Rasse als soziale Züchtung

Es ist heuchlerisch, den Rassenbegriff zu vermeiden, wenn man sich gegen Rassismus wenden will. Ein Workshop im Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (von dem ich nur aus einer Pressenotiz erfahren habe) widmet sich am 10. Februar dem Rassenbegriff. Das ist für mich Anlass, noch einmal ausführlich aus der Anthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer zu zitieren, die dieser 1977 unter dem Titel » Die gesellige Natur des Menschen« veröffentlich hatte.

Mayers Rede von der Rassen als »sozialer Züchtung« wird manchen abstoßen, wiewohl sie in der Sache antirassistisch ist.

»Die soziale Veranlagung der recenten Menschheit dürfte im Wesentlichen als gleichartig angesehen werden können. Zwar finden wir bei ethnologischen Beobachtungen sehr große Unterschiede in den Sozialstrukturen und damit auch in den sozialen Verhaltensweisen. Es ist bisher aber nirgends gelungen, diese Unterschiede aus Rassenunterschieden abzuleiten, während sie sich ziemlich mühelos historisch-soziologisch erklären lassen. … Selbst wenn wir gewisse Populationen als rassisch einheitlich bestimmt betrachten, so sind doch die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population immer viel größer als die Unterschiede zwischen den rassisch bestimmten Populationen.« (S. 14)

»Die älteren Versuche der Rassenanthropologen, die verschiedenartigen Gestaltungen, wie wir sie in Sozialformen und Sozialverhalten bei Natur- und Niederkulturvölkern vorfinden, aus Rassenunterschieden abzuleiten, überzeugen nicht. Sozialformen wirken ihrerseits züchtend und bringen verschiedenartige Typen von Menschen hervor. Hirtenkrieger (Massai) und Feldbauern (Bantu) sehen heute zweifellos verschieden aus, aber die verschiedenen Typen sind das Züchtungsergebnis verschiedener Lebensweisen.« (S. 71f)

»Der Kulturzustand der rezenten Menschheit ist überaus verschieden. In ihrer Jugendsünden Maienblüte hat die junge Wissenschaft der Genetik im Seitenzweig der Rassenlehre diese Kulturunterschiede rassenpsychologisch erklären wollen. Heute ist Mode, die Möglichkeit von Rassenunterschieden prinzipiell zu leugnen. Naturwissenschaftlich ist dies ebenso töricht, wie der vormalige Hochmut der Europäer, welche historisches Glück mit ihrer angeblich so vorzüglichen Rasse fehlerklärten. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, weil es Gleichheit in der lebendigen Natur nicht geben kann. Aber nüchterne Beobachtungen belehren uns darüber, daß diese problematischen Unterschiede nicht ausreichen, um die wirklich vorhandenen Kulturunterschiede zu erklären, so daß man von einer relativen Gleichheit der Menschen ausgehen kann. Alle Rassen sind auf allen Gebieten lernfähig, die Lernfähigkeit ist allerdings teilweise bedingt durch die von Generation zu Generation gesteigerten Traditionsvorteile.« (S. 90)

»Die Befähigung junger Jurastudenten auf afrikanischen Hochschulen, mit den Denkmitteln der englischen Präjudizienjurisprudenz umzugehen, kann einen deutschen Professor mit Neid erfüllen.« (S. 91)

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen III: Es gibt keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen

Schon der Titel des Buches macht klar: Mayer zeichnet den Menschen anders als Hobbes nicht als potentiellen Feind seines Mitmenschen. Nach dem Untertitel handelt es sich um eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«. Daher liegt es nahe, Textstellen zu zitieren, die auf Kriminalität Bezug nehmen.[1]

»Daß der Mensch von Natur aus als ζῷον πολιτικόν geneigt ist, unter gewöhnlichen Lebensbedingungen friedlich mit seinesgleichen in gesellschaftlichen Gebilden zusammenzuleben, lehrt die überwiegende Erfahrung. Daß er vermöge einer von der Natur in ihn hineingelegten Entelechie auch wirklich immer diesen Weg einschlägt und zielstrebig verfolgt, muß leider verneint werden.« (S. 2252)

»Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe [von der im vorigen Eintrag die Rede war] entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht.« (S. 64)

Dennoch ist nicht alles reine Harmonie:

» Der Mensch ist zugleich Einzelwesen mit einem sehr starken individuellen Selbstbehauptungsdrang. Der Selbstbehauptungsdrang nimmt die vitalen, der Selbsterhaltung dienenden Triebe in seinen Dienst, geht aber über deren Ziele weit hinaus und macht daher die Erscheinung des menschlichen Egoismus möglich.« (S. 64)

Aber mit der Feststellung, dass eine Verhaltensweise aus dem Rahmen des sozial Verträglichen fällt, darf nicht sogleich ein Werturteil verbunden werden. Man soll Menschen nicht deshalb als defizitär definieren, weil die friedliche Grundstruktur versagen kann: »Niemand würde es für vernünftig halten, das Auto als die Maschine zu definieren, welche Pannen erleidet.« (S. 254) So gibt es denn keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen.

»Es gibt kein empirisches Phänomen ›crimen‹, welches vor und außerhalb der Steuerungsvorgänge läge. Zwar gibt es soziale Vorgänge, welche Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft nahelegen und schließlich zur Einrichtung des Strafrechtssystems führen. Aber die Strafrechtsnorm ist logisch immer früher als das crimen, der Strafrichter (die Strafrechtsnorm) immer früher als der Straftäter. Bevor es den Strafrichter gibt, gibt es nur soziale Vorgänge, die als Störungen empfunden werden können, nicht müssen.« (S. 4)

»Die meisten Straftäter unterscheiden sich kaum vom Durchschnitt, wohl aber erleiden sie durch das Erlebnis ihrer Straffälligkeit und das Stigma der öffentlichen Strafe eine mehr oder weniger schwere psychische Schädigung. … Das Schema von Schuld und Sühne machte es dem Bürger leichter, den Mann, der seine Tat gesühnt hatte, eine neue Chance zu geben. Von äußerster Grausamkeit ist es, das künftige Verhalten des Täters vorausberechnen zu wollen und im Fall einer negativen Prognose ihn durch Dauerverwahrung zu eliminieren.« (S. 131)

»Es war eine verhängnisvolle Illusion der älteren Gefängnisreformer, wenn sie meinten, daß bloße Arbeitsgewöhnung den Menschen sozialisiere, d. h. zum Sozialverhalten dressiere. Arbeit hilft nur, wenn sie als Erfüllung der Persönlichkeit erlebt wird.« (S. 155)

»So übertrieben auch die Meinung der sozialistischen Kriminologen war, die Kriminalität sei eine Folge der Klassenunterschiede, so wahr ist es, daß im Widerspruch zwischen Gleichheitsbedürfnis und faktischen sozialen Unterschieden eine der Hauptursachen für soziale und kriminelle Konflikte zu sehen ist.« (S.165)

Fortsetzung folgt.


[1] Alle Zitate aus Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen II

Eine Grundfrage jeder Anthropologie geht dahin, ob der Mensch »von Natur aus« gesellig sei. Mayer gibt schon mit dem Titel seines Buches die positive Antwort: Zur »vitalen Grundstruktur« des Menschen gehört ein »Sozialdrang«. Die Antwort wird doppelt qualifiziert. Die Lebensform des Frühmenschen ist der Kleinstamm mit Arbeitsteilung. Diese Form wirkt auch im modernen Menschen noch nach. Offen bleibt, wie diese Nachwirkung gesichert ist, ob sie genetisch oder sozial tradiert wird. Die neuere Vorstellung epigenetischer Vererbung kannte Mayer noch nicht. Er richtet den Blick zurück auf den »Frühmenschen« und erschließt die »vitale Grundstruktur« aus historischen und prähistorischen Reminiszenzen. Das ist eine ebenso verbreitete wie anfechtbare Methode. Heute weiß man, dass genetische Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben.[1] Wie lange genetische, epigenetische oder soziale Prägungen halten, ist unklar. Mayer ist davon überzeugt, dass es eine »vitale Grundstruktur« gibt und dass sie über die Jahrtausende hält. Aber – das ist der springende Punkt seiner Anthropologie – alle Prägungen sind nur Startkapital oder Schulden an die tierische oder frühmenschliche Vergangenheit. Das Bewusstsein und seine Äußerungen als »objektiver Geist« ändern alles. Alle Antriebe, Emotionen oder Verhaltensmuster müssen nicht, aber sie können den Weg durch das Bewusstsein nehmen. Sie wirken – um es mit der Metapher zu sagen, die ich schon im letzten Eintrag verwendet habe – wie Rückenwind oder Gegenwind beim Fahrradfahren. So ist es auch mit der geselligen Natur des Menschen.

