Noch einmal Bourdieu, jetzt mit Rechtsbewusstsein

Dieser Eintrag geht zurück auf meine Lektüre von Kathryne M. Young/Katie R. Billings, Legal Consciousness and Cultural Capital, Law & Society Review 54, 2020, 33-65, die das Rechtsbewusstsein als Habitus im Sinne Bourdieus einordnen.

Seit 50 Jahren diskutiert man in der Rechtssoziologie darüber, wie sich das Recht in den Köpfen und Gefühlen der Menschen niederschlägt und von dort aus wirkt und zurückwirkt.

»Legal consciousness has been one of the most studied, discussed, and debated concepts in law and society research over the last thirty years.«[1]

Dabei steht die Frage nach Rechtskenntnissen im kognitiven Sinne nur am Anfang. Weiter und tiefer geht die Suche nach Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl. Die Begriffe sind schwer voneinander abzugrenzen, zumal wenn man die Pendants in anderen Sprachen hinzunimmt (opinion about law; legal consciousness; sense of justice, sens juridique). Von Rechtsgefühl (und Judiz) reden eher die Juristen[2]. In der (europäischen) Rechtssoziologie fragte man zunächst nach knowledge and opinion about law[3]. Ausgehend von den USA dominiert heute das Label legal consciousness, das sich zwanglos als Rechtsbewusstsein übersetzen lässt.

Was mit all diesen Begriffen gesucht wird, ist nicht sogleich klar. Semantik hilft nicht weiter. Das las man schon bei Theodor Geiger.[4] »Rechtsbewusstsein« lässt sich nicht direkt beobachten. Es ist ein theoretisches Konstrukt. Aber es ist in der empirischen Sozialforschung ganz normal, dass im Hin und Her zwischen Theorie und Beobachtung ein Konzept entsteht, das theoretisch brauchbar ist und zugleich die Beobachtung anleitet. Klar ist immerhin, dass das Rechtsbewusstsein irgendwie die subjektive Seite des Rechts erfassen soll. Was man insoweit beobachten kann, sind

Rechtskenntnisse,
Emotionen, die mit Rechtsnormen oder mit rechtlich geprägten Ereignissen verbunden sind,
Einstellungen zum Recht (Akzeptanz oder Ablehnung, Vertrauen),
intuitive Urteile über Rechtsfragen (Rechtsgefühl),
Fairness-Urteile im Sinne des social justice research.

Wenn man diese und vielleicht noch weitere Beobachtungen als unabhängige Variable setzt, schließt sich die Frage an, ob und wie daraus eine handlungsrelevante Mischung von Kenntnissen, Attitüden und Kompetenzen wird. Das wäre dann wohl das Rechtsbewusstsein. Die Variablen lassen sich je nach dem gerade interessierenden Problem differenzieren. Man kann insbesondere die »Subjekte« nach den üblichen sozialen Kriterien unterscheiden. Man kann das Rechtsbewusstsein daraufhin befragen, wieweit es dem offiziellen Recht entspricht. Man kann Situationen unterscheiden, in denen das Rechtsbewusstsein relevant wird. Oder man kann auf die Art und Richtung der aus dem Rechtsbewusstsein resultierenden Handlungsbereitschaft sehen (Compliance, Gebrauch von Recht, Widerstand gegen Recht, Passivität usw.).

Das damit angedeutete Konzept hat die einflussreiche amerikanische Rechtssoziologin Susan S. Silbey verworfen.[5] Sie machte geltend, legal conciousness als theoretisches Konzept und empirischer Forschungsansatz habe sein kritisches Potential verloren. Einst sei das Konzept wohl entwickelt worden um zu zeigen, wie das Recht seine institutionelle Macht verteidigen könne, obwohl es konstant hinter seinen Versprechungen zurückbleibe. Aber jetzt diene es im Gegenteil dazu, die Funktionsfähigkeit des Rechts für bestimmte Gruppen und Interessen zu verbessern. Das wäre die Fragestellung, die (der frühe) Austin Sarat unter dem Titel »Support for the Legal System« behandelte.

