Methodologischer Soziologismus und Genetic Turn

Wandern an sich ist langweilig. Aber angenehme Gesellschaft und ein nicht alltäglicher Weg, auf dem es etwas zu erforschen gibt, lässt es zum Vergnügen werden. Ich bin den Freunden dankbar, die mich jedes Jahr im August wieder zu einer Wanderung antreiben. In diesem Jahr sind wir nach dem Motto »Warum in die Ferne schweifen …« auf dem Wupperweg an der Quelle in Börlinghausen gestartet, um zu erforschen, wie die Wipper zur Wupper wird.

Bis zum Einbruch des Dauerregens zeigte sich das Bergische Land von seiner besten Seite, viele Stunden mit Wäldern und Auen ohne den Blick auf Windräder, Freileitungen oder Gebäude. Und obwohl Ferienzeit und die Großstädte von Dortmund bis Köln in weniger als einer Autostunde zu erreichen sind, war sonst absolut niemand unterwegs. Warum die Wipper zur Wupper wird, ist mir nicht ganz klar geworden. An diesem gewaltigen Zufluss wird es nicht liegen.

Zu entdecken war stattdessen eine nachhaltige Moderne in Gestalt von 15 Stauseen, die sich an der Wupper aufreihen. Sie sehen aus, als wären sie immer schon dagewesen, und tatsächlich sind sie fast alle schon über 100 Jahre alt. Wer genauer hinsah, konnte an den Anfangs- oder Endpunkten der Etappen auch einige von Deutschlands Hidden Champions entdecken, versteckt nicht nur zwischen den Stars und Skandalnudeln der Weltwirtschaft, sondern eben auch im Tal der Wupper.

Wenn man gemeinsam durch Wälder und Auen läuft, spricht man über viel Wichtiges und Unwichtiges. Ein Thema sind natürlich auch Kinder und Enkelkinder. Und alsbald waren da Beobachtungen über die Ordnungsliebe der einen, die noch die Krümel vom Tischtuch fegen, und die Unordnung der anderen, die von Kleidung und Frisur einmal abgesehen, jedenfalls im häuslichen Bereich alles um sich fallen lassen. Erklärungsversuche scheiterten zunächst daran, dass gerade auch unter Geschwistern das Verhältnis zur Ordnung als extrem variabel beschrieben wurde. Bis dann jemand einwarf: Meine Freundin hat gesagt, dass ihre Freundin, die Psychiaterin, immer gesagt habe, der Ordnungssinn liege in den Genen. Da habe ich natürlich (?) protestiert. Im Anschluss an die abendliche Bierphilosophie habe ich mir dann aber die Frage gestellt, ob ich vielleicht soziologisch verbildet bin und unter methodologischem Soziologismus leide.

Es ist heute verpönt, Verhaltens- und Charaktereigenschaften auf Anlagefaktoren zurückzuführen. Eine solche Argumentation gilt als biologistisch und, sobald sie geschlechtsspezifisch wird, als sexistisch, und sie hat gerade einen Google-Mitarbeiter seinen Job gekostet. Aber auf der anderen Seite beobachte ich derzeit Anzeichen eines genetic turn. Google kennt ihn zwar noch nicht. Aber Indizien sind nicht zu übersehen.

Im Bielefelder ZIF hat im vergangenen Jahr eine Forschungsgruppe Genetische und soziale Ursachen von Lebenschancen ihre Arbeit abgeschlossen. In der Beschreibung heißt es

»Neuere Forschungen belegen, dass soziale Ungleichheiten, soziale Mobilität und soziale Integration ebenso substantiell genetisch beeinflusst sind wie Persönlichkeits- und Fähigkeitseigenschaften. Daher sollte auf die ›Tabula rasa‹-Metapher, die insbesondere die sozialwissenschaftliche Forschung noch weitgehend leitet, für die Erklärung von Lebenschancen verzichtet und die Berücksichtigung genetischer Einflüsse integriert werden.«

Die DFG fördert seit 2014 ein Langzeitvorhaben Twin Life, das mit großem Aufwand die altbekannte Zwillingsforschung fortsetzt.[1] Es handelt sich um »eine auf zwölf Jahre angelegte repräsentative verhaltensgenetische Studie zur Entwicklung von sozialer Ungleichheit«. Die beiden Projekte sind nicht ganz unabhängig voneinander, weil in beiden der Bielefelder Soziologie Martin Diewald im Mittelpunkt steht. Sie zeigen aber doch, dass Behavioral Genetics auch für Soziologen[2] wieder zu einem Thema geworden ist.

Dazu kommt die Neubewertung der Epigenetik. Nach der klassischen neo-darwinistischen Theorie ist für das Evolutionsgeschehen ausschließlich die genetisch bedingte Variabilität von Bedeutung. Von epigenetischer Vererbung hält sie wenig.[3] Das hat sich inzwischen wohl geändert. Epigenetische Vorgänge beruhen auf biochemischen Prozessen, die den Zellen das Ablesen von bestimmten Teilen des genetischen Codes ermöglichen oder verhindern. Diese Prozesse wiederum werden auch von Umwelteinwirkungen beeinflusst. Sie sind anscheinend teilweise vererblich. Die Vererblichkeit ist aber reversibel. Sie reicht nur über eine oder wenige Generationen. Während also Diekmann und Engelhardt 1995 über die »soziale« Vererbung des Scheidungsrisikos sprachen[4], darf man heute über eine epigenetische Vererbung des Scheidungsrisikos (oder der Ordnungsliebe) spekulieren.

