Sozioprudenz und Jurisprudenz

Sozioprudenz war ein Posting von Joachim Fischer und Clemens Albrecht vom 28. April 2014 auf Sozblog überschrieben.[1] Darunter verstehen sie eine »akademische Klugheitsschulung im Hinblick auf das Soziale« durch die Soziologie. Das Ziel ist eine professionelle Sozialkompetenz, die aber nicht Sozialtechnologie sein soll. Der Eintrag beginnt:

»Wird man eigentlich durch Soziologie sozial klüger? Wer Jura studiert, lernt nicht nur, das Recht richtig, sondern auch klug anzuwenden. Deshalb heißt es ›Jurisprudenz‹.«

Ich will nicht beckmessern, ob juris prudentia ein genetivus subjectivus oder objectivus ist, ob also die Klugheit im Recht oder in den Juristen liegt. Der Eintrag ist interessant, weil darin der Begriff der Jurisprudenz aufgewärmt wird.

Der Ausdruck »Jurisprudenz« wirkte heute eher angestaubt. Geläufig ist er vor allem noch in Zusammensetzungen wie Begriffsjurisprudenz, Wertungsjurisprudenz, Interessenjuris-prudenz[3] oder Soziologische Jurisprudenz. In unserer Allgemeinen Rechtslehre[4] verwenden wir ihn dagegen, wie es der juristischen Tradition entspricht, gleichberechtigt und gleichbedeutend mit »Rechtswissenschaft«, um die akademische Disziplin der Juristen zu bezeichnen. Das hilft uns, sprachlich zu variieren[5], und so tragen wir auch dem Umstand Rechnung, dass in vielen anderen Ländern eine Benennung der Jurisprudenz als Wissenschaft unbekannt ist. Das Fach heißt dort schlicht »law«, »droit« oder »diritto«. In den englischsprachigen Ländern wird es den humanities zugeordnet, die im Gegensatz zu den sciences stehen.

Mit der Benennung als Jurisprudenz verbinden wir keine Stellungnahme zur Wissenschaftlichkeit der Disziplin. Anders Hans Kelsen. Er wollte die Bezeichnung als Rechtswissenschaft auf die bloße Beschreibung und logische Analyse des geltenden Rechts beschränken und so von Jurisprudenz als der praktischen juristischen Betätigung trennen, da letztere mit ihren Entscheidungsvorschlägen am Ende immer für unwissenschaftlich gehaltene Werturteile impliziert. [6] Noch einmal anders die rhetorische Rechtstheorie in der Tradition Theodor Viehwegs. Sie war der Ansicht, dass die Disziplin keine Erkenntnisfunktion habe, sondern zu den lebensklugen Handlungslehren zählt, und bevorzugte daher die Benennung als Jurisprudenz.[7]

Arno Scherzberg hat es unternommen, Klugheit als Element juristischen Handelns zu etablieren.[8] Ihm geht es nicht darum, an die Stelle der Rechtswissenschaft schlechthin eine bloße Klugheitslehre zu setzen. Der Klugheitsbegriff dient ihm vielmehr zum Ausgleich der Rationalitätsdefizite vermeintlich rationalen Entscheidens. Er soll Erfahrung, Emotion und Intuition integrieren.

»Der Klugheitsbegriff erlaubt eine ganzheitliche Sicht auf menschliche Entscheidungsprozesse, die die expliziten und die impliziten Kompetenzen des Entscheidungsträgers integriert«. (Scherzberg 2008, 8).

Christian Nierhauve führt den Gedanken der Rechtsklugheit auf die aristotelische phronesis zurück.[9]

Bei der Jurisprudenz als Rechtsklugheit geht es, anders als wohl bei der Sozioprudenz, nicht darum, einer akademischen Disziplin überhaupt zu praktischer Relevanz zu verhelfen, sondern um die spezifische Qualität juristischen Könnens, die allein durch Rechtstechnik nicht zu vermitteln ist.

Die Rechtssoziologie bietet eine umfangreiche Debatte über Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl (legal consciousness; sens juridique) an. Das professionelle Rechtsgefühl wird unter Juristen als Judiz angesprochen.[10] Darunter versteht man Rechtsempfinden und Urteilskraft als intuitive Elemente juristischer Tätigkeit. Bisher ist man über die Aussage, erst durch lange Lehre und Praxis des Rechts werde man rechtsklug, nicht hinausgekommen.