Dabei vermeidet Mayer jede Theoretisierung der Beziehung zwischen Körper und Geist. Er betont die »Doppelnatur des Menschen, der zugleich als Tier und als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß.« Der Kleinstamm bildet die elementare Form der Gesellung. Den haben wir anscheinend immer noch in den Knochen. Das könnte erklären, was in der Psychologie als In-Group-Mechanismus und in der Soziologie als Othering geläufig. Was man heute »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«[2] nennt, wäre dann nur die Kehrseite der ursprünglich geselligen Natur des Menschen. Der moderne Kampf für die Überwindung dieser Grenze ist eine geistige Errungenschaft. Er leidet darunter, dass zu bekämpfende Phänomen als (nur) sozial geprägt vorschnell in eine moralische Ecke gestellt wird. Das ist schwarze Pädagogik. Von Mayer kann man lernen, das es gilt, nicht zu tadeln, sondern zur Nächstenliebe aufzurufen. Dazu aus den nachfolgenden Zitaten vorweg:

»Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues.«

Es folgen weitere Zitate aus dem Originaltext:

»Nur wenige Tiere leben solitär, begnügen sich also mit vorübergehender geschlechtlicher Begegnung. Die meisten Tiere leben sozial, wobei recht erhebliche Sozialleistungen zustandekommen. [31]

Das soziale Verhaltensinventar ist zu reich gegliedert, als daß es von einem einzigen Strukturelement ausgelöst und gesteuert werden könnte. Ein solcher Antriebsmechanismus müßte teleologische Fähigkeiten haben, was nur Vitalisten glauben können. [35]

Die einfachste Form aller Sozialbindungen finden wir in der Brutpflege. [36]

Die Menschheit ist ohne Zweifel eine primär – nicht etwa sekundär – gesellig lebende Species. Die sozialen Antriebe ergeben insgesamt einen sehr starken Sozialdrang, der sich nicht selten bis zur Aufopferung des Einzelnen steigert. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die Menschen sich untereinander feindlich oder gar aggressiv gegenüberstünden. Dem Menschen eignet aber zugleich ein individueller Selbstbehauptungswille, wie ihn vielleicht in dieser Stärke keine andere gesellig lebende Art besitzt. Im Miteinander und Gegeneinander dieser beiden hauptsächlichen Teilstrukturen entfaltet sich das menschliche Sozialleben. [58]

Der Sozialdrang. – Geselligkeitstrieb ist ein viel zu schwacher Ausdruck – ist dem Menschen sowohl in seiner vitalen Grundstruktur mitgegeben als auch in seinem geistigen Wesen angelegt.

  1. Der vitale Sozialdrang wirkt schon vor jeder Reflexion. Vielfach ist sich der Mensch dieses seines Dranges gar nicht bewußt, wenn er ihn sich natürlich auch bewußt machen kann. Die stammesgeschichtliche Herkunft erweist den Menschen wie auch die Primaten als soziales Tier. Man hat wohl mit Recht gesagt, ein einzelner Schimpanse sei gar kein rechter Schimpanse. Der Sozialdrang ist die Voraussetzung der Homination. Wären nicht bereits die Prähominiden von diesem Drang erfüllt gewesen, wäre er nicht durch Selektion gesteigert worden, so hätte es niemals den Menschen, homo sapiens geben können. Als Einzelexemplar wäre der Mensch ein sehr schwaches und hilfloses Geschöpf, von der Natur weder zu wehrhaftem Kampf gerüstet noch zu schneller Flucht befähigt. Hätte er erst auf seine Bedürftigkeit reflektieren müssen, um sich sekundär zu Gruppen zusammenzuschließen, so wäre er längst ausgerottet worden, bevor ihm Gruppenbildung hätte gelingen können. [59] Denn die Natur hat den Menschen zum gefährlichen Leben in der Steppe gedrängt, wo er sich Raubtieren, namentlich Raubkatzen gegenüber behaupten mußte. Weil der gesellige Mensch von Haus aus in der Gruppe wohl versorgt und mächtig war, so mußte die Selektion ihm keine natürlichen Waffen und keinen panikartigen Fluchtinstinkt anzüchten, welche beide den Weg zum homo versperrt hätten.

Baumaffen haben es verhältnismäßig bequem. Gefährliches Raubzeug kann ihnen kaum nachklettern. Sie können sich also mit einem sehr primitiven Sozialleben begnügen. Bei den Pavianen ist dies bereits etwas anders. Aber nur der Frühmensch mußte sogleich die komplizierte Lebensform des Kleinstammes entwickeln. Wir heben einige Grundelemente vorläufig hervor, wie sie sich in befriedigenden Hypothesen darstellen, welche durch Beobachtungen an Wildbeutern und anderen Primitiven wahrscheinlich gemacht werden. Der Stamm muß immerhin so menschenreich sein, daß er eine hinlängliche Anzahl von Männern zum Kampf gegen Raubwild und zur Jagd auf Großtiere herausstellen kann. Nur das Großwild liefert eine für den Stamm genügende Menge Fleisch. Die Mammutjagd ist denn auch schon für sehr frühe Zeiten durch Funde erwiesen und der rezente Buschmann jagt heute noch die Giraffe. Solche Jäger müssen unter sich in fester Kameradschaft zusammenstehen, also in einem Männerbund, in welchem jeder grundsätzlich den gleichen Rang des Kriegers und Jägers besitzt, unbeschadet der Autorität des möglicherweise charismatisch vorgestellten Vorkämpfers. Nur unter dieser Voraussetzung genügt eine etwas gesteigerte Schimpansenintelligenz dazu, den Kampf mit dem Raubwild aufzunehmen und Großtiere zu jagen. Der Massaijüngling von heute erlegt zwar als Einzelkämpfer den Löwen, aber eben mit dem eisenbeschlagenen Speer. Der Frühmensch konnte nur in der Gruppe abwehren und jagen. Hatte er aber erst einmal gelernt, mit Feuer die Spitze der Holzstangen zu härten, so konnte er dem Raubzeug so schrecklich werden, daß auch heute noch die Raubkatzen auf freier Strecke den aufrecht gehenden Mann fürchten. Der Stamm kann übrigens nur leben, wenn die Frauen eine intensive Sammeltätigkeit aufnehmen. So bereitet sich sehr früh eine strenge Arbeitsteilung der Geschlechter vor, weil sie auch den Bedürfnissen der tragenden, gebärenden und stillenden Frau entspricht. Die frühzeitig einsetzende Hypersexualisierung nötigt zum dauernden paarweisen Zusammenleben. [61] Die lebenswichtige Kampfkameradschaft der Männer läßt keinen Boß aufkommen, der alle Weibchen für sich reklamiert.

  1. Auch die geistige Verfassung des Menschen ist auf soziale Verbindung ausgerichtet, wie auch Hugo Grotius den appetitus societatis nicht als Instinkt, sondern als geistige Bestimmung der Menschheit denkt. … Dabei kommen freilich sehr verschiedene Lösungen vom Nein bis zum Ja vor. Aber gewöhnlich wird die naive Verbundenheit doch auch klar gedacht und bejaht. Sentimentales, vernünftiges und auch intellektuelles Verhalten steigern sich also wechselseitig. Die egoistische Reflexion auf die soziale Interdependenz ist eine geschichtlich späte Erscheinung. [63f]
  1. Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues. Vorher ist in allen ursprünglichen Rechten der Fremde rechtlos. Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht. Der naive Sozialdrang kann sich nämlich naturgemäß nur soweit durchsetzen, als soziales Zusammenleben überschaubar ist. Der Primitive denkt und fühlt über den Kleinstamm zunächst nicht hinaus, wenn auch der Wildbeuter sich auch fremden Stämmen gegenüber relativ friedlich verhält. Sozietät setzt sprachliche Verständigung voraus. Die Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch den Griechen vom ›Barbaren‹, der vermeintlich keine Sprache hat.« [64]

Fortsetzung folgt.


[1] VanessaVillalba-Mouco u. a. , Genomic Transformation and Social Organization During the Copper Age–Bronze Age Transition in Southern Iberia, Science Advances Vol 7 vom 17. 11. 2021.

[2] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heißt das Konzept des Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, mit dem das Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in jährlich wiederkehrenden Untersuchungen nach Rassissmus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganis-mus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, der Abwertung von Obdachlosen, Behinderten, Lang-zeitarbeitslosen und nach Etabliertenvorrechten fragt.

 

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Zweite Natur und Naturalisierung – Auf der Suche nach einer Anthropologie

Der Begriff der Naturalisierung deckt sich nur zum Teil mit dem der zweiten Natur. Er ist insofern enger, als er darauf abstellt, dass Teile der zweiten, der sozialen Natur des Menschen, den Anschein erwecken, als gehörten sie zur ersten Natur. Diese Bedeutung ist zunächst von Karl Marx und später vor allem durch Bourdieu geprägt worden. Bourdieu spricht auch von Hexis und meint damit, dass bestimmte biologisch kontingente Verhaltensweisen so fest eingeprägt sind, als seien sie angeboren. Solche Prägung hat zur Folge, dass die Verhaltensweise nur sehr schwer zu ändern ist. Sie hat unvermeidlich aber auch normative Konsequenzen, denn daran schließt die normative Kraft des Faktischen. Hier ist diese Kraft doppelt stark, denn sie knüpft nicht nur an Normalität, sondern auch an den Anschein der Natürlichkeit, mit dem sich die Vorstellung verbindet, dass das Natürliche auch das Richtige sei. Daher ist es verständlich, dass im sozialen Diskurs Behauptungen, dass bestimmte Verhaltensweisen natürlich seien und deshalb akzeptiert werden müssten als (falsche) Naturalisierung zurückgewiesen werden. Diese Zurückweisung ist weithin so rigoros, dass Natürlichkeitsargumente als schlechthin indiskutabel gelten. Das geht jedoch zu weit.