Eigentlich müsste genau darin ein Kennzeichen wissenschaftlicher Begriffe liegen, dass sie empirisch und/oder analytisch brauchbar und nicht von vornherein auf Kritik gemünzt sind. Aber manche Kontroverse um das Konzept des Rechtsbewusstseins hat ihre Ursache in mehr oder weniger expliziten Hintergrundtheorien. Chua und Engel identifizieren in ihrem Übersichtsartikel drei »Schulen« der Rechtsbewusstseinsforschung, die mit den Überschriften Identität, Hegemonie und Mobilisierung versehen werden.[6] Den Kern die Hegemonie-Schule bilden Susan S. Silbey, Patricia Ewick[7] und der spätere Austin Sarat.[8]

Von einem konsolidierten Konzept des Rechtsbewusstseins kann nach wie vor keine Rede sein. Aber irgendein Konzept von legal consciousness ist anscheinend unentbehrlich. Die Anzahl der Veröffentlichungen, die legal consciousness im Titel tragen, boomt.[9]

2016 hatte Kathleen E. Hull versucht, den Begriff des Rechtsbewusstseins als kritischen im Sinne Silbeys zu rehabilitieren. Young/Billings haben nun einen weiteren Anlauf unternommen, in dem sie das Rechtsbewusstsein als Habitus im Sinne Bourdieus einordnen, so dass die Frage nach dem Rechtsbewusstsein nunmehr als kritische Frage nach der Teilhabe an einer spezifischen Ausprägung kulturellen Kapitals gestellt werden kann.

Young/Billings sind nicht die ersten, die in der Debatte um das Rechtsbewusstsein auf Bourdieu beziehen. Allerdings hatte Mauricio García Villegas kritisiert, die Autoren hätten sich damals nur unvollständig auf Bourdieu eingelassen.[10] Dem trug Silbey 2005 Rechnung. Sie meinte, empirische Forschung, die das Rechtsbewusstsein bei den Akteuren und ihren Äußerungen verorten wolle, praktiziere einen substantialistischen Realismus, der nur die Oberfläche in den Blick nehme und die darunter verborgenen hegemonialen Strukturen nicht erkennen könne. Dafür stützte sie sich auf Bourdieu und Cassirer, den zuvor auch Bourdieu zitiert hatte.

Young/Billings berichten über eine Untersuchung, in der College-Studenten nach ihrer Reaktion auf fingierte Begegnungen mit der Polizei befragt wurden. Die Bourdieu-Rezeption fällt diesem Rahmen entsprechend knapp aus.[11] Sie erfolgt in vier Schritten.

Der erste Schritt beschränkt sich auf den Satz:

»If the social field of law is analogous to ›law‹ in the sense of legal pluralism (…), then law’s ›habitus‹, at its core, is analogous to legal consciousness.« (S. 36).

Der zweite Schritt trägt auf dem Umweg über Silbey der Kritik Villegas Rechnung, legal conciousness mit dem kritischen Projekt der Rechtssoziologie »explaining the durability and ideological power of law« zu verbinden. Young/Billings zitieren aus einem Aufsatz Bourdieus, auf den sich schon Silbey gestützt hatte[12]. Es gehe darum, unter der Oberfläche der Empirie die Machtstrukturen zu erkennen, die das Rechtsbewusstsein ebenso ermöglichen wie beschränken (S. 35). Dazu verlassen sich Young und Billings allerdings nicht auf Bourdieu, sondern führen mit Max Weber und Marc Galanter bewährte Autoritäten an für die Hintergrundannahme, dass die vom Recht versprochene formale Gleichheit Herrschaft bedeute, weil sie die Vorteile der »Haves« verstärke (S. 36).

Der dritte Schritt ist der interessanteste. Bourdieu liefert dafür eigentlich nur noch das Stichwort vom »feel for the game«[13], vom Spielsinn oder praktischen Sinn, mit dem der Habitus in mehr oder weniger offenen Situationen für Orientierung sorgt.