________________________________________________

[1] Dazu etwa Espen Røysamb/Kristian Tambs, The Beauty, Logic and Limitations of Twin Studies, Norsk Epidemiologi 26, 2016, 35-46.

[2] Für Genetiker und Psychologen war es immer ein Thema; vgl. Robert Plomin/John C. DeFries/Valerie S. Knopik/Jenae M. Neiderhiser, Behavioral Genetics, 6. Aufl. 2013. dies., Top 10 Replicated Findings From Behavioral Genetics, Perspectives on Psychological Science 11, 2016, 3-23.

[3] Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 2008; S. 62.

[4] Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 215-228.

Ähnliche Themen

2 comments on “Methodologischer Soziologismus und Genetic Turn

  • Sehr geehrter Herr Prof. Röhl,
    Womöglich erscheint es Ihnen ungewöhnlich, dass ich ca. 2 Jahre nach der Veröfffentlichung Ihres Blogbeitrages Methodologischer Soziologismus und Genetic Turn einen Kommentar dazu hinterlassen möchte. Ich arbeite als freier Journalist (z.B. für IDG) und Redakteur bei einer Werbeagentur (Medienstürmer) in München, habe Geschichte studiert (Magister) und lese regelmäßig die ZEIT.
    Mit großer Begeisterung (und der ein oder anderen Erschütterung angenommener Gewissheiten) habe ich in der letzten Ausgabe (41/2018) den Beitrag „Sie werden, was sie sind” gelesen. Darin fasst Robert Plomin, ein führender Experte für die Erforschung der erblichen Grundlagen menschlichen Verhalten, mehr als 800 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema „Zusammenspiel von Genen und Umwelt” zusammen und kommt doch zu Recht “revolutionären” Befunden.
    Nach einer Stunde auf dem Laufband hatte ich sozusagen so etwa wie ein Epiphanie und schrieb eine WhatsApp Nachricht in meine Arbeitsgruppe: „Heureka: ich prognostiziere euch dass wird der nächste Paradim Shift in den Wissenschaften … In begrifflichen Anlehnung an den Spatial Turn oder Linguistic Turn kommt jetzt der Genetic Turn haha wer Wettet dagegen 😜”
    Habe mir fast schon gedacht, dass ich sicher nicht der erste bin, der den Begriff „Genetic Turn” verwendet, war aber doch sehr überrascht, dass Ihr Blogbeitrag so mitunter die einzige Online-Quelle darstellt, die bislang auf den Begriff aufgehüpft ist.
    Aufgrund der Dichte an Studien und ähnlichen Ergebnissen aus anderen Fächern – wie zum Beispiel epigenetische Forschungen, auf die Sie ja auch in Ihrem Blogbeitrag hinweisen – besteht für mich wenig Grund die Erkenntnisse von Herrn Plomin anzuzweifeln. Die Wucht an Anfeindungen, die er zudem gerade in den USA erlebt, scheint mir – zumindest aus historischer Perspektive – ebenfalls als Ausweis dafür, dass er da etwas “Größerem” auf der Spur sein könnte.
    Und warum ist es eigentlich verpönt „Verhaltens- und Charaktereigenschaften auf Anlagefaktoren zurückzuführen”? Ich sehe darin eher die Chance einer Art „Tiefenentspannung”, also Wut und Schuldzuweisungen aus gesellschaftlichen Debatten in Zukunft mehr herauszunehmen.
    Für seine Gene kann man ja noch am Wenigsten und warum sollte man nicht die „Umwelt” in Zukunft so anpassen, dass jeder mit seiner individuellen genetischen Dispositionen gleiche oder realistischer: ähnliche Chancen bekommt? Und Eltern dürfen sich wohl ein bisschen mehr entspannen, was sogenannte “Fehltritte” in der Erziehung angeht.
    Allein: ich sehe nicht nur die Soziologie gefordert, diesen paradim shift – wie man ihn letztendlich nennen mag, ist ja zweitrangig, genetic turn böte sich aber an – in Zukunft ernster zu nehmen. Ich sehe da auch besonders die Pädagogik und noch mehr Psychoanalyse in der Pflicht diese und ähnliche Erkenntnisse Ernst zu nehmen und bisherige Forschungsansichten daran zu messen.
    Hat mich jedenfalls gefreut, auf ihren Blogbeitrag zu stoßen und mich in meiner Einschätzung – gerade als „Nichttätiger” im wissenschaftlichen Betrieb – von wissenschaftlicher Seite bestätigt zu wissen. Dankeschön. Und bitte fühlen Sie sich nicht verpflichtet, darauf zu antworten. Das war einfach eine schöne Gelegenheit, auch mal eine Kommentarfunktion so zu nutzen wie sie ja mal ursprünglich gedacht war, ehe die ums ich greifende Shitstormmentalität jedweden Kontruktivismus den Gar aus machte 😉
    Mit freundlichen Grüßen,
    Benjamin Schulz (b.schulz@medienstuermer.de)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.