Plakettenverordnung und teleologische Auslegung

Der als Jurist verbildete Autofahrer gerät gelegentlich in einen Theoriekonflikt mit der Straßenverkehrsordnung. Er stellt sich den Richter nach dem Vorschlag von Philipp Heck als »denkenden Gehilfen des Gesetzgebers« vor, der bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze versuchen wird, dem gesetzgeberischen Zweck zur Durchsetzung zu verhelfen. Das nennt man bekanntlich teleologische Auslegung.

Nun hat sich unser Autofahrer erstmals einen vollelektrischen BMW I3 geleistet. Bei der Übergabe im Autohaus will ihm der Verkäufer noch eine Umweltplakette an die Scheibe kleben. Der Käufer widerspricht: Das weiß doch jeder, dass dies Auto weder Stickstoffdioxyd noch Feinstaub ausbläst. Es geht also um die Auslegung der Verordnung zur Kennzeichnung der Kraftfahrzeuge mit geringem Beitrag zur Schadstoffbelastung (35. BimSchV). Eine Ausnahme für Elektrofahrzeuge ist in dieser sog. Plakettenverordnung nicht vorgesehen. Vom ADAC erfährt man jedoch, dass das Innenministerium in Bayern die Polizei aufgefordert hat, die fehlende Plakette am E-Auto nicht mehr zu ahnden. Der frisch gebackene Elektrocar-Fahrer in NW will es darauf ankommen lassen.

Aber das ist nicht sein einziges Problem. Die Lokalzeitung (WAZ) hat gerade berichtet, dass in Bochum nirgends so viele Fahrzeuge wegen Geschwindigkeitsübertretung geblitzt werden, wie auf der Herner Straße, wo eine kilometerlange Tempo-30-Zone zur Luftreinhaltung eingerichtet ist. Da fragt sich unser Juristenelektriker, ob die Geschwindigkeitsbegrenzung auch für ihn gilt, obwohl er doch zur Luftreinhaltung schon so viel Geld für ein (nicht ganz) neues Auto ausgegeben hat.

Eine »kurze Antwort« gibt die SWR Rechtsredaktion:

»Ja, die gelten auch dann. Tempolimit-Schilder gelten nämlich immer für alle Pkw gleichermaßen. … Keine Extrawürste, heißt es ganz einfach. Der eine oder andere Grüne wollte das schon mal geändert sehen. Die Polizei war aber dagegen. Schwer zu kontrollieren, die schnellen E-Autos reißen dann die Fahrer von Verbrennern mit und dann gibt es Durcheinander. Und verschiedene Geschwindigkeiten sind auch ein Unfallrisiko, heißt es. … Außerdem wirken Verkehrsregeln nur dann, wenn sie klar, einfach und deutlich sind, sprich wenn sie für alle gelten. Ähnlich argumentieren Politiker und Behörden. Wenn man die Fahrer von E-Autos bevorzugen würde, hielte sich niemand mehr an ein Tempolimit – der Mitzieh-Effekt. Und ein Radargerät könne beim Blitzen Stromer nicht von Verbrennern unterscheiden. Eine einzige Möglichkeit gäbe es theoretisch, dass E-Autos schneller als Benziner und Diesel fahren dürften, wenn unter dem Tempolimit stehen würde: Gilt nicht für Elektrofahrzeuge. Schon mal so ein Schild gesehen?«

Hätte man sich denken können, wiewohl die Antwort nicht ganz überzeugt. Also noch einmal repetieren, was wir aus der Methodenlehre gelernt haben.

Telos ist das griechische Wort für Ziel, Sinn oder Zweck. Jede Rechtsnorm kann als Mittel zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck aufgefasst werden. Daraus ergeben sich Möglichkeit und Notwendigkeit teleologischer Auslegung.

