Der Emotional Turn und die Rechtswissenschaft

Der Leerlauf des Rechtsgefühls

Seit Jahrzehnten wird der emotional turn[1] beschworen und mit dem üblichen cultural lag ist er im Recht[2] und dann auch in Deutschland angekommen.[3]

Von einem emotional turn ist die Rede, weil die Psychologie, wohl schon seit den 1980er Jahren, dem Thema größere Aufmerksamkeit widmet. Der turn kommt aber auch mit einer inhaltlichen Tendenz. Allgemein ist der emotional turn darauf gerichtet, den Gegensatz von Ratio und Emotion, Verstand und Gefühl zu überwinden. Wie bei solchen »Wenden« üblich, wird das Angriffsobjekt zunächst mit Tendenzbehauptungen aufgeplustert. Die Kommunikation wird immer emotionaler. Werbung, soziale Netzwerke und Politik emotionalisieren immer mehr usw. usw. Sodann wird theoretisch mit dem Leib-Seele- Dualismus ein Dummy aufgebaut, indem Verstand und Gefühl dichotomisch gegeneinander gesetzt werden. Dem Recht wird mit dem suffocating narrative of law-as-reason[4] eine grausame Hintergrundtheorie attestiert. Licht in dieses Dunkel bringen Bücher wie »Die Rationalität des Gefühls«[5] von Ronald de Sousa oder von Antonio R. Damasio »Descartes’ Irrtum«[6] und »Im Anfang war das Gefühl«[7]. Jetzt erfahren wir, dass es keine Kognitionen und kein Denken ohne Gefühle gibt, auch wenn diese sich oft der Wahrnehmung entziehen, und wir werden zugleich darüber belehrt, dass Rationalität und Gefühle nicht als Gegensätze verstanden werden dürfen. Diese »Versöhnung« kommt überraschend, bildet doch die ebenso unvermeidbare wie unsichtbare und unberechenbare Emotionalität einen wichtigen Ausgangspunkt für Kritik an der von der Jurisprudenz in Anspruch genommenen Rationalität und Objektivität. Die Frage drängt sich auf, ob ein neues Verständnis von Emotionalität am Ende sogar die Black Box der Werturteilskomponente juristischer Entscheidungen belichten könnte.

Der Versuch zu verstehen, was der emotional turn der Rechtswissenschaft bringt, hat mich in den Abgrund der Interdisziplinarität gestürzt. Bei dem Versuch, in die Emotionspsychologie und Emotionssoziologie einzudringen, hat sich das Gefühl breit gemacht, ins Bodenlose zu fallen.[8] Hilfsbereite Menschen erklären mir, der Jurist sei selbst schuld, wenn er versuche, in fremden Fächern zu dilettieren. Der Witz der Interdisziplinarität bestehe doch gerade darin, dass Angehörige verschiedener Disziplinen zusammenarbeiteten. Doch interpersonelle Zusammenarbeit funktioniert anscheinend nur begrenzt. Man braucht die anderen als Auskunftspersonen. Doch wenn man sie machen lässt, kommt zwar immer wieder Interessantes heraus. Aber die praktisch relevanten Fragen bleiben unbeantwortet. Ein einschlägiges Beispiel gibt das »Research Handbook on Law and Emotion«, herausgegeben von Susan A. Bandes u. a., 2021. Da erfahren wir, dass die wissenschaftliche Befassung mit Recht und Emotion enorm wichtig ist, dass sie bisher vernachlässigt wurde, und dass es dazu viele Ansätze gibt. Alles ist enriching, fasccinating, gelegentlich sogar critical. Aber das war es dann auch.[9]

Ein Grund für meine Enttäuschung ist wohl, dass »die anderen« auf die entscheidenden Fragen gar keine direkten Antworten haben. Der Interdisziplinaritätsimperativ stützt sich auf die Hoffnung, das andere Disziplinen auf die vielen Fragen, auf die die Jurisprudenz keine »wissenschaftliche« Antwort weiß, bessere Auskunft geben könnten. Doch diese Hoffnung wird immer wieder enttäuscht. Das werden »die anderen« selten oder nie zugeben. Stattdessen antworten sie auf Fragen, die ihnen nicht gestellt wurden oder ihre Antworten bleiben so unbestimmt und auslegungsbedürftig wie die Rechtsnormen, die es doch gerade mit Inhalt zu füllen gilt.

