Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie

Dies ist die sechsteFortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie. Auch Damasios quasi-biologische Theorie sagt uns nicht, welche Reize mit welchen Emotionen beantwortet werden. Wir erfahren, die positive oder negative Sortierung sei teils angeboren, teils werde sie individuell oder sozial gelernt. Die körperlichen Spuren, von Damasio Marker genannt, bewirken dann die gefühlsmäßige Tönung neuer Situationen. So bleiben alle interessanten Fragen offen.

Bewertungstheorien (Appraisal Theories)

Die Frage nach angeborenen Auslösern von Emotionen bleibt vom soziobiologischen Ausgangspunkt her umstritten. Dagegen besteht anscheinend Konsens, dass Kognitionen im weitesten Sinne Emotionen auslösen können. Das besagen die Bewertungs- oder Einschätzungstheorien, die deshalb auch als kognitive Emotionstheorien bezeichnet werden.

»In vielen Situationen scheint nicht der objektive Sachverhalt, sondern vielmehr die subjektive Einschätzung der Sache bestimmend für das Auftreten einer Emotion zu sein. Letztere Annahme bildet den Kern von kognitiven Theorien der Emotionsentstehung,«[1]

Am Anfang stand das Werk von Magda B. Arnold (1960). Sie definierte:

»Summing up our discussion we can now define emotion as the felt tendency toward anything intuitively appraised as good (beneficial), or away from anything intuitively appraised as bad (harmful). This attraction or aversion is accompanied by a pattern of physiological changes organized toward approach or withdrawal. The patterns differ for different emotions.«[2]

Es ist plausibel, dass eine Person positive bzw. negative Gefühle entwickelt, je nach dem wie sie ein Ereignis »einschätzt«. Doch woher nimmt sie das Wissen oder den Glauben, das ein Ereignis für sie gut bzw. ungut sei? Ob eine Erfahrung »angenehm ist« wird kaum durch eine reflektierte Entscheidung ermittelt, sondern ergibt sich gleichsam automatisch oder, wie Arnold fomulierte, intuitiv. Doch woher kommt diese Intuition? Nach welchen Kriterien entscheidet sie? Wie werden Situationen wiedererkannt? Wie werden unterschiedliche Wahrnehmungen akkumuliert?

Aktuelle Bewertungstheorien begreifen Emotionen nicht als Zustand, sondern als einen Prozess.[3] Sie unterscheiden zwar zwischen primary und secondary appraisal.[4] Aber sie befassen sich kaum mit der Frage, ob und wie die Erstbewertung programmiert ist. Sie suchen insoweit insbesondere nicht nach neurologischen Grundlagen. Die Erstbewertung beschränkt sich auf eine Einschätzung der Situation als positiv, negativ oder irrelevant. Dieser Prozess soll ohne Bewusstseinsbeteiligung ablaufen[5], er müsste also irgendwo im Unterbewusstsein programmiert sein. Ich verstehe diese Bewertungstheorien dahin, dass sie ein Gerüst von Basisemotionen voraussetzen und dass bereits die emotionale Erstreaktion durch akkumulierte Lernvorgänge programmiert wird. Die Zweitbewertung evaluiert dann die Erstreaktion und verfolgt ferner Chancen, Mittel und Wege zum Umgang mit der Situation.

So hatte es im Grunde schon Arnold gesehen. Sie betonte, die Bewertung (appraisal) sei nicht die Emotion selbst, sondern erst deren Folge. In vielen Situationen bewerte man Objekte aller Art als positiv oder negativ, ohne dass dadurch Emotionen angesprochen würden. Die Bewertung, die eine Emotion hervorrufe, sei nicht abstrakt oder das Ergebnis einer Reflexion. Sie sei vielmehr unmittelbar und unwillkürlich.

»There must be a psychological capacity of appraising how a given thing will affect us, wether it will hurt or please us, before we can want to approach or avoid it. To call upon mere ›learning‹, ›past experience‹, or the ›conditioned reflex‹ for an explanation is futile.«[6]

Hier taucht ein Grundproblem der Appraisal-Theorien auf, wenn sie behaupten, die Bewertung sei zunächst ein Element der Emotion und zugleich deren Ursache.[7] Dieser Zirkel löst sich aber auf, wenn man zwischen der emotional-evaluativen Erstreaktion und dem Gefühlsmanagement unterscheidet. Die Erstreaktion ist dann von einem »Programm« gesteuert, dass aus teils angeborenen, teils habitualisierten Basisemotionen entstanden ist, und der von der Erstreaktion evozierte Zustand wird durch erneute Bewertung bestätigt oder korrigiert. Kognitiv im Laiensinne ist nur die Zweitreaktion.

Die konstruktivistische Zwei-Faktoren-Theorie

Der soziologische Konstruktivismus, insbesondere in seiner Gestalt als Praxistheorie, versteht den Menschen mit seiner Psyche schlechthin als das Produkt sozialer Praktiken. Für die Praxistheorie gibt es keine dispositionellen Variablen, also keine genetische Ausstattung und damit keine vorsozialen Emotionen und Gefühle. Sie betrachtet die Psyche als unbeschriebenes Blatt. Aber auch hier gilt: »Ein Blatt ist ein Blatt«, das heißt: »The medium is the message«. Selbst als »unbeschriebenes Blatt« hält die Psyche eine überindividuelle Funktionsarchitektur bereit, die für die Aufnahme und Verarbeitung von natürlichen und sozialen Reizen zuständig ist.

Für »moderne« konstruktivistische Emotionstheorien trifft die soziale Praxis auf ein Dispositiv von Rohgefühlen (core affect). Bei Russel[8] liest sich das so:

»At the heart of emotion, mood, and any other emotionally charged event are states experienced as simply feeling good or bad, energized or enervated. These states— called core affect—influence reflexes, perception, cognition, and behavior and are influenced by many causes internal and external, but people have no direct access to these causal connections. Core affect can therefore be experienced as freefloating (mood) or can be attributed to some cause (and thereby begin an emotional episode).«

Russel bestimmt diesen Ausgangspunkt aller Emotionen als neurophysiologischen Zustand, der dem Bewusstsein zugänglich ist als unreflektiertes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, Erregung oder Erschlaffung. Das Rohgefühl ist ungerichtet (object free/free floating). Es wird durch interne und extern verursachte körperliche Stimuli, durch Drogen ebenso wie durch Sinneswahrnehmungen gereizt. Dieser kausale Auslöser ist nicht identisch mit dem Objekt eines Gefühls. Die Objektgerichtetheit ergibt sich erst aus einem kognitiven Vorgang von Zurechnung und Bewertung (attribution/appraisal). Kognition soll die kausal ausgelösten Rohgefühle erst ex post zu Vorgängen attribuieren, die damit zu Objekten der Emotion werden, aber nicht die eigentliche Ursache sein müssen. Wie das Gefühl wahrgenommen wird, soll schließlich von erlernten Interpretationsschemata abhängen.

Bei den kognitivistischen und den konstruktivistischen Emotionstheorien handelt es sich im Kern um Lerntheorien, beruhen doch alle sozialen Konstruktionen auf Lernvorgängen. Den Unterschied muss man (ich?) mit Lupe suchen. Bei beiden Theoriegruppen vermisse ich die Unterscheidung zwischen der Konditionierung der emotional-evaluativen Erstreaktion und dem Umgang mit dieser Reaktion kraft kognitiver oder sozialer Kompetenz. Immerhin fällt es leichter, die Konditionierung der Erstreaktion im Kindesalter durch soziales Lernen zu erklären als durch kognitive Erfahrung. Aber auch soziales Lernen verlangt eine irgendwie primäre Fähigkeit zur Dekodierung der Gefühle anderer, bei Kindern insbesondere der Gefühle der Eltern. Hier bleibt (für mich) ein großes Rätsel.

Vielleicht kann die Frage, wie die emotionale Erstreaktion konditioniert ist, offen bleiben, wenn man nach Vermittlungsinstanzen sucht, welche die Emotionen auf Ausschnitte aus der Umwelt ausrichten. Soziologie und Sozialpsychologie beschreiben das Ergebnis des Lernvorgangs als Persönlichkeit, Attitüde, Skript, Frame oder Habitus. Die neuronal basierten Emotionen werden dabei allerdings kaum bedacht. Bevor ich diesen Sprung von der Individualpsychologie zur Sozialpsychologie oder gar Soziologie wage, will ich (demnächst) noch auf Nico H. Frijdas »Laws of Emotion« eingehen.


[1] Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; S. 209. Auführlicher Rainer Reisenzein, Einschätzungstheoretische Ansätze in der Emotionspsychologie, in Jürgen H. Otto u. a. (Hg.), Emotionspsychologie, 2000, 117–138, S. 117.

[2] Magda B. Arnold, Emotion and Personality, 1960, S. 182. Hervorhebung im Original.

[3] Agnes Moors/Phoebe C. Ellsworth/Klaus R. Scherer/Nico H. Frijda, Appraisal Theories of Emotion: State of the Art and Future Development, Emotion Review 2013, 119–124.

[4] Die Unterscheidung geht auf den Psychologen Richard Lazarus zurück (, den ich hier nur aus zweier Hand zitieren kann.

[5] Nico H. Frijda, The Emotions, 1986, S. 464.527

[6] A. a. O. S 173.

[7] Agnes Moors, On the Causal Role of Appraisal in Emotion, Emotion Review 2013, 132–140.

[8] James A. Russell, Core Affect and the Psychological Construction of Emotion, (2003) 110 Psychological Review 110, 2003, 145–172, Abstract.

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Exkurs zu Descartes‘ Irrtum

Dies ist die fünfte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Von Emotionen heißt es, sie seien im Gegensatz zu Stimmungen, objektgerichtet sind. Das bedeutet wohl, dass sie sich einen bestimmten, kognitiv erfahrbaren Gegenstand beziehen. Dieser Gegenstand muss nicht real sein, sondern kann, wie ein Gespenst, bloß in der Einbildung bestehen. Die Objektausrichtung von Emotionen lenkt auf eine Dual-Track-Mind-Theorie der Verarbeitung von Kognitionen.

»Decartes‘ Irrtum« soll bekanntlich darin liegen, dass er Körper und Geist und damit auch Emotion und Verstand voneinander getrennt habe. Ich meine allerdings, dass wir eher Anlass haben, Decartes zu bewundern als ihn zu kritisieren. Was er klassisch formuliert hat, würde man heute wohl als ein Emergenzphänomen einordnen. Es geht um die Verselbständigung des (subjektiven) Geistes gegenüber dem Körper. Das Vehikel des Geistes ist die Sprache und die damit möglich gewordene Abstraktion.

Ich beziehe mich im Folgenden auf eine Darstellung von Ronald de Sousa[1]. Die Besonderheit logischer und mathematischer Schlüsse, die wir für schlechthin zutreffend halten, besteht darin, dass sie objektfrei = abstrakt funktionieren. Voraussetzung dafür ist die Sprache. Nun lässt sich aber an vielen sprachlosen Tieren beobachten, dass sie Kognitionen sinnvoll verarbeiten, dass sie also bis zu einem gewissen Grade »denken« können. Solches Denken gelingt aber nur im Blick auf konkrete Objekte. Auch unsere menschlichen Vorfahren sind durch einen sprachlosen Zustand hindurchgegangen. In diesem Zustand konnten sie viele Situationen mit Hilfe von Analogieschlüssen, also durch Mustererkennung[2], beherrschen. Zwischen derart konkretem Denken und dem abstrahierend logischen Denken liegt ein großer Entwicklungsschritt. Das belegen psychologische Experimente nach Art des Wason-Tests[3], und das erlebt jeder Schüler, wenn er eingekleidete Rechenaufgaben in abstrakte Formeln übersetzen soll.

Dual-Track- oder Dual-Process-Theorien gibt es viele. Eine Dual-Track-Theorie besagt in diesem Zusammenhang, dass Kognitionen im weitesten Sinne beim modernen Menschen in zwei psychischen Systemen verarbeitet werden, nämlich in einem älteren, das mit konkreten Objekten und Analogien hantiert, und einem jüngeren, das mit sprachlichen Abstraktionen arbeitet. Die weitere Annahme geht dahin, dass das ältere System von Emotionen gelenkt wird, die es im Laufe der Evolution auf überlebensnotwendige Reaktionen ausgerichtet haben, während das jüngere System über Bewusstsein verfügt, das ihm dazu verhilft, abstrakt und damit im modernen Sinne rational zu arbeiten.

