Rasse als soziale Züchtung

Es ist heuchlerisch, den Rassenbegriff zu vermeiden, wenn man sich gegen Rassismus wenden will. Ein Workshop im Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (von dem ich nur aus einer Pressenotiz erfahren habe) widmet sich am 10. Februar dem Rassenbegriff. Das ist für mich Anlass, noch einmal ausführlich aus der Anthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer zu zitieren, die dieser 1977 unter dem Titel » Die gesellige Natur des Menschen« veröffentlich hatte.

Mayers Rede von der Rassen als »sozialer Züchtung« wird manchen abstoßen, wiewohl sie in der Sache antirassistisch ist.

»Die soziale Veranlagung der recenten Menschheit dürfte im Wesentlichen als gleichartig angesehen werden können. Zwar finden wir bei ethnologischen Beobachtungen sehr große Unterschiede in den Sozialstrukturen und damit auch in den sozialen Verhaltensweisen. Es ist bisher aber nirgends gelungen, diese Unterschiede aus Rassenunterschieden abzuleiten, während sie sich ziemlich mühelos historisch-soziologisch erklären lassen. … Selbst wenn wir gewisse Populationen als rassisch einheitlich bestimmt betrachten, so sind doch die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population immer viel größer als die Unterschiede zwischen den rassisch bestimmten Populationen.« (S. 14)

»Die älteren Versuche der Rassenanthropologen, die verschiedenartigen Gestaltungen, wie wir sie in Sozialformen und Sozialverhalten bei Natur- und Niederkulturvölkern vorfinden, aus Rassenunterschieden abzuleiten, überzeugen nicht. Sozialformen wirken ihrerseits züchtend und bringen verschiedenartige Typen von Menschen hervor. Hirtenkrieger (Massai) und Feldbauern (Bantu) sehen heute zweifellos verschieden aus, aber die verschiedenen Typen sind das Züchtungsergebnis verschiedener Lebensweisen.« (S. 71f)

»Der Kulturzustand der rezenten Menschheit ist überaus verschieden. In ihrer Jugendsünden Maienblüte hat die junge Wissenschaft der Genetik im Seitenzweig der Rassenlehre diese Kulturunterschiede rassenpsychologisch erklären wollen. Heute ist Mode, die Möglichkeit von Rassenunterschieden prinzipiell zu leugnen. Naturwissenschaftlich ist dies ebenso töricht, wie der vormalige Hochmut der Europäer, welche historisches Glück mit ihrer angeblich so vorzüglichen Rasse fehlerklärten. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, weil es Gleichheit in der lebendigen Natur nicht geben kann. Aber nüchterne Beobachtungen belehren uns darüber, daß diese problematischen Unterschiede nicht ausreichen, um die wirklich vorhandenen Kulturunterschiede zu erklären, so daß man von einer relativen Gleichheit der Menschen ausgehen kann. Alle Rassen sind auf allen Gebieten lernfähig, die Lernfähigkeit ist allerdings teilweise bedingt durch die von Generation zu Generation gesteigerten Traditionsvorteile.« (S. 90)

»Die Befähigung junger Jurastudenten auf afrikanischen Hochschulen, mit den Denkmitteln der englischen Präjudizienjurisprudenz umzugehen, kann einen deutschen Professor mit Neid erfüllen.« (S. 91)

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen III: Es gibt keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen

Schon der Titel des Buches macht klar: Mayer zeichnet den Menschen anders als Hobbes nicht als potentiellen Feind seines Mitmenschen. Nach dem Untertitel handelt es sich um eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«. Daher liegt es nahe, Textstellen zu zitieren, die auf Kriminalität Bezug nehmen.[1]

»Daß der Mensch von Natur aus als ζῷον πολιτικόν geneigt ist, unter gewöhnlichen Lebensbedingungen friedlich mit seinesgleichen in gesellschaftlichen Gebilden zusammenzuleben, lehrt die überwiegende Erfahrung. Daß er vermöge einer von der Natur in ihn hineingelegten Entelechie auch wirklich immer diesen Weg einschlägt und zielstrebig verfolgt, muß leider verneint werden.« (S. 2252)

»Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe [von der im vorigen Eintrag die Rede war] entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht.« (S. 64)

Dennoch ist nicht alles reine Harmonie:

» Der Mensch ist zugleich Einzelwesen mit einem sehr starken individuellen Selbstbehauptungsdrang. Der Selbstbehauptungsdrang nimmt die vitalen, der Selbsterhaltung dienenden Triebe in seinen Dienst, geht aber über deren Ziele weit hinaus und macht daher die Erscheinung des menschlichen Egoismus möglich.« (S. 64)

Aber mit der Feststellung, dass eine Verhaltensweise aus dem Rahmen des sozial Verträglichen fällt, darf nicht sogleich ein Werturteil verbunden werden. Man soll Menschen nicht deshalb als defizitär definieren, weil die friedliche Grundstruktur versagen kann: »Niemand würde es für vernünftig halten, das Auto als die Maschine zu definieren, welche Pannen erleidet.« (S. 254) So gibt es denn keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen.