Die Brücke für den Übergang vom Habitus zum Rechtsbewusstsein liefert wiederum Silbey. Sie holt das Material aus einem Aufsatz von Erik W. Larson[14], der eigentlich gar nicht zu dem kritischen Engagement Silbeys passt, orientierte er sich doch eher am Neoinstitutionalismus. (Immerhin hatte Larson dort Silbey und Ewick ausgiebig zitiert.) Silbey schrieb 2005:

»One particularly valuable model is Larson’s (2004) comparative study of security exchanges. … For Larson, however, legal consciousness is a response to the indeterminacy of law. It is not that one society has a stronger legal consciousness, but that the inherent indeterminacy of the law in action is resolved by different forms of legal consciousness, one form stressing internal norms and the other stressing formal rules.« (S. 360)

Bei Larson las man:

»We can better understand the impact of regulation on market behavior if we incorporate insights from neo-institutional and legal consciousness theories. Regulation is involved in constructing fields of action. As such, regulation shapes the environment in which economic actors are embedded. Regulatory law, however, is indeterminate, being constructed within the field that it is to regulate (…). The manner in which this ambiguity is resolved shapes the structure of legal consciousness in the field of action. As a result of this structure of legal consciousness, actors incorporate and use understandings about disputes and behavior in their actions in that field.«

Eigentlich benötigte Silbey nur das Stichwort von der Unbestimmtheit des Rechts. Es kennzeichnet sehr allgemein die Situation, in der das Rechtsbewusstsein. als handlungsleitende Disposition zur Geltung kommt.

In einem vierten Schritt wird das Rechtsbewusstsein als die subjektive, inkorporierte Seite jenes kulturellen Kapitals eingeordnet, das auf dem Feld des Rechts relevant ist. Dieser Schritt hilft, auf analoge Phänomene im Erziehungssystem und im Gesundheitswesen hinzuweisen. Hier kann dann auch Bourdieus Aufsatz von 1974 angeführt werden:

»Conceived in this way, cultural capital includes knowledge, skills, tastes, mannerisms, and interactional styles that can be parlayed into social advantage or power, shaping and being shaped by the class structure in societies (Bourdieu 1974)« (S. 37)

Für den empirischen Teil wurde die Reaktion von Studenten auf Begegnungen mit der Polizei in fünf verschiedenen Situationen abgefragt. Stets ging es darum, dass ein Beamter mit plausibler Begründung, Aber ohne Durchsuchungsbefehl, jedoch mit Rechtsbelehrung dazu aufforderte, die Durchsuchung von Wohnung, Arbeitsplatz oder Auto zuzulassen. Als unabhängige Variable diente das kulturelle Kapital der Respondenten. operationalisiert danach, ob sie eine private Universität (höher) oder ein Community College besuchten und ob einer oder beide Elternteile eine akademische Ausbildung hatten. Dazu ein bißchen Intersektionalität, race und gender. Die Antworten fielen nicht so unterschiedlich aus, wie vielleicht erwartet. Aber die Ausstattung der Probanden mit kulturellem Kapital war ja auch nicht dramatisch verschieden. Die Reaktionen waren jedenfalls vielschichtig.

»These results underscore the complexity of trust and distrust, pointing to the need for future research to disentangle different forms of these concepts, as well as the situational factors associated with different forms, in people’s interaction with legal authorities.« (S. 55)

Trotzdem finden die Autorinnen am Ende ihre Hintergrundannahme bestätigt:

»Finally, by identifying a set of social processes that perpetuate legal hegemony, our findings challenge assumptions about human behavior that have long been enshrined in US constitutional criminal procedure doctrine.« (S. 57).

Das belegen sie allerdings mehr mit Untersuchungen anderer Autoren und mit Zitaten von Silbey als mit den eigenen Ergebnissen.

Mein Fazit: Die Verortung des Rechtsbewusstseins als Habitus und damit als Teilhabe am kulturellen Kapital erscheint plausibel. Sie hilft, das Rechtsbewusstsein als eine inkorporierte Mischung von Kenntnissen, Attitüden und Kompetenzen zu begreifen, die den Umgang mit offenen Situationen regiert, in denen Recht relevant werden kann und zugleich generativ auf die Sozialstruktur zurückwirkt. Ob dazu Bourdieu wirklich gebraucht wird, mag man bezweifeln. Mit der »interpretativen Wende« der Rollentheorie war man schon sehr nahe dran. Ruth Leodolters Untersuchung über »Das Sprachverhalten von Angeklagten bei Gericht« (1975) kommt mir in den Sinn. Aber Bourdieus Autorität als Backup schadet sicher nicht, es sei denn, man nutzt ihn, um in den Hegemonie-Rap Silbeys einzufallen. Damit versperrt man sich den Blick auf die durchaus ambivalente Rolle des Rechts. Bourdieus Habitus-Theorie bleibt auch ohne die eingebaute Klassentheorie sinnvoll. Man sollte es mindestens für möglich halten, dass Chancengleichheit weder im Bildungssystem noch im Rechtssystem eine Illusion bleiben muss.