Bei den Juristen findet der emotional turn einen Anknüpfungspunkt im Rechtsgefühl. Die Literatur zum Rechtsgefühl erlebt seit bald zehn Jahren eine neue Konjunktur. Aber geredet und geschrieben wird nur über das Rechtsgefühl als solches. Über seine Inhalte erfährt man wenig, noch weniger darüber, wie das Rechtsgefühl zu seinen Inhalten gelangt oder wie es sich auf soziales Verhalten und juristische Entscheidungen auswirkt.

Eine erste Konjunktur hatte die Rede vom Rechtsgefühl um die Wende zum 20. Jahrhundert, ausgelöst durch die Rektoratsrede Gustav Rümelins »Über das Rechtsgefühl«, die 1871 veröffentlicht wurde. Die Konjunktur dauerte bis in die 1920er Jahre an.[10] Eine zweite Konjunktur gab es nach 1970. Sie begann mit der so genannten KOL-Forschung, die sich darum bemühte, Rechtskenntnisse und Einstellungen zum Recht dingfest zu machen.[11] Dabei stand die Frage nach Rechtskenntnissen im kognitiven Sinne nur am Anfang. Weiter und tiefer ging die Suche nach Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl. Für die Rechtstheorie wurde »Rechtsbewusstsein« zu einer Generalklausel für metajuristische Reflexionen, wie sie in dem von Ernst-Joachim Lampe 1997 herausgegebenen Band versammelt sind.[12]

Ausgehend von den USA dominierte bald das Label legal consciousness, das sich als Rechtsbewusstsein übersetzen lässt.

»Legal consciousness has been one of the most studied, discussed, and debated concepts in law and society research over the last thirty years.«[13]

Viele suchten unter dieser Überschrift, wie zuvor die KOL-Forschung, nach support for the legal system.[14] Das damit angedeutete Konzept wurde jedoch von der Schule der Critical Legal Studies verworfen. Die einflussreiche amerikanische Rechtssoziologin Susan S. Silbey machte geltend, legal conciousness als theoretisches Konzept und empirischer Forschungsansatz habe sein kritisches Potential verloren. Einst sei das Konzept entwickelt worden, um zu zeigen, wie das Recht seine institutionelle Macht verteidigen könne, obwohl es konstant hinter seinen Versprechungen zurückbleibe. Aber jetzt diene es im Gegenteil dazu, die Funktionsfähigkeit des Rechts für bestimmte Gruppen und Interessen zu verbessern.[15]

Nun, wie beim Schweinezyklus, eine neue Welle, befördert durch Ästhetik[16] und Neue Phänomenologie.[17] Die von Landweer und Koppelberg herausgegebenen Sammelbände[18] sind in einer Reihe »Neue Phänomenologie« erschienen, der Band von Scarinzi[19] als »Contribution to Phenomenology«. Hier überschneidet sich der emotional turn mit der Körpersoziologie der Neuen Phänomenologie. Embodiment ist das Stichwort. Sensual turn[20] passt auch. Schon beinahe ein Nachzügler ist der Juristenband von Thorsten Keiser, Greta Olson und Franz Reimer »Rechtsgefühle – Die Relevanz des Affektiven für die Rechtsentwicklung in pluralen Rechtskulturen« (2023), der die Thematik auf die kulturwissenschaftliche Schiene schiebt.

Vielversprechend beginnt der Beitrag von Julia Hänni zu einem der Sammelbände, wenn sie erklärt, dass bereits der Vollzug kognitiver Wahrnehmungen gefühlsgeleitet ist:

»Der Apriorismus des Emotionalen prägt als Vorbedingung des Verstehens das Erschließen der Außenwelt – und zwar als ›Vorwertung‹ im Sinne eines primären emotionalen Unterscheidungsvermögens, das sich auf die Differenzierungsleistung der Wahrnehmung selbst stützt: Es ist eine Vorwertung durch eine gefühlsgeleitete Stellungnahme, die im Wahrnehmungsvollzug bereits gegeben ist, und eine Fähigkeit, welche die Dinge der Welt positiv und negativ differenziert und so die Besonderheit erfahrbar macht.« [21]

Nun möchte man gerne wissen, welche Gefühle im Zuge der Urteilsbildung Vorwertungen mit sich bringen, wo diese Gefühle ihren Ursprung haben und welcher Art die von ihnen bewirkten Vorwertungen sind. Stattdessen schwenkt Hänni auf das Rechtsgefühl, von dem wir nur erfahren, dass es so etwas gibt. Es bleibt bei der immer wiederholten Feststellung, dass Gefühle bei Urteilen eine Rolle spielen und vielleicht bei einzelnen Beispielen, in denen der Zusammenhang von Gefühl und Urteil nahezuliegen scheint.

