Der halbierte Naturalismus der Philippa Foot

Der Aristotelische Naturalismus will Natürlichkeitsargumente wieder hoffähig machen.[1] Zu einiger Prominenz hat es Philippa Foot gebracht. So hatte ich einige Hoffnung auf ein gutes Ende des Natural Turn in ihre 2001 erschienene Abhandlung »Natural Goodness« gesetzt.[2] Die Hoffnung wurde geweckt, weil Foot die »Lebensform« der Spezies Mensch zur Basis ihres Naturalismus macht. Auf den ersten Blick bietet sie damit eine anthropologisch begründete Ethik. Doch, wie so oft, der erste Blick täuscht.

In dem von Thomas Hoffmann und Michael Reuter herausgegebenen Sammelband »Natürlich gut« mit »Aufsätzen zur Philosophie von Philippa Foot« (2010) wird einige Kritik geübt. Aber die Zustimmung oder gar Bewunderung überwiegt. Zwei Kritikpunkte bleiben unterbelichtet, die Zirkularität des Arguments[3] und die Lücke, die der Sprung von der subrationalen ersten Natur des Menschen zu seiner zweiten kulturellen Natur hinterlässt[4]. An diesen beiden Kritikpunkten will ich meine Enttäuschung festmachen.

Foot will »über etwas schreiben, das man ›natürliche Qualität und natürlichen Defekt bei Lebewesen‹ (natural goodness and defect in living things) nennen kann« (S. 18). Sie verankert ihren ethischen Naturalismus in der Natur des Menschen, indem sie dessen Fähigkeit, sich an Gründen zu orientieren, als wesentliches Merkmal seiner »Lebensform« postuliert. Diese Fähigkeit nennt sie praktische Rationalität. Normative Urteile im eigentlichen Sinne fordern ein in irgendeiner Weise durch Willen und Verstand gelenktes Verhalten ein, wie es nur dem Menschen möglich ist. Menschen verfügen, wie schon die meisten Tiere, über soziale Fähigkeiten. Sie haben darüber hinaus ein Selbstbewusstsein, dass ihnen zu intellektuellen Fähigkeiten verhilft, darunter die auch die Empfänglichkeit für Gründe. »Denn das Handeln nach Gründen ist eine grundlegende Weise menschlichen Verhaltens.« (S. 36) Es ist »Tatsache, daß Menschen Wesen mit der Fähigkeit sind, Handlungsgründe anzuerkennen und entsprechend zu handeln« (S. 43). Unzugänglichkeit für Gründe gilt Foot als natürlicher Defekt. Somit gehört praktische Rationalität zur Natur des Menschen.

Für das Konzept der Lebensform bezieht sich Foot (S. 46ff) ausführlich auf einen Aufsatz von Michael Thompson[5] – und weckt dadurch die Hoffnung auf eine anthropologische Grundlegung. Michael Thompson hat den Begriff der Lebensform ausgearbeitet. Er meint, die üblichen Definitionen des Lebens mit einer Liste von »Merkmalen des Lebendigen«[6] bildeten eine stabile Einheit, so dass man in einen Zirkel gerate, wenn man eines von ihnen separat zu erläutern versuche. Leben zeige sich nicht im Abstrakten, sondern werde nur in lebendigen Individuen wirklich. Zwischen dem abstrakten Begriff des Lebens und dem konkreten Individuum steht die Spezies (Gattung, Art), die Thompson »Lebensform« nennt. Über die Lebensformen lassen sich daher allgemeine Aussagen machen[7]. Hinsichtlich solcher Aussagen über die Spezies oder Lebensform spricht Thompson von naturhistorischen Urteilen (natural-historical judgements). Diese Benennung leitet er von Aussagen ab, wie man sie typisch in Wander- und Naturführern findet, wenn es dort etwa heißt: Hier leben Rotluchse. Die Fellfarbe der Körperoberseite reicht von blassgelb bis rötlich braun. Im Frühling bringt der weibliche Rotluchs zwei bis vier Junge zur Welt. Später lernen die Jungen, Kaninchen, Hasen und andere Kleintiere zu jagen[8]. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Allsätze, denn die Aussage muss nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen, sondern um Urteile über typische Eigenschaften, die auch dann »wahr« sind, wenn sie nicht bei allen Individuen zutreffen. Man hat auch schon Rotluchse mit schwarzem Fell gefangen.

