So entwickelt sich die Fähigkeit zu weiterführenden Analogien.

Die Priorität von Frage oder Ähnlichkeit ist nicht immer klar. Ähnlichkeiten lösen Fragen aus. Fragen nehmen Einfluss darauf, ob und wo man Ähnlichkeiten findet. Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeit erscheinen können, gibt es fast immer. Autos und Häuser haben Fenster gemeinsam. Vögel und Flugzeuge können fliegen. Kunstbilder und Herbstlaub sind farbig. Stühle und Menschen haben Beine. Deshalb werden sie aber normalerweise nicht als ähnlich wahrgenommen. Es scheint jedoch Ähnlichkeiten zu geben, die sich phänomenologisch mehr oder weniger aufdrängen. Anscheinend springt Ähnlichkeit eher ins Auge beim Vergleich von Attributen als beim Vergleich von Relationen.[5] Der Bundesfinanzhof hatte darüber zu befinden, ob Einkünfte aus der Vermietung eines in der die Luftfahrzeugrolle eingetragenen Flugzeugs ebenso zu behandeln seien wie Einkünfte aus der Vermietung von im Schiffsregister eingetragenen Schiffen.[6]  Da drängte das Attribut »Eintragung in ein öffentliches Register« die Analogie geradezu auf. Dagegen mag der Versuch, anonyme Umtriebe im Internet als »digitale Vermummung« in den Griff zu bekommen, zwar innovativ und einleuchtend erscheinen.[7] Die Relation »anonyme Kommunikation« ist aber doch vergleichsweise schwach.

Der Generalverdacht der Analogie-Skeptiker beruht darauf, dass keine zwei Objekte völlig gleich und ebenso wenig keine zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit aufweisen. Sie schließen daraus, dass das Auffinden einer Ähnlichkeit schlechthin beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos.[8] Es fällt schwer, dieser Skepsis uneingeschränkt zu folgen. Die Fähigkeit, über Mustererkennung Gleichheit festzustellen, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden, und Tiere sind auch schon in der Lage auf Ähnlichkeiten u reagieren.[9] Ähnlichkeiten drängen sich jedermann im Alltag ohne Anlass immer wieder auf. In psychologischen Tests werden relativ übereinstimmend Ähnlichkeiten erkannt. (Nicht nur) Künstler können ein Thema in Sprache Bild und Ton gezielt variieren, also Ähnlichkeiten herstellen, die dann auch in der Regel wiedererkannt werden. Wir können es nicht beweisen. Aber es gibt wohl doch eine objektivierbare Phänomenologie der relevanten Ähnlichkeit.


[1] Harald Wohlrapp, A New Light on Non-Deductive Argumentation Schemes, Argumentation 12, 1998, 341-350, S. 343.

[2] Bruce N. Waller, Classifying and Analyzing Analogies, Informal Logic 21, 2001, 199-218, S. 200.

[3] Douglas N. Walton, Informal Logic, 2. Aufl. 2008, S. 311; Manfred Kraus, Arguments by Analogy (and What We Can Learn about Them from Aristotle), in: Frans H. van Eemeren/Bart Garssen (Hg.), Reflections on Theoretical Issues in Argumentation Theory, 2015, 171-182, S. 172 mit Nachweisen, denen ich nicht nachgegangen bin.

[4] T. Swann Harding, Science at the Tower of Babel, Philosophy of Science 5, 1938, 338-353, S. 347.

[5] Robert L. Goldstone/Douglas L. Medin/Dedre Gentner, Relational Similarity and the Nonindependence of Features in Similarity Judgments, Cognitive Psychology 23, 1991, 222-262.

[6] BFH, Urteil vom 02. Mai 2000 – IX R 71/96 –, BFHE 192, 84.

[7] Timo Schwandner, Das digitale Vermummungsverbot – eine irreführende Analogie, ZRP 2019, 207-209; vgl. auch Hans-Christian Gräfe/Andrea Hamm, Anonymität im Internet, in: Franz X. Berger u. a. (Hg.), Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen, 2021, 251-286.