Man redet über das Rechtsgefühl, aber – anders als die KOL-Forschung – weder über seine Inhalte noch darüber, was die Inhalte ausmacht und was sie bewirken. Der Leerlauf des Rechtsgefühls hat einen Grund darin, dass Law and Emotion zu einem Law & Something-Fach aufgeplustert wird, so etwa von Maroney[22]:

Man stürzt sich auf die Randgebiete und umgeht den zentralen Fragenkomplex, den emotion theory approach, für den die Psychologie zuständig ist. So erfährt man wunderbare Dinge etwa über Gefühle in Geschichte[23] und Literatur[24], aber wenig über konkrete Ursachen, Auslöser und Wirkungen von Gefühlen. So wird man auch in die Ästhetik entführt, nur um zu entdecken, dass »das Gefühl« ein Grundbegriff der philosophischen Ästhetik war oder ist, der sich gegen fremddisziplinäre Aufladung sträubt, wie sie von Psychologie und Soziologie und vielleicht auch von der Genetik zu erwarten ist. [25] Das Rechtsgefühl läuft leer.

Diese Feststellung verlangt nach einer Fortsetzung. Die ist in Vorbereitung und folgt demnächst hier.


[1] Andere sprechen vom emotive turn (Gary S. Schaal, Österreischische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39, 2010, 139) oder von der »emotiven Wende« (Oliver W. Lembcke/Florian Weber, Emotion und Revolution,  Österreischische Zeitschrift für Politikwissenschaft 39, 2010, 139).

[2] Für das Recht hat Greta Olson den emotional turn als affective turn rezipiert (The Turn to Passion: Has Law and Literature become Law and Affect?, Law & Literature 28, 2016, 335–353; dies., From Law and Literature to Legality and Affect, 2022).

[3] Der emotional turn erfasst auch andere Disziplinen. So unterhält das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung seit 2013 ein Webportal Geschichte der Gefühle. Cihan Sinanoglu/Serpil Polat, konstatieren einen affective turn der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften: Rassismusforschung in Bewegung, in: Rassismusforschung I, 2023, 7-22, S. 14.

[4] Terry A. Maroney, A Field Evolves: Introduction to the Special Section on Law and Emotion, Emotion Review 2016, 3–7.

[5] Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, 2009 (The Rationality of Emotion, 1987; Rezension von William Lyons, Philosophy and Phenomenological Research 50, 1990, 631-633).

[6] Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum, 2004. Dazu Martin J. Jandl, Das antinomische Paradigma der Hirnforschung am Beispiel von Damasios Descartes‘ Irrtum, e-Jounal Philosophie der Psychologie, Juli 2010.

[7] Antonio R. Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, 2017.

[8] Die Übersichtsartikel, die ich gefunden habe, haben mir nicht wirklich weitergeholfen: Susan A. Bandes/Jeremy A. Blumenthal, Emotion and the Law, Annual Review of Law and Social Science 8, 2012, 161-181; Renata Grossi, Understanding Law and Emotion, Emotion Review 2015, 55–60.

[9] Eine Rezension von Riccardo Vecellio Segate, Navigating Lawyering in the Age of Neuroscience: Why Lawyers Can No Longer Do Without Emotions (Nor Could They Ever), Nordic Journal of Human Rights 2022, 268–283.

[10] Darüber hat Sandra Schnädelbach in ihrem Buch »Entscheidende Gefühle« (2020) berichtet. Miloš Vec hat dieses Buch in der FAZ vom 8. 1. 2021 gewürdigt (»Der dunkle Grund des Rechts«).

[11] Adam Podgorecki u. a., Knowledge and Opinion about Law, 1973; Die Stichworte waren Rechtskenntnisse, Rechtsbewusstsein und/oder Rechtsgefühl (legal knowledge, opinion about law; legal consciousness; sense of justice, sens juridique). Dazu Rsozblog vom 9. 3. 2020: Noch einmal Bourdieu, jetzt mit Rechtsbewusstsein.

[12] Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[13] Kathleen E. Hull, Legal Consciousness in Marginalized Groups, The Case of LGBT People, Law & Social Inquiry 41, 2016, 551-572, S. 551.