»Es gibt kein empirisches Phänomen ›crimen‹, welches vor und außerhalb der Steuerungsvorgänge läge. Zwar gibt es soziale Vorgänge, welche Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft nahelegen und schließlich zur Einrichtung des Strafrechtssystems führen. Aber die Strafrechtsnorm ist logisch immer früher als das crimen, der Strafrichter (die Strafrechtsnorm) immer früher als der Straftäter. Bevor es den Strafrichter gibt, gibt es nur soziale Vorgänge, die als Störungen empfunden werden können, nicht müssen.« (S. 4)

»Die meisten Straftäter unterscheiden sich kaum vom Durchschnitt, wohl aber erleiden sie durch das Erlebnis ihrer Straffälligkeit und das Stigma der öffentlichen Strafe eine mehr oder weniger schwere psychische Schädigung. … Das Schema von Schuld und Sühne machte es dem Bürger leichter, den Mann, der seine Tat gesühnt hatte, eine neue Chance zu geben. Von äußerster Grausamkeit ist es, das künftige Verhalten des Täters vorausberechnen zu wollen und im Fall einer negativen Prognose ihn durch Dauerverwahrung zu eliminieren.« (S. 131)

»Es war eine verhängnisvolle Illusion der älteren Gefängnisreformer, wenn sie meinten, daß bloße Arbeitsgewöhnung den Menschen sozialisiere, d. h. zum Sozialverhalten dressiere. Arbeit hilft nur, wenn sie als Erfüllung der Persönlichkeit erlebt wird.« (S. 155)

»So übertrieben auch die Meinung der sozialistischen Kriminologen war, die Kriminalität sei eine Folge der Klassenunterschiede, so wahr ist es, daß im Widerspruch zwischen Gleichheitsbedürfnis und faktischen sozialen Unterschieden eine der Hauptursachen für soziale und kriminelle Konflikte zu sehen ist.« (S.165)

Fortsetzung folgt.


[1] Alle Zitate aus Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen II

Eine Grundfrage jeder Anthropologie geht dahin, ob der Mensch »von Natur aus« gesellig sei. Mayer gibt schon mit dem Titel seines Buches die positive Antwort: Zur »vitalen Grundstruktur« des Menschen gehört ein »Sozialdrang«. Die Antwort wird doppelt qualifiziert. Die Lebensform des Frühmenschen ist der Kleinstamm mit Arbeitsteilung. Diese Form wirkt auch im modernen Menschen noch nach. Offen bleibt, wie diese Nachwirkung gesichert ist, ob sie genetisch oder sozial tradiert wird. Die neuere Vorstellung epigenetischer Vererbung kannte Mayer noch nicht. Er richtet den Blick zurück auf den »Frühmenschen« und erschließt die »vitale Grundstruktur« aus historischen und prähistorischen Reminiszenzen. Das ist eine ebenso verbreitete wie anfechtbare Methode. Heute weiß man, dass genetische Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben.[1] Wie lange genetische, epigenetische oder soziale Prägungen halten, ist unklar. Mayer ist davon überzeugt, dass es eine »vitale Grundstruktur« gibt und dass sie über die Jahrtausende hält. Aber – das ist der springende Punkt seiner Anthropologie – alle Prägungen sind nur Startkapital oder Schulden an die tierische oder frühmenschliche Vergangenheit. Das Bewusstsein und seine Äußerungen als »objektiver Geist« ändern alles. Alle Antriebe, Emotionen oder Verhaltensmuster müssen nicht, aber sie können den Weg durch das Bewusstsein nehmen. Sie wirken – um es mit der Metapher zu sagen, die ich schon im letzten Eintrag verwendet habe – wie Rückenwind oder Gegenwind beim Fahrradfahren. So ist es auch mit der geselligen Natur des Menschen.

Dabei vermeidet Mayer jede Theoretisierung der Beziehung zwischen Körper und Geist. Er betont die »Doppelnatur des Menschen, der zugleich als Tier und als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß.« Der Kleinstamm bildet die elementare Form der Gesellung. Den haben wir anscheinend immer noch in den Knochen. Das könnte erklären, was in der Psychologie als In-Group-Mechanismus und in der Soziologie als Othering geläufig. Was man heute »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«[2] nennt, wäre dann nur die Kehrseite der ursprünglich geselligen Natur des Menschen. Der moderne Kampf für die Überwindung dieser Grenze ist eine geistige Errungenschaft. Er leidet darunter, dass zu bekämpfende Phänomen als (nur) sozial geprägt vorschnell in eine moralische Ecke gestellt wird. Das ist schwarze Pädagogik. Von Mayer kann man lernen, das es gilt, nicht zu tadeln, sondern zur Nächstenliebe aufzurufen. Dazu aus den nachfolgenden Zitaten vorweg:

»Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues.«

Es folgen weitere Zitate aus dem Originaltext:

»Nur wenige Tiere leben solitär, begnügen sich also mit vorübergehender geschlechtlicher Begegnung. Die meisten Tiere leben sozial, wobei recht erhebliche Sozialleistungen zustandekommen. [31]

Das soziale Verhaltensinventar ist zu reich gegliedert, als daß es von einem einzigen Strukturelement ausgelöst und gesteuert werden könnte. Ein solcher Antriebsmechanismus müßte teleologische Fähigkeiten haben, was nur Vitalisten glauben können. [35]

Die einfachste Form aller Sozialbindungen finden wir in der Brutpflege. [36]

Die Menschheit ist ohne Zweifel eine primär – nicht etwa sekundär – gesellig lebende Species. Die sozialen Antriebe ergeben insgesamt einen sehr starken Sozialdrang, der sich nicht selten bis zur Aufopferung des Einzelnen steigert. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die Menschen sich untereinander feindlich oder gar aggressiv gegenüberstünden. Dem Menschen eignet aber zugleich ein individueller Selbstbehauptungswille, wie ihn vielleicht in dieser Stärke keine andere gesellig lebende Art besitzt. Im Miteinander und Gegeneinander dieser beiden hauptsächlichen Teilstrukturen entfaltet sich das menschliche Sozialleben. [58]

Der Sozialdrang. – Geselligkeitstrieb ist ein viel zu schwacher Ausdruck – ist dem Menschen sowohl in seiner vitalen Grundstruktur mitgegeben als auch in seinem geistigen Wesen angelegt.