Dieses Dual-Track-Mind-Modell deckt sich nur zum Teil mit Kahnemanns Modell des schnellen und des langsamen Denkens. Das schnelle Denken Kahnemanns ist zwar deshalb schnell, weil es im Unbewussten abläuft. Aber wie es dort hinkommt, bleibt offen. Es handelt sich wohl nicht bloß um emotionsgesteuerte vorsprachliche Reizverarbeitung, sondern auch um individuell oder vor allem sozial gelernte Reaktionsmuster, um Hexis im Sinne Bourdieus, um eine durch kulturelle Praktiken geprägte Routine. »Schnelles Denken« befähigt zu erstaunlichen Leistungen, wie de Sousa am Beispiel des Tennisspielers zeigt, der auf die anfliegenden Bälle des Gegners reagiert. Solche Leistungen können sogar emotionslos erbracht werden. Aber jedenfalls verfügen Menschen jenseits des »schnellen Denkens« über eine Fähigkeit der Distanzierung von ihren unmittelbaren Eindrücken und damit zur Abstraktion. Das bedeutet nicht, dass abstraktes Denken emotionslos vor sich geht. Mit dieser Fähigkeit haben sich anscheinend spezifische Emotionen entwickelt. De Sousa spricht von »epistemischen« Emotionen »such as wonder, doubt, curiosity, surprise, or the ›feeling of rightness‹ [which] spur the quest for analytic rigour typical of Track Two processing«.

Damasios »Entdeckung« bestand bekanntlich darin, dass der arme Phineas Gage nach einer schweren Hirnverletzung seine Entscheidungsfähigkeit im Sinne praktischer Rationalität verlor, weil Verbindungen zwischen der Amygdala als Sitz der Emotionen und dem präfrontalen Kortex als Sitz von Bewusstsein, Wahrnehmung, Gedächtnisleistung und Intelligenz durchtrennt worden waren. »Langsames« abstraktes Denken hat eine neue Qualität, die man Geist nennen kann. Auch wenn dieser Geist um seine neuronale Basis weiß, so kann er sie doch nicht spüren, sondern nur darüber nachdenken. Er weiß auch um seine Emotionen und kann sie sogar fühlen. Aber er kann sich von ihnen distanzieren. Deshalb sollte man Descartes nicht schelten, wenn er das Denken zum Wesensmerkmal des Menschen erklärte.

Solche Überlegungen zeigen eine überindividuelle Funktionsarchitektur der Psyche, die für die Aufnahme und Verarbeitung von natürlichen und sozialen Reizen zuständig ist, führen aber hinsichtlich der Frage, wieweit die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen durch Bewusstsein und Routine gesteuert wird und welchen Einfluss dabei Emotionen nehmen, nicht weiter. Immerhin deuten sie darauf hin, dass sich der »Geist« im Sinne von Rationalität soweit verselbständigt hat, dass er imstande ist, Emotionen bis zu einem gewissen Grade zu kontrollieren.

Mit der Fortsetzung geht es zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie.


[1] Ronald de Sousa, Logic and Biology: Emotional Inference and Emotions in Reasoning, in: Jonathan Eric Adler/Lance J. Rips, Reasoning, 2008, 1002–1015; vgl. auch Ronald de Sousa, Why Think? Evolution and the Rational Mind, 2007.

[2] Dazu die Einträge über Die Analogie als Entdeckungsverfahren und Gleichmacher auf Rsozblog.

[3] Norbert Treitz, Wason-Test, Spektrum.de.

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Theorien der Emotions-Psychologie

Dies ist die fünfte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Die Frage nach der Aktualgenese von Gefühlen

Juristen handeln, indem sie entscheiden. Für die Rechtswissenschaft ist deshalb von Interesse, wie Emotionen und damit Gefühle auf Entscheidungen einwirken. Deshalb richte ich an die Psychologie die Frage nach der Aktualgenese von Emotionen. Der Jurist möchte wissen,

  • was es mit den Gefühlen im Objektbereich seiner Tätigkeit auf sich hat,
  • wie er selbst bei der Kommunikation mit seinen Klienten und vor allem bei seinen Entscheidungen von Gefühlen geleitet wird.

Dafür sollten die folgenden Fragen geklärt werden:

  • Welches Objekt, welcher Reiz, welche Kognition aktiviert unter welchen Umständen welche Emotionen?
  • In Gestalt welcher Gefühle werden die emotional gefärbten Zustände subjektiv wahrgenommen?
  • Was bewirken die aktivierten Emotionen → Gefühle? Von welchen weiteren Umständen sind die Wirkungen abhängig?

Die Sache wird unübersichtlich. Deshalb ist es an der Zeit, einer speziellen Emotions-Psychologie Ausschau halten.

Das Theorieknäuel der Emotionspsychologie

Die Sicht ist schlecht. Ein relativ neuer Übersichtsartikel beginnt:

»The emotion domain is characterized by a profusion of theories and complex debates with no hope of a quick settlement.«[1]

Die Emotionstheorien, die bemüht sind, Alltagsbeobachtungen, psychologische Tests und physiologische Experimente auf einen Nenner zu bringen, erinnern den Juristen in ihrer Vielfalt an die »Theorien« des eigenen Fachs, mit denen er den Gehalt von Rechtsnormen und Präjudizien zu ordnen versucht. Übersichten über die Theorien der Psychologen bieten einschlägige Lehrbücher. [2] Drei Theoriefamilien schälen sich heraus:

»1) Biologische Ansätze vermuten einen biologischen Ursprung von Emotionen in funktional spezialisierten Emotionsmodulen. (2) Kognitive Ansätze behaupten, dass Emotionen von kognitiven Einschätzungen der Umwelt in Bezug auf das eigene Wohlergehen und Wohlbefinden verursacht werden. (3) Konstruktivistische Ansätze nehmen an, dass Emotionen aus sozio-kulturell vereinbarten Kategorisierungen von unspezifischen affektiven Zuständen hervorgehen.«[3]

Einig ist man sich immerhin, dass Emotionen bzw. Gefühle »komplex« sind. Übereinstimmend zählt man fünf »Komponenten« auf, die zusammen die »Emotion« ausmachen, wobei Ursache und Wirkung in der Schwebe bleiben:[4]

  • Kognition (Einschätzung, Bewertung, Ursachenzuschreibung, Kategorisierung, Benennung),
  • Physiologie (periphere Erregung, zentralnervöse Aktivierung),
  • Erleben (subjektive Erfahrung, Gefühle),
  • Ausdruck (soziale Kommunikation, Gestik, Stimme, Mimik),
  • Motivation (motivationale Orientierungen, Handlungsbereitschaften, funktionaler Aspekt).[5]

Der Konsens bröckelt aber bei der Frage, ob Emotionen ungeachtet ihrer Komplexität ein einheitliches Phänomen bilden oder ob hier verschiedene Elemente zusammengewürfelt werden, die nicht direkt etwas miteinander zu tun haben.[6]

Alle gehen davon aus, dass die Zuordnung einer Emotion zu einem Reiz etwas mit den biologischen Überlebensinteressen des Organismus zu tun hat. Man könnte sagen: Emotionen haben eine Utility-Funktion. Das ist im Grunde eine Trivialität, die aber immerhin dazu auffordert, die Emotionen und folglich auch Gefühle nach ihrer Valenz in positive und negative, in aktivierende und bremsende zu sortieren, wie es Russel mit dem Circumplex-Modell oder Panksepp mit der Gruppierung der Basisemotionen getan haben. Aber woran erkennt der Organismus, ob ein Reiz für ihn nützlich ist?

Evolutionär-biologische Emotionstheorien

Handfeste Antworten scheinen von den evolutionär-biologischen oder Instinkttheorien zu kommen, die bis auf Darwin zurückgehen. Sie behaupten, dass die emotionale Einordnung von Reizen sich schon im Zuge der Evolution entwickelt hat. Dann steckten in den Basisemotionen also »Instinkte«, die für die gehörige Antwort auf einen Reiz sorgten. Noch immer referiert die Psychologie-Literatur die alte Theorie von William McDougall (1871-1938). Er stellte einen Katalog von 18 angeborenen »Instinkten« zusammen, die jeweils auf bestimmte Auslöser hin entsprechende Gefühle aktivieren sollten.[7] Damit stößt man auf das Problemknäuel evolutionäre Psychologie und Soziobiologie. Dazu habe ich bereits ausführlich Stellung genommen.[8] Deshalb zitiere ich hier nur noch den Strafrechtler und Kriminologen Hellmuth Mayer[9], der dazu schon vor bald 50 Jahren das Notwendige gesagt hat: Trieblehren dieser Art seien willkürlich. Gehlen habe darauf hingewiesen, andere amerikanische Autoren auf viele Hunderte von ›activities‹ gekommen seien, die dann alle als Instinkte gelten sollten. Solche Setzungen ließen sich nicht verifizieren, wie an den verschiedenen Schulen der Psychoanalyse deutlich zu sehen sei. Freilich reißen die Versuche nicht ab, bestimmte Reaktionsmuster als evolutorisch angelegt zu postulieren. Praktisch kann man damit nicht viel anfangen, denn wenn es solche Reaktionsmuster gibt, dann lassen sie sich doch nur schwer von gelernten unterscheiden. Es ist wohl davon auszugehen, dass neuronal allenfalls rudimentär vorgegeben, welche somatischen Ereignisse oder welche Kognitionen als Trigger bestimmte Emotionen auslösen.

Der Laie möchte annehmen, dass die in der neuronalen Basis angelegten Emotionspotentiale unmittelbar durch Veränderungen des Körperzustandes aktiviert werden können, also etwa durch Wärme oder Kälte, Hunger oder Schmerz, körperlichen Kontakt mit Lebewesen oder unbelebter Materie. Man kann sich gut vorstellen, dass der Körper den äußeren Reiz unmittelbar als mehr oder weniger nützlich empfindet, und damit entsprechende Emotionen aktiviert werden. Doch anscheinend gilt: Gefühle treten zwar unwillkürlich auf. Aber sie werden (mindestens auch) durch Kognitionen ausgelöst.

Auf biologischer Ebene lässt sich das Emotionsgeschehen durch Drogen beeinflussen. Bei Körpergefühlen wie Hunger und Durst, Frieren und Schwitzen, Schmerz und Wohlgefühl, sexueller Erregung und Entspannung scheint klar zu sein, dass sie physiologische Ursachen haben (können). Andererseits können auch solche Körpersensationen wohl gelernt werden, sind sie doch mit typischen Abläufen verbunden, die dann auch – man denke an Pawlows Hunde – ohne direkten körperlichen Anstoß die einschlägigen Befindlichkeiten evozieren.

Der Laie wird weiter annehmen, dass die in der neuronalen Basis angelegten Emotionspotentiale, wenn es sie denn gibt, mittelbar durch besonders »eindrucksvolle« Kognitionen ausgelöst werden. Auf ein lautes Geräusch, ein helles Licht, einen starken Geruch, einen sich bewegenden größeren Gegenstand reagiert man wohl spontan erst einmal emotional. Emotionen werden wohl auch immer wieder durch »Überraschungen« aller Art angesprochen. Schockbilder sollen Raucher verängstigen. Aber all das ist so grob, dass es über das Phänomen der emotionalen Erstreaktion nicht hinausführt. Auf jeden Fall gilt, die emotionale Einfärbung von Kognitionen kann (auch) individuell und sozial gelernt werden. Der Laie kann sich die Sache nur metaphorisch vorstellen: Der psychische Funktionsapparat schwingt sich über dem Resonanzboden der Basisemotionen auf die verschiedenen Reize ein.

Somatische Emotionstheorien

Die klassische »somatische« Emotionstheorie stammt von dem Amerikaner William James. Oft wird im gleichen Atemzug der Däne Carl Georg Lange genannt, der ein Jahr später (1885) eine beinahe identische Theorie entwickelte. Ich will gar nicht erst den Versuch unternehmen, die James/Lange-Theorie der Gefühle zu referieren, sondern begnüge mich mit einem James-Zitat:

»Our natural way of thinking about these standard emotions is that the mental perception of some fact excites the mental affection called the emotion, and that this latter state of mind gives rise to the bodily expression. My thesis on the contrary is that the bodily changes follow directly the PERCEPTION of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as they occur is the emotion. Common sense says, we lose our fortune, are sorry and weep; we meet a bear, are frightened and run; we are insulted by a rival, are angry and strike. The hypothesis here to be defended says that this order of sequence is incorrect, that the one mental state is not immediately induced by the other, that the bodily manifestations must first be interposed between, and that the more rational statement is that we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble, and not that we cry, strike, or tremble, because we are sorry, angry, or fearful, as the case may be.« [10]

Diese Theorie behauptet also, dass das Bewusstsein der Emotionen als Gefühl sekundär sei. Aber durch welche extrakorporalen Ereignisse welche Emotionen und damit welche Gefühle ausgelöst werden, erfährt man hier nicht.