Nachtrag vom 24. 4. 2020: Das Thema Rechtsbewusstsein ist unerschöpflich. Mit dem in Fn. 8 erwähnten Buch von Hertogh setzt sich ausführlich auseinander:  Stergios Aidinlis, Defining the ‘Legal’: Two Conceptions of Legal Consciousness and Legal Alienation in Administrative Justice Research (July 31, 2019). SSRN: https://ssrn.com/abstract=3559840.


[1] Kathleen E. Hull, Legal Consciousness in Marginalized Groups, The Case of LGBT People, Law & Social Inquiry 41, 2016, 551-572, S. 551.

[2] Z. B. Beiträge in Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[3] Z. B. Adam Podgorecki/Wolfgang Kaupen/J. van Houtte /P. Vinke /Berl Kutchinsky, Knowledge and Opinion about Law, 1973.

[4]Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964 [1949], 382. Ausführlich Jan-Christoph Marschelke, Rechtsgefühle in Rechtssoziologie und -psychologie, in: Jonas Bens/Olaf Zenker (Hg.), Gerechtigkeitsgefühle, 2017, 37-69

[5] Susan S. Silbey, After Legal Consciousness, Annual Review of Law and Social Science 1, 2005, 323-368. Silbey steht bekanntlich ganz in der Tradition der Critical Legal Studies, welche das Recht prinzipiell als eine hierarchisch-hegemoniale Institution betrachtet, die soziale Ungleichheit verfestigt. Dazu Anne Wyvekens, Aux origines des Legal Consciousness Studies. Susan Silbey, observatrice et actrice, Droit et société 100, 2018, 627-631.

[6] Lynette J. Chua/David M. Engel, Legal Consciousness Reconsidered, Annu. Rev. Law Soc. Sci. 15 , 2019, 335-353.

[7] Patricia Ewick, Consciousness and Ideology, 2006 (Wiederabdruck gesammelter Aufsatze), vor allem aber Patricia Ewick/Susan S. Silbey, The Common Place of Law, 1998.

[8] Marc Hertoghs Buch von 2018 passt wohl unter keine dieser Überschriften (Nobody’s Law. Legal Consciousness and Legal Alienation in Everyday Life). Hertoghs Hintergrundtheorie ist anscheinend das Verschwinden des (offiziellen) Rechts im Rechtsbewusstsein. Das entnehme ich der Besprechung von Nienke Doornbos (International Journal of Law in Context 44, 202, 1-3). Das Buch selbst habe ich noch nicht in der Hand gehabt.

[9] Zahlen für 1985 bis 2018 bei Chua/Engel S. 343. 2019 ging der Reigen weiter, z. B. mit: Leisy J. Abrego, Relational Legal Consciousness of U.S. Citizenship: Privilege, Responsibility, Guilt, and Love in Latino Mixed‐Status Families, Law & Society Rev 53 , 2019, 641-670; Pascale Cornut St‐Pierre, Investigating Legal Consciousness through the Technical Work of Elite Lawyers: A Case Study on Tax Avoidance, Law & Society Rev 53, 2019, 323-352.

[10] Mauricio García Villegas, Symbolic Power without Symbolic Violence? Critical Comments on Legal Consciousness Studies in USA, Droit et société 53, 2003, 137–1631.

[11] Im Literaturverzeichnis erscheinen »The Force of Law« von 1986, die »Feinen Unterschiede«, natürlich auf Englisch und ein amerikanischer Bourdieu-Reader von 1990 (In Other Words) und der älterere Aufsatz »The School as a Conservative Force«. Als Sekundärliteratur wird nur ein Aufsatz von Villega (2004) herangezogen mit dem Zitat, Bourdieus »Habitus« sei für das Recht »an intermediate concept between rules – in the legal sense – and causality or rules in a physical sense« (On Pierre Bourdieu’s Legal Thought, Droit et société 2004, 57-70).