Der Mensch ist kein Stichling. Dennoch darf hier an die Diskussion erinnert werden, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden.[1] In Deutschland betrieb insbesondere Hellmuth Mayer (1896-1980)[2] die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen, zusammenfassend in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen« von 1962. 15 Jahre später schrieb er noch eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«.[3] Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind wohl die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken. Irritierend für viele Leser sind vermutlich viele Beispiele, die Mayer als Soldat und »teilnehmender Beobachter« während des ganzen Ersten und anfangs auch noch des Zweiten Weltkriegs festgehalten hat. Erstaunlich sind die ethnologischen Beobachtungen aus Afrika, die sich daraus erklären, dass eine Tochter Mayers mit einem Nigerianer verheiratet war und ein Jahrzehnt als Ärztin in Tansania verbracht hatte.

1965 war ich als junger Richter für ein Jahr auf die Assistentenstelle am Kriminologischen Seminar der Kieler Universität abgeordnet. Hellmuth Mayer wurde mein Doktorvater. Damals bestand das »Seminar« aus dem schon emeritierten Mayer als Direktor, einer Sekretärin und einer kleinen Bibliothek. 2012 wurde aus dem Seminar ein »Institut«. In seiner »Institutsgeschichte« hat es die Anfänge unter Hellmuth Mayer vergessen. Als ich dort ankam, hatte das Kieler Kriminologische Seminar erfolgreiche Jahre hinter sich. Unter Mayers Anleitung konnten sich dort vier Strafrechtler[4] habilitieren. Der junge Privatdozent Friedrich Geerds nutzte das Seminar als Fließband für Dissertationen, die alle nach dem gleichen Muster als Aktenuntersuchung abliefen. Er zog dann als Ordinarius nach Frankfurt a. M. Wolfgang Naucke, ein scharfsinniger Kantianer, ergriff die Gelegenheit, um zusammen mit dem damals in Kiel tätigen Soziologen Paul Trappe auf die Rechtssoziologie aufmerksam zu machen (und ist dafür verantwortlich, dass ich den Weg von der Kriminologie zur Rechtssoziologie gefunden habe). Trappe hatte 1959 in Mainz über die Rechtssoziologie Theodor Geigers promoviert. 1962 gab er einen umfangreichen Band heraus, der Arbeiten zur Soziologie von Theodor Geiger enthielt, von denen einige zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. 1964 erschien der von Trappe edierte Neudruck von Geigers »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts«. Im gleichen Jahr wurde Trappe nach Kiel berufen, wo er zusammen mit Wolfgang Naucke in Seminaren und Veröffentlichungen Grundlagen für die in den Folgejahren aufblühende Rechtsoziologie legte. Auch Naucke wurde nach Frankfurt berufen. Friedrich W. Krause, ursprünglich Staatsanwalt, später in Mannheim und Würzburg, erwarb sich Verdienste besonders um Kriminalistik und Strafprozess. Joachim Hellmer schließlich nahm sich besonders der Sicherungsverwahrung an, die Mayer stets als grausam angesehen hatte. Er wurde Mayers Nachfolger als Seminardirektor, nachdem zwischenzeitlich Hilde Kaufmann diese Stelle innegehabt hatte.

Hellmuth Mayer war zu seiner Zeit als Anders-Mayer bekannt, weil er häufig anderer Meinung war als die Mehrheit seiner Fachkollegen. In Assistentenkreise hieß es, auf der Suche nach einem interessanten Thema könne man stets bei Mayer fündig werden. Damit bin ich nach einem kleinen Umweg wieder beim Natural Turn. Eine naturalistische Ethik muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Hellmuth Mayers Buch über »Die gesellige Natur des Menschen«, die eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht« bieten sollte, kann da nicht als repräsentativ und maßgeblich gelten. Aber das buch ist immer noch eine Fundgrube. In der nächsten Fortsetzung werde ich daher voraussichtlich einige Fundstücke aus diesem Buch vorzeigen.


[1] Davon zeugt der Band von Fritz Sack/René König (Hg.), Kriminalsoziologie, 1968.

[2] Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980). Vom Verteidiger im Hitler-Prozess 1924 zum liberal-konservativen Strafrechtswissenschaftler; das vielgestaltige Leben und Werk des Kieler Strafrechtslehrers, 2008.

[3] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977.

[4] Friedrich Geerds, WolfgangNaucke, Friedrich Wilhelm Krause und Joachim Hellmer.

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Travelling Models III: Diffusion von Recht

Zur weiteren Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014) ist ein Blick auf den Begriff der Diffusion und damit verbundene Theorien hilfreich.

William L. Twining hat in zwei Aufsätzen, die aneinander anschließen, die dogmatisch orientierte Rechtsvergleichung, soweit sie sich mit der Frage der einseitigen oder wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Rechtskreise befasst, mit der sozialwissenschaftlichen Diffusionstheorie konfrontiert – und beklagt, dass diese nicht rezipiert worden sei. [1]William L. Twining, Diffusion of Law: A Global Perspective, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 49, 2004, 1-45; ders., Social Science and Diffusion of Law, Journal of Law and Society 32 , … Continue reading

Twining erinnert zunächst daran, dass die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert einmal parallel zu Anthropologie und Soziologie über die Diffusion von Recht nachgedacht habe. Er nennt Gabriel Tarde, Henry Maine und Max Weber und verweist darauf, Diffusion habe als Gegenmodell zu einer naturgesetzlichen Evolution des Rechts gedient (2004:8; 2005:208). In der frühen Ethnologie kannte man ganz analog eine Konkurrenz von Evolutionismus und Diffusionismus. Für beides hat man heute wenig übrig. Als Autoren des Diffusionismus werden insbesondere Friedrich Ratzel und Leo Frobenius genannt. Wenn überhaupt, rekurriert man heute eher auf Franz Boas.

»Kritik am Diffusionismus … Erfindungen müssen nicht singuläre Ereignisse sein, sondern können durchaus unabhängig voneinander erfolgen. Die Bedeutung von Artefakten erschließt sich nur im sozialen Kontext und nicht im Archiv eines Museums durch einen Kulturvergleich. Aus der Ferne betrachtet könnte der Diffusionismus als eine frühe Form der Globalisierungstheorie erscheinen, doch wurden zentrale Elemente wie die Machtverhältnisse und der kreative Prozess der Aneignung nicht thematisiert. Gegen einen gemäßigten Diffusionismus, der die Verbreitung von Dingen und Gedanken in Zeit und Raum thematisiert, dürfte auch heute wenig einzuwenden sein. Die diffusionistische Forschung übersah jedoch die Pluralität der Deutungsmöglichkeiten von Dingen. Heute geht man davon aus, dass es kein ›Ding an sich‹ gibt, sondern Bedeutungen stets in den Interaktionen geschaffen werden.« [2]Frank Heidemann, Ethnologie, 2001, 62f; vgl. auch die ausführliche Webseite »Anthropological Theories«.

Inzwischen gibt es jedoch eine umfangreiche Literatur, die sich mit der Ausbreitung von Technologien und Unterhaltungsangeboten, Sprache und Religion, Sport und Musik oder Medizin befasst. Twining stellt fest, dass die Rechtswissenschaft den Kontakt mit dieser Forschung verloren habe, bemerkt freilich – mit gutem Grund – auch umgekehrt, dass die verschiedenen Sozialwissenschaften den großen – wie ich hinzufüge: faktengesättigten – Bestand an rechtsvergleichender Literatur nicht zur Kenntnis nehmen (2005:204f.). Deshalb stellt er (2005) einige Höhepunkte der rechtsvergleichenden Forschung dar. Einen Grund, der die juristische Rechtsvergleichung an einer interdisziplinären Orientierung hindert, sieht Twining darin, dass man von einem Exportmodell des Rechts geblendet sei. Das erläutert er in dem ersten Aufsatz von 2004. Im Zusammenhang mit den »Travelling Models« ist es vielleicht von Interesse, dass Twining zu Beginn seiner Laufbahn als Rechtslehrer sieben Jahre im Sudan (Khartum) und in Tansania unterrichtet hat. Vieles, was in der Abhandlung von 2004 zu lesen ist, könne aus der Feder eines Rechtsethnologen stammen.

Twining geht von dem fiktiven Extremfall aus, dass Land A von Land B unverändert ein Gesetz übernimmt, welches dort seither unverändert und unangefochten in Geltung und Wirkung ist. Dieser Fall dient als bloße Kontrastfolie dazu, zwölf Merkmale aufzuzeigen, die das Exportmodell charakterisieren, und um zu betonen, dass keines dieser Merkmale unverzichtbar ist und jedes von ihnen in großen Variationen auftreten kann. [3]Die folgende Liste entspricht der Tabelle von bei Twining 2006, 205f.