Thompson verwendet einigen Aufwand darauf zu begründen, dass Aussagen über eine Lebensform allgemeingültige Urteile sind, wiewohl sie nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen. Dazu bemüht er insbesondere die Kategorienlehre des Aristoteles. Diese Bemühungen laufen darauf hinaus, dass sich Lebensformen durch typische Eigenschaften und Prozesse auszeichnen, mit einem anderen Ausdruck, durch Normalität.

Spannend wird Thompsons Gedankengang durch die anschließende Frage, ob naturhistorische Urteile, also allgemeine Aussagen über eine Spezies oder Lebensform, normativer Art sind[9]. Seine Antwort schillert, ist aber doch letztlich negativ. Naturhistorische Urteile scheinen jedoch einen »verborgenen normativen Unterbau«[10] zu haben. Sie liefern die Maßstäbe oder Standards für die Exemplare der Gattung. Der Züchter wird ein Pferd nach seinem Körperbau als wohlgebildet und geeignet für den Rennsport einstufen, der Kenner eine Rose als besonders schönes Exemplar ihrer Gattung. Von einer Katze mit drei Beinen könnte man sagen, sie sei defekt, von einer Pflanze, die wuchert, sie sei krank. Mit solchen Aussagen werden normative Kategorien, die eigentlich nur menschlichem Verhalten gelten, auf die subrationale Natur angewendet. Normalität, Anormalität und Anomalien = »natürliche Defekte« sind stets »lebensformrelativ«. Dabei handelt es sich zwar um »künstliche Kategorien«[11]. Aber letztlich sind alle Begriffsbildungen künstlich. »Naturhistorische Urteile«, welche die Lebensform einer Spezies beschreiben, seien deshalb nicht normativ.

Foot entwickelt an Hand der Lebensformen ein Konzept »natürlicher Normen« (S. 44ff).

»In meiner Sicht steht moralische Bewertung nicht im Gegensatz zur Tatsachenbehauptung, sie hat vielmehr mit Tatsachen einer besonderen Art zu tun – genauso wie Bewertungen solcher Dinge wie Sehvermögen und Geör bei Tieren sowie anderer Aspekte ihres Verhaltens. Ich denke, niemand würde etwas anderes als eine Tatsache darin sehen, daß mit dem Gehör einer Glucke etwas nicht in Ordnung ist, die das Schreien ihres eigenen Kükens nicht ausmachen kann – ebenso wie mit dem Sehvermögen einer Eule, die im Dunkeln nicht sieht. Nicht weniger offensichtlich ist es, daß es Bewertungen gibt, die auf der Lebensform unserer eigenen Spezies basieren – Bewertungen des Sehvermögens von Menschen, ihres Gehörs und Gedächtnisses, ihrer Konzentration usw. die objektiv sind und Tatsachen zum Ausdruck bringen. Warum scheint es dann so abwegig, daß sich auch die Bewertung des menschlichen Willens an Tatsachen der menschlichen Natur und des Lebens unserer Spezies orientieren muß?« (S. 42f)

Was natürlich gut ist, ist für jede Spezies verschieden. Nur die formale Struktur der Bewertung bleibt gleich (S. 72). Die Analogie lautet dann, »daß Menschen darauf angewiesen sind, daß Moral vermittelt und befolgt wird« (S. 33), ähnlich »wie die Bienen auf Stacheln« (S. 66; ein Vergleich, der auf Peter T. Geach zurückgeht). Offen bleibt damit zunächst die Frage nach dem Inhalt von Moral oder Tugend.

Natürliche Normen kommen nur Lebewesen zu. Sie ergeben sich aus »aristotelischen Kategorien«, das sind solche Eigenschaften einer Spezies, die »unmittelbar oder mittelbar, mit Selbsterhaltung (zum Beispiel durch Verteidigung oder Nahrungsaufnahme) oder mit der Fortpflanzung des Individuums (wie beim Nestbau) zu tun haben« (S. 51). Es geht um Aussagen, »die mit der Teleologie der Lebewesen[12] dieser Art zu tun haben« (S. 51). Daraus werden Normen abgeleitet, die von einem Exemplar der betreffenden Spezies sagen, »daß es (dieses Individuum) so ist wie es sein sollte, oder aber, daß es in einer bestimmten Hinsicht mehr oder weniger defekt ist« (S. 54).

»Die Frage ist also, ob Eigenschaften und Vollzüge von Menschen in Bezug auf ihre Rolle im menschlichen Leben gemäß dem Schema der natürlichen Normativität bewertet werden können, das wir bei Pflanzen und Tieren entdeckt haben.« (S. 61)

An dieser Stelle ist die Frage nur noch rhetorisch, war sie doch zuvor schon positiv beantwortet worden. Nun ist man gespannt, aus welchen »Eigenschaften und Vollzüge von Menschen« natürliche Normen abgelesen werden sollen.