[12] Pierre Bourdieu, Social Space and Symbolic Power, Sociological Theory 7, 1989, 14-25. Silbey und Young/Billings zitieren nach dem Nachdruck in: Bourdieu, In Other Words. Essays Towards a Reflexive Sociology, 1990.

[13] Young/Billings verzichten auf einen genauen Nachweis. Der ist auch nicht notwendig, kommt dieser Lieblingsausdruck Bourdieus doch allein in dem von Young/Billings benutzten Sammelband mindestens sechs Mal vor.

[14] Erik W. Larson, Institutionalizing Legal Consciousness: Regulation and the Embedding of Market Participants in the Securities Industry in Ghana and Fiji, Law & Society Rev 38 , 2004, 737-768.

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Interdisziplinarität wird oft enttäuscht

Mit einem Kapitel zur Ästhetik des Rechts[1] haben wir versucht, den Juristenblick interdisziplinär zu weiten. Dabei sind wir u. a. auf das Judiz als das Geschmacksurteil der Juristen gestoßen. Bei Savigny und Ihering war vom »Takt« die Rede, den sich Juristen durch lange Übung erwerben, und mit dessen Hilfe sie komplizierte Zusammenhänge ordnen. Heute redet man lieber über Klugheit[2] oder Angemessenheit[3].

Als ästhetische Kategorie kommt der Sinn für Angemessenheit in Betracht. Das Prinzip der Angemessenheit, wie es von Klaus Günther entwickelt wurde, bewegt sich im Bereich der Reflexion. Es verlangt nach einem »Anwendungsdiskurs«, der eine »Angemessenheitsargumentation« zu der Frage entwickeln soll, ob eine allgemeine Regel unter Berücksichtigung aller Umstände auf den Einzelfall passt. Die eher unreflektierte Kompetenz, in Situationen mit wertenden Aspekten eine »angemessene« Entscheidung zu treffen, ist dagegen das Thema von Landweer. Es liegt, so möchte man sagen, in der Natur der Sache, dass sie aus dem Aspekt der Angemessenheit keine subsumtionsgeeigneten Maßstäbe ableiten kann.

Die verschiedenen Ansätze haben jenseits der erfahrungsgesteuerten Routine gemeinsam, dass es sich um Strategien des Umgangs mit komplexen Situationen handelt, die der Handelnde nur unvollständig analysieren kann. Es geht also um undeklarierte Methoden des Umgangs mit der von Simon so getauften bounded rationality. Psychologen bieten dafür einen Katalog von Heuristiken und kognitiven Täuschungen an. Soziologen bemühen eine Theorie der Frame-Selection, die eine »Vorstrukturierung des Handelns durch kognitiv-emotional verankerte Schemata« zugrunde legt.[4] Man würde nur gerne genauer wissen, wie diese Frames aussehen und wie sie entstehen. Hier wirken anscheinend die evolutionär entstandenen Schemata, die mit der Sozialisation allgemein erworbenen Frames und ihre spezifische Prägung durch die berufliche Praxis zusammen. Aber die Benennung operativer Strategien speziell der juristischen Praxis ist bisher nicht gelungen. Dagegen gibt es auf der Makroebene allerhand Vermutungen über implizites Wissen, kulturelle Codes, Natürlichkeits- und Normalitätsvorstellungen. Dem Juristen helfen sie nicht weiter als schon Savigny und Ihering gelangt waren[5].

Nun bin ich noch einmal dem Hinweis von Kroneberg auf das in der Soziologie geläufige Konzept einer Logik der Angemessenheit (logic of appropriatness) nachgegangen. Der Ertrag ist insofern positiv, als er Juristen in dem Glauben bestärkt, dass da etwas »dran ist«, wenn sie von Judiz usw. reden. Aber solche Affirmation ist wohl nicht Sinn der Interdisziplinarität.

Die »Logik der Angemessenheit« wird als Gegensatz zur der utilitaristischen Logik der Konsequenzen verstanden.[6] Auch ein utilitaristisches Kalkül ist danach eingebettet in einen ideellen und normativen Kontext mit daraus resultierenden Praktiken und entsprechenden »Logiken«, nach denen Akteure ihr Handeln bemessen. Von einer »Logik« kann indessen keine Rede sein.