1. Ursprung – Ziel: Der Transfer muss nicht bipolar, das heißt von einem bestimmten Exporteur zu einem Importeur ablaufen. Alle Kombinationen kommen vor. Eine Quelle, mehrere Empfänger, mehrere Quellen, ein Empfänger, mehrere Quellen und mehrere Empfänger.
2. Ebenen: Der Transfer muss nicht auf einer Ebene und auch nicht auf Staatsebene stattfinden. Auf beiden Seiten können lokale, regionale oder transnationale Einheiten beteiligt sein.
3. Wege: Transfer verläuft nicht unbedingt in einer Richtung. Der Weg ist oft komplex. Es gibt wechselseitigen Einfluss und Re-Export.
4. Das fremde Recht kann explizit oder implizit, förmlich oder informell übernommen werden.
5. Gegenstand des Transfers können nicht nur Rechtsnormen, Rechtsbegriffe und Institutionen sein, sondern Rechtsphänomene aller Art einschließlich Ideologien, Theorien, Mentalitäten, Methoden, offizielle und inoffizielle Praktiken von Professionellen und Laien, dazu Organisation und Methoden der Juristenausbildung, der Rechtserziehung, literarische Genres, Formen der Dokumentation, Symbole, Rituale u. a. mehr.
6. Als Akteure beim Rechtstransfer kommen nicht bloß Regierungen in Betracht, sondern auch kommerzielle und andere Nicht-Regierungsorganisationen, Armeen, Individuen (Schriftsteller, Lehrer, Aktivisten, Lobbyisten oder Wissenschaftler) oder Gruppen, die ihr Recht mitbringen, wie z. B. Siedler, Missionare, Kaufleute, Sklaven, und Angehörige von Religionen.
7. Nicht immer lässt sich der Rechtstransfer genau datieren. Oft ist der Übernahmeprozess langfristig und ein Ende ist nicht in Sicht.
8. Typisch ist die Vorstellung, dass der Transfer von einem fortschrittlichen zu einem entwicklungsbedürftigen Rechtssystem verläuft, das modernisiert werden soll, in dem Lücken gefüllt oder vorhandenes Recht ersetzt werden soll. Umgekehrt kommt aber auch die Retraditionalisierung »moderner« Rechtsordnungen vor.
9. Auf der einen Seite steht die Vorstellung, das Recht unverändert oder mit geringen Anpassungen übernommen wird. Aber es gilt viel eher: »No transportation without transformation.« [4]Das Zitat bezieht Twining von Bruno Latour, Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119, und bemerkt dazu: In cultural geography a basic notion is that the diffusing item is both a … Continue reading
10. Die vereinfachende Vorstellung geht dahin, dass das übernommene Recht eine Leerstelle ausfüllt oder vorhandenes Recht vollständig ersetzt. Es kann aber auch zu einer Assimilierung kommen oder es bilden sich verschiedene Rechtsschichten im Sinne eines pluralen Rechts. Manchmal bleibt das übernommene Recht bloße Fassade. Auch dauernder Widerstand gegen das übernommene Recht kommt vor.
11. Nach der vereinfachenden Vorstellung ist die Übernahme des Rechts technisch-instrumentell motiviert. Es handelt sich vornehmlich um »Juristenrecht«, dem politische und ideologische Motive fehlen. Rechtstransfer hat aber auch immer ideologische und kulturelle Aspekte.
12. Eine neue Tendenz in der Literatur, die sich mit der Ausbreitung von Recht befasst, geht dahin, von Erfolg oder Misserfolg einer Übernahme zu sprechen und diese möglichst auch zu messen (»audit culture«).

Was die sozialwissenschaftliche Diffusionstheorie betrifft, so stützt sich Twining zunächst auf die Arbeit von Everett M. Rogers, die ich bereits im Beitrag vom 11. 7. 2011 angesprochen habe. [5]Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003. Ich zitiere nach der 3. Aufl. von 1983, die als PDF im Internet zur Verfügung steht. Zusammenfassungen der elf Kapitel sind … Continue reading Rogers gilt als Klassiker der Diffusionstheorie.

Twining zieht ferner eine Untersuchung von Trisha Greenhalgh u. a. heran, die ab 2001 im Auftrag des UK Department of Health der Diffusion und Nachhaltigkeit von Innovationen im Gesundheitswesen nachging.

Greenhalgh u. a. haben einen Literaturbericht erstellt, der sich auf 1024 Quellen stützt. Die wesentlichen Ergebnisse wurden zunächst 2004 in einem Aufsatz zusammengefasst [6]Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, … Continue reading, der vollständige Bericht ist 2005 unter dem gleichen Titel als Buch erschienen. [7]Das Buch habe ich bisher nicht in der Hand gehabt. Rogers berief sich in der ersten Auflage von 1962 auf 506 empirische Untersuchungen. Bis zur fünften Auflage von 2003 hatte sich die Zahl der in Bezug genommenen Untersuchungen auf 5200 reichlich verzehnfacht. Kein Wunder, dass Greenhalgh u. a. sich mit den methodischen Herausforderungen einer solchen Kompilation befasst haben. [8]Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417–430. Hoffmann hält Rogers in seiner ausführlichen Rezension vor, dass er manches gerade gebogen habe, um sein Theoriegebäude zu bestätigen. Ich vermag das nicht selbst zu beurteilen. Greenhalgh u. a. denken soziologischer als Rogers. Ihre Aussagen sind weniger plakativ. Doch wenn Twining (2005:228) zwischen den Arbeiten von Rogers und Greenhalgh u. a. erstaunliche Konvergenzen feststellt, so ist das wohl doch in der Sache begründet:

»However, a striking feature of Rogers’s and Greenhalgh’s analyses is the unexpected connections, analogies, and generalizations that have emerged. Surprising leaps are taken from hybrid corn to poison pills; from hard tomatoes to modern maths; from family planning to transnational social movements.«

Die Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorien auf die Diffusion von Recht erfordert Klarstellungen und Modifikationen, die bislang nicht ausgearbeitet worden sind. Auch wenn ich diese Lücke nicht füllen kann, so will ich doch im nächsten Beitrag berichten, wie ich mit dieser Fragestellung im Kopf Texte von Rogers und Greenhalgh u.a. gelesen habe.

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 William L. Twining, Diffusion of Law: A Global Perspective, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 49, 2004, 1-45; ders., Social Science and Diffusion of Law, Journal of Law and Society 32 , 2005, 203-240.
2 Frank Heidemann, Ethnologie, 2001, 62f; vgl. auch die ausführliche Webseite »Anthropological Theories«.
3 Die folgende Liste entspricht der Tabelle von bei Twining 2006, 205f.
4 Das Zitat bezieht Twining von Bruno Latour, Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119, und bemerkt dazu: In cultural geography a basic notion is that the diffusing item is both a stimulus to a new innovation and itself subject to modification as it spreads.
5 Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003. Ich zitiere nach der 3. Aufl. von 1983, die als PDF im Internet zur Verfügung steht. Zusammenfassungen der elf Kapitel sind abgedruckt in dem Reader »Knowledge und Innovation Management«von Prof. Volker Hoffmann, Universität Hohenheim, dort S. 37-50. Dort S. 64-74 auch eine kritische Besprechung des Werk von Rogers, wie es sich über fünf Auflagen entwickelt hat.
6 Trisha Greenhalgh/Glenn Robert/Fraser Macfarlane/Paul Bate/Olympia Kyriakidou, Diffusion of Innovations in Service Organisations: Systematic Literature Review and Recommendations for Future Research, Milbank Quarterly 82, 2004, 581-629
7 Das Buch habe ich bisher nicht in der Hand gehabt.
8 Storylines of Research in Diffusion of Innovation: A Meta-Narrative Approach to Systematic Review, Social Science & Medicine 61, 2005, 417–430.

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Travelling Models II: Modelltransfer in der Governance-Forschung

Dieser und noch einige weitere Beiträge dienen (mir) zur Vorbereitung auf eine Besprechung des Bandes »Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering« herausgegeben von Andrea Behrends, Sung-Joon Park und Richard Rottenburg (Leiden 2014). Dieser Band ist gemeint, wenn »Travelling Models« in Anführungszeichen steht. [1]Der am 27. 8. 2014 Eintrag angekündigte Eintrag zur Diffusion folgt als nächster.

Governance-Forschung ist Rechtssoziologie unter fremdem Namen. Sie hat sich in der Wissenschaftslandschaft so breit gemacht, dass sie sich nicht mehr übersehen lässt. Das gilt natürlich aus meiner Sicht in erster Linie im Verhältnis zur Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung. Das gilt aber auch für die Ethnologie im Allgemeinen und die »Travelling Models« im Besonderen. 2012 gab es in der Reihe Ethnoskripts des Instituts für Ethnologie der Universität Hamburg ein Schwerpunktheft »Governance«. Im Eintrag vom 23. 10. 2013 hatte ich dieses Heft dahin kommentiert, ich könne nicht erkennen, warum die Ethnologen dem Governance-Begriff nachliefen, es sei denn um an dem Momentum, mit dem dieser Begriff sich durchgesetzt hat, zu partizipieren. Aber das Thema des Modelltransfers ist in der Governance-Forschung so aktuell, und es wird dort so breit bearbeitet, dass man darüber nicht ganz hinweggehen kann. Dabei fällt auf, dass die Governance-Forschung mit Scheuklappen durch die Wissenschaftswelt geht. Von Ethnologie scheint man da noch nie etwas gehört zu haben.

Wo immer man sich in Deutschland mit öffentlichem Recht, Verwaltung, Europäisierung und Globalisierung befasst, ist auch von Governance die Rede, sei es auf breiter Front in Speyer, sei es in Hamburg [2]Hoffmann-Riem, Trute, Pilniok., sei es im Max-Planck-für Gesellschaftsforschung in Köln. [3]Dort gibt es einen Forschungsbereich »Governance of Global Structures«. Ich schätze besonders die Arbeiten von Quack und Djelic. Diese Begriffsverwendung sei hier mit einem Zitat kommentiert:

»Nun ist ja bekanntlich keine Form des Denkens davor gefeit, der Marktlogik unterworfen und in der Form des Begriffsdropping für Zwecke der Eigenreklame oder der Beförderung einer bestimmten Denkschule eingesetzt zu werden; jeder Person, die je Forschungsanträge geschrieben hat, ist diese Form des instrumentellen Denkens vertraut.« [4]Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2008: http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf.