Es liegt nahe, weiter an die populäre Theorie von Damasio[11] zu denken. Damasio wendet sich bekanntlich gegen den Leib-Seele-Dualismus, den er bei Descartes vorgefunden hat.[12] Seine These lautet, dass Ratio, Verstand oder Vernunft nicht ohne Gefühle zu haben sind, weil sich das Denken nicht vom Körper lösen lässt. Dass Gedanken stets von körperlichen Zuständen und von Emotionen begleitet werden – wer wollte das bestreiten? Interessant wird es erst, wenn wir erfahren, welche Gefühle mit welchen Gedanken einhergehen. Dafür bietet Damasio nur eine sehr pauschale Lösung, die uns nicht weiterhilft. Wir lernen, dass alle Erfahrungen im Körper des Menschen Spuren hinterlassen, je nachdem, ob sie als angenehm oder nicht angenehm empfunden werden. Die positive oder negative Sortierung ist teils angeboren, teils wird sie individuell oder sozial gelernt. Die körperlichen Spuren, von Damasio Marker genannt, bewirken dann die gefühlsmäßige Tönung neuer Situationen. So bleiben alle interessanten Fragen offen. Ob eine Erfahrung »angenehm« ist, wird kaum durch eine reflektierte Entscheidung ermittelt, sondern ergibt sich gleichsam automatisch. An welcher Stelle steckt dieser Automatismus? Nach welchen Kriterien entscheidet er? Wie werden die einzelnen Entscheidungen akkumuliert? Wie werden Situationen wiedererkannt, so dass die passenden Marker aktiviert werden?

Bevor ich mit diesen Fragen fortfahre, folgt (demnächst) ein Exkurs zu »Descartes‘ Irrtum«.


[1] Agnes Moors, Integration of Two Skeptical Emotion Theories, Psychological Inquiry 28, 2017, 1-19.

[2] Herangezogen habe ich Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; David G. Myers, Psychologie, 3 Aufl. 2014; Rainer Reisenzein/Wulf-Uwe Meyer/Achim Schützwohl, Einführung in die Emotionspsychologie. Band III: Kognitive Emotionstheorien, 2002; Rainer Reisenzein/Gernot Horstmann, Emotion, in: Andrea Kiesel/Hans Spada, Lehrbuch Allgemeine Psychologie, 4. Aufl. 2018, 424–490; Klaus Rothermund/Andreas Eder, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, 2011; Franziska Schmithüsen u. a.,  Lernskript Psychologie, 2014, S. 82ff.

[3] Klaus Rothermund/Andreas Eder, Allgemeine Psychologie: Motivation und Emotion, 2011, S. 181. I

[4] »Kognition« habe ich an den Anfang gestellt, weil Kognitionen mindestens auch als Auslöser von Emotionen in Betracht kommen. Die drei mittleren werden auch als Reaktionstrias bezeichnet. Bei der Physiologie ist aber offen, was Ursache und was Wirkung ist. Motivation steht am Ende, weil sie die Wirkung von Emotionen auf das künftige Verhalten bestimmt.

[5] Aufzählung nach Andreas B. Eder/Tobias Brosch, Emotion, in. Jochen Müsseler/Martina Rieger, Allgemeine Psychologie, 3. Aufl. 2017, 185–222; S. 189. In diesem Sinne auch Nico H. Frijda, Emotion Experience and its Varieties, Emotion Review 2009, 264–271; S. 265; ders., Die Gesetze der Emotionen, S. 206.

[6] Juan R. Loaiza, Emotions and the Problem of Variability, Review of Philosophy and Psychology 2021, 329–351.

[7] William McDougall, An Introduction to Social Psychology, 14. Aufl. 1919, hier zitiert nach dem im Internet verfügbaren Nachdruck von 2001.

[8] In drei Einträgen auf Rsozblog vom 21. 9. 2023 (Was taugt die neue Rechtsbiologie?), vom 2. 10 2023 (Kritik der Soziobiologie Teil II) und vom 24. 11. 2023 (Kritik der Soziobiologie Teil III).

[9] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977, S. 13ff.

[10] William James, What is an Emotion? Mind 9, 1884 Heft34, 188–205, S. 189f. Im übrigen verweise ich auf die Lehrbuchdarstellungen sowie auf Michael Anacker, William James: Die James/Lange-Theorie der Gefühle, in Konstanze Senge ua., Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, 2022, 311–317.

[11] Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, 2004 [1994]; ders., Im Anfang war das Gefühl, 2017.

[12] Als Zuammenfassung und Stellungnahme zu dieser Theorie kann man lesen Wolfgang Lenzen, Damasios Theorie der Emotionen, Facta Philosophica, 6, 2004, 269-309; .Annette Schnabel, Antonio Damasio: Descartes‘ Irrtum, in: Konstanze Senge/Rainer Schützeichel (Hg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie, 2013, 80–84; Ulf Hlobil, Eine theoretische Kritik der Somatischen Marker Hypothese Antono Damasios, 2008.

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Recht und Emotion: Basis- und Sekundäremotionen

Dies ist die vierte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

1)     Das Konzept der Basisemotionen

Emotionen sind weniger differenziert als Gefühle. Das jedenfalls besagt das Konzept der Basisemotionen. Als deren »Erfinder« gilt wohl Paul Ekman. Seine Forschungen kreisten um die These, Emotionen, wie sie sich in Mimik und Gestik ausdrücken, seien angeboren und daher universal. Er meinte, sieben Basisemotionen identifizieren zu können: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung.[1] Sekundäremotionen sind dann die Gefühle, in denen sich mehrere Basisemotionen mischen können.

Eine höchst abstrakte Vorstellung von Basisemotionen hat James A. Russell entwickelt.[2] Er vermeidet allerdings den Begriff der Basisemotion und spricht stattdessen von core affect. Die Lehrbücher übersetzen mit »Rohgefühlen«.

In den Lehrbüchern wird diese Theorie als Circumplex-Modell referiert. Es ordnet die Wirkung der Gefühle auf zwei Achsen ein. Waagerecht spannt sich die Achse der Valenz von positiv zu negativ = angenehm zu unangenehm. Senkrecht verläuft die Achse der Erregung zwischen Aktivierung und Deaktivierung. In den Sektoren dazwischen lassen sich dann alle Gefühle als eine Mischung aus diesen vier Kräften eintragen. Das Modell bildet die Grundlage einer konstruktivistischen Zweifaktoren-Theorie. Es verzichtet allerdings auf die Anknüpfung an einer biologischen Basis. Deshalb erscheint die Theorie der Basisemotionen von Jaak Panksepp plausibler. Sie ist gut mit einer Mehr–Faktoren-Theorie vereinbar, die Raum für individuell-kognitive und sozial-konstruktivistische Ansätze bietet, ohne das biologische Element von vornherein auszuschließen.

Der Vollständigkeit halber sei noch auf die Theorie der Ur-Emotionen (ur-emotions) von Frijda und Parrott hingewiesen:[3]

»Ur-emotions, we propose, reflect a limited number of modes of relating to other people, objects, or circumstances.« (S. 406)… »The term ur-emotion can therefore suggest both an underlying structure and an evolutionary, biologically based source.« (S. 407)«

Bisher kann ich die Ur-Emotionen nicht einordnen. Sie sollen (noch?) abstrakter sein als die geläufigen Basisemotionen. Ich werde wohl darauf noch einmal zurückkommen, wenn es um Frijdas »Laws of Emotion« geht.

2)     Panksepps Theorie der Basisemotionen

Auf Jaak Panksepps Theorie der Basisemotionen bin ich zuerst in der Werbewirkungsforschung gestoßen. Für Werbung werden viele Millionen ausgegeben. Allem Anschein nach sind die Kosten für eine psychologisch gestützte Werbung gut angelegt. Für die Werbung wird ein Emotional Branding Monitor (EBM) als ein »Verfahren zur Offenlegung unbewusster Wahrnehmung« angepriesen. Dafür beruft man sich auf die Neurowissenschaften, die sieben voneinander unabhängige basale Emotionssysteme zutage gefördert haben sollen, welche im Verein mit zugeordneten Kognitionen die Grundlage unseres Denkens und Handelns bilden.[4]

Die Bestimmung dieser Emotionssysteme geht zurück auf Jaak Panksepp.[5] Er fand im Laufe der Zeit sieben biologisch im Hirn verankerte Emotionen, die er, um sie vom üblichen Sprachgebrauch abzusetzen, in Großbuchstaben schrieb: SEEKING/Expectancy, RAGE/Anger, FEAR/Anxiety, LUST, CARE/Nurturing, PANIC/Sadness Und PLAY/Social Joy. Die sieben primären Emotionen werden wie folgt beschrieben:

»Primal emotions and their accompanying affects appear to have acquired the capacity to move animals to action in ways that promoted their survival. Emotions prodded animals to explore for resources (SEEKING), compete for and defend those resources (RAGE/Anger), escape from and avoid bodily danger (FEAR), and identify potential mates and reproduce (LUST). Then, mammals with their more social orientation acquired the motivational system for nurturing their offspring (CARE); the powerful separation distress system for maintaining social contact and social bonding (PANIC/Sadness); and the complex system stimulating especially young animals to regularly engage in physical activities like wrestling, running, and chasing each other (PLAY/Social Joy), which helps them bond socially and learn social limits and which seems to carry over into the ›ribbing‹ and joking that continues to add fun in adulthood. Evolution has endowed mammalian brains with at least these seven primary-process emotional action systems, which serve as survival guides. These primary emotions arise from subcortical brain regions that are largely homologous, especially across mammals, with each emotion having a distinct brain anatomy, neuropharmacology, and physiology.«

Die Emotionen werden in zwei Gruppen eingeteilt, nämlich in solche, die eine positive Vorwertung hervorrufen, und andere, die eine negative Reaktion programmieren.

»Each of the primal emotional affects is evaluative, that is, has a valence that is either pleasant or aversive and signals objects or situations to approach in the case of the pleasant ones (SEEKING, LUST, CARE, and PLAY) or to avoid in the case of the aversive ones (RAGE, FEAR, and PANIC).«

Die Werbewirkungsforschung liefert dazu die werbewirksame Illustration[6]:

Die Basis-Emotionen werden nicht erst erlernt, sondern sind angeboren:

»The primary-process emotions require no learning. It is not necessary to teach a child to become angry, fearful, or to panic after having lost sight of parents in a crowd. Nor do we need to teach children how to play. These evolved foundational tools for living are somehow automatically built into our heritage. However, these evolutionarily/genetically endowed primary-process emotional brain systems are not fixed functions but are able to learn and adapt to novel environmental experiences throughout the life of an individual. Indeed, as introduced above, the valenced affects associated with each of the primary emotions serve as endogenous rewards and punishments for behaviors that activate emotions.«

Folgt man Panksepp, so ist die neuronale Grundsteuer der Emotionen subkortikal verankert und hat sich im Zuge der Evolution sehr langfristig entwickelt, ist relativ universell und wandelt sich allenfalls sehr langsam. Auch wer gegenüber der Soziobiologie kritisch ist, kann die Basis-Emotionen, wie sie von Panksepp dargestellt werden, akzeptieren, denn sie haben als solche noch keinen Inhalt. Zwar können die Emotionen grundsätzlich ohne Beteiligung des Neocortex auf Reize antworten. Letzterer ist jedoch in der Lage, Emotionen zu unterdrücken oder zu regulieren.

»The Pankseppian affective neuroscience view is that ›the neocortex is fundamentally tabula rasa at birth‹ … and it is through experience that the neocortex is ›programmed‹ (likely through interactions with subcortical regions) to acquire its capacities that as we reach maturity come to seem like hard-wired‹ brain functions.«

Wenn man über die neuronalen Grundlagen von Emotionen redet, werden gewöhnlich die Amygdala und das limbische System genannt. Heute gelingt es, mit bildgebenden Verfahren recht genau Aktivitäten von Nervenzellen in verschiedenen Gehirnregionen zu lokalisieren, wenn bei Versuchspersonen Gefühle aktiviert werden. Aber mehr als eben die Tatsache, dass Gefühle mit beobachtbaren Gehirnaktivitäten einhergehen, folgt daraus nicht. Mir ist insbesondere nicht bekannt, dass aus beobachtbaren Gehirnaktivitäten auf bestimmte Gefühle geschlossen werden könnte.

[Fortsetzung hier]


[1] Paul Ekman, Gefühle lesen, 2 Aufl. 2010; Jo Reichertz, Paul Ekman: Gefühle lesen, in: Konstanze Senge u. a. (Hg.), Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, 2022, 145–151.

[2] James A. Russell, Core Affect and the Psychological Construction of Emotion, Psychological Review 110, 2003, 145–172. Die folgende Abbildung dort von S. 148.

[3] Nico H. Frijda/W. Gerrod Parrott, Basic Emotions or Ur-Emotions?, Emotion Review 2011, 406–415.

