Differenzierung und Argumentation Overload

Analog zu dem vielfach beschworenen information overload ist in der Rechtstheorie ein argumentation overload zu beobachten. Die Auseinandersetzungen in den Geisteswissenschaften haben einen Grad der Differenzierung und Elaboration erreicht, der es gestattet, jede Argumentation am Ende als unvollständig oder verkürzend, selektiv oder perspektivisch zu kritisieren. Das ist für die Jurisprudenz misslich, denn ist sie verpflichtet, innerhalb überschaubarer Zeit mit beschränkten personellen und sachlichen Mitteln Entscheidungen zu produzieren.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht eine Tendenz, allgemeinere Theorien zugunsten immer weitergehender Differenzierungen (Nuancen) zurückzuweisen. So werden ständig detailliertere empirische Beschreibungen verlangt, und sie werden von einem nicht enden wollenden Ausbau der Begriffssysteme begleitet, die immer weitere Sachverhalte abdecken sollen. Diese Tendenz hat sich zumal in den Law- and Something Fächern ausgebreitet und ist zu einer Barriere für Interdisziplinarität geworden.

Auf der Differenzierungswelle schwimmt auch die postmodern inspirierte Rechtstheorie. Dort gilt »Differenz vor Identität«. Man achtet »in seinen Beobachtungen von Strukturen und Entwicklungen mindestens ebenso sehr wie auf Gemeinsamkeiten auf möglicherweise zwar nur feine, aber charakteristische Unterschiede und [hebt] gerade diese hervor.« Wer » im Verhältnis zu konkurrierenden Theorieangeboten jeweils den kleinsten gemeinsamen Nenner im Sinne eines ›overlapping consensus‹ herauszuarbeiten versucht«, wird zum Harmonisierer gestempelt, »der auf diese Weise andere Positionen für das eigene Projekt zu vereinnahmen sucht«.[1]

Ist nicht die Fähigkeit, immer feinere Differenzen zu erkennen und den Begriffen immer neue Bedeutungsunterschiede abzugewinnen das Kennzeichen eines guten Denkers? Die Welt ist nun einmal höchst komplex und kompliziert. Warum sollte Differenzierung da nicht der adäquate Ansatz ein? [2] Nein, sagt Healey. Es gehe nicht darum, die Differenziertheit der Welt in Abrede zu stellen. Aber um sie theoretisch zu erfassen, dürfe man nicht immer mehr in die Details gehen. Dazu müsse man hinreichend abstrakte Theorien aufstellen, die sich auch der Gefahr aussetzen, widerlegt zu werden.

Der Differenzierer fragt: Sind die Dinge nicht ein bißchen komplizierter? Fehlt da nicht noch irgend etwas? Haben nicht beide Positionen etwas für sich? Konstituieren nicht die Phänomene einander wechselseitig? Welche Rolle haben Struktur, Macht, Zeitlichkeit, Geschlecht (oder was sonst an abstrakten Begriffen einfällt) für dieses Problem?[3] Diese Einstellung so Healy, sei von Grund auf antitheoretisch. Sie blockiere die Abstraktion, auf die Theorie angewiesen sei, und behindere die in der Theoretisierung steckende Kreativität, um sodann drei Differenzierungsfallen (nuance traps) zu beschreiben:[4]

»I do claim that the more we tend to value nuance as such – that is, as a virtue to be cultivated, or as the first thing to look for when assessing arguments – the more we will tend to slide toward one or more of three nuance traps. First is the ever more detailed, merely empirical description of the world. This is the nuance of the fine-grain. It is a rejection of theory masquerading as increased accuracy. Second is the ever more extensive expansion of some theoretical system in a way that effectively closes it off from rebuttal or disconfirmation by anything in the world. This is the nuance of the conceptual framework. It is an evasion of the demand that a theory be refutable. And third is the insinuation that a sensitivity to nuance is a manifestation of one’s distinctive (often metaphorically expressed and at times seemingly ineffable) ability to grasp and express the richness, texture, and flow of social reality itself. This is the nuance of the connoisseur. It is mostly a species of selfcongratulatory symbolic violence.«

Eine vierte Falle, so könnte man hinzufügen, ist das Landkartenproblem. Eine Theorie, die die ganze Komplexität der Welt abbilden wollte, wäre unbrauchbar wie eine Landkarte im Maßstab 1:1. Die brauchbare Vereinfachung ist eine Kunst. Andernfalls sieht man den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen.