Berlin ist das Zentrum der deutschen Governance-Forschung. Bis 2011 hatte das Wissenschaftszentrum Berlin eine Forschungsprofessur und Querschnittsgruppe »Neue Formen von Governance« um Gunnar Folke Schuppert. Zurzeit gibt es dort in der Forschungseinheit »Internationale Politik und Recht« um Michael Zürn eine Unterabteilung »Global Governance«. Am produktivsten ist aber der Sonderforschungsbereich 700 »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« an der FU. Er gibt im Nomos Verlag »Schriften zur Governanceforschung« heraus und hat von 2006 bis heute über 60 Working Papers veröffentlicht.

Der SFB 700 ist thematisch sehr nahe an der Ethnologie, weil er die »Räume begrenzter Staatlichkeit« in den Blick nimmt, die das bevorzugte Forschungsfeld der Ethnologen sind. Noch näher kommt er den »Travelling Models« scheinbar durch acht Working Papers, bei denen schon im Titel von »Governance Transfer« die Rede ist. Tatsächlich ist der Abstand enorm, denn die Governanten befassen sich auf der Makroebene mit dem Transfer von Menschenrechten, Demokratie, Rule of Law und Good Governance. Sie legen ein Exportmodell zugrunde, das anscheinend nicht so glatt funktioniert. Im Namen der Exporteure wird beklagt: »The differences we find between the governance transfers of our nine ROs indicate that the process of diffusion we may observe is ›localized‹ (Acharya 2004 ), meaning that it is driven or at least mitigated by region-specific, domestic factors.« Was die Lokalisierung betrifft, kommen sie also nicht weiter als bis 2004. Wenn es dann heißt: »The literature does not provide a theoretical approach that would be capable of explaining our double finding of growing similarities and persisting differences in governance transfer by regional organizations.« (S. 23), möchte man ihnen vorschlagen, sich den Hallenser Anthropologen Rat zu holen.

Eines der jüngsten Forschungspapiere (Nr. 60 von 2013) von Johannes Kode befasst sich mit »Social Conditions of Governance: Social Capital and Governance in Areas of Limited Statehood«. Darin wird ausführlich theoretisiert, dass »Governance ohne Staat»« stattfinden könne, wenn nur hinreichend Sozialkapital vorhanden sei. Für die Behauptung, »Governance without a state appears to be an empirical reality in many parts of the world«, werden Autoren aus dem eigenen Hause benannt, die ihrerseits konzipieren. [5]Nämlich Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance without a State: Can It Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134. Diese führen (auf S. 120) zwar einige Beispiele für Ordnungsinseln an, zitieren dafür aber wiederum fast nur Autoren aus dem eigenen Hause. [6]Überhaupt erklärt sich die Produktivität des SFB erklärt sich zum Teil daraus, dass man sich immer wieder selbst zitiert und wiederholt. Das wichtigste Beispiel ist wohl Somaliland. Die Gewährsleute sprechen hier allerdings von einer »de facto state entity«. [7]Tobias Debiel/Rainer Glassner/Conrad Schetter/Ulf Terlinden, Local State‐Building in Afghanistan and Somaliland, Peace Review 21 , 2009, 38-44, S. 41.

[Nachtrag vom 1. 11. 2014: Ich bin darauf hingewiesen worden, dass Kode in seinem Paper als empirischen Beleg für »Governance ohne Staat« im weiteren Verlauf des Artikels die Autoren Raeymaekers, Rosenau/Czempiel, Richards/Khadija/Vincent, Reno, Mitchell, Lund, Debiel/Glassner/Schetter/Terlinden sowie Colletta/Cullen und Brinkerhoff et al. heranzieht, so dass unzutreffend der Eindruck erweckt werde, er habe sich auf »nur« auf Autoren aus dem eigenen Hause gestützt.]

Zu den umsichtigeren Autoren aus dem SFB zählt Antje Draude. Das zeigte sich schon in ihrer Diplomarbeit, die als Monographie veröffentlicht worden ist [8]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007.. Mit Interesse habe ich von ihr auch gelesen »Governance in der postkolonialen Kritik: Die Herausforderung lokaler Vielfalt jenseits der westlichen Welt« [9]SFB Working Paper 24, 2010.

Über die Person einer Autorin des Bandes »Travelling Models«, bin ich auf einen gehaltvollen Beitrag zum Interdisziplinaritätshema gestoßen: Veronika Fuest, Alle reden von Interdisziplinarität aber keiner tut es – Anspruch und Wirklichkeit interdisziplinären Arbeitens in Umweltforschungsprojekten, 2004. Anscheinend funktioniert nicht einmal – wie ich sie nennen möchte – die kleine Interdisziplinarität. Gemeint ist die Kooperation zwischen Nachbardisziplinen und hier wiederum zwischen Forschergruppen, aus dem weiteren Bereich der Sozialwissenschaften, die auf dem gleichen Themenfeld tätig sind. Das betrifft nicht nur den SFB 700 in Berlin, sondern auch das GIGA Institut für Afrika-Studien in Hamburg. Die Hallenser (und andere) Ethnologen sind dort anscheinend unbekannt. Sonst hätten etwa Nadine Ansorg und Kim Schultze, Friedensinseln in Subsahara-Afrika, GIGA Focus Afrika, 2014, 1-8, den Text von Behrends und Schlee zitieren können oder gar müssen, in dem diese die These begründen, sei ein Irrtum, dass Ethnizität Ursache von Konflikten sei. [10]Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfour und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten, in: Walter Feichtinger/Gerald Hainzl (Hg.), … Continue reading Auch der Artikel von Matthias Basedau, Annegret Mähler und Georg Strüver, Neue Erdölfunde in Afrika: Können Konflikte vermieden werden? [11]GIGA Focus 7, 2010, 1-8. bietet sich für wechselseitige Bezugnahmen an. Der naive Jurist sucht ferner nach einer Verbindung zwischen dem »Forschungsteam Natürliche Ressourcen und Sicherheit« im GIGA-Institut und dem Projekt »Oil and Social Change in Niger and Chad«, an dem Ethnologen aus Göttingen und Halle beteiligt sind. Sollte es da zwischen den verschiedenen Institutionen der Afrika-Forschung Wahrnehmungssperren geben?

Immerhin, die Zusammenarbeit zwischen vier Max-Planck-Instituten, darunter demjenigen für ethnologische Forschung in Halle, dem dortigen Seminar für Ethnologie und der Universität Freiburg scheint auf den ersten Blick zu funktionieren. Jedenfalls haben sie sich unter der Bezeichnung »International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment« zusammengefunden. Es gibt eine lange Liste von 71 Veröffentlichungen, die man sich zurechnet. Auch das Seminar für Ethnologie an der Universität Halle unter der Leitung von Richard Rottenburg ist beteiligt. Von dort heißt es vielversprechend: »His research focuses on the anthropology of law, organization, science and technology (LOST).« [12]Vgl. dazu den Eintrag vom 2. 8. 2014.

Noch einmal zurück zu den Transfer-Papers aus Berlin. In allen acht ist mindestens im Vorwort jedenfalls einmal von der »diffusion of a global governance script« die Rede. Beklagt wird auch der schlechte Zustand der »Diffusions- und Vergleichenden Regionalismusforschung«. [13]Bei Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013. Zugegeben: Ich habe die Papiere nicht gründlich gelesen, sondern eher nur gescannt. Aber auch dabei hätte ich eigentlich auf eine Darstellung des beklagten Forschungszustandes treffen müssen. Fehlanzeige. Das ist Anlass, im nächsten Eintrag auf die Diffusion von Recht einzugehen, zumal Diffusion auch bei den Ethnologen ein eher ungeliebtes Thema ist.

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 Der am 27. 8. 2014 Eintrag angekündigte Eintrag zur Diffusion folgt als nächster.
2 Hoffmann-Riem, Trute, Pilniok.
3 Dort gibt es einen Forschungsbereich »Governance of Global Structures«. Ich schätze besonders die Arbeiten von Quack und Djelic.
4 Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2008: http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf.
5 Nämlich Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance without a State: Can It Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134.
6 Überhaupt erklärt sich die Produktivität des SFB erklärt sich zum Teil daraus, dass man sich immer wieder selbst zitiert und wiederholt.
7 Tobias Debiel/Rainer Glassner/Conrad Schetter/Ulf Terlinden, Local State‐Building in Afghanistan and Somaliland, Peace Review 21 , 2009, 38-44, S. 41.
8 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie. Von der Unüberwindbarkeit der Modernisierungstheorie im Korruptionsdiskurs, 2007.
9 SFB Working Paper 24, 2010.
10 Andrea Behrends/Günther Schlee, Lokale Konfliktstrukturen in Darfour und dem Osten des Tschad oder: Was ist ethnisch an ethnischen Konflikten, in: Walter Feichtinger/Gerald Hainzl (Hg.), Krisenmanagement in Afrika, Erwartungen, Möglichkeiten, Grenzen, Wien 2009, 159-178.
11 GIGA Focus 7, 2010, 1-8.
12 Vgl. dazu den Eintrag vom 2. 8. 2014.
13 Bei Tanja A. Börzel/Vera van Hüllen/Mathis Lohaus, Governance Transfer by Regional Organizations, SFB-Governance Working Paper Nr. 42, Januar 2013.