[4] Interrogare GmbH, Mit dem Emotional Branding Monitor (EBM) zu einer erfolgreichen emotionalenMarkenpositionierung. Eine zentrale Quelle ist Jaak Panksepp, Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions, 1998. Dagegen kommt Franke ohne Panksepp aus. Sie bezieht sich aber auf Frijda, den ich für wichtiger halte (Marie-Kristin Franke, Der Konsument. Homo Emoticus statt Homo Oeconomicus?, 2014; zu Frijda breits Fn. 42).

[5] Für eine im Internet verfügbare Kurzfassung vgl. Jaak Panksepp, The Affective Brain and Core Consciousness: How Does Neural Activity Generate Emotional Feelings?, in: Handbook of Emotions, hg. von Michael Lewis u. a., 2008, 47-67. Das nachfolgende Referat zitiert Kenneth L. Davis/Christian Montag, Selected Principles of Pankseppian Affective Neuroscience, Frontiers in Neuroscience 12, 2018, 1025.

[6] Abbildung aus Interrogare GmbH, Mit dem Emotional Branding Monitor (EBM) zu einer erfolgreichen emotionalen Markenpositionierung, https://www.interrogare.de/media/pdf/Downloads/Interrogare_Emotional_Branding_Monitor.pdf.

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Recht und Emotion: Ein Katalog der Gefühle

Dies ist die dritte Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Die nächste Aufgabe könnte darin bestehen, Kataloge möglicher Emotionen und Gefühle aufzustellen.[1] Leichter ist es, mit den Gefühlen zu beginnen, weil insoweit das Bewusstsein beteiligt ist, so dass wir von den Gefühlen ausgehen können, von denen wir reden. Hier die wichtigsten Kandidaten für eine Liste der Gefühle:

Abneigung (Antipathie), Zuneigung (Sympathie), Feindschaft, Aufregung, Interesse, Ärger, Empörung, Angst, Wut, Furcht, Appetit, Hunger, Durst, Sättigung, Lust, Neid, Ekel, Freude, Traurigkeit (Depression), Stolz, Scham, Schreck; Schmerz, Schuldgefühl, Überraschung, Zorn, Liebe, Hass, Eifersucht, Heimweh, Sehnsucht, Kummer; Mitleid, Langeweile.

Das Rechtsgefühl habe ich in der psychologischen Fachliteratur nicht gefunden. Dieses Gefühl kennen anscheinend nur Juristen.

»Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.« (Rudolf von Ihering, Der Zweck im Recht, 1877, Vorrede).

Aber die Liste der Gefühle ist nicht abgeschlossen. Es scheint so, als ob »wir beliebig viele verschiedene Gefühle erfahren können, gerade so, wie wir beliebig viele verschiedene Gedanken denken können«[2] Aber vielleicht ist das Rechtsgefühl auch gar kein »echtes« Gefühl. Bak unterscheidet zwischen »affektiven« und anderen Gefühlen. Als Beispiel für die anderen nennt er Pflichtgefühl, Verantwortungsgefühl oder Ballgefühl.[3] Ist das Rechtsgefühl das Ballgefühl der Juristen?

Wird das Rechtsgefühl nur aus kondensierter Erfahrung gespeist oder verfügt es jedenfalls zusätzlich über angeborene Elemente? Was die Erfahrung betrifft, so muss es sich nicht allein um Erfahrungen mit dem offiziellen positiven Recht handeln. Vermutlich gehen alle Erfahrungen mit zwischenmenschlichen Transaktionen in das Rechtsgefühl ein. Dann gibt es wohl ein vor(positiv)rechtliches Rechtsgefühl. Sprenger leitet ein vorrechtliches Rechtsgefühl, also ein solches, dass nicht in erster Linie vom modernen positiven Recht geprägt ist, aus sehr allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien ab (Gleichheit, Fairness, Goldene Regel).[4] In unserem Zusammenhang interessiert aber kein durch Prinzipien vermitteltes, sondern ein unmittelbar emotional geprägtes Rechtsgefühl – wenn es denn so etwas gibt. Das war immerhin die Prämisse der sozialpsychologischen Gerechtigkeitstheorie (Equity-Theorie). Ohne Anknüpfung an die Psychologie versuchen Ökonomen Fairness und Reziprozität mit einem spieltheoretischen Ansatz zu erklären.[5] Binmore findet in der Reziprozität am Ende eine genetisch programmierte Veranlagung. Als »vorrechtliches« Rechtsgefühl kommt ferner« der Gerechte-Welt-Glaube[6] in Betracht.[7] In den Sozialwissenschaften besteht anscheinend die Vorstellung eines angeborenen oder jedenfalls tief in der Psyche verankerten Gerechtigkeitsgefühls. (und dem Juristen drängt sich die Frage auf, ob dieses Gerechtigkeitsgefühl das gesuchte Rechtsgefühl ist.)

Damit ist die Frage, ob das Rechtsgefühl überhaupt als affektiv/emotional einzuordnen ist, allerdings nicht beantwortet. Dass das Rechtsgefühl durch Erfahrung geprägt wird, schließt seine Gefühlsqualität nicht aus, stellen doch die gängigen Emotionstheorien überwiegend auf »Kognitionen« ab. Vielleicht handelt es auch gar nicht um ein einheitliches Gefühl, sondern um ein Kompositum von, ja wovon?

[Fortsetzung]


[1] Mit einer »Typologie« versucht es das Handbuch »Emotionen«: Hermann Kappelhoff/Jan-Hendrik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt, Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2019. Viel zitiert wird eine Aufzählung von von Andrew Ortony u. a.  , die, eingeteilt in drei Gruppen, jeweils im Hinblick auf bestimmte Objekte 24 Gefühle identifiziert (Andrew Ortony/Gerald L. Clore/Allan Collins, The Cognitive Structure of Emotions, 2 Aufl. 2022 [1988], Tabelle S. 22).

[2] Ronald de Sousa, Moralische Gefühle in Scharz-Weiß und Farbe, e-Jounal Philosophie der Psychologie, Juni 2005.

[3] Peter Michael Bak, Lernen, Motivation und Emotion, 2019, S. 146.

[4] Gerhard Sprenger, Rechtsgefühl ohne Recht, in: FS Ernst-Joachim Lampe, 2003, 317-338.

[5] Ken Binmore, Natural Justice, 2005; Luigino Bruni, Reziprozität, 2020.

[6] Melvin J. Lerner, Belief in a Just World. A Fundamental Delusion, 1980; Melvin J. Lerner/Sallly C. Lerner (Hg.), The Justice Motive in Social Behavior, 1981.

[7] Erstaunlich, dass in den zahlreichen Äußerungen zum Rechtsgefühl diese wohl empirisch am weitesten ausgetestete Theorie, die der Sozialpsychologe Melvin L. Lerner seit 1965 entwickelt hat, gar nicht auftaucht. Sie gehört heute zum Kanon des Faches: Jürgen Maes, Die Geschichte der Gerechte-Welt-Forschung: Eine Entwicklung in acht Stufen?, GiP-Bericht Nr. 17, 1998 .

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Recht und Emotion: Emotional-evaluative Erstreaktion und Nachsteuerung

Dies ist die zweite Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Entscheidungen werden nicht nur anhand bewusster und reflektierter Überlegung getroffen, sondern es sind immer auch unbewusst bleibende psychische Vorgänge beteiligt, die die Wahrnehmung und Wertung der Fakten und die möglichen Entscheidungsalternativen vorselektieren. Das bezweifelt im Grunde niemand. Aber diese Einsicht wird erst relevant, wenn angegeben wird, welche unbewussten psychischen Abläufe welche Fakten und Alternativen vorsortieren und ferner, wann und wie es zum Übergang von der neuronal-somatischen Ebene zu sozial relevantem Verhalten kommt.

In ihrem schon einmal zitierten Statement erklärt uns Julia Hänni, dass Emotionen zu einer »Vorwertung« von Kognitionen führen:

»Der Apriorismus des Emotionalen prägt als Vorbedingung des Verstehens das Erschließen der Außenwelt – und zwar als ›Vorwertung‹ im Sinne eines primären emotionalen Unterscheidungsvermögens, das sich auf die Differenzierungsleistung der Wahrnehmung selbst stützt: Es ist eine Vorwertung durch eine gefühlsgeleitete Stellungnahme, die im Wahrnehmungsvollzug bereits gegeben ist, und eine Fähigkeit, welche die Dinge der Welt positiv und negativ differenziert und so die Besonderheit erfahrbar macht.« [1]

Allein man wüsste gerne, welche Kognitionen wie vorgewertet werden. Einen Schritt weiter führt die Beobachtung, dass die emotionale Vorwertung – das steckt schon in dem Begriff – schneller ist als der kognitive Entscheidungsprozess.

Zu Beginn der 1980er Jahre haben Daniel Kahneman und Amos Tversky mit ihrer Prospect-Theorie kognitive Täuschungen und Heuristiken in den Blick gerückt.[2] Die sind nicht nur gut erforscht, sondern auch weithin bekannt. Kahnemann hat ihnen mit dem Antonym vom schnellen und langsamen Denken zusätzliche Popularität verschafft.

Bei Kahneman und Tversky geht es nicht von vornherein um Emotionen, sondern um Kognitionen, nur eben um solche, die unbewusst ablaufen, und zwar in einer Weise, die psychisch vorprogrammiert ist. Dieses Programm zeichnet sich durch seine Funktionalität im Alltag aus, arbeitet aber mit Vorurteilen und führt im Einzelfall nicht selten zu Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen. Kahnemannn spricht von einer »affect heuristic … in which people let their likes and dislikes determine their beliefs«.[3] Woher diese schon gegenständlich (auf bestimmte Nahrungsmittel, Politiken oder Automarken) fixierten Vorlieben kommen, bleibt aber offen. »Emotional learning« läuft darauf hinaus, dass der Lernprozess selbst unbewusst vor sich geht und das Ergebnis als Emotion verankert wird.[4] In dem Abschnitt über Experienced Well-Being [5] geht es immerhin um Gefühle und Stimmungen (happiness, tension, anger, worry, engagement, physical pain, and others), die den Probanden als solche bewusst sind, und deren Einfluss auf das »schnelle Denken«. Von Kahnemann lernen wir also, dass gerade auch das »schnelle Denken«, das heißt, die unbewusst ablaufenden kognitiven Vorgänge, von Emotionen beeinflusst wird.

Kahnemann ist, wie zuvor Tversky, Kognitionspsychologe. Über die Emotionen selbst erfahren wir von ihm nichts. Wie eine Fortsetzung der Prospekt-Theorie lesen sich die »Laws of Emotion« von Nico H. Frida.[6] Dazu später mehr. Festzuhalten ist zunächst die Unterscheidung von schnellem und langsamem Denken. Sie verweist auf das Phänomen, dass in der Psychologie als emotional-evaluative Erstreaktion geläufig ist, nämlich auf

»einen Automatismus, der alles, was er wahrnimmt, zuerst in »gut« oder »schlecht« einteilt. Innerhalb von 200 ms nach der Begegnung mit einem Menschen, Gegenstand, Geräusch oder Geruch fällt diese Schwarz-Weiß-Entscheidung. Die emotional-evaluative Erstreaktion läuft also noch vor einer bewußten Registrierung, Identifizierung, Einschätzung und rationalen Kontrolle ab.«[7]

Wie die Disposition zur Erstreaktion konditioniert wird, ist offen. Hier vorläufig ein Zitat, dass neben Anlage und Umwelt die Persönlichkeit ins Spiel bringt:

»Die Erstreaktion wird durch z. T. anlagebedingte, z. T. erlernte Persönlichkeitsdispositionen festgelegt. Es hängt von der emotionalen Erstreaktion einer Person ab, welches der vier Systeme sie bevorzugt einsetzt, also die Intuitive Verhaltenssteuerung bei einer dispositionellen Sensibilität für positiven Affekt (z. B. bei Extravertierten), das Intentionsgedächtnis bei einer dispositionellen Neigung zur Dämpfung von positivem Affekt (z. B. bei Introvertierten), das Objekterkennungssystem bei einer Sensibilität für negative Emotionen (z. B. bei Ängstlichkeit oder Neurotizismus) und das Extensionsgedächtnis wie auch das Selbst bei einer Disposition zu einer gelassenen Erstreaktion.« [8]

Wichtig ist zunächst, dass auf die Erstreaktion eine zweite, kontrollierte Reaktion folgen kann. Das Zitat stammt aus einer kaum repräsentativen Quelle. Aber es verweist auf »Emotionsregulation«[9] als weiteres Thema. Werbung etwa baut weitgehend auf die emotional-evaluative Erstreaktion. Man geht erfolgreich davon aus, dass der Anblick menschlicher Körper und Gesichter positive Emotionen triggert, und hofft, dass die auch anhalten. Psychologisches Verhaltenstraining (Coaching) will dagegen die Fähigkeit zur willentlichen Veränderung der Erstreaktion als Selbststeuerungskompetenz trainieren.[10]

[Fortsetzung]


[1] Julia Hänni, Gefühle als Basis juristischer Richtigkeitsentscheidungen, in Gertrud Koch u. a., Affekt und Urteil, 2015, 133–141.