  1. Der vitale Sozialdrang wirkt schon vor jeder Reflexion. Vielfach ist sich der Mensch dieses seines Dranges gar nicht bewußt, wenn er ihn sich natürlich auch bewußt machen kann. Die stammesgeschichtliche Herkunft erweist den Menschen wie auch die Primaten als soziales Tier. Man hat wohl mit Recht gesagt, ein einzelner Schimpanse sei gar kein rechter Schimpanse. Der Sozialdrang ist die Voraussetzung der Homination. Wären nicht bereits die Prähominiden von diesem Drang erfüllt gewesen, wäre er nicht durch Selektion gesteigert worden, so hätte es niemals den Menschen, homo sapiens geben können. Als Einzelexemplar wäre der Mensch ein sehr schwaches und hilfloses Geschöpf, von der Natur weder zu wehrhaftem Kampf gerüstet noch zu schneller Flucht befähigt. Hätte er erst auf seine Bedürftigkeit reflektieren müssen, um sich sekundär zu Gruppen zusammenzuschließen, so wäre er längst ausgerottet worden, bevor ihm Gruppenbildung hätte gelingen können. [59] Denn die Natur hat den Menschen zum gefährlichen Leben in der Steppe gedrängt, wo er sich Raubtieren, namentlich Raubkatzen gegenüber behaupten mußte. Weil der gesellige Mensch von Haus aus in der Gruppe wohl versorgt und mächtig war, so mußte die Selektion ihm keine natürlichen Waffen und keinen panikartigen Fluchtinstinkt anzüchten, welche beide den Weg zum homo versperrt hätten.

Baumaffen haben es verhältnismäßig bequem. Gefährliches Raubzeug kann ihnen kaum nachklettern. Sie können sich also mit einem sehr primitiven Sozialleben begnügen. Bei den Pavianen ist dies bereits etwas anders. Aber nur der Frühmensch mußte sogleich die komplizierte Lebensform des Kleinstammes entwickeln. Wir heben einige Grundelemente vorläufig hervor, wie sie sich in befriedigenden Hypothesen darstellen, welche durch Beobachtungen an Wildbeutern und anderen Primitiven wahrscheinlich gemacht werden. Der Stamm muß immerhin so menschenreich sein, daß er eine hinlängliche Anzahl von Männern zum Kampf gegen Raubwild und zur Jagd auf Großtiere herausstellen kann. Nur das Großwild liefert eine für den Stamm genügende Menge Fleisch. Die Mammutjagd ist denn auch schon für sehr frühe Zeiten durch Funde erwiesen und der rezente Buschmann jagt heute noch die Giraffe. Solche Jäger müssen unter sich in fester Kameradschaft zusammenstehen, also in einem Männerbund, in welchem jeder grundsätzlich den gleichen Rang des Kriegers und Jägers besitzt, unbeschadet der Autorität des möglicherweise charismatisch vorgestellten Vorkämpfers. Nur unter dieser Voraussetzung genügt eine etwas gesteigerte Schimpansenintelligenz dazu, den Kampf mit dem Raubwild aufzunehmen und Großtiere zu jagen. Der Massaijüngling von heute erlegt zwar als Einzelkämpfer den Löwen, aber eben mit dem eisenbeschlagenen Speer. Der Frühmensch konnte nur in der Gruppe abwehren und jagen. Hatte er aber erst einmal gelernt, mit Feuer die Spitze der Holzstangen zu härten, so konnte er dem Raubzeug so schrecklich werden, daß auch heute noch die Raubkatzen auf freier Strecke den aufrecht gehenden Mann fürchten. Der Stamm kann übrigens nur leben, wenn die Frauen eine intensive Sammeltätigkeit aufnehmen. So bereitet sich sehr früh eine strenge Arbeitsteilung der Geschlechter vor, weil sie auch den Bedürfnissen der tragenden, gebärenden und stillenden Frau entspricht. Die frühzeitig einsetzende Hypersexualisierung nötigt zum dauernden paarweisen Zusammenleben. [61] Die lebenswichtige Kampfkameradschaft der Männer läßt keinen Boß aufkommen, der alle Weibchen für sich reklamiert.

  1. Auch die geistige Verfassung des Menschen ist auf soziale Verbindung ausgerichtet, wie auch Hugo Grotius den appetitus societatis nicht als Instinkt, sondern als geistige Bestimmung der Menschheit denkt. … Dabei kommen freilich sehr verschiedene Lösungen vom Nein bis zum Ja vor. Aber gewöhnlich wird die naive Verbundenheit doch auch klar gedacht und bejaht. Sentimentales, vernünftiges und auch intellektuelles Verhalten steigern sich also wechselseitig. Die egoistische Reflexion auf die soziale Interdependenz ist eine geschichtlich späte Erscheinung. [63f]
  1. Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues. Vorher ist in allen ursprünglichen Rechten der Fremde rechtlos. Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht. Der naive Sozialdrang kann sich nämlich naturgemäß nur soweit durchsetzen, als soziales Zusammenleben überschaubar ist. Der Primitive denkt und fühlt über den Kleinstamm zunächst nicht hinaus, wenn auch der Wildbeuter sich auch fremden Stämmen gegenüber relativ friedlich verhält. Sozietät setzt sprachliche Verständigung voraus. Die Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch den Griechen vom ›Barbaren‹, der vermeintlich keine Sprache hat.« [64]

Fortsetzung folgt.