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Travelling Models I: Rechtsvergleichung

Vor vier Jahren habe ich in zwei Einträgen die travelling models der Hallenser Ethnologen angesprochen. [1]Treibball in die Rechtssoziologie vom 2. Juli 2010 und Wandernde Rechtskonzepte vom 18. September 2010. Damals gab es ein Paper im Internet, das längst wieder verschwunden ist. In diesem Jahr nun ist der angekündigte Sammelband mit dem entsprechenden Titel erschienen. Die Lektüre war durchaus erfreulich, wiewohl die leise Kritik, die ich im Eintrag vom 18. 9. 2010 angedeutet habe, sich als berechtigt erweist.

Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014 [2]Das Buch ist weitgehend bei Google-Books einsehbar.

Doch bevor ich mich an einem Bericht über diesen Band versuche, muss ich ein bißchen zur Selbstverständigung reflektieren. Denn einerseits zählen Ethnologie und/oder Anthropologie zu den interessantesten Nachbarwissenschaften der Rechtssoziologie. Andererseits »ticken« die Ethnologen anders, so dass ich ständig in Gefahr bin, etwas falsch zu verstehen oder zu bewerten. Im Vorgriff auf Richard Rottenburg kann ich auch sagen: Ethnologie und (meine) Rechtssoziologie leben mit einem unterschiedlichen kulturellen Code. Unter einem kulturellen Code versteht Rottenburg das Hintergrundverständnis, das die Weltwahrnehmung und -Deutung lenkt. Soweit es um Wissenschaft geht, würde man freilich eher von einem epistemischen Paradigma sprechen. Ethnologen suchen ständig nach Vielfalt. Von nicht wenigen Rechtssoziologen wird dieses Vorverständnis geteilt. Sie sehen sich als Rechtspluralisten und suchen und schätzen die Vielfalt des Rechts. Ich selbst dagegen suche, ohne die Vielfalt zu leugnen oder gar gering zu schätzen, nach der Einfalt in der Vielfalt, das heißt, nach Konvergenz.

Dabei geht es nicht allein um Konvergenz und Differenz auf der Objektebene. Schon hinsichtlich Theorie, Methode und Themenwahl lässt sich über die Disziplingrenzen hinweg nach Konvergenz und Differenzen fragen. Die Konvergenz erscheint mir frappierend, wenn man die Parallelen zwischen Rechtsvergleichung und/oder Rechtssoziologie einerseits und Ethnologie und/oder Anthropologie andererseits ansieht. Dann erscheinen sogar fachinterne Differenzierungen, etwa die zwischen Funktionalisten und Kulturalisten, selbst wiederum als Einfalt der Vielfalt, das heißt letztlich als Konvergenz.

Bei den »Travelling Models« geht es um den Transfer von Ideen oder Konzepten zur Gestaltung der Gesellschaft. Die von den Hallenser Ethnologen als travelling models untersuchten Konzepte haben alle in irgendeiner Weise Rechtscharakter. »Travelling Law«, also der Transfer von Recht, die freiwillige oder erzwungene, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Übernahme einer ganzen Rechtsordnung oder einzelner Teile in andere Länder mit einer anderen kulturellen Umgebung ist ein Standardthema von Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie – die sich bei seiner Behandlung kaum auseinanderhalten lassen. Das Thema wird heute bevorzugt im Zusammenhang mit der Globalisierung erörtert, und dabei geht es immer wieder um Pluralität, Divergenz und Konvergenz des Rechts.

In der Rechtsvergleichung gibt es im Prinzip drei unterschiedliche Ansätze. Der erste ist die dogmatisch orientierte Regelvergleichung. Sie kommt typisch zum Einsatz, wenn in einem Gerichtsverfahren das Internationale Privatrecht auf ausländisches Recht verweist, etwa für die Frage, wie das inländische Vermögen eines hier verstorbenen Ausländers vererbt wird (Art. 25 EGBGB). Die Regelvergleichung hat zu einer enormen Anhäufung von Einzelwissen geführt, das freilich so vergänglich ist wie das positive Recht selbst.

Schon die bloße Regelvergleichung kommt nicht ohne eine funktionalistische Betrachtungsweise aus, denn die Regeln fremder Rechte sind oft anders benannt und geordnet, so dass man nicht einfach auf bestimmte Regeln zugreifen kann, sondern zunächst das Sachproblem identifizieren muss, für das eine Regel gesucht wird. In diesem Sinne ist die klassische Rechtsvergleichung seit Ernst Rabel, Konrad Zweigert und Hein Kötz funktionalistisch. Sie hat zudem ein praktisches Ziel, nämlich die Suche nach vergleichsweise besseren Problemlösungen. Diese Art der Rechtsvergleichung hat insofern Konvergenz im Hinterkopf, als sie rechtspolitisch in das Geschäft der Harmonisierung oder gar Vereinheitlichung des Rechts eingespannt ist.

Die explizit funktionalistische Rechtsvergleichung geht noch einen Schritt weiter. [3]Ausführlich zur funktionalistischen Rechtsvergleichung Julie de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo Vadis?, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht … Continue reading Sie nimmt an, dass die zu regelnden Probleme in verschiedenen Gesellschaften mehr oder weniger gleich sind, und meint, nur im Hinblick auf vergleichbare Problemlagen lasse sich das Recht überhaupt vergleichen. Mindestens hinsichtlich dieses Ausgangspunkts denkt sie universalistisch. Die funktionalistische Rechtsvergleichung entspricht damit dem Vorschlag, mit dem Walter Goldschmidt das Malinowski-Dilemma der Anthropologie lösen wollte, das Problem nämlich, das sich ergibt, wenn man einerseits soziale Institutionen als Produkt einer spezifischen Kultur erklärt, andererseits aber auch die Institutionen als solche vergleichen möchte. Dann fehlt ein tertium comparationis, wenn man nicht davon ausgeht, dass Institutionen jeweils bestimmte gleichartige Probleme lösen. [4]Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism: An Essay in Anthropological Theory, Berkeley 1966. Das ist allerdings noch nicht der Weisheit letzter Schluss, den auch Problemwahrnehmung und Definition sind nicht kulturunabhängig.

Die funktionalistische Rechtsvergleichung ist geneigt, auf globaler Ebene eine gewisse Konvergenz der Problemlösungen wahrzunehmen. Bei ihrer Vergleichsarbeit sucht sie nicht bloß nach formellem Recht, dass für die Probleme relevant ist, sondern zieht auch einschlägige informelle Institutionen heran. Damit rückt sie in die Nähe des Neoinstitutionalismus. [5]Dazu voraussichtlich demnächst Travelling Models IV.

Seit nunmehr etwa 30 Jahren hat als dritter der kulturwissenschaftliche Ansatz in Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung Eingang gefunden. [6]Ausführlicher Rechtssoziologie-Online § 15, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft. Er äußert sich in zwei ganz unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Die eine betont, dass an die Stelle von Rechtsvergleichung Rechtskulturvergleichung treten solle. Dieser Ansatz, der vor allem auf Arbeiten von Lawrence M. Friedman zurückgeht, sieht das Recht selbst als kulturelles Phänomen, das viel mehr umfasst als das offizielle Recht, nämlich das praktisch gelebte Recht und als dessen Grundlage das Rechtsbewusstsein der Menschen. Es geht gewissermaßen um eine ganzheitliche Betrachtung eines Rechtssystems oder bestimmter Teile. Bevorzugte Untersuchungseinheiten sind nationale Rechtssysteme. Dann ist etwa von den Unterschieden amerikanischer und deutscher Rechtskultur die Rede. Nicht selten wird aber auch die Besonderheit von lokalen Rechtskulturen (local legal cultures) herausgestellt.

Den Gegenpol zur funktionalistischen Rechtsvergleichung, auf den es mir hier ankommt, bildet eine kulturalistische Rechtsvergleichung, die auf Kultur als externe Umgebung des Rechts abstellt. Während der Begriff der Rechtskultur auf Systemeigenschaften des Rechts abzielt, wird »Kultur« hier als Gegenstück zum Recht verstanden, etwa wenn man sagt, das liberal-demokratische Rechtskonzept der westlichen Industrienationen vertrage sich nicht mit der islamischen Kultur (was ich nicht sage). »Kultur« als Umwelt des Rechts kann so zur Erklärung bestimmter Eigenschaften des Rechts dienen.

Die kulturalistische Rechtsvergleichung lässt sich von der Idee bestimmen, dass jede Kultur ein in sich geschlossenes Gefüge eigener Art bildet, ein Ensemble von aufeinander abgestimmten Lebensformen, Verhaltensweisen und Normen, dass die Kulturen untereinander inkommensurabel sind und dass es auch keinen neutralen Maßstab, gibt an dem sie sich messen lassen. Alle Beobachtungen und Interpretationen werden danach von der Zugehörigkeit zu einer Kultur gesteuert und sind insofern relativ. Kulturalistische Rechtsvergleichung sucht daher, anders als die funktionalistische, nicht nach Übereinstimmungen oder gar Konvergenzen in den vielen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern sie bleibt bei der Feststellung von Differenzen stehen, um sie aus dem jeweils unterschiedlichen kulturellen Kontext zu erklären. [7]Zur Kritik der funktionalistischen Methode durch »kritische Differenztheoretiker« De Coninck S. 323 ff. Konsequent führt die Wertschätzung kultureller Vielfalt auch zur Wertschätzung von rechtlicher Differenz. Wenn und weil jede Kultur ihre eigene Identität besitzt, ist sie notwendig besonders. Wenn das Recht in die umgebende Kultur eingebettet ist, so muss es notwendig anders sein. [8]Roger B. M. Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2006, 709-737. S. 711f. Da die Interpretation von Recht und damit auch die Praxis jeweils von einem kulturell geprägten Vorverständnis geleitet werde, lasse sich auch durch eine Angleichung der Regeln letztlich keine Harmonisierung des Rechts erreichen. [9]Pierre Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, The International and Comparative Law Quarterly 45, 1996, 52-81.