»… the core intuition is that humans maintain a repertoire of roles and identities, each providing rules of appropriate behavior in situations for which they are relevant. Following rules of a role or identity is a relatively complicated cognitive process involving thoughtful, reasoning behavior; but the processes of reasoning are not primarily connected to the anticipation of future consequences as they are in most contemporary conceptions of rationality. Actors use criteria of similarity and congruence, rather than likelihood and value. To act appropriately is to proceed according to the institutionalized practices of a collectivity, based on mutual, and often tacit understandings of what is true, reasonable, natural, right, and good.«[7]

Was folgt, kann man als Bestätigung der juristischen Hermeneutik lesen. Es muss eben alles an System, Situation und Selbstverständnis angepasst werden oder sein. Über die Maßstäbe der Angemessenheit erfahren wir nur eine Trivialität, nämlich dass eine klare »Logik« der Situation über eine unklare dominiert. Letztlich geht es um eine Differenzierung der Theorie der Rationalwahl. Rational choice als Grundprinzip hat zur Folge, dass die Handlungswahl dem Ziel der möglichst effizienten Nutzenproduktion folgt und deshalb zweckrational die Konsequenzen des Handelns in Rechnung stellt. Normen sind dabei nur Randbedingungen (=Rechnungsposten). Erst wenn die Rechnung unübersichtlich wird – was seine Ursache auch in unklaren Normen haben kann – tritt an die Stelle des Berechnens möglicher Folgen die Frage nach Angemessenheit des Handelns im Hinblick auf die gegebene Situation. »Dabei versucht der Akteur seine Unsicherheit über den Charakter der Situation aufzulösen und zu einer möglichst angemessenen Situationsdefinition zu gelangen.« Es hilft wenig, dass Kroneberg den »Angemessenheitsglauben« mit USinn formalisiert und in seine MFS-Formel (Modell der Frame-Selektion) einstellt. U steht dabei für (Subjective Expected) Utility. Wie die Angemessenheit näher bestimmt werden kann, erfahren wir nicht. So könnte USinn auch für Unsinn stehen.

Nachtrag vom 1. 12. 2020: Mit dem Sinn für Angemessenheit befasst sich erneut Hilge Landweer: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären, 2011, 57-78, und jetzt wieder: Warum Normen allein nicht reichen. Sinn für Angemessenheit und Rechtsgefühl in rechtsästhetischer Perspektive, in: Eva Schürmann/Levno von Plato (Hg.), Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, 2020, 63-84. Sie fasst zuzsammen (S. 83):

»1. Angemessenheit ist auf die jeweilige Situation bezogen. Wegen der Abhängigkeit von der Besonderheit der jeweiligen Situation kann sie nicht als Norm expliziert werden, denn Normen gelten übersubjektiv und situationsunabhängig. 2. Dass wir den Begriff ›angemessen‹ sinnvoll verwenden können, weist darauf hin, dass wir ein menschliches Vermögen zur erforderlichen feinkörnigen Wahrnehmung von Situationen unterstellen. Diese Fähigkeit bezeichne ich als ›Sinn für Angemessenheit‹. 3. Der Sinn für Angemessenheit muss für die in einer Situation relevanten Wertungen empfänglich sein und Wertungen vornehmen können. Das verlangt mehr als bloß eine sinnliche und kognitive Wahrnehmung von Sachverhalten; dieses Vermögen muss affektiv fundiert sein.«

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[1] Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Zur Ästhetik des Rechts, SSRN 2018.

[2] Arno Scherzberg, Wird man durch Erfahrung klug?, Internetpublikation, 2008.

[3] Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988; Hilge Landweer, Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären, 2011, 57-78.

[4] Clemens Kroneberg, Wertrationalität und das Modell der Frame-Selektion, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59 , 2007, 215-239.

[5] Dazu Stephan Meder, Missverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der modernen Hermeneutik, 2004 (S. 55ff).

[6] James G. March/Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions, 1989, S. 160-163; dies, The Institutional Dynamics of International Political Orders, International Organization 52, 1998, 943-969; Hartmut Esser, Soziologie Bd. 5: Institutionen, 2000, S. 92ff.

[7] James G. March/Johan P. Olsen, The Logic of Appropriateness, in: The Oxford Handbook of Political Science 2011, 478-497, S. 479.