[14] Austin Sarat, Support for the Legal System, American Politics Quarterly 3,1975, 3–24. Zehn Jahre später schwenkte Sarat auf die Linie der Critical Legal Studies ein: Legal Effectiveness and Social Studies of Law: On the Unfortunate Persistance of a Research Tradition, Legal Studies Forum 23, 1985, 23–31.

[15] Susan S. Silbey, After Legal Consciousness, Annual Review of Law and Social Science 1, 2005, 323-368. Immer wieder angeführt, aber kaum ausgewertet wird in diesem Zuammenhang Patricia Ewick/Susan S. Silbey, The Common Place of Law: Stories from Everyday Life, 1998.

[16] Gertrud Koch/Christoph Möllers/ Thomas Hilgers/Sabine Müller-Mall (Hg.), Affekt und Urteil, 2015. Der Band lässt vom Titel her nicht erkennen, dass er auf der Rechtsästhetikwelle schwimmt. Er geht auf die Jahrestagung 2012 des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« zurück.

[17] Sigrid G. Köhler/Sabine Müller-Mall/Florian Schmidt/Sandra Schnädelbach (Hg.), Recht fühlen, 2017.

[18] Hilge Landweer/Dirk Koppelberg, Recht und Emotion I: Verkannte Zusammenhänge, 2017; Hilge Landweer/Fabian Bernhardt, Recht und Emotion II: Sphären der Verletzlichkeit, 2017.

[19] Alfonsina Scarinzi (Hg.), Aesthetics and the Embodied Mind, 2015.

[20] Im Blog »Recht Anschaulich« hatte ich 2012 ausführlich über den sensual turn geschrieben, nachzulesen im im Blogbuch in Einträgen vom 6. 10. 2012 (S. 12f), 2. 4. 2012 (S. 25ff) und vom 10. 2. 2012 (S. 40ff). Diese Einträge sind dann in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012, S. 51-75 unter dem Titel Zur Rede vom multisensorischen Recht. Ein kumulativer Tagungsbericht gedruckt worden.

[21] Julia Hänni, Gefühle als Basis juristischer Richtigkeitsentscheidungen, in Gertrud Koch u. a., Affekt und Urteil, 2015, 133–141.

[22] Terry A. Maroney, Law and Emotion: a Proposed Taxonomy of an Emerging Field, Law and Human Behavior, 30, 2006, 119–142.

[23] Joel F. Harrington, Der Henker als Flugschrift-Autor: Bewusste und unbewusste Darstellung von Gefühlen, in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, April 2015, Sebastian Ernst, Gefühlsräume und gefühlte Räume – räumlich strukturiertes Fühlen am Beispiel des »Kerkers«, in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, Oktober 2015. Das Research Handbbook on Law and Emotion (2021) enthält ein ganzes Kapitel mit fünf Artikeln über die History of Legal Emotions.

[24] Nancy E. Johnson, Impassioned Jurisprudence. Law, Lterature, and Emotion, 1760-1848, 2015.

[25] Brigitte Scheer, Art. Gefühl, in Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe Bd. 2 2001, 629-660. Die Ästhetik hat freilich ähnliche Probleme mit der psychologischen Einordnung des Gefühls wie die Jurisprudenz; dazu Bjarne Sode Funch, Emotions in the Psychology of Aesthetics, Arts 11, 2022, 76, 11 S.

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Der Kulturwissenschaftler als Wendehals

2006 hatte Doris Bachmann-Medick den Translational Turn ausgerufen. 2011 hat sie nachgelegt:

»Ein Ende der Wende-Spirale scheint kaum in Sicht – was in jüngster Zeit geradezu körperliche Reaktionen hervorruft: ›Schwindel‹, ›Schleudertrauma‹, ›drehwurmträchtige‹ Verunsicherungen und andere Irritationen«.[1]

Ein Turn in den Kulturwissenschaften ist die kleine Münze des Paradigmenwechsels, wie er von Thomas Kuhn 1976 beschrieben wurde. Für einen Paradigmenwechsel braucht es eine wissenschaftliche Revolution. Für Turntaking Behavior in den Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich als Kulturwissenschaften verstehen, langt eine neue Mode.

