Light Law: »Ordnungen« (Codes of Conduct) zwischen Recht, Moral und Management

Die Rechtssoziologie kümmert sich um Vorgaben aus Politik und Gesellschaft und verpasst darüber ihre eigenen Themen. Ein solches Thema heißt Light Law. Gemeint ist die Inflation von Ordnungen, Kodices, Leitlinien, Leitbildern usw., die sich wie Tau oder Mehltau – ich suche noch nach der erhellenden Metapher – über das staatliche und übernationale Recht legt. Geläufige Stichworte wie private regulation, governance, legal pluralism und soft law erfassen das Phänomen nur am Rande.

Unterhalb der klassischen Rechtsquellen wie Gesetz, Verordnung und Satzung gab es immer schon interne Ordnungen als Hausordnungen, Disziplinarordnungen, Betriebsordnungen, Seminarordnungen usw. Sie fügen sich in den Stufenbau der Rechtsordnung ein, indem sie von der Kompetenz zur Selbstverwaltung oder Autonomie Gebrauch machen. Damit haben sie am Ende auch Rechtsqualität. Solche Ordnungen hatten und haben technischen oder funktionalen Charakter (Öffnungszeiten, Ruhezeiten, Essenszeiten, Zutrittsberechtigungen, Schutzvorkehrungen, Verantwortlichkeiten usw.).

Die neuen »Ordnungen« des Light Law sehen aus wie Recht, sind aber keines, mögen auch die Übergänge fließend sein. Sie wiederholen in großem Umfang einschlägige Rechtsnormen. Aber es handelt sich nicht um Kompendien, in denen das geltende Recht für die Anwendung innerhalb von Organisationen aufbereitet wird, wie es gelegentlich durch Verwaltungsvorschriften geschieht. Das Light Law der neuen »Ordnungen« hat vielmehr einen überschießenden Gehalt.

Oft ist dieser Gehalt »moralisch«. Das zeigt sich gelegentlich schon in der Überschrift, z. B. Code of Ethics and Conduct for European Nursing. Moral im Sinne von Sozialmoral ist informell. Sie kennt zwar viele Verhaltensregeln. Aber die sind keiner bestimmten Person oder Organisation zuzurechnen. Sie sind nicht kodifiziert und dennoch als »Sitte und Anstand« bewusst und wirksam. Anders liegt es mit der philosophischen Ethik. Darüber werden dicke Bücher geschrieben, doch es gibt keine ausformulierten Verhaltensregeln. Nun zeigt sich: Die Moderne, in der man sich über die Normenflut beklagte, und die Postmoderne, die Normen zu Fiktionen erklärte, sind Vergangenheit. Die Gesellschaft zeigt einen unstillbaren Normenhunger und begegnet ihm mit immer neuem Light Law.

Legal ist nicht genug. Mit der Trennung von Recht und Moral durch den modernen Rechtspositivismus ist die Welt nicht glücklich geworden. Sie zeigt Sympathie für moralische Illegalität (z. B. der Klimakleber) und kritisiert umgekehrt legale Immoralität (z. B. an Aktivitäten der AfD). Hier tut sich eine Lücke für das Light Law auf.

Von der Moral führt ein kurzer Weg zu politischem Engagement. Politik hat viele Themen besetzt, die über lange Zeit »nur« als moralische gegenwärtig waren. Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Gleichstellung und Diversität, der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen aller Art und gegen antidemokratische Bestrebungen stehen auf der Agenda der Politik. Jetzt dreht die Politik den Spieß um und verlangt von Organisationen aller Art moralisches Engagement für ihre Ziele. Solches Engagement zeigten z. B. die Gleichstellungsbeauftragten von ARD, ZDF, ORF und Deutscher Welle, als sie zum Weltfrauentag den gemeinsamen sogenannten »Baukasten gegen Sexismus« vorstellten. Er enthält verpflichtende und freiwillige Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Der »Leitfaden für eine diskriminierungsfreie und gendergerechte Sprache in juristischen Ausbildungsfällen an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum« gibt sich als bloße Empfehlung, bietet aber ein moralisch-politisches Manifest. In diese Reihe gehört auch das wundersame Framing-Manual der ARD.