Seit einiger Zeit blüht ein Diskurs über Rechtsästhetik.[11] Der legt es nahe, »Rechtsklugheit« mit der kantischen Urteilskraft und folglich mit der Rechtsästhetik in Verbindung zu bringen. Das Judiz wird dann zum juristischen Geschmacksurteil. Baumgarten definierte vor 250 Jahren seine neue Lehre von der Ästhetik als scientia cognitionis sensitiva. In diesem Sinne wird Ästhetik zunehmend wieder auch in einem umfassenderen Sinne als Theorie und Praxis von Aisthesis verstanden mit der Folge, dass Wahrnehmungsphysiologie und Wahrnehmungspsychologie in den Blick kommen. Die damit geforderte übergreifende Betrachtungsweise seelischer und körperlicher Phänomene zeigt sich in Begriffen wie embodiment, embodied cognition oder embodied knowledge. Dem folgt die Rede vom multisensorischen Recht[12]. Auch die hilft hier anscheinend nicht weiter.

Bisher ist es nicht gelungen, das juristische Geschmacksurteil handfest zu beschreiben und zu erklären. Deshalb sagt Joachim Lege:

»Das, worauf es im Ästhetischen ankommt, ist unsagbar (»je ne sais quoi«); und diese Unsagbarkeit ist kein unvermeidbarer Mangel, sondern sachlich notwendig.«[13]

Skeptiker könnten sagen, Ästhetik diene den Juristen als Wundpflaster für Rationalitätslücken. Psychologen, die Licht in das Dunkel richterlicher Entscheidungen zu bringen versuchen, wollen nicht hinnehmen, wenn Juristen ihr Judiz »vorschützen«. Sie fragen daher nach dem Frühstück der Richter. Andererseits bestätigen Soziologen mit dem Konzept des impliziten Wissens und mit einem als Praxeologie bezeichneten Ansatz, dass es so etwas gibt wie das Judiz.

»Der ›Ort‹ des Sozialen … sind die ›sozialen Praktiken‹, verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltens-routinen, deren Wissen … in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist … .«[14]

Zu handfesteren Aussagen finde ich bisher nicht. Die Sozioprudenz, die mich auf die Suche geschickt hatte, habe ich darüber vergessen.

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[1] Der Eintrag ging wohl zurück auf einen Aufsatz von Fischer mit dem Titel »Durkheims Soziologie als Sozioprudenz« in: Tanja Bogusz/HeikeDelitz (Hg.), Émile Durkheim. Soziologie-Ethnologie-Philosophie, 2013, 95-118.

[3] Der zeitgenössische Gegenspieler Philipp Hecks war dessen Greifswalder Fakultätskollege Ernst Stampe, der eine abwägende »Sozialjurisprudenz« zur Methode machen wollte; dazu Joachim Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, JZ 2011, 913-923, S. 914 ff.

[4] Klaus F. Röhl/Hans C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2007.

[5] In dem Entwurf für eine 4. Auflage zählt Word für »Rechtswissenschaft« 328 und für »Jurisprudenz« 310 Übereinstimmungen.

[6] Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, FS Giacometti, 1953, 143/153.

[7] Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970.

[8] Arno Scherzberg, Wird man durch Erfahrung klug?, Internetpublikation, 2008; ders. (Hg.), Klugheit. Begriff – Konzepte – Anwendungen; 2008; ders. u. a. (Hg.), Kluges Entscheiden; 2006;

[9] Zur Rechtsklugheit, ARSP Beiheft 135, 2012, 127-141.

[10] Rolf Gröschner, Judiz – was ist das und wie lässt es sich erlernen?, JZ 1987, 903-908.

[11] Nachweise im Eintrag Ästhetische Diskriminierung; ferner Daniel Damler, Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken, 2016.

[12] Klaus F. Röhl, Zur Rede vom multisensorischen Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/2013, 51-75.

[13] Joachim Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, S. 331; ähnlich ders., Ästhetik als das A und O »juristischen Denkens«, Rechtsphilosophie (RphZ) 1, 2015, 28-36.

[14] Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, 282-301, S. 289.

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