Kritik der Soziobiologie Teil III

Der Kommentar des Lesers Bernd Ehlers hat auf Versäumnisse in den Einträgen zur Kritik der Soziobiologie vom 21. 9. 2023 und vom 2. 10. 2023 aufmerksam gemacht. In der Tat, diese Einträge sind auf dem Stand von vorgestern stehen geblieben. Veraltet ist insbesondere die Aussage, die biologische Evolutionstheorie ende dort, wo Eigenschaften und Fähigkeiten nicht über die Gene weitergegeben werden. Aber auch im Hinblick auf die Suche nach einer generellen Evolutionstheorie, die für Rechtssoziologie und Rechtstheorie nützlich sein könnte, lassen die genannten Einträge zu wünschen übrig.[1]

Auch das Update muss löcherig bleiben. Die Literaturflut zur Evolution will nicht abreißen. Das meiste ist so genannte populärwissenschaftliche Literatur, mag sie auch in der Regel von Fachleuten stammen. Ich habe längst nicht alles gelesen, und es fällt mir schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Daher will ich vorab die zwei wichtigsten Titel nennen, auf die ich mich in diesem Update beziehe:

Axel Lange, Evolutionstheorie im Wandel, 2020[2];

Gerhard Vollmer, Im Lichte der Evolution, 2017[3].

Die Suche nach einer generellen Evolutionstheorie sollte mit der Suche nach einer konsolidierten Theorie für die biologische Evolution bestehen. Dabei bewegen fachfremde Juristen sich auf Glatteis. Im ersten Zugriff kommt der sogenannte Neo-Darwinismus in Betracht, wie er von Ernst Mayr in dem auch für Nicht-Biologen bestimmten Buch »Das ist Evolution« dargestellt worden ist.[4] Dieses Standardmodell der auf Darwin zurückgehenden Evolutionstheorie kennt nur den Dreischritt von Variation, Selektion und Reproduktion, bei dem sich die Reproduktion in den Genen stattfindet, während eine Variation der Gene allein durch Zufall erfolgt. Hinzu tritt bei Arten, die sich sexuell reproduzieren, eine Rekombination unterschiedlicher Merkmale nach den Mendelschen Gesetzen. Insoweit spricht man von Neo-Darwinismus oder der modernen Synthese. Sie akzeptiert weiterhin die sog. Weismann-Barriere, die These nämlich, dass sich aus individueller Erfahrung resultierende Variationen der Organismen nicht vererben können, weil es eine Barriere zwischen den Körperzellen und den Keimzellen (Keimbahn) gibt, die einen Übergang von Erbmaterial aus den Körperzellen in die Keimzellen unmöglich macht. Von diesem Stand gegen die die ersten Einträge zur Kritik der Soziobiologie aus.

Nun spricht man von evolutionärer Entwicklungsbiologie oder kurz Evo-Devo (evolutionary developmental biology). EvoDevo stellt die Grundannahmen des Neo-Darwinismus in Frage. Sie öffnet den auf Zufallsmutationen und natürliche Selektion festgelegten Darwinismus in Richtung auf Selbstorganisation, Kooperation und Netzwerke. Hierher gehört auch die inzwischen weithin akzeptierte Epigenetik. Anscheinend bleibt es jedoch bei einer scharfen Trennung zwischen biologischer und kultureller Evolution Die »neue Synthese« setzte für »Variation« allein auf zufällige Mutationen der Gene. Die sind aber nicht nur selten und vor allem in ihren Auswirkungen prinzipiell so wenig funktional, dass sie etwa die Anpassung der Schnäbel der Darwin-Finken auf den Galapagos Inseln schwerlich erklären können. Anscheinend nimmt die Evolution ihren Weg doch auch über eine Anpassung des Phänotyps, die sekundär den Genotyp verändert, und zwar nicht eigentlich durch eine Veränderung der DNA, sondern durch Nutzung in der DNA angelegter Möglichkeiten. So jedenfalls verstehe ich die relativ neue Darstellung von Axel Lange[5].

Die erbliche Anpassung reagiert anscheinend auf physiologische Anforderungen der Umwelt, die zunächst den Phänotyp angreifen, wie etwa das Sonnenlicht die Haut mit der Folge, dass sich auf gar nicht so lange Sicht die Hautfarbe ändert. Die Anpassung funktioniert auch, wenn Kultur die Umwelt derart verändert, dass neue physische Anforderungen an Lebewesen gestellt werden, etwa durch ein veränderte Nahrungsangebot, Umweltgifte oder gewandelte Bewegungsmuster. Langes Beispiel ist die Entwicklung der Lactosetoleranz als Folge der aufkommenden Milchwirtschaft.[6] Die Weismann-Barriere ist gefallen. Juristen müssen zur Kenntnis nehmen, dass die aktuelle Evolutionstheorie mehr und mehr dem entspricht, was sich Laien (und Lamarck) schon immer unter Evolution vorgestellt haben. Aber Hinweise auf eine direkte Vererbung kultureller Phänomene wie Sprache, Schrift oder auch Recht über die Biologie habe ich (in der Literatur) nicht gefunden. Lange spricht zwar von kultureller Transmission[7], erklärt aber nicht, was gemeint ist. Anscheinend bleibt der unmittelbare Übergang von symbolisch vermittelter Kultur oder – in der Sprache Dawkins – von Memen in die biologische Substanz, den die Soziobiologie voraussetzt, ein Phantom. Das ist wichtig für eine verallgemeinerte Evolutionstheorie, die sich von der Rechtswissenschaft rezipieren lässt.