»Begrifflich wird die Qualität von Eigenschaften und Vollzügen durch den spezieseigenen Bezug auf Überleben und Fortpflanzung bestimmt; denn nichts anderes als Überleben und Fortpflanzung nach der Art der jeweiligen Spezies ist das Gute in der botanischen und zooologischen Welt. An diesem Punkt kommen die Fragen ›Wie?‹, ›Warum?‹ und ›Wozu?‹ An ein Ende. Das ist natürlich anders, wenn wir uns mit Menschen beschäftigen. … Die Teleologie des Menschen erschöpft sich nicht im Überleben allein.« (S. 64f).

Da würde man gerne zustimmen. Doch wo bleibt die Natur? Aristotelisch notwendig sei, was für Gutes erforderlich sei (S. 68). Aber was ist das menschlich Gute, wenn es nicht bloß in Selbsterhaltung und Fortpflanzung besteht und die Bewertung menschlichen Handelns »dieselbe begriffliche Struktur hat wie die Bewertung von Vollzügen in der sub-rationalen Welt des Lebendigen« (S. 72)?. Die »Lebensform« einer Spezies zeigt sich nicht in einer Momentaufnahme, sondern in der »Naturgeschichte«.

»Es gibt wahre Aussagen wie ›Menschen machen Kleider und bauen Häuser‹, die sich vergleichen lassenmit ›Vögel haben federn und bauen Nester‹. Und so gibt es auch Aussagen wie ›Menschen führen Regeln ein und erkennen Rechte an‹.« (S. 75).

Regeln und Recht mit welchem Inhalt? Der Inhalt ergibt sich nicht aus biologischen und psychischen Merkmalen des Menschen, sondern aus seiner Rationalität, von der Foot zeigen will, »daß es Merkmale gibt, die all den Bewertungen gemeinsam sind, die man ›Bewertungen des rationalen Willens des Menschen‹ nennen kann« (S. 96). Dazu erfahren wir, wie praktische Rationalität arbeitet, vor allem, dass sie keinen Unterschied macht zwischen moralischen und anderen Vernunfturteilen. Foot zitiert das harm principle John Stuart Mills, nachdem nur solche Handlungen moralischer Beurteilung zugänglich sind, die sich auf andere Menschen oder die Gesellschaft negativ auswirken, und erklärt, dass bloß törichte oder selbstzerstörerische Handlungen nach der gleichen Logik bewertet werden. Wenn Rationalität nicht zu Ergebnissen gelangt, die nach der Vorstellung Foots rational sind, ist sie mit einem natürlichen Fehler behaftet.

In welche Richtung der »rationale Wille des Menschen« führen müsste, um nicht als fehlerhaft zu gelten, zeigt das 6. Kapitel, nämlich zu »Glück und Wohl« des Menschen. Das eigentliche, »tiefe« Glück findet Foot nach dem Vorbild des Aristoteles in tugendmäßiger Betätigung – im Gegensatz zu trivial kindlicher Zufriedenheit oder gar dem Lustgewinn aus boshaftem Verhalten. So gerne der Leser diesen Überlegungen zustimmen möchte, so sehr muss er bezweifeln, dass es sich insofern um eine kulturelle Universalie handelt, die als natürliche Lebensform des Menschen gelten kann. Wenn das Streben nach »Glück und Wohl« in diesem höheren Sinne zur natürlichen Lebensform des Menschen gehörte, wären Moralphilosophie und Ethik wohl überflüssig.

Das Buch endet mit einem lesenswerten Kapitel über Immoralismus, wie ihn Platon dem Sophisten Thrasymachos in den Mund legt und wie ihn Nietzsche als eigene Überzeugung verkündet. Hier erfahren wir, dass reine Freundschaft, echte Barmherzigkeit und wahre Liebe zur Gerechtigkeit natürliche Qualitäten der Spezies Mensch bilden.