[8] Hier lässst sich Peirce zitieren, der mit Beispielen die Beliebigkeit von Ähnlichkeitsargumenten demonstrieren will (CP 2.634): »There is no greater nor more frequent mistake in practical logic than to suppose that things which resemble one another strongly in some respects are any the more likely for that to be alike in others. That this is absolutely false, admits of rigid demonstration; but, inasmuch as the reasoning is somewhat severe and complicated (requiring, like all such reasoning, the use of A, B, C, etc., to set it forth), the reader would probably find it distasteful, and I omit it. An example, however, may illustrate the proposition: The comparative mythologists occupy themselves with finding points of resemblance between solar phenomena and the careers of the heroes of all sorts of traditional stories; and upon the basis of such resemblances they infer that these heroes are impersonations of the sun. If there be anything more in their reasonings, it has never been made clear to me. An ingenious logician, to show how futile all that is, wrote a little book, in which he pretended to prove, in the same manner, that Napoleon Bonaparte is only an impersonation of the sun. It was really wonderful to see how many points of resemblance he made out. The truth is, that any two things resemble one another just as strongly as any two others, if recondite resemblances are admitted.«

[9] Keith James Holyoak/Paul Thagard, Mental Leaps, 1995, S. 40 ff: The analogical ape.

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Analogie und Beispiel III: Fallvergleich und Distinguishing

Jedermann steht ständig vor der Notwendigkeit, Handlungsentschlüsse zu fassen. Da kann jede Handlung, die er beobachtet, zum Vorbild oder Beispiel werden. Beispiele können als bloße Anleitung (Rezept) oder als Normvorschlag dienen. Einem Beispiel zu folgen heißt, die aus dem Beispiel ersichtliche Regel zu verwirklichen. Auch Beispiele, die nur eine Gebrauchsanleitung für einen Sacherfolg liefern, enthalten insofern eine Regel. Handlungen, die nicht als Vorbild gedacht sind, können doch als solches wirken. (Im Alltag ist das anscheinend bei schlechten Beispielen häufiger der Fall als bei guten.) Damit stoßen wir auf ein Henne-Ei-Problem, die Frage nämlich, was geht voraus, der Fall oder die Regel? Anders gefragt, dienen Präjudizien als Vorbild für Fälle oder als Quelle für Regeln?

Jede Bezugnahme auf ein Präjudiz fordert einen Fallvergleich. Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Für Fritjof Haft ist der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation«[1]. Haft wendet sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich.«[2] Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt.[3] Auch Arthur Kaufmann sieht im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie«[4]. Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wendet sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient. Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Gegen Kaufmann ist zu sagen: Auch ohne eine Rechtsnorm als Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich oder ähnlich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wenn sie verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie ist noch kein Vergleichsmaßstab. Dieser tritt für den Vergleich zur Kategorie hinzu. Primärer Maßstab für die Ähnlichkeit bleibt die Kategorie, der versuchsweise zugeordnet wurde. Erst wenn es darum geht, Ähnliches trotz Verschiedenheit gleichzusetzen, braucht man eine Regel als Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für die Gesetzesanalogie liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit.[5] Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary[6] definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy).[7] Das Problem steckt im essential. Offen bleibt, ob die Fälle als solche verglichen werden oder ob ein fallexterner Vergleichsmaßstab anzulegen ist.

Soll nicht auf eine Norm, sondern auf ein Präjudiz abgestellt werden, kann man nicht selten Gleichheit der Fälle konstatieren. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel. Aber so klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer. Die Kategorisierung von Fällen als gleich fällt »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion oft zweifelhaft aus. Dann allerdings muss ein Vergleichsmaßstab her. Als solche dient die Regel, die dem Präjudiz entnommen wird.

Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Sprachphilosophen mit einer »analogen« Problematik kämpfen und sich dazu an der Jurisprudenz orientieren. So überlegt Jasper Liptow, ob »sich unsere Praxis sprachlicher Verständigung aus philosophischer Perspektive in gewinnbringender Weise nach dem Modell einer (stark idealisierten) Praxis der Rechtsprechung verstehen lässt, nämlich des Fallrechts (case law)« [8]. Hintergrund ist die Kontroverse, ob zur Erklärung sprachlicher Verständigung von Idiolekten, also der Privatsprache einzelner Sprecher, oder besser von Soziolekten, also vom regelhaften Sprachverhalten menschlicher Gemeinschaften auszugehen ist. Liptow selbst optiert für den Idiolekt als Ausgangspunkt, weil sich die Individualität sprachlichen Verhalten nur damit vertrage. Aus dieser Sicht wären Sprachnormen nicht konstitutiv für die sprachliche Verständigung, sondern nur sekundäres Hilfsmittel.

»Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen. Insofern sie als das Verstehen einer gemeinsamen Sprache konzipiert wird, verfehlt sie diesen Zweck immer dann, wenn andere in ihren Sprachgewohnheiten – ihren Idiolekten – von dem abstrakten Ideal abweichen.… Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person.« (Liptow S. 5, 11)

Liptow geht von einem »Fallrechts-Modell sozialer Praxis« aus, das von Robert Brandom »in einem ganz anderen Kontext« entwickelt wurde, nämlich zur der von ihm semantisch pragmatistisch genannten These, »daß der Gebrauch von Begriffen ihren Gehalt bestimmt, d. h. daß Begriffe keinen Gehalt außer dem haben können, der ihnen durch ihre Verwendung verliehen wird«[9]. Brandom charakterisiert dieses Modell damit,

»daß es ausschließlich auf Fällen beruht. Es ist keine Auslegung von expliziten Grundrechten, Regeln oder Prinzipien. Es gibt hier nur eine Abfolge von Anwendungen von Begriffen auf aktuelle Gruppen von Tatsachen. … Der Gehalt der Begriffe, die der Richter anwenden muß, ist vollständig konstituiert durch die Geschichte ihrer früheren tatsächlichen Anwendungen … Es ist diese Tradition, gegenüber welcher der Richter verantwortlich ist. Der Gehalt dieser Begriffe wurde vollständig durch ihre faktische Anwendung konstituiert.«[10]

Für die an dieser Stelle erörterte Frage, ob Gleichheit und Ähnlichkeit von Fällen auch ohne Rücksicht auf eine Regel oder Norm beurteilt werden kann, helfen die Überlegungen Brandoms aber nicht weiter. Was in seinem von Hegel bestimmten Kontext die »Begriffe« sind, sind im juristischen Kontext eben die Regeln. Brandom geht es darum, wie aus einer Kette von Fällen Regeln entstehen, wiewohl doch der Richter den Vor-Fall als Präjudiz verwerfen könnte. Seine Erklärung mit der »reziproke[n] Autorität« vergangener, aktueller und künftiger »Begriffsverwendungen« könnte im Abschnitt über »Casus und Regula« hilfreich werden. Für den aktuellen Zusammenhang entnehme ich Liptows Aufsatz aber nur, dass die Sprachphilosophie mit dem Gegensatz von Idiolekt und Soziolekt vor einem »analogen« Problem steht wie die Jurisprudenz mit der Frage, ob Fall oder Regel den Ausgangspunkt bilden. Wählt man analog zum Idiolekt den Fall als Ausgangspunkt und zieht man die Analogie mit Liptows Hilfe aus, so verhält es sich entsprechend der »radikalen Übersetzung« im Sinne von Quine und Davidson. Die Analogie funktioniert auf der Basis von Tatsachen, die ohne Regel zugänglich sind, nämlich auf einem Fall.

An Davidson knüpft auch Ralf Poscher in einem neuen Text über »The Hermeneutics of Legal Precedent«. Er stellt auf die intentionalistische Konzeption Davidson zu Meinung und Bedeutung ab, den er wie folgt zitiert:

»So in the end, the sole source of linguistic meaning is the intentional production of tokens of sentences«.