Vor allem aber hat das Light Law eine Management-Funktion. Große Organisationen (Unternehmen), die oft viele Tausend Menschen beschäftigen, haben intern ähnliche Probleme wie der Staat mit seinen Bürgern. Sie müssen ihre Mitarbeiter veranlassen, positiv im Sinne der Unternehmensziele tätig zu werden und alles zu unterlassen, was dem Unternehmen Schaden bringen könnte. Dazu reichen individuelle Weisungen nicht aus. Vielmehr sind organisatorische Maßnahmen und allgemeine Regeln notwendig. Als solche dienen codes of conduct, Regeln guter Praxis, Leitbilder und Sprach-Leitfäden usw. Dafür hat sich jenseits der Anwaltschaft sich eine Beratungsindustrie etabliert. Eine Webseite, die Schulungen anbietet, zeigt die Rechtsnähe, indem sie unter Lawpilots firmiert. Auf der Internetseite eines anderen Anbieters wird definiert:

»Ein Code of Conduct – auf Deutsch Verhaltenskodex – ist eine Sammlung von Verhaltensweisen, die für die Mitarbeitenden eines Unternehmens gelten. Er enthält Richtlinien dafür, wie sich die Mitarbeitenden rechtlich korrekt, ethisch und sozial verhalten sollen.«

Die Konjunktur neuer »Ordnungen« als Instrument des Managements wird aus drei Richtungen angetrieben, die sich wechselseitig verstärken. Der informelle, gesellschaftliche Antrieb kommt aus der Wirtschaftsethik (Business Ethics), wo sich die Ansicht durchgesetzt hat, alle größeren Firmen müssten schriftlich fixierte Verhaltensregeln haben. Man sucht nicht vergebens, ob bei Audi, BASF oder RWE.

Zweitens erklären sich die neuen »Ordnungen« daraus, dass Compliance zum Rechtsinstitut geworden ist, das heißt, dass von größeren Organisationen Vorkehrungen zur Einhaltung des Rechts erwartet werden. Drittens ist die Außendarstellung für Unternehmen immer wichtiger geworden. Dazu braucht man »Leitbilder«, die sich vorzeigen lassen.

Compliance hat drei Gesichter. Das eine zeigt sich als gesellschaftliche Verantwortung (CSR = Corporate Social Responsibility), das andere in Organisationsanforderungen, die das Recht an Unternehmen stellt und deren Verletzung haftungsrechtliche, ordnungsrechtliche und für die beteiligten Personen auch strafrechtliche Folgen haben kann (Compliance i. e. S.).

Das dritte Gesicht von Compliance zeigt sich in der Eigendynamik des Begriffs, die dazu herausfordert, über das offizielle Recht hinaus Vorkehrungen zu rechtlich nicht angreifbarem Verhalten zu treffen, das dem Publikum als sozial verantwortlich vermittelbar ist. Da das Recht aber aus vielen Gründen nicht immer vorhersehbar ist, muss man sich zwecks Compliance absichern, indem man mehr tut, als das Recht erfordert. In der Konsequenz ist nicht mehr alles erlaubt, was nicht verboten ist. Light Law baut eine Zone vorsorglichen Verzichts. Vorfeldbeobachtung liegt im Trend. [1]

Daraus gewinnt Light Law eine Tendenz zur Entmündigung der Rechtsgenossen. Man traut ihnen nicht länger zu, selbst zu erkennen und zu entscheiden, ob sich Konflikte irgendwelcher Art anbahnen könnten und was dann zu tun wäre. Probleme aller Art sollen schon im Vorfeld abgefangen werden. Dazu werden Inkompatibilitäten definiert, Meldepflichten vorgesehen und Verfahren installiert. [2] (Und dann beklagt man sich am Ende, dass das Personal nicht mehr entscheidungsfreudig ist.) Selbst das Bundesverfassungsgericht traut seinen Richtern nicht zu, dass sie sich ohne weiteres angemessen verhalten, und hat sich daher Verhaltensleitlinien gegeben:

»Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts verhalten sich innerhalb und außerhalb ihres Amtes so, dass das Ansehen des Gerichts, die Würde des Amtes und das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Integrität nicht beeinträchtigt werden.«

Wer hätte das gedacht?

Anscheinend kann man sich den Bürger nur als bad man vorstellen. Das legt es nahe, sich auf H. L. A. Hart zu berufen. Dieser wandte gegen die Imperativentheorie ein, erstens, sie sei auf Rechts­zwang fixiert und zweitens, sie schere die große Vielfalt der Rechtsnormen über einen Kamm. Beide Argumente hingen für Hart zusammen, denn die pleasing uniformity der Theorie werde durch ihre Ausrichtung auf den bad man erreicht. Der bad man ist bekanntlich eine Referenz auf Oliver Wendell Holmes:

»If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares only for the material consequences which such knowledge enables him to predict, not a good one, who finds his reason for conduct whether inside the law or outside of it, in the vaguer sanction of conscience.« (The Path of Law, 1897)

Hart antwortete darauf:

»Why should not law be equally if not more concerned with the ›puzzled man‹ or ›ignorant man‹ who is willing to do what is required, if only he can be told what it is?« (The Concept of Law, 2. Aufl. S. 40)