»Wenn Nietzsche bestritt, daß Handlungsbeschreibungen wie ›Verletzung‹, ›Unterdrückung‹ ›Vernichtung‹ usw. notwendig einen Widerspruch zur Tugend der Gerechtigkeit – ungerechtes Handeln – signalisieren, daß also derartige Handlungen moralisch als solche falsch seien, dann gab es dafür keine stimmige psychologische Grundlage. Seine Auffassung ist meines Erachtens völlig verkehrt und zudem gefährlich. Selbstverständlich widerstreitet sie den Prinzipien der natürlichen Normativität, wie sie in diesem Buch erläutert wurden.« (S. 148)

Um Nietzsche die »psychologische Grundlage« abzusprechen, muss man wohl von der Vorstellung von psychischen und moralischen Grundintentionen ausgehen. Das wäre aber gerade der psychologische Naturalismus, den Foot vermeiden will. Ihr Naturalismus ist indirekter. Er wird durch die praktische Rationalität vermittelt, die zur Lebensform des Menschen gehört. Doch diese Vermittlung läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Praktische Rationalität, wie sie Foot versteht, ist mehr als bloße Reflexivität. Sie hebt den struggle of life nicht nur technologisch auf die Ebene der Zweck-Mittel-Rationalität, sondern verhilft ihm zugleich zu moralischen Schutzvorkehrungen. Foots praktische Rationalität orientiert sich definitionsgemäß an Handlungszielen, die etwas Gutes für den Menschen darstellen.[13] Oder in (unkritisch gemeinten) Formulierungen von Pauer-Studer: Praktische Rationalität richtet sich nach den Bedingungen der Moral: »In Natural Goodness reduziert Foot praktische Rationalität auf eine Konzeption guter Gründe, die von den Tugenden her vorgegeben werden.«[14]. Foots praktische Vernunft ist von vornherein eine werthaft verfasste Vernunft. So wird in die Lebensform des Menschen hineingelegt, was danach als natürliche Normativität herausgeholt wird.

Foots Naturalismus ist nicht nur zirkelhaft, sondern auch inkonsequent, sozusagen ein halbierter Naturalismus, halbiert, weil der immer wieder angestellte Vergleich mit den Lebensformen von Pflanzen und Tieren nicht durchgehalten wird. Der Sprung von der subrationalen ersten Natur zur praktischen Rationalität lässt eine Lücke. Die Analogie zu pflanzlichen und tierischen Lebensformen bleibt unvollständig, wenn Rationalität als einziges Merkmal herausgegriffen wird. Damit lässt Foot alle Probleme hinter sich, die daraus folgen, dass der Mensch nicht nur Geist, sondern auch Leib ist. Diese Lücke wird indirekt von Anton Leist angesprochen:

»Wenn man … nur die Bedeutung des logos für eine zweite, eben kulturell herausgearbeitete menschliche Natur betont, übersieht man leicht die nötigen biologischen Voraussetzungen für diese zweite Natur.«[15]

Um die Lücke zu schließen, müsste man die empirische Anthropologie zu Rate ziehen. Deren Minimalaussage wäre wohl: Die Lebensform des Menschen unterscheidet sich von der tierischen wohl dadurch, dass alle Handlungen, die der Lebenserhaltung und Fortpflanzung dienen, ihren Weg durch das Bewusstsein nehmen können und damit praktischer Rationalität zugänglich sind. Doch damit ist die Biologie nicht abgeschafft. Menschliches Gedeihen gibt es nur in der Verbindung von Körper und Geist. Zur Lebensform des Menschen gehören unabdingbar unter anderem die Heterosexualität und historisch vielleicht auch der Kleinstamm und/oder die Kleinfamilie.[16] Foot weist solche Gedanken gleich zu Beginn zurück, indem sie sich dagegen verwahrt, der Lebensform des Menschen eine bestimmte Sexualmoral zu entnehmen, indem sie sagt:

 » …that by natural goodness I emphatically do not mean the goodness thought by many to belong for instance, to some but not other sexual practices because some but not others are ›natural‹.« (2001 S. 3 = 2014 S. 18).