Davidson habe jedoch hinzugefügt, dass Bedeutung und Interpretation nicht auf konventionelle Sprache angewiesen seien. Wenn es um Präjudizien gehe, die selbst kein holding oder keine Regel formulierten, so müsse dennoch »hermeneutisch« nach der Intention der Entscheider gefragt werden.

Meine These lautet hier, dass ein Fallvergleich mindestens vorläufig ohne Hilfe einer Regel möglich ist. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. In der Informatik spricht man vom One-Shot-Learning, das etwa dazu verhilft, ein bestimmtes Gesicht oder eine Stimme zu identifizieren. Praktisch wird dabei eine existente Kategorisierung nur durch zusätzliche Merkmale verfeinert. Nicht immer lässt sich auf diese Weise unterscheiden, ob ein identisches oder nur ein gleiches Objekt erkannt wird.

Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll, in der Regel fordert. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den dem Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung[11]. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Doch auch insoweit scheint mir ein vorjuristische, sozusagen ontologischer Fallvergleich nicht ausgeschlossen zu sein.

Wie würde künstliche Intelligenz (KI) den Fallvergleich übernehmen? KI hat keinen direkten Zugriff auf die Semantik und damit auf den intensionalen Gehalt eines Begriffs. KI arbeitet vielmehr extensional, das heißt, es werden Merkmale bestimmt, anhand derer sich die Fälle erkennen und unterscheiden lassen. Je mehr Merkmale benutzt werden, je spezifischer sie definiert werden, um so genauer wird eine Situation = Fall erkannt. Die Schärfe der Fallerkennung scheint also von der Spezifizierung der Merkmale abzuhängen, z. B. ob als Merkmal Tier oder Säugetier gewählt wird. Werden die Merkmale jedoch (zu) eng und scharf gewählt, so fallen (zu) viele Kandidaten aus dem Raster. Daher muss auch KI verfahren wie der Mensch im Alltag. Der bildet mit einer begrenzten Anzahl von Merkmalen ein »Konzept«. Dazu abstrahiert er von konkreten Gegenständen und Personen, Ereignissen und Handlungen. So entstehen »Typen«. Kelle/Kluge beziehen sich (S. 84) dazu (ungenau) auf Alfred Schütz. Diesen Bezug nehme ich als Wegweiser in die (Mundan)-Phänomenologie. Das bedeutet in meinem Zusammenhang, auch neue Aufgaben werden zunächst mit dem Vorrat an symbolischen Konstruktionen = Konzepten in Angriff genommen, die man in seiner Lebenswelt gewonnen hat.

Wenn also eine neue Aufgabe in Gestalt eines Fallvergleichs zu lösen ist, dann probiert man die Lösung zunächst mit unabhängig von dieser Aufgabe schon vorhandenen Konzepten. Zwar sind die Konzepte in Juristenköpfen immer schon mit Normvorstellungen angereichert. Dennoch besteht wohl grundsätzlich die Möglichkeit eines ontologischen oder besser phänomenologischen Fallvergleichs. Erst wenn es um die Gleichsetzung von bloß ähnlichen Fällen geht, kommt eine Regel oder deren Zweck ins Spiel.


[1] Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161, S. 153.

[2] Haft S. 156f.

[3] Haft S. 160.

[4] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. VI.

[5] Zutreffend sagt Kaufmann daher an anderer Stelle, dass ein striktes Analogieverbot auf ein Interpretationsverbot hinausläuft (Analogie und »Natur der Sache«, 1965, S. 4).

[6] 5. Aufl. 1979, S. 425.

[7] Brewer S. 936 + S. 983 +S. 1006.

[8] Jasper Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Friedrich Müller (Hg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, 55-69, S. 1. Ich zitiere nach einem im Internet verfügbaren Manuskript; daher die abweichenden Seitenangaben.

[9] Robert Brandom, Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus, Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, 1999, 355-381.

[10] A. a. . S. 377f.

[11] Udo Kelle/Susann Kluge, Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl., 2010.

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