Abstraktion wird immer wieder als Krankheit des Rechts angesprochen. Sie bildet aber ein allgemeineres Problem. Es bedarf eines langen Trainings, um die in ihrer Konkretheit unendlich differenzierte Wirklichkeit in wissenschaftlichen Texten zu repräsentieren, das heißt, sie in (abstrakte) Theorie zu bringen. Theorie arbeitet notwendig mit Verallgemeinerungen, die immer zugleich eine Abstraktion darstellen. Einwände gibt es immer, und es ist bequem, Einwänden durch eine neue Volte der Theorie Rechnung zu tragen.

Vor kurzem habe ich innerhalb einer Stunde vierzehn neue Bücher heruntergeladen, die mir nach Titel und Verlagsanzeige für Rechtssoziologie und Rechtstheorie relevant erschienen (darunter das in Fn. 3 genannte). Niemand kann solche Literaturmengen gründlich lesen und ihre Gedanken vollständig aufnehmen. Muss er auch gar nicht. Die Erfahrung ist immer wieder, dass wenig von dem, was zwischen bunten Buchdeckeln daherkommt, neu und wichtig ist. Die Texte umkreisen und differenzieren immer wieder die gleichen Fragen und finden selten zu neuen Antworten. In der Regel geht es darum, auf alte Probleme mit neuen Sprachspielen zu antworten, die dem Zeitgeist Rechnung tragen. So hat sich wohl jeder, der versucht, in dieser Argumentationsflut den Kopf über Wasser zu halten, eine Schnelllesestrategie zugelegt. Titel, Klappentext, Grobgliederung, ein Blick in Einleitung und Zusammenfassung und dann vielleicht noch eine Stichwortsuche. Mehr ist oft nicht drin. Die Aufgabe des Perlentauchers müssen andere übernehmen. Freilich bedeutet diese Literaturflut als solche noch keine Differenzierung. Aber Wissenschaftssoziologen werden sich früher oder später der Frage zuwenden, ob nicht die EDV-gestützte Leichtigkeit des Schreibens und die personelle Ausweitung der schreibenden Akademie die Differenzierung vorantreibt.

Die Abstraktionen des Rechts bestehen nicht aus wissenschaftlichen Theorien, sondern aus Regeln. Differenzierer haben die Rechtsnorm als allgemeine Regel in Verruf gebracht. Ein zusätzliches Problem folgt für die Jurisprudenz jedoch aus Forderung nach Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, einer Forderung, die auch dort, wo sie nicht vom Gesetz vorgesehen ist (wie in §§ 314 I 2 und § 626 I BGB), vom Bundesverfassungsgericht generalisiert worden ist. Hier wäre nun die Hoffnung auf die Rechtstheorie, auch in Gestalt der Methodenlehre, der Jurisprudenz und mit ihr den Gerichten bei der Abarbeitung der Einzelfälle durch Regelbildung zu unterstützen. Ich sehe dazu bisher keine Ansätze. Vielleicht müssen wir auf künstliche Intelligenz in Gestalt von JurGPT warten, die mit ihrer Fähigkeit zur Mustererkennung den argumentation overload eindampft. Bis dahin bedarf es des Selbstbewusstseins erfahrener Juristen, um dem differenzierten Theoriemosaik der philosophisch und sozialwissenschaftlich inspirierten Rechtstheorie und dem daraus folgenden Überangebot von Argumenten einigen Gewinn abzuringen.


[1] Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, in: ders. (Hg.) Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, 2023, 11–34, S. 12.

[2] Kieran Healy, Fuck Nuance, Sociological Theory 35, 2017, 118-127.

[3] Frei nach Healey S. 119.

[4] S. 121f.

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