Da es heute stets um Globalisierung geht, kann man den Gegensatz zwischen funktionalistischer und kulturalistischer Rechtsvergleichung sehr verkürzt dahin formulieren: Die einen haben im Hinterkopf die These von der Konvergenz des Rechts im globalen Maßstab, die anderen arbeiten mit der Vorannahme, dass das Recht wie die Kultur prinzipiell vielfältig bleibt. Es steht sozusagen global legal pluralism [10]Wenn von Rechtspluralismus die Rede ist, meint man allerdings in erster Linie dass zur selben Zeit und am gleichen Ort verschiedene Rechts zur Auswahl stehen, konkurrieren oder sich bekämpfen. Zum … Continue reading gegen die Vorstellung einer globalen Konvergenz des Rechts. Der unterschiedliche Ausgangspunkt dürfte eigentlich kein Problem sein, wenn man den Gegensatz als Frage an die Empirie formuliert, nämlich als Frage, ob und wieviel Konvergenz sich beobachten lässt bzw. umgekehrt, ob und wieviel Differenz [11]Zum Unterschied von Konvergenz und Homogenität einerseits und Divergenz und Differenz im Sinne von Diversität oder Vielfalt andererseits vgl. den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der … Continue reading verbleibt.

Die Übertragung von Institutionen oder auch nur singulären Normen aus einem Rechtskreis in einen anderen wird unter Stichworten wie Einfuhr und Ausfuhr, Rezeption und Oktroyierung von Recht, Rechtstransfer, legal transplant [12]Z. B. John Stanley Gillespie, Transplanting Commercial Law Reform, Developing a »Rule of Law« in Vietnam, Aldershot 2006; Gail J. Hupper, The Academic Doctorate in Law: A Vehicle for Legal … Continue reading oder imposition of law [13]Sandra B. Burman/Barbara E. Harrell-Bond (Hg.), The Imposition of Law, New York 1979. abgehandelt. Die Stichworte konnotieren eher mit intendiertem Handeln. Daneben steht die unbeabsichtigte Diffusion von Ideen, Konzepten und auch konkreten Normierungen. Dazu im nächsten Eintrag.

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 Treibball in die Rechtssoziologie vom 2. Juli 2010 und Wandernde Rechtskonzepte vom 18. September 2010. Damals gab es ein Paper im Internet, das längst wieder verschwunden ist.
2 Das Buch ist weitgehend bei Google-Books einsehbar.
3 Ausführlich zur funktionalistischen Rechtsvergleichung Julie de Coninck, The Functional Method of Comparative Law: Quo Vadis?, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 74, 2010, 318-350.
4 Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism: An Essay in Anthropological Theory, Berkeley 1966.
5 Dazu voraussichtlich demnächst Travelling Models IV.
6 Ausführlicher Rechtssoziologie-Online § 15, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft.
7 Zur Kritik der funktionalistischen Methode durch »kritische Differenztheoretiker« De Coninck S. 323 ff.
8 Roger B. M. Cotterrell, Comparative Law and Legal Culture, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, Oxford 2006, 709-737. S. 711f.
9 Pierre Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, The International and Comparative Law Quarterly 45, 1996, 52-81.
10 Wenn von Rechtspluralismus die Rede ist, meint man allerdings in erster Linie dass zur selben Zeit und am gleichen Ort verschiedene Rechts zur Auswahl stehen, konkurrieren oder sich bekämpfen. Zum Rechtspluralismus ausführlich Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung, 2013, 1117-1128.
11 Zum Unterschied von Konvergenz und Homogenität einerseits und Divergenz und Differenz im Sinne von Diversität oder Vielfalt andererseits vgl. den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt«.
12 Z. B. John Stanley Gillespie, Transplanting Commercial Law Reform, Developing a »Rule of Law« in Vietnam, Aldershot 2006; Gail J. Hupper, The Academic Doctorate in Law: A Vehicle for Legal Transplants?, SSRN: http://ssrn.com/abstract=1126358; Vlad Perju, Constitutional Transplants, Borrowing, and Migrations, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1982230; Holger Spamann, Contemporary Legal Transplants – Legal Families and the Diffusion of (Corporate) Law, Brigham Young University Law Review, 2009, 1813-1877. Einen neuen Band zum Thema habe ich noch nicht in der Hand gehabt: Eugenia Kurzynsky-Singer (Hg.), Transformation durch Rezeption?, Möglichkeiten und Grenzen des Rechtstransfers am Beispiel der Zivilrechtsreformen im Kaukasus und in Zentralasien, 2014.
13 Sandra B. Burman/Barbara E. Harrell-Bond (Hg.), The Imposition of Law, New York 1979.

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Crude Witchcraft

Noch einmal komme ich auf den Sammelband »Crude Domination« zurück, den ich im Eintrag vom 4. 11. 2012 vorgestellt hatte [1]Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, Berghahn Books, New York 2011., nunmehr nach der Lektüre des Beitrags der schwedischen Sozialanthropologin Kajsa Ekholm Friedman (S. 107-131). Er trägt die Überschrift »Elves and Witches: Oil Kleptocrats and the Destruction of Social Order in Congo-Brazzaville«. In dem Beitrag Reynas [2]Ste­phen P. Reyna, Con­sti­tu­ting Domination/Constructing Mons­ters, 132–162. ging es um Gerüchte über Zauberei, bei Ekholm Friedman jetzt um Hexenglauben. Der deutsche Leser fragt sich unwillkürlich, ob die Übersetzung von witchcraft mit Hexerei angesichts der mit dem Ausdruck verbundenen Konnotationen angemessen ist. Aber solche Skrupel wären auch schon gegenüber dem englischen Begriff angezeigt, und man darf sich wohl damit beruhigen, dass auch Anthropologen im Deutschen von Hexerei reden [3]Vgl. Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005, S. 375-402., zumal eine handliche Alternative nicht verfügbar ist. Von Aberglauben zu reden wäre politisch unkorrekt.

Schon von Reyna konnte man lernen, wie Anthropologen nach dem Vorbild von Evans-Pritchard zwischen Hexerei und Zauberei unterscheiden. Ein Zauberer verwendet Utensilien oder greift selbst handelnd ein wie die menschenfressenden Löwenmänner. Der Hexer dagegen kann durch seine bloße Existenz Kausalverläufe zum Bösen wenden. Aber wichtiger als der Unterschied ist das Gemeinsame in den Beiträgen von Reyna und Ekholm Friedman. Beide zeigen, wie die Menschen angesichts der Verletzungen, die ihnen die ölgetriebene Modernisierung in ihrer Heimat zufügt, mit magischen Vorstellungen reagieren.

Ekholm Friedman will erklären, warum in Afrika, und speziell in Kongo-Brazzaville, häufig Jugendliche der Hexerei beschuldigt werden. Das Phänomen scheint nicht unbedeutend zu sein. Entgegen der Erwartung, dass nach der Berührung mit der Moderne okkulte Vorstellungen und Praktiken an Bedeutung verlieren, scheinen sie im Gegenteil jedenfalls in Afrika, und zwar besonders dort, wo die Menschen unter Bürgerkriegen und anderen humanitären Katastrophen zu leiden haben, eher zuzunehmen. [4]Michel Adam, Magic, Witchcraft and Sorcery in Contemporary Africa, Les Cahiers d’Afrique de l’Est IFRA Nr. 31, 2006; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft. An Anthropological … Continue reading Auf der Internetseite Modern Ghana wird unter dem 18. Juni 2012 ausführlich und mit Bildern von einer Hexenjagd im nigerianischen Bundesstaat Akwa Ibom berichtet. [5]Dave Emma, Witch Hunting Continues In Akwa Ibom State, As Government Official Backs Witch-Hunters. Ein (wohl schon etwas älteres) Video mit grausamen Bildern von einer Hexenverbrennung findet man … Continue reading ALJAZEERA meldet im November 2012, sei es in Akwa Ibom gesetzlich verboten habe, Kinder der Hexerei zu beschuldigen. Daher ist jeder Versuch, das Phänomen wissenschaftlich zu erklären, willkommen.