Man könnte nun meinen, Light Law diente dazu, unübersichtlich gewordenes Recht für die Anwendung aufzubereiten und unbestimmte Rechtsbegriffe zu konkretisieren. Weit gefehlt. Es enthält nicht weniger unbestimmte Begriffe und Generalklauseln als das eigentliche Recht. Charakteristisch für die neuen »Ordnungen« ist ihr Bemühen, im Vorfeld des Rechts Standards sozial wünschenswerten Verhaltens zu setzen. Dazu dienen nicht zuletzt allgemeine Wohlverhaltensforderungen und offene Tatbestände. Diese Unbestimmtheit, die oft an Rechtsnormen kritisiert wird, könnte die Adressaten – positiv gewendet – zu eigenverantwortlicher Entscheidung veranlassen. Die Dichte der Regeln motiviert aber wohl eher zu zögerlicher Vorsicht. Vorsicht ist geboten, denn ex post lassen sich bei Fehlentscheidungen stets Vorwürfe konstruieren.[3]

Rechtstheoretisch interessant sind die Übergangszonen von Light Law zu Right Law. Hier produzieren offiziöse Stellen Light Law, dass dann indirekt doch ziemlich heavy wird. Prominente Produzenten sind die Regierungskommission Deutscher Governance Kodex, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)[4]. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.


[1] Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat seine Aufgabe darin, einschlägige Bestrebungen schon unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit zu beobachten. Das als MaComp bekannte Rundschreiben 05/2018 (WA) der BAFIN belässt es nicht bei den »Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion«, sondern fügt »weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten« hinzu. In einem Leserbrief an die FAZ vom 14. 3. 1924 weist Manfred Kölsch darauf hin, dass At. 34 des des Digital Services Act (DSA) in Verbindung mit den Nr. 5 und 84 der Erwägungsgründe ausdrücklich dazu auffordern, auch nicht rechtswidrige Eintragungen zu löschen. Zu löschen seien »anderweitig schädliche« oder »irreführende Informationen«, betreffend die »öffentliche Debatte«, die »öffentliche Sicherheit« oder die »öffentliche Gesundheit«. Der Leser kommentiert. » Mit dieser Unschärfemethode wird ein Minenfeld gelegt, das ein Klima des Misstrauens erzeugt. Das Minenfeld wird, um soziale Nachteile zu vermeiden, von dem Bürger nicht betreten. Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung – die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen (BVerfGE 7,198; 20,162, Rz. 36; 86,122 Rz. 19) – wird verkümmern.«

[2] Rainer Hank, Der Tugendterror der Compliance, FAZamS vom 1. 3. 2024, S. 18.

[3] In der ökonomischen Theorie des Rechts diskutiert man über die Vorzüge von »harten« und »weichen« Regeln. Harte Regeln müssen genau sein und verlangen daher mehr Aufwand bei ihrer Formulierung. Sie können jedoch den Vollzug erleichtern und damit Kosten sparen. Zugunsten harter Regeln werden immer wieder Rechtssicherheit und die Abschreckungswirkung ins Feld geführt, dagegen, dass sie dem durch O. W. Holmes sprichwörtlich gewordenen »bad man« gestatten, berechnend bis an die Grenzen zu gehen. Weiche Normen dagegen veranlassen die Adressaten zu situationsadäquatem Verhalten auf der Linie des Gesetzeszwecks. Auf der anderen Seite können weiche Normen risikoscheue Menschen von wünschenswerten Aktivitäten abhalten und umgekehrt risikofreudige Personen zu Grenzüber­schreitungen herausfordern. Ähnlich liefern harte Regeln zwar eine klare Abgrenzung bei der Delegation von Befugnissen, fördern jedoch Verantwortungsscheu, während weiche Normen dazu veranlassen können, von Vollmachten sinnvoll Gebrauch zu machen. Schließlich können harte Regeln zwar in vielen Situationen für klare Information sorgen und Informationskosten reduzieren. Sie empfehlen sich daher, wenn das zu regulierende Verhalten ein Massenphänomen ist, wie z.B. im Straßenverkehr. Dort kann allerdings die Flüssigkeit des Verkehrs darunter leiden. Harte Regeln können andererseits die Kommunikation beschränken und Missverständnisse herbeiführen, während weiche Normen durch Vermeidung von Ritualen und Formalitäten eine breitere Kommunikation anregen und dadurch Verständigung fördern.

Nachtrag: ZUM Leitfaden der Humboldt-Universität Berlin Wissenschafts- und Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum Dieter Schönecker, Freiheit mit Fallstricken, FAZ vom 24. 4. 2024.


[4] Zu Struktur und Verfahren immer noch hilfreich ein Info-Brief der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, verfasst von Daniel Lübbert, 2006.

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