[1] VanessaVillalba-Mouco u. a. , Genomic Transformation and Social Organization During the Copper Age–Bronze Age Transition in Southern Iberia, Science Advances Vol 7 vom 17. 11. 2021.

[2] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heißt das Konzept des Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, mit dem das Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in jährlich wiederkehrenden Untersuchungen nach Rassissmus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganis-mus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, der Abwertung von Obdachlosen, Behinderten, Lang-zeitarbeitslosen und nach Etabliertenvorrechten fragt.

 

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen I

Aus der Skizze einer Anthropologie aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform ist 1977 eine komplette Sozialanthropologie geworden: Die gesellige Natur des Menschen. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe nicht zuletzt den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungsverwahrten galt.

Manche Stellen dem Buch von 1977 werden dem Leser von heute anstößig erscheinen. Zumal Leserinnen werden sich empören so, wenn es S. 39 heißt:

»Der einzige Zwang, der die Handlungsfreiheit der Frau wirklich einengt, ist der Zwang der Natur, nicht die angeblich patriarchalische Gewalt des Mannes. In diese Verhältnisse greift die moderne Emanzipation der Frau ein. … Die Emanzipationsbewegung übersieht aber, daß der Mann ebenso in den Familienzusammenhang eingebunden ist wie die Frau. Die emanzipatorischen Postulate sind darum ein Protest gegen die Natur.«

Diese und andere Passagen zur Frauenemanzipation sind in der Tat problematisch. Sie vernachlässigen die Wechselwirkung von Biologie und Sozialgeschichte in Gestalt der Folgen der industriellen Revolution für die familiäre Arbeitsteilung. Darauf werde ich vielleicht in einem besonderen Abschnitt über Mayers Ausführungen zur Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern eingehen. Mayers Pointe liegt in der anthropologischen These, dass Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist sich überhaupt gegen die Natur stellen können und dass das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher auch für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Es ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt.
Ich werde nun kein Inhaltsreferat des Buches[1] liefern, sondern beschränke mich darauf, in diesem einige Fundstücke zu zitieren, die mir bemerkenswert, bedenkenswert oder gar behaltenswert erscheinen.
Heute beginne ich mit Zitaten zur vergleichenden Verhaltenslehre. Die bisherige Annahme der vergleichenden Verhaltenslehre, »der Mensch sei das nicht festgestellte Tier, ein Instinktmangelwesen, eine allen Inhalten offene Struktur« wird relativiert:

»Die neuere Verhaltensforschung legt großen Wert darauf, daß man im vitalen menschlichen Bereich ziemlich fest ausgeformte Instinkte finden kann wie etwa den Suchreflex der Säuglinge, etwa auch die Äußerungsformen, z. B. das Lächeln. Für uns ist wichtiger, daß auch im höheren Verhaltensbereich vieles dem Menschen von Natur nahegelegt erscheint, andere Wege ihm erschwert oder geradezu versperrt sind. Eine völlig offene Struktur ist der Mensch keinesfalls, er besitzt vielmehr eine halbfertige Instinktstruktur, welche zwar große, aber doch nicht jede Freiheit zuläßt.« (S. 6)

»Als Naturwesen ist der Mensch ein Säugetier. Die menschliche Verhaltenslehre muß im Rahmen der vergleichenden Verhaltenslehre gesehen werden. Allerdings hat der Mensch die grundlegende Besonderheit, daß sein soziales Verhalten ohne introspektive Betrachtung nicht einmal zu beschreiben geschweige denn zu erklären ist. Der Mensch ist ein bewußtes Wesen. Sozial-relevante Verhaltensweisen kommen nur zustande, wenn die Antriebe im Bewußtsein verarbeitet wurden … .« (S. 7)

»Wir gehen von der Doppelnatur des Menschen aus, der zugleich als Tier und »als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß. …
1. Als Tier der Mensch durch seine Leiblichkeit ausgewiesen. Auch sein neurales System erweist ihn trotz aller seiner Sonderheiten als Glied in der Säugetierreihe. Wir gehen daher von der Arbeitshypothese aus, daß die vitale Grundstruktur des Menschen zunächst mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu untersuchen ist.