Ich zähle über 30 Turns. Auf der Turntable der Theorieangebote liegt zurzeit die Ästhetik vorn, nicht nur im Alphabet. Hier meine Sammlung in alphabetischer Reihenfolge:

Aesthetic turn, aural turn[2], behavioral turn, body turn, commercial turn[3], cultural turn, design turn[4], digital turn, emotional turn[5], ethical turn[6], genetic turn, germanistic turn, iconic turn; interpretive turn[7], linguistic turn, material turn, medial turn narrativist turn, performative turn, pictorial turn[8], postcolonial turn, punitive turn[9], reflexive turn, security turn; spatial turn[10], speculative turn[11], systemic turn[12]; temporal turn, textual turn, translational turn, turn to the jewish legal model[13], turn of reader-response criticism[14], visual turn.

Wem wird da nicht schwindelig?

Vielleicht gibt es ein Mittel gegen den Schwindel. Ich werde es demnächst einmal mit dem natural turn ausprobieren. Den gibt es bisher nur als Tanzschritt. Warum nur die Emscher renaturieren? Warum nicht die Kulturwissenschaften?

Nachträge: Übersehen habe ich den schon nicht mehr ganz aktuellen empirical turn in der Rechtswissenschaft: Gregory Shaffer/Tom Ginsburg, The Empirical Turn in International Law, American Journal of International Law 106, 2012, 1-46; Niels Petersen, Braucht die Rechtwissenschaft eine empirische Wende?, Der Staat 49, 2010, 435-455.

Lawrence B. Solum hat den Aretaic Turn ausgerufen, die Wende zu einer Tugendethik des Rechts (The Aretaic Turn in Constitutional Theory, Brooklyn Law Review 70, 2004, 475-532).

Einen abductive turn konstatiert Jo Reichertz, Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl. 2013, S. 36.

Für das Recht hat Greta Olson den emotional turn als affective turn rezipiert (The Turn to Passion: Has Law and Literature become Law and Affect?, Law & Literature 28, 2016, 335–353).

Paul Blokker und Chris Thronhill meinen, man könne jetzt von einem constitutional turn in sosciology und einem sociological turn in constitutionalism reden (An Introduction, in: dies. [Hg.], Sociological Constitutionalism, 2017, 1-32, S. 6).

»The Anthropological Turn« lautet der Titel des Beitrags von Elif Özmen zu einem von Jan-Christoph Heilinger/Julian Nida-Rümelin herausgegebenen Sammelband »Anthropologie und Ethik« (2016, S. 19).  Heft 2/2023 der Zeitschrift »Theologie und Glaube« erscheint als Themenheft »Theologie nach der anthropologischen Wende?«.

Eine neue Buchreihe (2022) herausgegeben von Aida Bosch und Joachim Fischer, trägt den Titel »Vital Turn: Leib, Körper, Emotionen«.

Durch einen Blogpost von Linda Nell bin ich auf den »normative turn« der Systgemtheorie aufmerksam geworden. Nell verweist auf Lyana Francot-Timmermans/ Emilios Christodoulidis,  The Normative Turn in Teubner’s Systems Theory of Law, Netherlands Journal of Legal Philosophy, 3, 2011, 187-190.

Gwinyai Machona hat beobachtet, dass in der deutsche Philosophie (nicht aber in der Rechtwissenschaft) im Jahr 2020 ein »(kleiner) postcolonial oder critical turn« eingeläutet worden sei (Das Provenienz-Problem der Rechtswissenschaften, Kritiche Justiz 33, 2022, 437-452. S. 442).

Der emotional turn war mir geläufig. Jetzt stoße ich auf »den affective turn der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften (Cihan Sinanoglu/Serpil Polat, Rassismusforschung in Bewegung, in: Rassismusforschung I, 2023, 7-22, S. 14).

Über den »contemporary realist turn in philosophy« schreibt Katrin Felgenhauer, Seinsbegegnung. Nicolai Hartmann und das zeitgenössische Bedürfnis nach Realität, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 68 , 2020, 261-274. Das Zitat ist aus der Zusammenfassung. Im Text ist von einer »Renaissance des Realismus« die Rede.  Vorläufer war der naturalistic turn (Lena Gunnarsson, The Naturalistic Turn in Feminist Theory: A Marxist-realist contribution, Feminist Theory 14, 2013, 3-19. In der Wissenschaftsphilosophie wird dieser Turn Willard van Orman Quine‘s ›Two Dogmas of Empiricism‹ zugeschrieben.