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Sozioprudenz und Jurisprudenz

Sozioprudenz war ein Posting von Joachim Fischer und Clemens Albrecht vom 28. April 2014 auf Sozblog überschrieben.[1] Darunter verstehen sie eine »akademische Klugheitsschulung im Hinblick auf das Soziale« durch die Soziologie. Das Ziel ist eine professionelle Sozialkompetenz, die aber nicht Sozialtechnologie sein soll. Der Eintrag beginnt:

»Wird man eigentlich durch Soziologie sozial klüger? Wer Jura studiert, lernt nicht nur, das Recht richtig, sondern auch klug anzuwenden. Deshalb heißt es ›Jurisprudenz‹.«

Ich will nicht beckmessern, ob juris prudentia ein genetivus subjectivus oder objectivus ist, ob also die Klugheit im Recht oder in den Juristen liegt. Der Eintrag ist interessant, weil darin der Begriff der Jurisprudenz aufgewärmt wird.

Der Ausdruck »Jurisprudenz« wirkte heute eher angestaubt. Geläufig ist er vor allem noch in Zusammensetzungen wie Begriffsjurisprudenz, Wertungsjurisprudenz, Interessenjuris-prudenz[3] oder Soziologische Jurisprudenz. In unserer Allgemeinen Rechtslehre[4] verwenden wir ihn dagegen, wie es der juristischen Tradition entspricht, gleichberechtigt und gleichbedeutend mit »Rechtswissenschaft«, um die akademische Disziplin der Juristen zu bezeichnen. Das hilft uns, sprachlich zu variieren[5], und so tragen wir auch dem Umstand Rechnung, dass in vielen anderen Ländern eine Benennung der Jurisprudenz als Wissenschaft unbekannt ist. Das Fach heißt dort schlicht »law«, »droit« oder »diritto«. In den englischsprachigen Ländern wird es den humanities zugeordnet, die im Gegensatz zu den sciences stehen.

Mit der Benennung als Jurisprudenz verbinden wir keine Stellungnahme zur Wissenschaftlichkeit der Disziplin. Anders Hans Kelsen. Er wollte die Bezeichnung als Rechtswissenschaft auf die bloße Beschreibung und logische Analyse des geltenden Rechts beschränken und so von Jurisprudenz als der praktischen juristischen Betätigung trennen, da letztere mit ihren Entscheidungsvorschlägen am Ende immer für unwissenschaftlich gehaltene Werturteile impliziert. [6] Noch einmal anders die rhetorische Rechtstheorie in der Tradition Theodor Viehwegs. Sie war der Ansicht, dass die Disziplin keine Erkenntnisfunktion habe, sondern zu den lebensklugen Handlungslehren zählt, und bevorzugte daher die Benennung als Jurisprudenz.[7]

Arno Scherzberg hat es unternommen, Klugheit als Element juristischen Handelns zu etablieren.[8] Ihm geht es nicht darum, an die Stelle der Rechtswissenschaft schlechthin eine bloße Klugheitslehre zu setzen. Der Klugheitsbegriff dient ihm vielmehr zum Ausgleich der Rationalitätsdefizite vermeintlich rationalen Entscheidens. Er soll Erfahrung, Emotion und Intuition integrieren.

»Der Klugheitsbegriff erlaubt eine ganzheitliche Sicht auf menschliche Entscheidungsprozesse, die die expliziten und die impliziten Kompetenzen des Entscheidungsträgers integriert«. (Scherzberg 2008, 8).

Christian Nierhauve führt den Gedanken der Rechtsklugheit auf die aristotelische phronesis zurück.[9]

Bei der Jurisprudenz als Rechtsklugheit geht es, anders als wohl bei der Sozioprudenz, nicht darum, einer akademischen Disziplin überhaupt zu praktischer Relevanz zu verhelfen, sondern um die spezifische Qualität juristischen Könnens, die allein durch Rechtstechnik nicht zu vermitteln ist.

Die Rechtssoziologie bietet eine umfangreiche Debatte über Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl (legal consciousness; sens juridique) an. Das professionelle Rechtsgefühl wird unter Juristen als Judiz angesprochen.[10] Darunter versteht man Rechtsempfinden und Urteilskraft als intuitive Elemente juristischer Tätigkeit. Bisher ist man über die Aussage, erst durch lange Lehre und Praxis des Rechts werde man rechtsklug, nicht hinausgekommen.