2. Persönlichkeit ist der Mensch als subjektiver Geist, welcher durch die Leiblichkeit bedingt ist, diese aber zugleich in seinen Dienst stellt. Die Äußerungen des subjektiven Geistes reichen von den Anfängen halbbewußten Erlebens, also von den Empfindungen bis zu den höchsten geistigen Leistungen der Phantasie, des begrifflichen und produktiven Denkens, des bewußten verantwortlichen Willens, bis zum Gewissen und zur Selbstgestaltung der Persönlichkeit. … Die empirische Wirklichkeit des subjektiven Geistes, das Spiel der Gefühle und Empfindungen, der erlebten Antriebe und Handlungstendenzen läßt sich schlechterdings nicht von außen, sondern nur von innen, also introspektiv und analogisch verstehend erfahren.« (S. 8f)

»Nach uralter Vorstellung ist das Tier ganz, der Mensch wenigstens teilweise von Instinkten gelenkt. Der Begründer der allgemeinen vergleichenden Verhaltenslehre, Tinbergen, bezeichnet das Forschungsgebiet noch als ›Instinktlehre‹. Diese Bezeichnung ist aber insofern ungenau, als mindestens beim höheren Tier zu fragen ist, ob sein Verhalten nicht teilweise in Lernen und Nachahmung, ja sogar in einsichtigem Tun besteht. Außerdem ist die Bezeichnung Instinkt mit vitalistischen Vorstellungen belastet. Allerdings ist die Bezeichnung Verhalten auch nicht ideal und erinnert an den Irrtum des Behaviourismus, daß nur das bloß äußere Verhalten wissenschaftlich erforschbar sei. Nun sind aber beim Tier seelische Regungen zu vermuten, beim Menschen zum Verständnis seines äußeren Verhaltens unentbehrlich.« (S.19)

»Triebe sind erlebte Instinke.« (S. 23)

»Jedenfalls besitzen alle höheren Tiere die Disposition zu Nachahmungs-Lernhandlungen. Es finden sich sogar Beispiele angelernter Handlungen, wenn auch von verstandener Tradition kaum die Rede sein kann. Endlich kommen auch einsichtige, insbesondere einsichtige Lernhandlungen vor. Allerdings ist der Radius, in welchem sich die Tiere außerhalb des vorprogrammierten Regelsystems bewegen können, doch recht klein. … Aber daß diese Möglichkeit beim Tier überhaupt besteht, zeigt, daß es außer dem vorprogrammierten Verhaltenssystem auch Dispositionen zu Nachahmungs- und Lernhandlungen gibt und daß einsichtige Handlungen vorkommen. Die Existenz eines solchen Oberbaues zeigt grundsätzlich, daß es dem Prinzip eines Regelsystems nicht widerspricht, daß es von übergeordneten Zentren aus gelenkt werden kann. Anders ausgedrückt, ein Regelsystem kann darauf eingerichtet sein, gelenkt zu werden. Durch lenkende Eingriffe werden dann die vorgegebenen Instinkte nicht etwa ›frustriert‹. Diese Erkenntnis ist für den Vergleich von Tier- und Menschenverhalten wichtig.« (S. 29)

»Die entscheidende Besonderheit des Menschen besteht endlich darin, daß er Träger des subjektiven Geistes und damit Schöpfer des objektiven Geistes ist. … Wir betrachten die Phänomene des Geistes als empirische Gegebenheiten … . (S. 48)

»Grundstufe ist das menschliche Bewußtsein. Man darf auch beim höheren Tier Bewußtsein vermuten. Das menschliche Bewußtsein ist aber sehr viel reicher entwickelt als das tierische und befähigt zu bewußtem Willensentschluß, welcher beim Tier kaum vorkommt.« (S. 49)
[gegen Freud geerichtet]: »In Wahrheit stoßen wir nur an den neuralen Apparat, wo die Arbeit unseres Bewußtseins aufhört.« (S. 50)

[Fortsetzung folgt]


[1] Das Referat von Willsch liest sich wie eine buchhalterische Pflichtübung (Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980), S. 335-342).

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Eine Anthropologie für den Natural Turn

Der Natural Turn muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Meine Wahl fällt, wie bereits angekündigt, auf die Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer. Sie findet sich ausführlich in seiner letzten Veröffentlichung, einem Buch mit dem Titel »Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«, 1977. Kompakter und eindrucksvoller hatte Mayer seine Vorstellungen schon 1962 in dem Band »Strafrechtsreform für heute und morgen« formuliert als »anthropologische Grundlage« für das »Programm einer neuen Kriminologie« formuliert (dort S. 6-18). Nach dem Datum scheint Mayers Anthropologie hoffnungslos veraltet zu sein. In ihren Sachaussagen war sie umsichtiger und moderner die Soziologie ihrer Zeit und in ihrem Kern bleibt sie als eine geglückte Überwindung des Gegensatzes von Naturalismus und Sozialkonstruktivismus[1] aktuell. In den Literaturlisten etwa von Andrea Behrends oder Ulrich Bröckling finde ich nichts Besseres.

Mayer sah in einer hinreichenden Klärung der anthropologischen Voraussetzungen die Basis der Kriminologie. Die anthropologische Frage sei »zuerst von Lombroso aufgeworfen worden. Die Forschung hat mit Recht die von Lombroso angebotene Lösung verworfen, leider aber das Sachproblem liegen lassen. Weder die gründlichste Negation noch die bequeme Auskunft der üblichen Anlage-Umwelt-Theorie geben eine positive Antwort … .«. Mayer suchte die Antwort in einer »vergleichenden Verhaltenslehre«, welche »die naturwissenschaftlich erfaßbare Basis des Menschen als kausalmechanische Regelstruktur« begreift. Biologische und psychologische Verhaltensbeobachtung reiche indessen nicht aus. Ein »Gesamtbild menschlichen Verhaltens« lasse sich erst mit Hilfe der »Sozialhistorie [zeichnen], welche sechs Jahrtausende mit hinreichender Sicherheit überschauen kann. … Beide Betrachtungsweisen, sowohl die der naturwissenschaftlichen Verhaltensforschung als auch die der geisteswissenschaftlich-historischen Empirie, sind klar zu unterscheiden und dann zu verbinden.«