Eine allgemeine Evolutionstheorie wäre eine einheitliche Theorie, die für alle Disziplinen Geltung hätte. Eine solche Theorie schwebte dem Ökonomen Kenneth E. Boulding vor.[8] In diese Richtung zeigt die Theorie der molekularen Evolution von Manfred Eigen (Nobelpreis 1967).[9] Fortgesetzt wurden seine Bemühungen zur Erklärung präbiotischer Selbstorganisation durch Arbeiten des Chemikers Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977) über offene Systeme, die sich nicht in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, und durch den Physiker Hermann Haken, weltberühmt für seine Lasertheorie, der die Theorie der sog. Phasenübergänge zu einer Theorie der »Synergetik« verallgemeinerte, die auch die gesellschaftliche Selbstorganisation erklären soll.[10] In aller Regel versteht man jedoch unter einer »allgemeinen« Evolutionstheorie nur eine analoge Verwendung von Elementen der biologischen Evolutionstheorie auf kulturelle Phänomene. Da zeigt ausführlich Gerhard Vollmer, indem er 43 »evolutionäre Fächer« (darunter die Rechtstheorie) und weitere 14 Teilgebiete evolutionärer Philosophie vorstellt.

Das Problem mit der Soziobiologie ist und bleibt, dass sie direkt auf die Evolutionstheorie der Biologen zurückgreift. In der dynamischen neuen Evo-Devo gewinnt sie dafür anscheinend eine bessere Grundlage, insbesondere, weil sich die Zeiträume der Evolution von Jahrmillionen auf Jahrtausende verkürzen. Das Interesse an einer evolutionstheoretischen Erklärung der Gesellschaft und ihres Rechts ist ungebrochen. [11] Aus der Zeitschrift »Ethology and Sociobiology« ging 1997 die Zeitschrift »Evolution and Human Behavior« hervor, die im Mai 2023 ein Sonderheft über »Evolution, Justice, and the Law« veröffentlicht hat.

Einen wichtigen Beleg für ein biologisches Verhaltensprogramm bilden nach wie vor die kulturellen Universalien. Vollmer (den ich nicht im Lager der Soziobiologen sehe) ist da sehr großzügig. Als »letztlich genetisch bedingt« zählt er auf:

»Mimik, teilweise auch Gestik, Empathie (Fähigkeit, sich in Gefühle, Motive und Absichten anderer einzufühlen), Emphronesis (Fähigkeit, sich in Wissen und Denken anderer einzufühlen), Besitzanspruch und Besitzanerkennung, langfristige und komplexe Kooperation, Paarbindung, väterlicher Beitrag zum Großziehen von Kindern, Inzesttabu«.[12]

Sieht man einmal davon ab, dass sich die letzten fünf Items dieser Aufzählung vielleicht auch aus einer Handlungslogik erklären lassen, wie sie etwa die Spieltheorie beschreibt, so bleibt bisher völlig offen, wie eine Umsetzung von »Stammesgeschichte« in Biologie vor sich gegangen sein könnte. Es gibt keine Möglichkeit der Ableitung von konkreten Handlungen aus biologischen Strukturen, sondern nur umgekehrt Rekonstruktionen der biologischen Struktur (für die die Gene weiterhin als Abkürzung dienen mögen) aus der Beobachtung der Gesellschaft. Vieles von dem, was Soziobiologen über Evolution schreiben, liest sich wie ein prähistorischer Roman, wie ein Prosawerk, dessen Handlung in vorhistorischer Zeit spielt, so dass es an hinreichenden Zeugnissen der Ereignisse fehlt mit der Folge, dass die Verfasser iher Kombinationsgabe freien Lauf lassen können.

Obwohl man davon ausgehen kann, dass der Mensch nicht als tabula rasa oder blank slate zur Welt kommt, besteht doch die entscheidende Menschenqualität in der Anlage eines Reflexionsvermögens, das biologisch angelegte Handlungsbereitschaften überspielen kann.

Nachtrag vom 5. 1. 2024: Als Fortsetzung kann man lesen Isabelle Bartram/Timo Plümecke/Peter Wehling, Soziogenomik: Ein neuer Versuch, die Soziologie zu biologisieren, Sziologie 53, 2024, 20-45.


[1] Mich tröstet, dass auch Rudolf Stichweh, der sich weitaus intensiver mit der Evolutionstheorie befasst hat, noch nicht weiter gekommen ist: Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[2] Rezension mit guter Zusammenfassung von Stephan Krall, Zeitschrift für Anomalistik 20, 375-382.

[3] Der wichtigste erste Teil ist hier im Internet zu finden.

[4] Auf diesem Stand auch noch Gerhard Schurz, Evolution in Natur und Kultur: eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie, 2011.

[5] Axel Lange, Evolutionstheorie im Wandel, 2020, Zusammenfassung S. 249-252.

[6] A. a. O. S. 215.

[7] A. a, O, S. 251.

[8] Kenneth Boulding, Evolutionary Economics, 1981. Dazu der Sammelband, hg. von Erich Jantsch:, The Evolutionary Vision, 1981.

[9] Manfred Eigen, Selforganization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, Die Naturwissenschaften 58, 1971, 465-523; ders./Ruthild Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, 9 Aufl. 2021.

[10] Dazu Rechtssoziologie-online § 71 II.

[11] In Bielefeld beginnt im August der Weltkongress Behaviour 2023 statt [https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/biologie/forschung/veranstaltungen/behaviour2023/].

 

[12] S. 31f. In dem Zitat habe ich die Reihenfolge umgestellt, um den Folgesatz besser anschließen zu können.

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