[2] Daniel Kahneman/Amos Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, 1979, 263-291; dies., Choices, Values, and Frames, 10. Aufl. 2009; Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2011; Daniel Kahneman/Olivier Sibony/Cass R. Sunstein, Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können, 2021.

[3] 2011 S. 103.

[4] 2011 S. 238.

[5] 2011 S. 392ff.

[6] Nico H. Frijda, The Laws of Emotion, 2007; ders., The Laws of Eotion, The American Psychologist 43, 1988, 349–358.

[7] Spektrum.de, Lexikon der Neurowissenschaft. n der Entscheidungstheorie wird das Phänomen auch als dual track theory oder dual process theory adressiert. So ist insbesondere auch von einer dual track theory of moral decision-making die Rede.Z. B. Colin Klein, The Dual Track Theory of Moral Decision-Making: A Critique of the Neuroimaging Evidence, Neuroethics 4, 2011, 143-162. In einer späteren Fortsetzung werde ich vielleicht auf eine Dual-Track-Mind-Theorie eingehen, die nichts mit der schnellen Erstreaktion und der nachfolgenden Sekundärreaktion zu tun hat, sondern zwei unterschiedliche Verarbeitungssysteme für Kognitionen behauptet.

[8] Anna Maria Engel/Julius Kuhl, Affekte und Handlungsregulation beim Coaching, in: Siegfried Greif u. a., Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching, 2018, 33–40, S. 37.

[9] Dazu vorläufig als Literaturhinweis: James J. Gross (Hg.), Handbook of Emotion Regulation, 2 Aufl. 2013. Es gibt eine 3. Aufl. von 2024.

[10] Anna Maria Engel/Julius Kuhl, Affekte und Handlungsregulation beim Coaching, in: Siegfried Greif u. a., Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching, 2018, 33–40, S. 37. Vgl. auch z. B. Michael Linden/Martin Hautzinger, Emotionsregulation. Manual und Materialien für Trainer und Therapeuten, 8 Aufl. 2015.

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Recht und Emotion: Zur Sortierung der Begriffe

Dies ist die erste Fortsetzung des Eintrags über den Emotional Turn und die Rechtswissenschaft.

Über das Rechtsgefühl wird viel geredet, aber wenig gesagt. Um sich dem zu nähern, was Psychologie zu Emotionen zu sagen hat, gilt es, zunächst die Begriffe zu sortieren. In Psychologielehrbüchern begnügt man sich mit »Arbeitsdefinitionen«, weil der Emotionsbegriff theorieabhängig sei. Die psychologischen Emotionstheorien erweisen sich mindestens als vielschichtig. Da es mir darum geht, ein Bild von diesen Theorien zu gewinnen, muss ich mir meine eigene Arbeitsdefinition zusammenbasteln.

Schwierig ist schon die Unterscheidung von Affekt, Emotion und Gefühl, selbst wenn man weitere Kandidaten wie Stimmung oder Befindlichkeit ausklammert und von Mentalität und Persönlichkeit ganz absieht. Aus einem langen Lexikoneintrag über »Emotion/Gefühl«[1] ist zu erfahren, dass die drei Begriffe alltagssprachlich weithin gleichbedeutend verwendet werden. Dagegen heißt es in einem »Wörterbuch der Psychotherapie«[2]:

»Affekte sind (als Oberbegriff von Begriffen wie Emotion, Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit etc.) definiert als kurz- oder langdauernde, bewußte oder unbewußte psychophysische Gestimmtheiten, die mit spezifischen neurobiologischen, hormonalen, vegetativen, verhaltensmäβigen und (eventuell) auch mimisch-expressiven und subjektiven Erscheinungen einhergehen.«

Als Oberbegriff[3] wird »Affekt« auch in dem Sammelband »Affekt und Urteil«[4] verwendet[5]. Das entspricht an sich dem englischen Sprachgebrauch, der affect weithin als Synonym für Emotion verwendet. Aber nachdem ich den Band durchgeblättert habe, weiß ich immer noch nicht, was ich denn unter Affekt zu verstehen habe und welches Urteil gemeint ist.[6] Der Übersichtsaufsatz von Susan A. Bandes/Jeremy A. Blumenthal, Emotion and the Law[7], wird zwar zitiert[8], aber gelesen hat man ihn anscheinend nicht. Hauptsächlich setzt man sich mit Kant auseinander oder zusammen und »verortet« die Begriffe. Müller-Mall verschlimmbessert das »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« zur oszillierenden Interpretation.

Der Affektbegriff ist für die Erörterung des Themenkreises »Recht und Emotion« jedenfalls in deutschen Texten kaum hilfreich. Nützlich ist er vermutlich nur in seiner engeren Bedeutung als Auslöser völlig unbedachter Handlungen. Kant definierte Affekte als »Gefühle der Lust und Unlust, die die Schranken der inneren Freiheit im Menschen überschreiten«[9] oder ausführlicher:

»Affekt ist Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts […] aufgehoben wird. Er ist also übereilt, d.i. er wächst geschwinde zu einem Grade des Gefühls, der die Überlegung unmöglich macht (ist unbesonnen).«[10]

Das entspricht dem rechtlichen Verständnis. Danach ist eine Affekthandlung eine Kurzschlusshandlung im Zustand einer Erregung, die eine Kontrolle durch kognitive Prozesse verhindert. Als solche kann der Affekt nach § 20f StGB für die Schuldfrage relevant sein. Auch die Psychologie kennt diesen Begriff der Affekthandlung. Bei dieser engen Bestimmung des Affektbegriffs sollte es bleiben, soweit nicht gerade Max Webers Typus des affektiven Handelns in Rede steht. Dort ist ein weiterer Begriff des Affekts angesprochen. Der Affektbegriff hat auch eine Vergangenheit in der Psychoanalyse Freuds. Auch die soll ausgeklammert bleiben. Vor dem Affekt kommt noch der Reflex, wie er zu beobachten ist, wenn die Hand von der heißen Herdplatte zurückzuckt. Ein Gegenstück zum Affekt scheint die Stimmung zu sein, nämlich ein langsamer einsetzender und länger anhaltender Zustand, der nicht auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist, sondern allem Erleben eine emotionale Tönung verleiht. Emotionen werden dagegen in der Regel als objektgerichtete, episodische, d. h. vorübergehende, relativ schnell auslaufende Zustände definiert.

Zwischen Emotion und Gefühl wird nicht immer unterschieden. Meistens ist Emotion der Oberbegriff. Unter Gefühlen versteht man dann bewusst gewordene Emotionen. Zweckmäßiger erscheint es, deutlich zwischen Emotionen und Gefühlen schärfer zu trennen. Die Emotionspsychologie kämpft mit dem gleichen Problem wie die Soziobiologie, nämlich mit der Frage, was ist Anlage und was kommt aus der Umwelt. Aus verschiedenen Texten kristallisiert sich für Emotionen ein körperlicher Bezug heraus, sei er nun physiologisch oder sogar genetisch. Nach wie vor scheint unklar zu ein, ob Kognitionen Emotionen auslösen oder ob umgekehrt Emotionen die Kognitionen lenken, ferner, ob man die Emotionen in einem angeborenen Teil des Nervensystems suchen soll oder ob sie in irgendeiner Weise gelernt und danach im psychischen System fixiert sind.[11] Daher liegt es nahe, sich für die Unterscheidung von Emotionen und Gefühlen auf die Bestimmung von Damasio[12] zu stützen, auch wenn man ihm sonst nicht in allem folgt. Danach sind Emotionen (engl. emotions) Körperzustände. Bei Damasio sind diese Zustände mit somatischen Markern verbunden, die durch irgendwelche Ereignisse oder Wahrnehmungen ausgelöst werden. Dahinter steckt schon eine spezielle Emotionstheorie. Lässt man diese Theorie außen vor, so bezeichnen Emotionen zunächst nur das körperliche Geschehen, unabhängig davon, wieweit es auf Anlage oder gespeicherte Erfahrung zurückgeht. Gefühle – Damasio spricht von feelings, die Übersetzer von Empfindungen – sind dagegen die mehr oder weniger bewussten Wahrnehmungen und Interpretationen der Emotion genannten Körperzustände. So jedenfalls will ich im Folgenden die Begriffe verwenden, auch wenn ich das sprachlich nicht immer durchhalte. Insbesondere bei adjektivischem Gebrauch lässt sich »emotional« als Oberbegriff sowohl für Körperzustände als auch für (bewusste) Gefühle schwer vermeiden.

[Fortsetzung hier]


[1] Hans Hermsen, Emotion/Gefühl, Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 1,  1990, 661-682

[2] Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.), 2020, S. 7.

[3] Franziska Schmithüsen u. a., Lernskript Psychologie, 2014 (S. 83) weisen darauf hin, dass affect im Englischen als Synonym zu Emotion und manchmal auch als übergeordneter Begriff verwendet werde, der auch Stimmungen mit umfasst.

[4] Gertrud Koch/Christoph Möllers/ Thomas Hilgers/Sabine Müller-Mall (Hg.), Affekt und Urteil, 2015. Der Band lässt vom Titel her nicht erkennen, dass er auf der Rechtsästhetikwelle schwimmt. Er geht auf die Jahrestagung 2012 des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« zurück.

[5] So ausdrücklich von Sabine Müller-Mall, Zwischen Fall und Uteil. Zur Verortung des Rechtsgefühls, in: Gertrud Koch u. a. (Hg.), Affekt und Urteil 2015, S. 117-131, Fn. 8 auf S. 118.

[6] Auch eine Tagungsankündigung »Emotionen und Affekte – Perspektiven in der Politischen Psychologie« der mir bisher nicht bekannten privaten »Internationalen psychoanalytischen Universität Berlin« macht mich nicht klüger.

[7]Annual Review of Law and Social Science 8, 2012, 161-181.

[8] Von Sabine Müller-Mall, Zwischen Fall und Urteil. Zur Verortung des Rechtsgefühls, in: Gertrud Koch u. a. (Hg.), Affekt und Urteil 2015, S. 117-131, Fn. 1F.

[9] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798/1800, zitiert nach der Insel-Ausgabe 1964, § 58 Anmerkung (S. 557).

[10] § 71 Anfang (S. 580).

[11] Konstanze Senge, Die Wiederentdeckung der Gefühle, in: dies. u. a., Schlüsselwerke der Emotionssoziologie, 2022, 1–29, S. 11ff.

[12] Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, 2004.

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Der Emotional Turn und die Rechtswissenschaft

Der Leerlauf des Rechtsgefühls

Seit Jahrzehnten wird der emotional turn[1] beschworen und mit dem üblichen cultural lag ist er im Recht[2] und dann auch in Deutschland angekommen.[3]

Von einem emotional turn ist die Rede, weil die Psychologie, wohl schon seit den 1980er Jahren, dem Thema größere Aufmerksamkeit widmet. Der turn kommt aber auch mit einer inhaltlichen Tendenz. Allgemein ist der emotional turn darauf gerichtet, den Gegensatz von Ratio und Emotion, Verstand und Gefühl zu überwinden. Wie bei solchen »Wenden« üblich, wird das Angriffsobjekt zunächst mit Tendenzbehauptungen aufgeplustert. Die Kommunikation wird immer emotionaler. Werbung, soziale Netzwerke und Politik emotionalisieren immer mehr usw. usw. Sodann wird theoretisch mit dem Leib-Seele- Dualismus ein Dummy aufgebaut, indem Verstand und Gefühl dichotomisch gegeneinander gesetzt werden. Dem Recht wird mit dem suffocating narrative of law-as-reason[4] eine grausame Hintergrundtheorie attestiert. Licht in dieses Dunkel bringen Bücher wie »Die Rationalität des Gefühls«[5] von Ronald de Sousa oder von Antonio R. Damasio »Descartes’ Irrtum«[6] und »Im Anfang war das Gefühl«[7]. Jetzt erfahren wir, dass es keine Kognitionen und kein Denken ohne Gefühle gibt, auch wenn diese sich oft der Wahrnehmung entziehen, und wir werden zugleich darüber belehrt, dass Rationalität und Gefühle nicht als Gegensätze verstanden werden dürfen. Diese »Versöhnung« kommt überraschend, bildet doch die ebenso unvermeidbare wie unsichtbare und unberechenbare Emotionalität einen wichtigen Ausgangspunkt für Kritik an der von der Jurisprudenz in Anspruch genommenen Rationalität und Objektivität. Die Frage drängt sich auf, ob ein neues Verständnis von Emotionalität am Ende sogar die Black Box der Werturteilskomponente juristischer Entscheidungen belichten könnte.