Mayers Texte lesen sich wie die Vorwegnahme einer Auseinandersetzung mit Steven Pinkers »Blank Slate«[2]. Zwar wendet sich auch Mayer gegen die Vorstellung des Menschen als tabula rasa. Allerdings fehlt Pinkers Polemik. Vor allem aber ist Mayer weit entfernt von dessen mechanistischen Vorstellungen über die Rolle der Gene bei der Bestimmung menschlichen Verhaltens. Von biologischem Determinismus kann bei ihm keine Rede sein. Stattdessen öffnet er eine langfristige sozialhistorische Perspektive auf die Pfadabhängigkeit des Verhaltens in den Lebensbereichen, für die Soziobiologie und evolutionäre Psychologie Natürlichkeit in Anspruch nehmen, also für Geschlechterbeziehungen und Sexualität, Verwandtschaft, Gruppenbildung, Territorialverhalten, Aggression, Gewalt und Kriminalität.

Auf das Buch von 1977 werde ich später eingehen. Einen Eindruck von Mayers Sozialanthropologie sollen zunächst Zitate aus »Strafrechtsreform für heute und morgen« verschaffen:

»[S. 6] Die Anthropologie ist in diesem Sinn ebensowohl eine naturwissenschaftliche wie geisteswissenschaftliche Disziplin. …

Der Mensch muß … zuerst einmal als bloßes Naturwesen, [S. 7]d. h. als Tier innerhalb der Tierreihe … gedacht werden. … Diese – in ihrem Bereich – wohlberechtigte zoologische Betrachtung des Menschen erbringt einen äußerst wichtigen negativen Ertrag, indem sie den Begriff des [schöpferisch gedachten] Instinktes entthront. … Es gibt in Wahrheit nur eine große Anzahl relativ stereotyper Automatismen oder Triebreaktionen, die im Effekt ganz bestimmte Zwecke bzw. Teilzwecke erreichen, ohne sie jedoch final anzustreben. Diese Automatismen werden ihrerseits bereitgestellt innerhalb eines bestimmten Appetenzverhaltens, in das sie eingeordnet sind, das aber selber keine bestimmten Handlungen vorschreibt. Diese Automatismen, d. h. dem Appetenzverhalten zugeordneten Endinstinkte sind festgelegte Schemata, die durch bestimmte Signalreize ausgelöst werden, so daß bestimmt festgelegte Handlungen oder Handlungsketten ausgeführt werden. … Dieser Handlungsplan ist starr und von sich aus keiner anpassenden Wahl fähig, er schreibt in bestimmten Reizsituationen auf bestimmte äußere Signale hin ein inhaltlich bestimmtes Verhalten vor.

… Mit dieser Instinktstruktur ist ein vielfaches Fehlverhalten unvermeidlich verbunden. Die Signalsituation garantiert nämlich im Einzelfall nicht, daß die gemeinte reale Situation vorliegt. …[S. 8] Die Art überlebt nur deshalb, weil die Instinktstruktur auf die gewöhnliche ökologische Umwelt eingestellt ist, in welcher die Signalsituationen hinreichend häufig mit der real intendierten Situation übereinstimmen. In diese ökologische Umwelt ist das Tier gewissermaßen eingesperrt. Ist die Diskrepanz zwischen der Instinktstruktur und der Variabilität der Umwelt groß, so kann die Art nur durch eine sehr große Fortpflanzungsrate erhalten werden.

Im Sinn der vergleichenden Verhaltenslehre besteht die besondere biologische Situation des Menschen darin, daß Triebe und Schemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, daß er also ohne einen festgelegten biologischen Handlungsplan zur Welt kommt.

… Der Mensch ist damit offen für jede denkbare Umwelt, soweit er sie physiologisch meistern kann. Er ist befreit von der Starrheit der Triebe und Schemata. Garantieren bereits beim Tier die Auslösesignale der Schemata nur in einer hinreichenden Zahl von Fällen, daß die real gemeinte Situation auch wirklich vorhanden ist, so würde der Mechanismus der Triebe und Schemata den heutigen Menschen unfähig machen, seine ständig wechselnden und höchst komplizierten Lebensaufgaben zu erfüllen. Diesen Aufgaben vermag er nur durch Lern- und Wahlhandlungen zu genügen.

… In bezug auf das abnorme Verhalten ist für die Situation des Menschen wesentlich, daß er aus seinem phylogenetischen Instinktgefüge, aus seiner Natur, [S. 9] herausgetreten ist, indem er sich durch die Erfindung künstlicher Waffen aus einem Pflanzenfresser zu einem Raubtier umgeschaffen hat. Es fehlt ihm also nach seiner Herkunft das für das Sozialverhalten der Raubtiere wichtigste Schema, nämlich das zwingende Demutschema, welches die Raubtiere nötigt, die Tötung des Artgenossen zu vermeiden. Nur die Raubtiere nämlich unterlassen die Tötung der Artgenossen mit Sicherheit, aber nicht etwa vermöge eines wählenden Instinktes, sondern kraft eines angeborenen Handlungsschemas, welches durch das Signal der Demuthaltung ausgelöst wird. Nimmt der unterlegene Wolf diese Haltung an, bietet er wehrlos den Hals dem tödlichen Biß dar, so kann der Sieger nicht zubeißen, sondern reagiert seine Wut durch Schüttelbewegungen in die Luft ab. Verläßt aber das unterlegene Tier die Schutzhaltung zu früh, so wird es totgebissen. Übrigens verhalten sich die Pflanzenfresser in der Frage der Tötung der Artgenossen nicht völlig einheitlich. Stärker bewaffnete Säugetiere führen untereinander im allgemeinen nur Kommentkämpfe durch, bei manchen Pflanzenfressern ist aber die wechselseitige Tötung der männlichen Tiere untereinander im Plan der Natur vorgesehen, wobei denn nur das überlebende stärkste Tier zur Fortpflanzung gelangt. … Die in der ganzen zivilisierten Menschheit heute anerkannte Moral der allgemeinen Humanität reicht weit über alle natürlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens einer Tierart hinaus.