Habe ich ganz vergessen:  Im Blog »Recht Anschaulich« hatte ich 2012 ausführlich über den sensual turn geschrieben, nachzulesen im im Blogbuch in Einträgen vom 6. 10. 2012 (S. 12f), 2. 4. 2012 (S. 25ff) und vom 10. 2. 2012 (S. 40ff). Diese Einträge sind dann in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012, S. 51-75 unter dem Titel Zur Rede vom multisensorischen Recht. Ein kumulativer Tagungsbericht gedruckt worden.

Im Museum Reina Sofia in Madrid gab es 2022 eine Ausstellung Graphic Turn.

In den 1990er Jahren sprach man von einem deliberative turn (vgl. Antonio Floridia, The Origins of the Deliberative Turn, in: The Oxford Handbook of Deliberative Democracy, 2018, 35-54). Um die gleiche Zeit wurde aus der Rechtssoziologie der social movement turn ausgerufen (Scott L. Cummings, The Social Movement Turn in Law, Law & Social Inquiry 43, 2018, 360-416).

Auch der epistemic turn war um diese Zeit geläufig (vgl. Catherine Z. Elgin, Relocating aesthetics: Goodman’s Epistemic Turn, Revue Internationale de Philosophie, 43, 1993, 171-186). Eine spezielle Version bietet der epistemic decolonial turn (Ramon Grosfoguel, Globalization and the Decolonial Option, 2010, 65-77). Rike Sinder entdeckt im Naturrechtsdenken des lateinischen Mittelalters den rational turn (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 108, 2022/2, 163–190).


[1] Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.3.2010.

[2] Als Beleg für diesen und manche andere: Hartmut Bleumer/Rita Franceschini/Stephan Habscheid/Niels Werber, Turn, Turn, Turn?: Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende?, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43, 2013, 9-15.

[3] Dominik Baumgarten, Product Placement in der (digitalen) Gegenwartsliteratur: Ein »Commercial Turn«?, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43, 2013, 128-131.

[4] Wolfgang Schäffner, The Design Turn Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung, in: Claudia Mareis u. a. (Hg.), Entwerfen – Wissen – Produzieren 2010, 33-46.

[5] Konstanze Senge, Die Wiederentdeckung der Gefühle. Zur Einleitung, in: Konstanze Senge/Rainer Schützeichel (Hg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie, 2013, 11-32, S. 11

[6] Bogner Alexander, Jenseits der Konsensillusion. Der »Ethical Turn« und die Pluralität ethischer Beratungsorgane in: Ethik und Politikmanagement, 2014, 39-58.

[7]Elizabeth S. Anker/Bernadette Meyler, Introduction, in: Elizabeth S. Anker/Bernadette Meyler (Hg.), New Directions in Law and Literature, New York, NY 2017, S. xxx.

[8] Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Wittgenstein eingeleitete »sprachphilosophische Wende« = linguistic turn (nach dem Titel einer 1967 von Richard Rorty herausgegebenen Anthologie) war die Mutter aller turns. Die visuelle Wende brachte den pictorial turn (nach W. J. T. Mitchell, ArtForum International März 1992, 89). Die Begriffe sind aber nicht vergleichbar. Linguistic turn meint einen neuen Ansatz der Philosophie; pictorial turn dagegen bezieht sich empirisch darauf, dass die elektronischen Medien neben Zahlen und Text überall auch Bilder verfügbar machen.

[9] Simon Hallsworth, Rethinking the Punitive Turn: Economies of Excess and the Criminology of the Other, Punishment & Society 2, 2000, 145-160; Fritz Sack, Der weltweite ›punitive turn‹: Ist die Bundesrepublik dagegen gefeit? In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Unsichere Zeiten, 2010, 229–244.

[10] Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften,  2. Aufl. 2009.

[11]Levi R. Bryant/Nick Srnicek/Graham Harman (Hg.), The Speculative Turn, Continental Materialism and Realism, Melbourne, [Victoria] Australia 2011.

[12] Lucia Urbani Ulivi (Hg.), The Systemic Turn in Human and Natural Sciences, 2019.

[13]Suzanne Last Stone, In Pursuit of the Counter-Text: The Turn to the Jewish Legal Model in Contemporary American Legal Theory, Harvard Law Review 106, 1993, 813-894.

[14] Steven Mailloux, The Turns of Reader-Response Criticism, in: Charles Moran/Elizabeth Penfield (Hg.), Conversations, Contemporary Critical Theory and the Teaching of Literature, 1990, 38-54.

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