Seit einiger Zeit blüht ein Diskurs über Rechtsästhetik.[11] Der legt es nahe, »Rechtsklugheit« mit der kantischen Urteilskraft und folglich mit der Rechtsästhetik in Verbindung zu bringen. Das Judiz wird dann zum juristischen Geschmacksurteil. Baumgarten definierte vor 250 Jahren seine neue Lehre von der Ästhetik als scientia cognitionis sensitiva. In diesem Sinne wird Ästhetik zunehmend wieder auch in einem umfassenderen Sinne als Theorie und Praxis von Aisthesis verstanden mit der Folge, dass Wahrnehmungsphysiologie und Wahrnehmungspsychologie in den Blick kommen. Die damit geforderte übergreifende Betrachtungsweise seelischer und körperlicher Phänomene zeigt sich in Begriffen wie embodiment, embodied cognition oder embodied knowledge. Dem folgt die Rede vom multisensorischen Recht[12]. Auch die hilft hier anscheinend nicht weiter.

Bisher ist es nicht gelungen, das juristische Geschmacksurteil handfest zu beschreiben und zu erklären. Deshalb sagt Joachim Lege:

»Das, worauf es im Ästhetischen ankommt, ist unsagbar (»je ne sais quoi«); und diese Unsagbarkeit ist kein unvermeidbarer Mangel, sondern sachlich notwendig.«[13]

Skeptiker könnten sagen, Ästhetik diene den Juristen als Wundpflaster für Rationalitätslücken. Psychologen, die Licht in das Dunkel richterlicher Entscheidungen zu bringen versuchen, wollen nicht hinnehmen, wenn Juristen ihr Judiz »vorschützen«. Sie fragen daher nach dem Frühstück der Richter. Andererseits bestätigen Soziologen mit dem Konzept des impliziten Wissens und mit einem als Praxeologie bezeichneten Ansatz, dass es so etwas gibt wie das Judiz.

»Der ›Ort‹ des Sozialen … sind die ›sozialen Praktiken‹, verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltens-routinen, deren Wissen … in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist … .«[14]

Zu handfesteren Aussagen finde ich bisher nicht. Die Sozioprudenz, die mich auf die Suche geschickt hatte, habe ich darüber vergessen.

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[1] Der Eintrag ging wohl zurück auf einen Aufsatz von Fischer mit dem Titel »Durkheims Soziologie als Sozioprudenz« in: Tanja Bogusz/HeikeDelitz (Hg.), Émile Durkheim. Soziologie-Ethnologie-Philosophie, 2013, 95-118.

[3] Der zeitgenössische Gegenspieler Philipp Hecks war dessen Greifswalder Fakultätskollege Ernst Stampe, der eine abwägende »Sozialjurisprudenz« zur Methode machen wollte; dazu Joachim Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, JZ 2011, 913-923, S. 914 ff.

[4] Klaus F. Röhl/Hans C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2007.

[5] In dem Entwurf für eine 4. Auflage zählt Word für »Rechtswissenschaft« 328 und für »Jurisprudenz« 310 Übereinstimmungen.

[6] Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, FS Giacometti, 1953, 143/153.

[7] Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970.

[8] Arno Scherzberg, Wird man durch Erfahrung klug?, Internetpublikation, 2008; ders. (Hg.), Klugheit. Begriff – Konzepte – Anwendungen; 2008; ders. u. a. (Hg.), Kluges Entscheiden; 2006;

[9] Zur Rechtsklugheit, ARSP Beiheft 135, 2012, 127-141.

[10] Rolf Gröschner, Judiz – was ist das und wie lässt es sich erlernen?, JZ 1987, 903-908.

[11] Nachweise im Eintrag Ästhetische Diskriminierung; ferner Daniel Damler, Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken, 2016.

[12] Klaus F. Röhl, Zur Rede vom multisensorischen Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/2013, 51-75.

[13] Joachim Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, S. 331; ähnlich ders., Ästhetik als das A und O »juristischen Denkens«, Rechtsphilosophie (RphZ) 1, 2015, 28-36.

[14] Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, 282-301, S. 289.

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