Es beruht also gerade die Möglichkeit des höheren menschlichen Lebens darauf, daß der Abbau der Instinkte und Triebe ihn von einem biologisch festgelegten sozialen Handlungsplan befreit. Mit dieser Erkenntnis ist die rein naturwissenschaftliche Anthropologie am Ende ihres Weges angelangt.

Erst das eigentlich Menschliche des Menschen, seine geistig-psychische Struktur befähigt ihn zur Lösung der sozialen Aufgaben, [S. 10] die außer dem Menschen kein anderes Lebewesen sich stellt. Sicherlich wurzelt dieses Humanum in biologischen Tiefenschichten, ohne daß es aber aus diesen abgeleitet werden könnte, da es etwas schlechthin Neues darstellt. Dieses Neue ist das »Ich«, die sich selbst gestaltende bewußte Persönlichkeit, die ihre geistigen Inhalte entnimmt aus den im sozialen Leben vorhandenen objektiven geistigen Gehalten, oder doch in Verbindung mit diesen schafft oder umgestaltet. Subjektiver und objektiver Geist sind nur der »geschichtlichen« Betrachtung, nicht dem naturwissenschaftlichen Denken erreichbar, sind aber nicht minder real als die Gegenstände der Naturwissenschaft.

[Der Mensch] ist zwar keiner Wachstafel zu vergleichen, in welche man alles eintragen könnte, wie das 18. Jahrhundert gelegentlich wähnte. … Aber keine Persönlichkeitsstruktur weist an sich auf bestimmte soziale Inhalte hin. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß das Verbrechen aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zustande komme, ist deshalb schief, weil sie den Irrtum nahelegt, als sei der Mensch vermöge seiner Anlage überhaupt auf irgendeinen bestimmten sozialen Weg gewiesen, der dann nachträglich und von außen her von der Umwelt irgendwie beeinflußt oder abgelenkt werden könnte. In Wahrheit empfängt der Mensch alle seine sozialen Handlungsantriebe, sozialen Handlungsvorstellungen und sozialen Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben mit anderen. …

[S. 12] Grundsätzlich muß zuletzt betont werden, daß beim Menschen alle Triebe und Schemata, alle geistig-seelischen Strebungen den Weg durch das bildende Bewußtsein nehmen. Dieses bildende Bewußtsein ist eingebettet in den objektiven Geist, d. h. in die verstehende Gemeinschaft der Menschen. Die Frage, wie das Wunder des normalen sozialen Zusammenlebens zustande kommt, ist daher erst von der Soziologie zu beantworten.

Die Antwort auf die so gestellte Frage lautet: Der Mensch kommt zu planvollem Handeln dadurch, daß er als geistiges Sozialwesen dazu veranlagt ist, das in einer historischen Gemeinschaft herrschende Gemeinschaftsurteil sich anzueignen, welches in der normalen Reizsituation für den Einzelnen denkt und durch den Einzelnen hindurch handelt. Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Handlungsinhalte selbst, kein Einzelner vermöchte jemals den Weg von der Einzelerfahrung bis zum sinnvollen Handeln für sich allein zurückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur die Sozialvorstellungen der Allgemeinheit auf den Einzelfall an.«

Soweit die Zitate (kursiv wie im Original). Es lohnt sich, die S. 6- 18  in Mayers »Strafrechtsreform für  heute und morgen« vollständig nachzulesen. So gewinnt man nicht zuletzt auch einen Eindruck von dem lebendigen Schreibstil des Autors.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Wer eine aktuellere Darstellung dieses Ggensatzes und der Möglichkeiten einer Überbrückung sucht, sei auf den schönen Aufsatz von Sebastian Schüler, Zwischen Naturalismus und Sozialkonstruktivismus: Kognitive, körperliche, emotionale und soziale Dimensionen von Religion, Zeitschrift für Religionswissenschaft. 2014. S. 5-36, verwiesen.

[2] Steven Pinker, The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York, NY 2002/2016 (Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur, 2003/2017); Kurzfassung: Pinker, The Blank Slate, The General Psychologist 41, 2006, 1-8.