Der Versuch zu verstehen, was der emotional turn der Rechtswissenschaft bringt, hat mich in den Abgrund der Interdisziplinarität gestürzt. Bei dem Versuch, in die Emotionspsychologie und Emotionssoziologie einzudringen, hat sich das Gefühl breit gemacht, ins Bodenlose zu fallen.[8] Hilfsbereite Menschen erklären mir, der Jurist sei selbst schuld, wenn er versuche, in fremden Fächern zu dilettieren. Der Witz der Interdisziplinarität bestehe doch gerade darin, dass Angehörige verschiedener Disziplinen zusammenarbeiteten. Doch interpersonelle Zusammenarbeit funktioniert anscheinend nur begrenzt. Man braucht die anderen als Auskunftspersonen. Doch wenn man sie machen lässt, kommt zwar immer wieder Interessantes heraus. Aber die praktisch relevanten Fragen bleiben unbeantwortet. Ein einschlägiges Beispiel gibt das »Research Handbook on Law and Emotion«, herausgegeben von Susan A. Bandes u. a., 2021. Da erfahren wir, dass die wissenschaftliche Befassung mit Recht und Emotion enorm wichtig ist, dass sie bisher vernachlässigt wurde, und dass es dazu viele Ansätze gibt. Alles ist enriching, fasccinating, gelegentlich sogar critical. Aber das war es dann auch.[9]

Ein Grund für meine Enttäuschung ist wohl, dass »die anderen« auf die entscheidenden Fragen gar keine direkten Antworten haben. Der Interdisziplinaritätsimperativ stützt sich auf die Hoffnung, das andere Disziplinen auf die vielen Fragen, auf die die Jurisprudenz keine »wissenschaftliche« Antwort weiß, bessere Auskunft geben könnten. Doch diese Hoffnung wird immer wieder enttäuscht. Das werden »die anderen« selten oder nie zugeben. Stattdessen antworten sie auf Fragen, die ihnen nicht gestellt wurden oder ihre Antworten bleiben so unbestimmt und auslegungsbedürftig wie die Rechtsnormen, die es doch gerade mit Inhalt zu füllen gilt.

Bei den Juristen findet der emotional turn einen Anknüpfungspunkt im Rechtsgefühl. Die Literatur zum Rechtsgefühl erlebt seit bald zehn Jahren eine neue Konjunktur. Aber geredet und geschrieben wird nur über das Rechtsgefühl als solches. Über seine Inhalte erfährt man wenig, noch weniger darüber, wie das Rechtsgefühl zu seinen Inhalten gelangt oder wie es sich auf soziales Verhalten und juristische Entscheidungen auswirkt.

Eine erste Konjunktur hatte die Rede vom Rechtsgefühl um die Wende zum 20. Jahrhundert, ausgelöst durch die Rektoratsrede Gustav Rümelins »Über das Rechtsgefühl«, die 1871 veröffentlicht wurde. Die Konjunktur dauerte bis in die 1920er Jahre an.[10] Eine zweite Konjunktur gab es nach 1970. Sie begann mit der so genannten KOL-Forschung, die sich darum bemühte, Rechtskenntnisse und Einstellungen zum Recht dingfest zu machen.[11] Dabei stand die Frage nach Rechtskenntnissen im kognitiven Sinne nur am Anfang. Weiter und tiefer ging die Suche nach Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl. Für die Rechtstheorie wurde »Rechtsbewusstsein« zu einer Generalklausel für metajuristische Reflexionen, wie sie in dem von Ernst-Joachim Lampe 1997 herausgegebenen Band versammelt sind.[12]

Ausgehend von den USA dominierte bald das Label legal consciousness, das sich als Rechtsbewusstsein übersetzen lässt.

»Legal consciousness has been one of the most studied, discussed, and debated concepts in law and society research over the last thirty years.«[13]

Viele suchten unter dieser Überschrift, wie zuvor die KOL-Forschung, nach support for the legal system.[14] Das damit angedeutete Konzept wurde jedoch von der Schule der Critical Legal Studies verworfen. Die einflussreiche amerikanische Rechtssoziologin Susan S. Silbey machte geltend, legal conciousness als theoretisches Konzept und empirischer Forschungsansatz habe sein kritisches Potential verloren. Einst sei das Konzept entwickelt worden, um zu zeigen, wie das Recht seine institutionelle Macht verteidigen könne, obwohl es konstant hinter seinen Versprechungen zurückbleibe. Aber jetzt diene es im Gegenteil dazu, die Funktionsfähigkeit des Rechts für bestimmte Gruppen und Interessen zu verbessern.[15]

Nun, wie beim Schweinezyklus, eine neue Welle, befördert durch Ästhetik[16] und Neue Phänomenologie.[17] Die von Landweer und Koppelberg herausgegebenen Sammelbände[18] sind in einer Reihe »Neue Phänomenologie« erschienen, der Band von Scarinzi[19] als »Contribution to Phenomenology«. Hier überschneidet sich der emotional turn mit der Körpersoziologie der Neuen Phänomenologie. Embodiment ist das Stichwort. Sensual turn[20] passt auch. Schon beinahe ein Nachzügler ist der Juristenband von Thorsten Keiser, Greta Olson und Franz Reimer »Rechtsgefühle – Die Relevanz des Affektiven für die Rechtsentwicklung in pluralen Rechtskulturen« (2023), der die Thematik auf die kulturwissenschaftliche Schiene schiebt.

Vielversprechend beginnt der Beitrag von Julia Hänni zu einem der Sammelbände, wenn sie erklärt, dass bereits der Vollzug kognitiver Wahrnehmungen gefühlsgeleitet ist:

»Der Apriorismus des Emotionalen prägt als Vorbedingung des Verstehens das Erschließen der Außenwelt – und zwar als ›Vorwertung‹ im Sinne eines primären emotionalen Unterscheidungsvermögens, das sich auf die Differenzierungsleistung der Wahrnehmung selbst stützt: Es ist eine Vorwertung durch eine gefühlsgeleitete Stellungnahme, die im Wahrnehmungsvollzug bereits gegeben ist, und eine Fähigkeit, welche die Dinge der Welt positiv und negativ differenziert und so die Besonderheit erfahrbar macht.« [21]

Nun möchte man gerne wissen, welche Gefühle im Zuge der Urteilsbildung Vorwertungen mit sich bringen, wo diese Gefühle ihren Ursprung haben und welcher Art die von ihnen bewirkten Vorwertungen sind. Stattdessen schwenkt Hänni auf das Rechtsgefühl, von dem wir nur erfahren, dass es so etwas gibt. Es bleibt bei der immer wiederholten Feststellung, dass Gefühle bei Urteilen eine Rolle spielen und vielleicht bei einzelnen Beispielen, in denen der Zusammenhang von Gefühl und Urteil nahezuliegen scheint.

Man redet über das Rechtsgefühl, aber – anders als die KOL-Forschung – weder über seine Inhalte noch darüber, was die Inhalte ausmacht und was sie bewirken. Der Leerlauf des Rechtsgefühls hat einen Grund darin, dass Law and Emotion zu einem Law & Something-Fach aufgeplustert wird, so etwa von Maroney[22]:

Man stürzt sich auf die Randgebiete und umgeht den zentralen Fragenkomplex, den emotion theory approach, für den die Psychologie zuständig ist. So erfährt man wunderbare Dinge etwa über Gefühle in Geschichte[23] und Literatur[24], aber wenig über konkrete Ursachen, Auslöser und Wirkungen von Gefühlen. So wird man auch in die Ästhetik entführt, nur um zu entdecken, dass »das Gefühl« ein Grundbegriff der philosophischen Ästhetik war oder ist, der sich gegen fremddisziplinäre Aufladung sträubt, wie sie von Psychologie und Soziologie und vielleicht auch von der Genetik zu erwarten ist. [25] Das Rechtsgefühl läuft leer.

Diese Feststellung verlangt nach einer Fortsetzung. Die ist in Vorbereitung und folgt demnächst hier.

Fortsetzungen:

Zur Sortierung der Begriffe
Emotional-evaluative Erstreaktion und Nachsteuerung
Ein Katalog der Gefühle
Basis- und Sekundäremotionen
Theorien der Emotions-Psychologie
Exkurs zu Descartes’ Irrtum
Zurück zu den Emotionstheorien der Psychologie


[1] Andere sprechen vom emotive turn (Gary S. Schaal, Österreischische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39, 2010, 139) oder von der »emotiven Wende« (Oliver W. Lembcke/Florian Weber, Emotion und Revolution,  Österreischische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39, 2010, 139).

[2] Für das Recht hat Greta Olson den emotional turn als affective turn rezipiert (The Turn to Passion: Has Law and Literature become Law and Affect?, Law & Literature 28, 2016, 335–353; dies., From Law and Literature to Legality and Affect, 2022).

[3] Der emotional turn erfasst auch andere Disziplinen. So unterhält das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung seit 2013 ein Webportal Geschichte der Gefühle. Cihan Sinanoglu/Serpil Polat, konstatieren einen affective turn der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften: Rassismusforschung in Bewegung, in: Rassismusforschung I, 2023, 7-22, S. 14.

[4] Terry A. Maroney, A Field Evolves: Introduction to the Special Section on Law and Emotion, Emotion Review 2016, 3–7.

[5] Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, 2009 (The Rationality of Emotion, 1987; Rezension von William Lyons, Philosophy and Phenomenological Research 50, 1990, 631-633).

[6] Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, 2004. Dazu Martin J. Jandl, Das antinomische Paradigma der Hirnforschung am Beispiel von Damasios Descartes‘ Irrtum, e-Jounal Philosophie der Psychologie, Juli 2010.

[7] Antonio R. Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, 2017.

[8] Die Übersichtsartikel, die ich gefunden habe, haben mir nicht wirklich weitergeholfen: Susan A. Bandes/Jeremy A. Blumenthal, Emotion and the Law, Annual Review of Law and Social Science 8, 2012, 161-181; Renata Grossi, Understanding Law and Emotion, Emotion Review 2015, 55–60.

[9] Eine Rezension von Riccardo Vecellio Segate, Navigating Lawyering in the Age of Neuroscience: Why Lawyers Can No Longer Do Without Emotions (Nor Could They Ever), Nordic Journal of Human Rights 2022, 268–283.

[10] Darüber hat Sandra Schnädelbach in ihrem Buch »Entscheidende Gefühle« (2020) berichtet. Miloš Vec hat dieses Buch in der FAZ vom 8. 1. 2021 gewürdigt (»Der dunkle Grund des Rechts«).

[11] Adam Podgorecki u. a., Knowledge and Opinion about Law, 1973; Die Stichworte waren Rechtskenntnisse, Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl (legal knowledge, opinion about law; legal consciousness; sense of justice, sens juridique). Dazu Rsozblog vom 9. 3. 2020: Noch einmal Bourdieu, jetzt mit Rechtsbewusstsein.

[12] Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[13] Kathleen E. Hull, Legal Consciousness in Marginalized Groups, The Case of LGBT People, Law & Social Inquiry 41, 2016, 551-572, S. 551.

[14] Austin Sarat, Support for the Legal System, American Politics Quarterly 3,1975, 3–24. Zehn Jahre später schwenkte Sarat auf die Linie der Critical Legal Studies ein: Legal Effectiveness and Social Studies of Law: On the Unfortunate Persistance of a Research Tradition, Legal Studies Forum 23, 1985, 23–31.

[15] Susan S. Silbey, After Legal Consciousness, Annual Review of Law and Social Science 1, 2005, 323-368. Immer wieder angeführt, aber kaum ausgewertet wird in diesem Zuammenhang Patricia Ewick/Susan S. Silbey, The Common Place of Law: Stories from Everyday Life, 1998. Vgl. jetzt auch Patricia Ewick/Susan Silbey, Looking for Hegemony in All the Wrong Places: Critique, Context and Collectivities in Studies of Legal Consciousness , in: Jiri Priban (Hg.), Research Handbook on the Sociology of Law, 2020, 163-176.

[16] Gertrud Koch/Christoph Möllers/ Thomas Hilgers/Sabine Müller-Mall (Hg.), Affekt und Urteil, 2015. Der Band lässt vom Titel her nicht erkennen, dass er auf der Rechtsästhetikwelle schwimmt. Er geht auf die Jahrestagung 2012 des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« zurück.

[17] Sigrid G. Köhler/Sabine Müller-Mall/Florian Schmidt/Sandra Schnädelbach (Hg.), Recht fühlen, 2017.

[18] Hilge Landweer/Dirk Koppelberg, Recht und Emotion I: Verkannte Zusammenhänge, 2017; Hilge Landweer/Fabian Bernhardt, Recht und Emotion II: Sphären der Verletzlichkeit, 2017.