Ekholm Friedman stellt in einem ersten Schritt fest, dass Hexerei seit jeher einen zentralen Aspekt afrikanischer Kultur bilde (S. 108). Sie distanziert sich insoweit von der Ansicht, der Okkultismus sei eine neu oder wieder erfundene Tradition [6]So etwa Cimbric S. 1, 5., und damit auch von der These von Peter Geschiere [7]Peter Geschiere, The Modernity of Witchcraft, Politics and the Occult in Postcolonial Africa, Charlottesville [Va.] 1997. Ich hatte nur die »Leseprobe»« bei Google-Books zur Verfügung., Hexenglaube und Zaubereigerüchte seien selbst (nur) ein modernes Phänomen, weil sie als Hilfe zum Umgang mit der Angst bemüht werden, die aus der Begegnung mit der Moderne resultiert. Die aktuellen Ausprägungen im Kongo erklärt Ekholm Friedman jedoch sehr wohl als Reaktion auf die Wunden, die die missglückten Modernisierungsversuche aus der Zeit vor und vor allem nach der Unabhängigkeit gerissen haben. Der Glaube an magische Kräfte habe seine Wurzeln schon in vorkolonialer Religion, nämlich in der Idee, dass Lebenskraft von Gott über die Vorfahren und die politische Hierarchie der Könige und Häuptlinge bis hinunter zum Familienvater fließe. Die Vorstellung, dass bestimmte Menschen, über magische Kräfte verfügten, verbinde sich mit dem Glauben, dass nächtliche Träume nicht weniger real seien als die Tagwelt. Traditionell wurden übernatürliche Fähigkeiten aus der Traumwelt jedoch nur auf ältere Menschen transponiert, denen dann auch im Alltag die Fähigkeit beigelegt wurde, Böses zu tun, durchaus auch mit der Folge, dass sie als Hexer oder Hexen zu Tode gebracht wurden. Neu in den letzten 20 Jahren sei aber, dass jetzt vor allem Jugendliche der Hexerei beschuldigt und entsprechend verfolgt würden. Ekholm Friedman erklärt diese Verschiebung als Folge der Zerstörung der sozialen Ordnung und der allgemeinen Verarmung im nachkolonialen Kongo. Die Familienväter seien nicht länger in der Lage, den life spirit an die jüngere Generation weiter zu geben.

Ähnlich, aber viel ausführlicher hatte Ekholm Friedmann schon den ausufernden Fetischismus um die Wende zum 19. Jahrhundert zwar als konkrete als Reaktion auf die Zerstörung der politischen und damit der gesellschaftlichen Ordnung im Kongo erklärt, zugleich aber die unter Anthropologen anscheinend verbreitete Ansicht zurückgewiesen, Afrika habe vor der Kolonialisierung eigentlich keine eigene Religion gehabt. [8]in: Kajsa Ekholm Friedman/Jonathan Friedman, Modernities, Class, and the Contradictions of Globalization, The Anthropology of Global Systems, Lanham, MD 2008, S. 29-88.

Der mittlere Teil des Artikels (S. 110-121) bildet eine selbständige Abhandlung, die den Niedergang von Kongo-Brazaville seit der Unabhängigkeit im Jahre 1960 schildert. Es ist eine ähnlich traurige Geschichte, wie sie Reyna für den Tschad erzählt hat. Anfangs, also 1960, war Kongo-Brazzaville ein für afrikanische Verhältnisse relativ wohlhabendes und entwickeltes Land, das sogar über eine Exportindustrie verfügte. Der unabhängige Staat war jedoch von Beginn an mehr oder weniger identisch mit einer Klasse von Machthabern, bestehend aus einem hierarchischen Zentrum und umgeben von einer Peripherie schlecht bezahlter Klienten. Die politische Klasse ist (heute) selbst im Weltmaßstab reich, denn sie kontrolliert alle von außerhalb einfließenden Gelder, Einnahmen aus der Erdölförderung ebenso wie Auslandsdarlehen und Entwicklungshilfe. Die enge Kooperation mit den Ölmultis macht sie unabhängig von einer Basis in der Bevölkerung, die weder als Steuerzahler noch als Arbeitskraft gebraucht werden. Das ist der Fluch des Ölreichtums (the resource curse). Von den Öleinnahmen kassiern der Ölminister 5 %, der Präsident 10 % und der Rest dient zur Finanzierung des Staatsapparats, vor allem aber des Militärs. Die weiteren Zutaten sind schnell aufgezählt: Wiederholte, teilweise gewaltsame Umstürze, über zwei Jahrzehnte ein sozialistisches Zwischenspiel, das die Exportorientierung zugunsten einer auf Autarkie gerichteten Abkopplung vom Weltmarkt favorisierte; ein Einparteiensystems, das die mögliche Opposition vereinnahmt. Nach Einführung der Mehrparteiendemokratie auf Drängen vor allem des IMF 1990 wurde alles nur noch schlimmer. Zwar wurde der unersättlich geldgierige Präsident Denis Sassou-Nguesso 1992 abgewählt. Doch durch die Stimmabgabe entlang den ethnischen Zugehörigkeiten verschoben sich die Machtverhältnisse und das Land zerfiel in drei ethnisch geprägte Regionen. Ein neuer Politikertyp tauchte auf, der junge Männer aus der eigenen ethnischen Gruppe als Bodygards und Miliz rekrutierte. 1997 kehrte der vom Ölkonzern Elf (jetzt Total) favorisierte Sassou aus dem Exil zurück. Es folgte ein schrecklicher Bürgerkrieg, indem sich Sassou mit Söldnertruppen und ausländischer Hilfe durchsetzte. Und immer spielten der Ölkonzern und Frankreich irgendwie mit. Das Ergebnis waren die Zerstörung aller sozialen Ordnung, generelle Verarmung, Unsicherheit und Gewalt überall. Das Öl geht langsam zur Neige und Sassou ist (nach einer Wiederwahl für sieben Jahre 2009) immer noch im Amt.

Die Zerstörung der Familien und der (erst in der Kolonialzeit neu gebildeten) Clanstrukturen ließ viele Jugendliche verwahrlosen, so dass sie in Straßengangs eine neue Heimat fanden oder sich leicht von Milizen anwerben ließen. Während früher gelegentlich Kinder ihre Eltern der Hexerei anklagten, waren es nach der Bürgerkriegszeit 1992/93 umgekehrt Kinder, die derart beschuldigt wurden, meistens allerdings nicht die leiblichen Kinder, sondern verwaiste Kinder aus dem Clan, die aus traditioneller Solidarität in die Familie aufgenommen worden waren. Wenn die Fähigkeit der Familie, Lebenskraft zu spenden, versage, würden umgekehrt den Jugendlichen magische Fähigkeiten zur Zerstörung zugesprochen. Und die Betroffenen wehrten sich oft gar nicht dagegen, erlebten sie doch im Traum ihre außerordentlichen Fähigkeiten selbst. Die magischen Kräfte würden als Gegengewicht zu den aus dem Westen importierten Wundern der Technik verstanden. Und so bilde der in vorkolonialer Religion verankerte Glaube an magische Kräfte verbunden mit dem Glauben an die Realität der Traumwelten eine Art kulturellen Widerstandes gegen die westliche Zivilisation und gegen die eigene politische Klasse.

Eigentlich müsste man parallel Rainer Becks Buch über einen letzten Hexenprozesse in Deutschland lesen [9]Rainer Beck, Mäuselmacher, C. H. Beck, München, 2001., der 1717 mit der Exekution von drei »Bettelbuben« endete. Das scheitert bei mir schon daran, dass das Buch 1008 Seiten hat. Aber beim Durchblättern fällt eine Parallele auf: Während im 16. und 17. Jahrhundert der typische Hexenprozess gegen ältere Frauen gerichtet war, wurden zu Beginn des 18. Jahrhundert in Freising und anderswo vagierende Jugendliche zu Opfern. Noch stärker ist allerdings die Diskrepanz zu afrikanischen Verhältnissen. In Europa war die Hexenverfolgung eine von kirchlichen und lokalen Autoritäten minutiös bürokratisch organisierte Angelegenheit. In Afrika bleibt sie eher kollektiver Gewalt überlassen.  Und dennoch drängt sich die Frage nach Vergleichsmöglichkeiten auf. Von den Anthropologen wird sie nicht aufgenommen. Hätten nicht Kajsa Ekholm-Friedman und Jonathan Friedman in der Einleitung zu ihrem Buch von 2008 die soziologische Modernisierungstheorie so rigoros zurückgewiesen, käme man vielleicht auf die Idee, für Afrika von einer unvollendeten Modernisierung zu sprechen. So bleibt der Eindruck, die Gerüchte von Zauber und Gegenzauber und die Suche nach Hexen seien ohnmächtige Reaktionen auf die erzwungene Berührung mit einer dauerhaft fremden Moderne.

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Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andrea Behrends/Stephen P. Reyna/Günther Schlee (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, Berghahn Books, New York 2011.
2 Ste­phen P. Reyna, Con­sti­tu­ting Domination/Constructing Mons­ters, 132–162.
3 Vgl. Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg im Breisgau 2005, S. 375-402.
4 Michel Adam, Magic, Witchcraft and Sorcery in Contemporary Africa, Les Cahiers d’Afrique de l’Est IFRA Nr. 31, 2006; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft. An Anthropological Study of Contemporary Practices in Africa, Unicef Dakar April 2010.
5 Dave Emma, Witch Hunting Continues In Akwa Ibom State, As Government Official Backs Witch-Hunters. Ein (wohl schon etwas älteres) Video mit grausamen Bildern von einer Hexenverbrennung findet man auf der Seite LiveLeak.
6 So etwa Cimbric S. 1, 5.
7 Peter Geschiere, The Modernity of Witchcraft, Politics and the Occult in Postcolonial Africa, Charlottesville [Va.] 1997. Ich hatte nur die »Leseprobe»« bei Google-Books zur Verfügung.
8 in: Kajsa Ekholm Friedman/Jonathan Friedman, Modernities, Class, and the Contradictions of Globalization, The Anthropology of Global Systems, Lanham, MD 2008, S. 29-88.
9 Rainer Beck, Mäuselmacher, C. H. Beck, München, 2001.

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