Dies ist die dritte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.
Die nächste Aufgabe könnte darin bestehen, Kataloge möglicher Emotionen und Gefühle aufzustellen.[1] Leichter ist es, mit den Gefühlen zu beginnen, weil insoweit das Bewusstsein beteiligt ist, so dass wir von den Gefühlen ausgehen können, von denen wir reden. Hier die wichtigsten Kandidaten für eine Liste der Gefühle:
Abneigung (Antipathie), Zuneigung (Sympathie), Feindschaft, Aufregung, Interesse, Ärger, Empörung, Angst, Wut, Furcht, Appetit, Hunger, Durst, Sättigung, Lust, Neid, Ekel, Freude, Traurigkeit (Depression), Stolz, Scham, Schreck; Schmerz, Schuldgefühl, Überraschung, Zorn, Liebe, Hass, Eifersucht, Heimweh, Sehnsucht, Kummer; Mitleid, Langeweile.
Das Rechtsgefühl habe ich in der psychologischen Fachliteratur nicht gefunden. Dieses Gefühl kennen anscheinend nur Juristen.
»Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.« (Rudolf von Ihering, Der Zweck im Recht, 1877, Vorrede).
Aber die Liste der Gefühle ist nicht abgeschlossen. Es scheint so, als ob »wir beliebig viele verschiedene Gefühle erfahren können, gerade so, wie wir beliebig viele verschiedene Gedanken denken können«[2] Aber vielleicht ist das Rechtsgefühl auch gar kein »echtes« Gefühl. Bak unterscheidet zwischen »affektiven« und anderen Gefühlen. Als Beispiel für die anderen nennt er Pflichtgefühl, Verantwortungsgefühl oder Ballgefühl.[3] Ist das Rechtsgefühl das Ballgefühl der Juristen?
Wird das Rechtsgefühl nur aus kondensierter Erfahrung gespeist oder verfügt es jedenfalls zusätzlich über angeborene Elemente? Was die Erfahrung betrifft, so muss es sich nicht allein um Erfahrungen mit dem offiziellen positiven Recht handeln. Vermutlich gehen alle Erfahrungen mit zwischenmenschlichen Transaktionen in das Rechtsgefühl ein. Dann gibt es wohl ein vor(positiv)rechtliches Rechtsgefühl. Sprenger leitet ein vorrechtliches Rechtsgefühl, also ein solches, dass nicht in erster Linie vom modernen positiven Recht geprägt ist, aus sehr allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien ab (Gleichheit, Fairness, Goldene Regel).[4] In unserem Zusammenhang interessiert aber kein durch Prinzipien vermitteltes, sondern ein unmittelbar emotional geprägtes Rechtsgefühl – wenn es denn so etwas gibt. Das war immerhin die Prämisse der sozialpsychologischen Gerechtigkeitstheorie (Equity-Theorie). Ohne Anknüpfung an die Psychologie versuchen Ökonomen Fairness und Reziprozität mit einem spieltheoretischen Ansatz zu erklären.[5] Binmore findet in der Reziprozität am Ende eine genetisch programmierte Veranlagung. Als »vorrechtliches« Rechtsgefühl kommt ferner« der Gerechte-Welt-Glaube[6] in Betracht.[7] In den Sozialwissenschaften besteht anscheinend die Vorstellung eines angeborenen oder jedenfalls tief in der Psyche verankerten Gerechtigkeitsgefühls. (und dem Juristen drängt sich die Frage auf, ob dieses Gerechtigkeitsgefühl das gesuchte Rechtsgefühl ist.)
Damit ist die Frage, ob das Rechtsgefühl überhaupt als affektiv/emotional einzuordnen ist, allerdings nicht beantwortet. Dass das Rechtsgefühl durch Erfahrung geprägt wird, schließt seine Gefühlsqualität nicht aus, stellen doch die gängigen Emotionstheorien überwiegend auf »Kognitionen« ab. Vielleicht handelt es auch gar nicht um ein einheitliches Gefühl, sondern um ein Kompositum von, ja wovon?
[1] Mit einer »Typologie« versucht es das Handbuch »Emotionen«: Hermann Kappelhoff/Jan-Hendrik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt, Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2019. Viel zitiert wird eine Aufzählung von von Andrew Ortony u. a. , die, eingeteilt in drei Gruppen, jeweils im Hinblick auf bestimmte Objekte 24 Gefühle identifiziert (Andrew Ortony/Gerald L. Clore/Allan Collins, The Cognitive Structure of Emotions, 2 Aufl. 2022 [1988], Tabelle S. 22).
[2] Ronald de Sousa, Moralische Gefühle in Scharz-Weiß und Farbe, e-Jounal Philosophie der Psychologie, Juni 2005.
[3] Peter Michael Bak, Lernen, Motivation und Emotion, 2019, S. 146.
[4] Gerhard Sprenger, Rechtsgefühl ohne Recht, in: FS Ernst-Joachim Lampe, 2003, 317-338.
[5] Ken Binmore, Natural Justice, 2005; Luigino Bruni, Reziprozität, 2020.
[6] Melvin J. Lerner, Belief in a Just World. A Fundamental Delusion, 1980; Melvin J. Lerner/Sallly C. Lerner (Hg.), The Justice Motive in Social Behavior, 1981.
[7] Erstaunlich, dass in den zahlreichen Äußerungen zum Rechtsgefühl diese wohl empirisch am weitesten ausgetestete Theorie, die der Sozialpsychologe Melvin L. Lerner seit 1965 entwickelt hat, gar nicht auftaucht. Sie gehört heute zum Kanon des Faches: Jürgen Maes, Die Geschichte der Gerechte-Welt-Forschung: Eine Entwicklung in acht Stufen?, GiP-Bericht Nr. 17, 1998 .