[19] Alfonsina Scarinzi (Hg.), Aesthetics and the Embodied Mind, 2015.

[20] Im Blog »Recht Anschaulich« hatte ich 2012 ausführlich über den sensual turn geschrieben, nachzulesen im im Blogbuch in Einträgen vom 6. 10. 2012 (S. 12f), 2. 4. 2012 (S. 25ff) und vom 10. 2. 2012 (S. 40ff). Diese Einträge sind dann in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012, S. 51-75 unter dem Titel Zur Rede vom multisensorischen Recht. Ein kumulativer Tagungsbericht gedruckt worden.

[21] Julia Hänni, Gefühle als Basis juristischer Richtigkeitsentscheidungen, in Gertrud Koch u. a., Affekt und Urteil, 2015, 133–141.

[22] Terry A. Maroney, Law and Emotion: a Proposed Taxonomy of an Emerging Field, Law and Human Behavior, 30, 2006, 119–142.

[23] Joel F. Harrington, Der Henker als Flugschrift-Autor: Bewusste und unbewusste Darstellung von Gefühlen, in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, April 2015, Sebastian Ernst, Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen am Beispiel des »Kerkers«, in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, Oktober 2015. Das Research Handbbook on Law and Emotion (2021) enthält ein ganzes Kapitel mit fünf Artikeln über die History of Legal Emotions.

[24] Nancy E. Johnson, Impassioned Jurisprudence. Law, Lterature, and Emotion, 1760-1848, 2015.

[25] Brigitte Scheer, Art. Gefühl, in Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe Bd. 2 2001, 629-660. Die Ästhetik hat freilich ähnliche Probleme mit der psychologischen Einordnung des Gefühls wie die Jurisprudenz; dazu Bjarne Sode Funch, Emotions in the Psychology of Aesthetics, Arts 11, 2022, 76, 11 //S.

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Light Law: »Ordnungen« (Codes of Conduct) zwischen Recht, Moral und Management

Die Rechtssoziologie kümmert sich um Vorgaben aus Politik und Gesellschaft und verpasst darüber ihre eigenen Themen. Ein solches Thema heißt Light Law. Gemeint ist die Inflation von Ordnungen, Kodices, Leitlinien, Leitbildern usw., die sich wie Tau oder Mehltau – ich suche noch nach der erhellenden Metapher – über das staatliche und übernationale Recht legt. Geläufige Stichworte wie private regulation, governance, legal pluralism und soft law erfassen das Phänomen nur am Rande.

Unterhalb der klassischen Rechtsquellen wie Gesetz, Verordnung und Satzung gab es immer schon interne Ordnungen als Hausordnungen, Disziplinarordnungen, Betriebsordnungen, Seminarordnungen usw. Sie fügen sich in den Stufenbau der Rechtsordnung ein, indem sie von der Kompetenz zur Selbstverwaltung oder Autonomie Gebrauch machen. Damit haben sie am Ende auch Rechtsqualität. Solche Ordnungen hatten und haben technischen oder funktionalen Charakter (Öffnungszeiten, Ruhezeiten, Essenszeiten, Zutrittsberechtigungen, Schutzvorkehrungen, Verantwortlichkeiten usw.).

Die neuen »Ordnungen« des Light Law sehen aus wie Recht, sind aber keines, mögen auch die Übergänge fließend sein. Sie wiederholen in großem Umfang einschlägige Rechtsnormen. Aber es handelt sich nicht um Kompendien, in denen das geltende Recht für die Anwendung innerhalb von Organisationen aufbereitet wird, wie es gelegentlich durch Verwaltungsvorschriften geschieht. Das Light Law der neuen »Ordnungen« hat vielmehr einen überschießenden Gehalt.

Oft ist dieser Gehalt »moralisch«. Das zeigt sich gelegentlich schon in der Überschrift, z. B. Code of Ethics and Conduct for European Nursing. Moral im Sinne von Sozialmoral ist informell. Sie kennt zwar viele Verhaltensregeln. Aber die sind keiner bestimmten Person oder Organisation zuzurechnen. Sie sind nicht kodifiziert und dennoch als »Sitte und Anstand« bewusst und wirksam. Anders liegt es mit der philosophischen Ethik. Darüber werden dicke Bücher geschrieben, doch es gibt keine ausformulierten Verhaltensregeln, ie im Publikum lebendig sind. Nun zeigt sich: Die Moderne, in der man sich über die Normenflut beklagte, und die Postmoderne, die Normen zu Fiktionen erklärte, sind Vergangenheit. Die Gesellschaft zeigt einen unstillbaren Normenhunger und begegnet ihm mit immer neuem Light Law.

Legal ist nicht genug. Mit der Trennung von Recht und Moral durch den modernen Rechtspositivismus ist die Welt nicht glücklich geworden. Sie zeigt Sympathie für moralische Illegalität (z. B. der Klimakleber) und kritisiert umgekehrt legale Immoralität (z. B. an Aktivitäten der AfD). Hier tut sich eine Lücke für das Light Law auf.

Von der Moral führt ein kurzer Weg zu politischem Engagement. Politik hat viele Themen besetzt, die über lange Zeit »nur« als moralische gegenwärtig waren. Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Gleichstellung und Diversität, der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen aller Art und gegen antidemokratische Bestrebungen stehen auf der Agenda der Politik. Jetzt dreht die Politik den Spieß um und verlangt von Organisationen aller Art moralisches Engagement für ihre Ziele. Solches Engagement zeigten z. B. die Gleichstellungsbeauftragten von ARD, ZDF, ORF und Deutscher Welle, als sie zum Weltfrauentag den gemeinsamen sogenannten »Baukasten gegen Sexismus« vorstellten. Er enthält verpflichtende und freiwillige Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Der »Leitfaden für eine diskriminierungsfreie und gendergerechte Sprache in juristischen Ausbildungsfällen an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum« gibt sich als bloße Empfehlung, bietet aber ein moralisch-politisches Manifest. In diese Reihe gehört auch das wundersame Framing-Manual der ARD.

Vor allem aber hat das Light Law eine Management-Funktion. Große Organisationen (Unternehmen), die oft viele Tausend Menschen beschäftigen, haben intern ähnliche Probleme wie der Staat mit seinen Bürgern. Sie müssen ihre Mitarbeiter veranlassen, positiv im Sinne der Unternehmensziele tätig zu werden und alles zu unterlassen, was dem Unternehmen Schaden bringen könnte. Dazu reichen individuelle Weisungen nicht aus. Vielmehr sind organisatorische Maßnahmen und allgemeine Regeln notwendig. Als solche dienen codes of conduct, Regeln guter Praxis, Leitbilder und Sprach-Leitfäden usw. Dafür hat sich jenseits der Anwaltschaft eine Beratungsindustrie etabliert. Eine Webseite, die Schulungen anbietet, zeigt die Rechtsnähe, indem sie unter Lawpilots firmiert. Auf der Internetseite eines anderen Anbieters wird definiert:

»Ein Code of Conduct – auf Deutsch Verhaltenskodex – ist eine Sammlung von Verhaltensweisen, die für die Mitarbeitenden eines Unternehmens gelten. Er enthält Richtlinien dafür, wie sich die Mitarbeitenden rechtlich korrekt, ethisch und sozial verhalten sollen.«

Die Konjunktur neuer »Ordnungen« als Instrument des Managements wird aus drei Richtungen angetrieben, die sich wechselseitig verstärken. Der informelle, gesellschaftliche Antrieb kommt aus der Wirtschaftsethik (Business Ethics), wo sich die Ansicht durchgesetzt hat, alle größeren Firmen müssten schriftlich fixierte Verhaltensregeln haben. Man sucht nicht vergebens, ob bei Audi, BASF oder RWE.

Zweitens erklären sich die neuen »Ordnungen« daraus, dass Compliance zum Rechtsinstitut geworden ist, das heißt, dass von größeren Organisationen Vorkehrungen zur Einhaltung des Rechts erwartet werden. Drittens ist die Außendarstellung für Unternehmen immer wichtiger geworden. Dazu braucht man »Leitbilder«, die sich vorzeigen lassen.

Compliance hat drei Gesichter. Das eine zeigt sich als gesellschaftliche Verantwortung (CSR = Corporate Social Responsibility), das andere in Organisationsanforderungen, die das Recht an Unternehmen stellt und deren Verletzung haftungsrechtliche, ordnungsrechtliche und für die beteiligten Personen auch strafrechtliche Folgen haben kann (Compliance i. e. S.).

Das dritte Gesicht von Compliance zeigt sich in der Eigendynamik des Begriffs, die dazu herausfordert, über das offizielle Recht hinaus Vorkehrungen zu rechtlich nicht angreifbarem Verhalten zu treffen, das dem Publikum als sozial verantwortlich vermittelbar ist. Da das Recht aber aus vielen Gründen nicht immer vorhersehbar ist, muss man sich zwecks Compliance absichern, indem man mehr tut, als das Recht erfordert. In der Konsequenz ist nicht mehr alles erlaubt, was nicht verboten ist. Light Law baut eine Zone vorsorglichen Verzichts. Vorfeldbeobachtung liegt im Trend. [1]

Daraus gewinnt Light Law eine Tendenz zur Entmündigung der Rechtsgenossen. Man traut ihnen nicht länger zu, selbst zu erkennen und zu entscheiden, ob sich Konflikte irgendwelcher Art anbahnen könnten und was dann zu tun wäre. Probleme aller Art sollen schon im Vorfeld abgefangen werden. Dazu werden Inkompatibilitäten definiert, Meldepflichten vorgesehen und Verfahren installiert. [2] (Und dann beklagt man sich am Ende, dass das Personal nicht mehr entscheidungsfreudig ist.) Selbst das Bundesverfassungsgericht traut seinen Richtern nicht zu, dass sie sich ohne weiteres angemessen verhalten, und hat sich daher Verhaltensleitlinien gegeben:

»Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts verhalten sich innerhalb und außerhalb ihres Amtes so, dass das Ansehen des Gerichts, die Würde des Amtes und das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Integrität nicht beeinträchtigt werden.«

Wer hätte das gedacht?

Anscheinend kann man sich den Bürger nur als bad man vorstellen. Das legt es nahe, sich auf H. L. A. Hart zu berufen. Dieser wandte gegen die Imperativentheorie ein, erstens, sie sei auf Rechts­zwang fixiert und zweitens, sie schere die große Vielfalt der Rechtsnormen über einen Kamm. Beide Argumente hingen für Hart zusammen, denn die pleasing uniformity der Theorie werde durch ihre Ausrichtung auf den bad man erreicht. Der bad man ist bekanntlich eine Referenz auf Oliver Wendell Holmes:

»If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares only for the material consequences which such knowledge enables him to predict, not a good one, who finds his reason for conduct whether inside the law or outside of it, in the vaguer sanction of conscience.« (The Path of Law, 1897)

Hart antwortete darauf:

»Why should not law be equally if not more concerned with the ›puzzled man‹ or ›ignorant man‹ who is willing to do what is required, if only he can be told what it is?« (The Concept of Law, 2. Aufl. S. 40)

Man könnte nun meinen, Light Law diente dazu, unübersichtlich gewordenes Recht für die Anwendung aufzubereiten und unbestimmte Rechtsbegriffe zu konkretisieren. Weit gefehlt. Es enthält nicht weniger unbestimmte Begriffe und Generalklauseln als das eigentliche Recht. Charakteristisch für die neuen »Ordnungen« ist ihr Bemühen, im Vorfeld des Rechts Standards sozial wünschenswerten Verhaltens zu setzen. Dazu dienen nicht zuletzt allgemeine Wohlverhaltensforderungen und offene Tatbestände. Diese Unbestimmtheit, die oft an Rechtsnormen kritisiert wird, könnte die Adressaten – positiv gewendet – zu eigenverantwortlicher Entscheidung veranlassen. Die Dichte der Regeln motiviert aber wohl eher zu zögerlicher Vorsicht. Vorsicht ist geboten, denn ex post lassen sich bei Fehlentscheidungen stets Vorwürfe konstruieren.[3]

Rechtstheoretisch interessant sind die Übergangszonen von Light Law zu Right Law. Hier produzieren offiziöse Stellen Light Law, dass dann indirekt doch ziemlich heavy wird. Prominente Produzenten sind die Regierungskommission Deutscher Governance Kodex und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)[4]. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.

Nachtrag: ZUM Leitfaden der Humboldt-Universität Berlin Wissenschafts- und Meinungsfreiheit im öffentlichen Raum Dieter Schönecker, Freiheit mit Fallstricken, FAZ vom 24. 4. 2024.