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Zweite Natur und Naturalisierung – Auf der Suche nach einer Anthropologie

Der Begriff der Naturalisierung deckt sich nur zum Teil mit dem der zweiten Natur. Er ist insofern enger, als er darauf abstellt, dass Teile der zweiten, der sozialen Natur des Menschen, den Anschein erwecken, als gehörten sie zur ersten Natur. Diese Bedeutung ist zunächst von Karl Marx und später vor allem durch Bourdieu geprägt worden. Bourdieu spricht auch von Hexis und meint damit, dass bestimmte biologisch kontingente Verhaltensweisen so fest eingeprägt sind, als seien sie angeboren. Solche Prägung hat zur Folge, dass die Verhaltensweise nur sehr schwer zu ändern ist. Sie hat unvermeidlich aber auch normative Konsequenzen, denn daran schließt die normative Kraft des Faktischen. Hier ist diese Kraft doppelt stark, denn sie knüpft nicht nur an Normalität, sondern auch an den Anschein der Natürlichkeit, mit dem sich die Vorstellung verbindet, dass das Natürliche auch das Richtige sei. Daher ist es verständlich, dass im sozialen Diskurs Behauptungen, dass bestimmte Verhaltensweisen natürlich seien und deshalb akzeptiert werden müssten als (falsche) Naturalisierung zurückgewiesen werden. Diese Zurückweisung ist weithin so rigoros, dass Natürlichkeitsargumente als schlechthin indiskutabel gelten. Das geht jedoch zu weit.

Der Mensch ist kein Stichling. Dennoch darf hier an die Diskussion erinnert werden, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden.[1] In Deutschland betrieb insbesondere Hellmuth Mayer (1896-1980)[2] die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen, zusammenfassend in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen« von 1962. 15 Jahre später schrieb er noch eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«.[3] Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind wohl die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken. Irritierend für viele Leser sind vermutlich viele Beispiele, die Mayer als Soldat und »teilnehmender Beobachter« während des ganzen Ersten und anfangs auch noch des Zweiten Weltkriegs festgehalten hat. Erstaunlich sind die ethnologischen Beobachtungen aus Afrika, die sich daraus erklären, dass eine Tochter Mayers mit einem Nigerianer verheiratet war und ein Jahrzehnt als Ärztin in Tansania verbracht hatte.

1965 war ich als junger Richter für ein Jahr auf die Assistentenstelle am Kriminologischen Seminar der Kieler Universität abgeordnet. Hellmuth Mayer wurde mein Doktorvater. Damals bestand das »Seminar« aus dem schon emeritierten Mayer als Direktor, einer Sekretärin und einer kleinen Bibliothek. 2012 wurde aus dem Seminar ein »Institut«. In seiner »Institutsgeschichte« hat es die Anfänge unter Hellmuth Mayer vergessen. Als ich dort ankam, hatte das Kieler Kriminologische Seminar erfolgreiche Jahre hinter sich. Unter Mayers Anleitung konnten sich dort vier Strafrechtler[4] habilitieren. Der junge Privatdozent Friedrich Geerds nutzte das Seminar als Fließband für Dissertationen, die alle nach dem gleichen Muster als Aktenuntersuchung abliefen. Er zog dann als Ordinarius nach Frankfurt a. M. Wolfgang Naucke, ein scharfsinniger Kantianer, ergriff die Gelegenheit, um zusammen mit dem damals in Kiel tätigen Soziologen Paul Trappe auf die Rechtssoziologie aufmerksam zu machen (und ist dafür verantwortlich, dass ich den Weg von der Kriminologie zur Rechtssoziologie gefunden habe). Trappe hatte 1959 in Mainz über die Rechtssoziologie Theodor Geigers promoviert. 1962 gab er einen umfangreichen Band heraus, der Arbeiten zur Soziologie von Theodor Geiger enthielt, von denen einige zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. 1964 erschien der von Trappe edierte Neudruck von Geigers »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts«. Im gleichen Jahr wurde Trappe nach Kiel berufen, wo er zusammen mit Wolfgang Naucke in Seminaren und Veröffentlichungen Grundlagen für die in den Folgejahren aufblühende Rechtsoziologie legte. Auch Naucke wurde nach Frankfurt berufen. Friedrich W. Krause, ursprünglich Staatsanwalt, später in Mannheim und Würzburg, erwarb sich Verdienste besonders um Kriminalistik und Strafprozess. Joachim Hellmer schließlich nahm sich besonders der Sicherungsverwahrung an, die Mayer stets als grausam angesehen hatte. Er wurde Mayers Nachfolger als Seminardirektor, nachdem zwischenzeitlich Hilde Kaufmann diese Stelle innegehabt hatte.

Hellmuth Mayer war zu seiner Zeit als Anders-Mayer bekannt, weil er häufig anderer Meinung war als die Mehrheit seiner Fachkollegen. In Assistentenkreise hieß es, auf der Suche nach einem interessanten Thema könne man stets bei Mayer fündig werden. Damit bin ich nach einem kleinen Umweg wieder beim Natural Turn. Eine naturalistische Ethik muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Hellmuth Mayers Buch über »Die gesellige Natur des Menschen«, die eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht« bieten sollte, kann da nicht als repräsentativ und maßgeblich gelten. Aber das buch ist immer noch eine Fundgrube. In der nächsten Fortsetzung werde ich daher voraussichtlich einige Fundstücke aus diesem Buch vorzeigen.


[1] Davon zeugt der Band von Fritz Sack/René König (Hg.), Kriminalsoziologie, 1968.

[2] Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980). Vom Verteidiger im Hitler-Prozess 1924 zum liberal-konservativen Strafrechtswissenschaftler; das vielgestaltige Leben und Werk des Kieler Strafrechtslehrers, 2008.

[3] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977.

[4] Friedrich Geerds, WolfgangNaucke, Friedrich Wilhelm Krause und Joachim Hellmer.

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