Liegt der maßgebliche Normzweck auf der Hand, so kann sich teleologische Auslegung selbst über einen anscheinend klaren Wortlaut hinwegsetzen. Das folgende Beispiel stammt von dem Juristen Samuel Pufendorf (1632–1694): Wir denken uns ein Gesetz, das es verbietet, auf den Pflasterstraßen einer Stadt Blut zu vergießen. Bei einem Unfall wird das Bein eines Mannes in den Speichen einer Kutsche eingeklemmt. Es kommt ein Chirurg des Weges, der das Bein amputiert und das Pflaster schrecklich mit Blut besudelt. Soll der Chirurg bestraft werden? Nach dem Wortlaut der Vorschrift scheint Strafe geboten. Aber die Bestrafung des Chirurgen, der erste Hilfe leistet, entspricht kaum dem Zweck der Vorschrift. Es geht um den Frieden auf der Straße, aber nicht darum, das Pflaster sauber zu halten. Zwar lässt sich dieser Zweck nicht aus dem Gesetzestext entnehmen. Doch er ist so eindeutig, dass es keinen Zweifel gibt, wie die Vorschrift zu handhaben ist. Rechtstheoretiker, die auf der Höhe der Zeit sind, würden das Ergebnis mit der Figur der defeasibility erklären.

Teleologische Auslegung kann zu einer Reduktion oder zu einer Extension des Gesetzes sogar gegenüber seinem Wortlaut führen. Eine teleologische Extension läuft auf eine analoge Anwendung der Vorschrift hinaus, die durch den Wortlaut nicht gedeckt ist. Das strafrechtliche Analogieverbot verbietet in seinem Anwendungsbereich eine teleologische Extension. Der Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe engt diese Möglichkeit ein. Für die teleologische Reduktion bestehen solche Einschränkungen nicht.

Eine alte Parömie besagt: Cessante ratione cessat ipsa lex = entfällt der Zweck oder kann er nicht mehr erreicht werden, so wird das Gesetz hinfällig. Doch in Zeiten eines der Gewaltenteilung verpflichteten Rechtspositivismus folgt daraus nicht ohne weiteres, dass eine sinnlos gewordene Norm ihre Geltung verliert. »Ratio« in dem lateinischen Rechtssprichwort meint nicht nur »Zweck« im Sinne eines herbeizuführenden konkreten Zustandes, sondern auch das motivierende Prinzip hinter der Zwecksetzung. Prinzipien ändern sich im Laufe der Zeit. In diesem Sinne hieß es 1951 in BGHZ 1, 369/375:

»Eine Rechtsnorm …  tritt aber nicht ohne weiteres mit einer späteren Änderung der Rechtsanschauungen, die bei ihrem Inkrafttreten bestimmend waren, außer Kraft. Ein allgemeiner Satz, daß mit dem Wegfall des gesetzgeberischen Grundes auch das Gesetz selbst entfällt, ist auch der heutigen Rechtsordnung fremd.«

Ändert sich mit der »Rechtsanschauung« der motivierende Grund der Gesetzgebung, bleibt die Norm unberührt. So verlieren, um ein Beispiel zu nennen, die Vorschriften des Steuerrechts über das Ehegattensplitting ihre Geltung nicht, weil sie (manchen) wegen der veränderten Rolle der Frauen in Ehe und Erwerbsleben überholt erscheinen. Anders liegt es, wenn ein konkreter Gesetzeszweck de facto entfällt oder wenn er insgesamt oder in abgrenzbaren Anwendungsfällen nicht erreicht werden kann. In solchen Fällen kommt eine restriktiv-teleologische Auslegung in Betracht, soweit der Aspekt der Rechtssicherheit und der Prognosespielraum des Gesetzgebers beachtet werden.

Gängiges Beispiel ist § 12 III Nr. 3 StVO. Die Vorschrift untersagt das Parken vor Grundstücksein- und Ausfahrten. Da das Gesetz zum Schutz des Grundstückseigentümers oder -besitzers erlassen ist, gilt für diesen eine den Wortlaut der Bestimmung einschränkende Ausnahme. Darüber ist man sich weitgehend einig. Anders bei der Forderung nach einer Ausnahme für Elektrofahrzeuge von der Plakettenverordnung und vom Tempolimit in Luftreinhaltungszonen. In beiden Fällen erscheint die Anwendung auf die am Nummernschild leicht identifizierbaren Elektrofahrzeuge zwecklos. Hinsichtlich der Plakettenverordnung ist in der Tat kein Grund gegen eine teleologische Reduktion ersichtlich. Was das Tempolimit angeht, so müssen sich die die Führer von Elektrofahrzeugen aber wohl der Notwendigkeit eines gleichmäßigen Verkehrsflusses beugen.

Ähnliche Themen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.