Mit dem Titel »Hybris und Unkenntnis« wenden sich Lars P. Field und Volker Rieble gegen die Forderung nach Compliance Regeln für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der durch die Annahme eines Aufsichtsratsmandats bei Siemens Energy durch das Ratsmitglied Veronika Grimm ausgelöst wurde (FAZ vom 27. 6. 2024 S. 6). Dazu auch schon Hank wie in Fn. 2.


[1] Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat seine Aufgabe darin, einschlägige Bestrebungen schon unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit zu beobachten. Das als MaComp bekannte Rundschreiben 05/2018 (WA) der BAFIN belässt es nicht bei den »Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion«, sondern fügt »weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten« hinzu. In einem Leserbrief an die FAZ vom 14. 3. 1924 weist Manfred Kölsch darauf hin, dass Art. 34 des des Digital Services Act (DSA) in Verbindung mit den Nr. 5 und 84 der Erwägungsgründe ausdrücklich dazu auffordern, auch nicht rechtswidrige Eintragungen zu löschen. Zu löschen seien »anderweitig schädliche« oder »irreführende Informationen«, betreffend die »öffentliche Debatte«, die »öffentliche Sicherheit« oder die »öffentliche Gesundheit«. Der Leser kommentiert. » Mit dieser Unschärfemethode wird ein Minenfeld gelegt, das ein Klima des Misstrauens erzeugt. Das Minenfeld wird, um soziale Nachteile zu vermeiden, von dem Bürger nicht betreten. Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung – die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen (BVerfGE 7,198; 20,162, Rz. 36; 86,122 Rz. 19) – wird verkümmern.«

[2] Rainer Hank, Der Tugendterror der Compliance, FAZamS vom 1. 3. 2024, S. 18.

[3] In der ökonomischen Theorie des Rechts diskutiert man über die Vorzüge von »harten« und »weichen« Regeln. Harte Regeln müssen genau sein und verlangen daher mehr Aufwand bei ihrer Formulierung. Sie können jedoch den Vollzug erleichtern und damit Kosten sparen. Zugunsten harter Regeln werden immer wieder Rechtssicherheit und die Abschreckungswirkung ins Feld geführt, dagegen, dass sie dem durch O. W. Holmes sprichwörtlich gewordenen »bad man« gestatten, berechnend bis an die Grenzen zu gehen. Weiche Normen dagegen veranlassen die Adressaten zu situationsadäquatem Verhalten auf der Linie des Gesetzeszwecks. Auf der anderen Seite können weiche Normen risikoscheue Menschen von wünschenswerten Aktivitäten abhalten und umgekehrt risikofreudige Personen zu Grenzüber­schreitungen herausfordern. Ähnlich liefern harte Regeln zwar eine klare Abgrenzung bei der Delegation von Befugnissen, fördern jedoch Verantwortungsscheu, während weiche Normen dazu veranlassen können, von Vollmachten sinnvoll Gebrauch zu machen. Schließlich können harte Regeln zwar in vielen Situationen für klare Information sorgen und Informationskosten reduzieren. Sie empfehlen sich daher, wenn das zu regulierende Verhalten ein Massenphänomen ist, wie z.B. im Straßenverkehr. Dort kann allerdings die Flüssigkeit des Verkehrs darunter leiden. Harte Regeln können andererseits die Kommunikation beschränken und Missverständnisse herbeiführen, während weiche Normen durch Vermeidung von Ritualen und Formalitäten eine breitere Kommunikation anregen und dadurch Verständigung fördern.

[4] Zu Struktur und Verfahren immer noch hilfreich ein Info-Brief der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, verfasst von Daniel Lübbert, 2006.

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Die binäre Wetterordnung der Meteorologie

Anzuzeigen ist ein neues Buch, das so etwas wie einen Kuhnschen Paradigmenwechsel einleiten könnte:

Stormy Shark, Weather Trouble. Das Wetter-Dispositiv und der Regen als soziales Konstrukt, Ewrem-Verlag, 2024, ISBN 8794 2024 0104, 329 S. 29,00 EUR.

Angesichts des Klimawandels kann der Regen nicht länger Sache von Meteorologe*innen bleiben, so die These von Stormy Shark in ihrem neuen Buch. Eine praxeologische Analyse der diskursiven Grenzen des Wetters sei angesagt, um zu zeigen, wie Wetter als duales Phänomen gemacht werde und wie seine Reifizierung durch die Meteorologie die Machtfrage verdränge. In der Konsequenz würden Wetterstationen und Wetterberichte überflüssig. Künstliche Intelligenz (KI) werde das nachgefragte Wetter herbeikonstruieren. [1]

Ich beschränke mich hier auf eine Inhaltsangabe. Die Thesen des Buches sind so umstürzend, dass ich zu einer Stellungnahme vorläufig nicht im Stande bin.

Ausgangspunkt der Meteoronormativitätskritik Sharks sind die Herrschafts- und Machtverhältnisse, die durch Hochdruck- und Tiefdruckgebiete begründet und gestützt werden. Die Wetterkategorien Hoch und Tief sowie ihre rigide barometrische Unterscheidung werden als Voraussetzung von Wetteridentitäten wie Regen und Sonnenschein problematisiert. Damit ist ein Perspektivwechsel gegenüber ontologisch-meteorologischen Ansätzen verbunden. Im Visier steht die Naturalisierung oder Normalisierung der Trockenheit. Nicht das vermeintliche Ausbleiben des Regens soll gerechtfertigt, sondern der Regen selbst soll unter Rechtfertigungsdruck gestellt werden.

Die scheinbar natürliche Existenz zweier Wetterlagen – die von Hochdruck und Tiefdruck – ist fester Bestandteil einer alltäglichen, normalitätsproduzierenden Wissensordnung, die individuelle Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster genauso wie gesellschaftliche Institutionen durchzieht. Kulturelle Praktiken und Rituale wie Regentänze oder Gebete für Regen waren gestern. Heute wird das Wissen um das Wetter durch Wetterberichte, Small Talk, Angebote von Regenschirmen und Regenbekleidung, Sonnencremes und Tattoos, die vorgezeigt werden wollen, immer wieder neu bestärkt.

Die Binarität des Wetters funktioniert als ein wirkmächtiges Ordnungsprinzip, das die soziale Welt grundlegend strukturiert und aufgrund seiner inhärenten Asymmetrie die Vorherrschaft des Hochdrucks stützt. Tiefdruck und Hochdruck werden dabei als komplementäre Gegensätze konstruiert. So werden mit dem Tiefdruck traditionell Wolken, Regen und Sturm assoziiert, wohingegen Sonne, Licht und Wärme dem Hochdruck zugeschrieben werden. Scheinbar eindeutige Wetterunterschiede dienen als natürliches Fundament, als »unanfechtbare Rechtfertigung«[2] der Zweiwettrigkeit. Die Meteoronormativitätskritik hat immerhin 1998 insofern einen Erfolg erzielt, als seither Tiefdruckgebiete nicht länger als weiblich wahrgenommen werden. Seither wechselt das Wetter jährlich sein Geschlecht. Das Wetter ist damit zu einem Transphänomen geworden. Die meisten Wetterlagen sind sogar intertempestär. Das Publikum verweigert sich allerdings der caelestrischen Zwittrigkeit und verlangt eindeutige Wetterlagen. Es ist insofern gespalten. Landwirte und Naturschützer beklagen das Ausbleiben des Regens, Touristen die fehlende Sonne.

Die binäre Wetterordnung durchzieht auch die Grundlagen moderner Staatlichkeit. Bereits die Gründungsfiguren der Meteorologie und der Wetterberichte folgten in ihrer Konzeption freier und gleicher Isobaren einer binären, meteoro-logischen Rationalität. Sie reflektierten weder die Abhängigkeit der Isobaren von ihren Wettermodellen noch von der reproduktiven Tätigkeit der Aufzeichnungsgeräte und der nachfolgenden Visualisierungen. Neuere Entwicklungen in der meteorologischen Macht- und Herrschaftsdiskussion verweisen auf die Naturalisierung der Binarität von Regierung und Opposition. Dem entspricht die Selbstwahrnehmung der Politik, die sich die Großwetterlage fortlaufend in Meinungsumfragen über Hochs und Tiefs von Politikern und Parteien spiegeln lässt.

Alles das wird nun durch KI weitgehend überholt. Auf Anfragen aller Art werden wir Variationen der folgenden Antwort erhalten: Es gibt kein Wetter, sondern nur Wetterfühligkeit. Der durchnässte, erhitzte oder verfrorene Körper ist ein »gespürter Leib«, der befremden mag, der aber als ein Ort der Wettererfahrung und damit des Selbstausdrucks geschätzt werden sollte.


[1] Ich hatte daher zunächst bei ChatGPT nach einem Entwurf für diese Buchanzeige gefragt. Hier ist die Anwort:

»Das Wetter-Dispositiv: Eine Einführung: Der Begriff ›Dispositiv‹ wurde von Michel Foucault geprägt und bezieht sich auf eine Anordnung von Wissen, Macht und Praktiken, die dazu dienen, bestimmte soziale Phänomene zu konstruieren und zu kontrollieren. Das Wetter-Dispositiv umfasst die vielfältigen Weisen, auf die das Wetter in unsere Gesellschaft eingebettet ist und wie es unsere Denkweisen, Verhaltensweisen und Institutionen beeinflusst.

Das Wetter-Dispositiv besteht aus verschiedenen Elementen, darunter:

Wettervorhersagen und -berichterstattung: Meteorologen, Wetterstationen und Medien spielen eine zentrale Rolle dabei, das Wetter zu überwachen, vorherzusagen und zu kommunizieren. Durch Wetterberichte und -warnungen werden bestimmte Verhaltensweisen gefördert, wie zum Beispiel das Tragen von Regenschirmen bei Regen oder das Vorbereiten auf extreme Wetterereignisse.

Kulturelle Repräsentationen des Wetters: Das Wetter wird in Kunst, Literatur, Film und anderen kulturellen Medien oft symbolisch verwendet, um Stimmungen, Atmosphären und soziale Dynamiken zu veranschaulichen. Zum Beispiel kann Regen in Filmen als Metapher für Trauer oder Erneuerung dienen.«

Soziale Praktiken und Rituale: Das Wetter beeinflusst unsere täglichen Routinen und Aktivitäten, von der Wahl unserer Kleidung bis hin zu unseren Freizeitaktivitäten. Bestimmte Wetterbedingungen können auch soziale Ereignisse wie Outdoor-Veranstaltungen oder Reisen beeinträchtigen.

Der Regen als soziales Konstrukt: Insbesondere der Regen ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie das Wetter als soziales Konstrukt fungiert. Obwohl Regen ein meteorologisches Phänomen ist, das durch atmosphärische Bedingungen verursacht wird, ist seine Bedeutung und Wirkung stark von kulturellen, sozialen und individuellen Faktoren geprägt.

Symbolische Bedeutung: Regen wird oft mit verschiedenen symbolischen Bedeutungen aufgeladen, je nach kulturellem Kontext und individuellen Erfahrungen. In einigen Kulturen wird Regen als Segen und Quelle des Lebens angesehen, während er in anderen als Symbol für Melancholie oder Unheil gilt.

Auswirkungen auf das soziale Leben: Regen kann erhebliche Auswirkungen auf das soziale Leben haben, indem er Aktivitäten im Freien einschränkt, Verkehrsstörungen verursacht und sogar zu Naturkatastrophen führen kann. Die Art und Weise, wie Menschen auf Regen reagieren, von der Freude über ersehnten Niederschlag bis hin zur Frustration über schlechtes Wetter, spiegelt die soziale Konstruktion des Regens wider.

Kulturelle Praktiken und Rituale: In vielen Kulturen gibt es spezifische Praktiken und Rituale im Zusammenhang mit Regen, wie zum Beispiel Regentänze oder Gebete für Regen in landwirtschaftlichen Gemeinschaften. Diese Rituale zeigen, wie Regen nicht nur als meteorologisches Phänomen, sondern auch als kulturelle Kraft verstanden wird.

Insgesamt zeigt die Betrachtung des Wetters als Dispositiv und des Regens als soziales Konstrukt, dass unsere Wahrnehmung und Erfahrung des Wetters weit über seine rein meteorologischen Eigenschaften hinausgeht. Das Wetter ist nicht nur ein Objekt der Natur, sondern auch ein Produkt menschlicher Vorstellungen, Praktiken und Institutionen, die es formen und interpretieren. Indem wir das Wetter als soziales Phänomen betrachten, können wir ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Weisen entwickeln, auf die das Wetter unser Leben beeinflusst und geformt wird.«

[2] Kulturanthropologische Studien zeigen, dass in anderen Gesellschaften Wetter als Kontinuum gedacht wird, vgl. Wetterer, Konstruktion von Wetter, in April/Kleinert, Handbuch Wettergerechtigkeit, 2010, 126.

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