Dieser Vorbehalt wird für den Leser um so unverständlicher, je länger er liest, wird er doch geradezu »emphatisch« mit natürlichen Lebensformen konfrontiert. Die ständige Bezugnahme auf solche Lebensformen fordert dazu heraus, die Möglichkeit eines normativen Rekurses auf die subrationale erste Natur jedenfalls zu bedenken, so wie es heute selbstverständlich ist, wenn menschliches Verhalten gegenüber der außermenschlichen Natur in Rede steht. Foot und Thompson richten sich zwar an philosophische Fachkollegen. Sie müssen aber damit rechnen, dass auch unbedarfte Juristen, die einen Alltagsnaturalismus mitbringen, ihre Texte lesen. Juristen könnten Foot etwa mit der Frage konfrontieren, ob eine Verfassungsbeschwerde gegen den 2017 geänderten § 1353 I 1 BGB moralisch zulässig oder gar geboten wäre. Gefordert ist deshalb eine Erklärung, was genau den moralischen Rekurs auf natürliche Lebensformen einschränkt oder gar blockiert. Die Antwort, die Foot geben könnte, liegt nahe: Die Empfänglichkeit für Gründe führt zu der Überzeugung, dass die relevante Gleichheit zwischen Menschen stärker ist als alle Abweichungen von einer typischen Lebensform. Wenn es um Moral und Recht geht, ist der Gleichheitssatz stärker als die subrationale Natur. Wenn also Heterosexualität die typische »Lebensform« des Menschen sein sollte, folgte daraus keine Sexualmoral. Homosexualität und Transsexualität sind und bleiben Teil der Natur des Menschen, auch wenn sie aus der »Lebensform« herausfallen. Die Möglichkeit der Reflexion über biologische Funktionalität macht es möglich, Sexualität von der Reproduktionsfunktion gedanklich und dann auch praktisch zu trennen. Deshalb mag man z. B. Menschen, die sich gegen eigene Kinder entscheiden, aus anderen Gründen loben oder tadeln, man kann ihnen aber jedenfalls keinen Verstoß gegen die Natur vorwerfen. Ich würde aber nicht so weit gehen, die rechtliche Privilegierung der Bio-Ehe, wie sie in vielen Staaten noch immer Gesetz ist und wie sie zum Programm einiger politischer Parteien auch in Europa gehört, als Menschenrechtsverletzung oder umgekehrt als naturrechtlich fundierte Forderung einzuordnen. Diversität ist auch für politische Programme angesagt.

Was bleibt für den Natural Turn? Ein weitergehender Naturalismus kommt nur für solche Urteile in Betracht, die keine Verbindlichkeit für Dritte beanspruchen. In diesem Sinne steht es jedem frei, bewusst für natürlich gehaltenen Lebensformen nachzuleben, und zwar durchaus auch im Verein mit anderen. Man wird es auch für zulässig halten können, dass Menschen, so wie sie sich für Bio-Lebensmittel entscheiden, Bio-Lebensformen bevorzugen, sich für Bio-Sex, Bio-Ehe und Bio-Familie einsetzen und Reproduktionsmedizin und Human Enhancement ablehnen, so wie andere gentechnisch veränderte Lebensmittel ablehnen. Auch ein Bio-Feminismus, der als Differenzfeminismus für die Geschlechter unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft sieht, ist solange vertretbar, wie er beschreibend »Glück und Wohl« der Betroffenen in den Blick nimmt, ohne einen Lebensstil vorzuschreiben oder gar rechtliche Einschränkungen zu akzeptieren.

Nachtrag: Eine in ihrer Ausführlichkeit kaum noch lesbare Stellungnahme von Richard Friedrich Runge, Eine kritische Theorie der Tugendethik, 2022, ist im Internet frei zugänglich (Campus Wissenschaft).


[1] Vgl. Christian Kietzmann, Ethik und menschliche Natur. Literatur zum Aristotelischen Naturalismus, Philosophische Rundschau 65, 2018, 175-196. Einen neueren Sammelband (Martin Hähnel (Hg.), Aristotelian Naturalism. A Research Companion, 2020) habe ich nur durchgeblättert.

[2] Deutsche Übersetzung von Michael Reuter: Die Natur des Guten, 2004. Ich zitiere nach der Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe von 2014 (Seitenzahlen in Klammern im Text).

[3] Dem Einwand der Zirkularität am nächsten kommt Gerlinde Pauer-Studer, wenn sie Foot vorhält, sie könne »nicht beides behaupten: dass zum einen Verletzungen der Zweck-Mittel-Effektivität ein allgemeines Rationalitätsdefizit sind und dass zum anderen praktische Rationalität nicht zweckneutral ist« (S. 182).

[4] Den Einwand der Lücke zur anthropologischen Basis hat Anton Leist im Blick: Naturalismus bei Foot und Hursthouse, in: Thomas Hoffmann/Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut, 2010, 121-148.

[5] Michael Thompson, The Representation of Life, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Hg.), Virtues and Reasons 1995, 247-296. Überarbeitete Fassung in Michael Thompson, Life and Action, 2008; deutsch als: Leben und Handeln, 2011.

[6] 2011 S. 46ff.

[7] S. 65.

[8] S. 83.

[9] S. 96ff.

[10] S. 105.

[11] S. 101.

[12] Anton Leist (wie Fn. 4, S. 133) kritisiert, solche Teleologie sei im Rahmen der modernen Biologie seit Darwin eindeitig falsch und könne deshalb nur alltagssprachlich gemeint sein. Dagegen verteidigt Kietzmann das Konzept der Lebensform von Thompson und Foot als Redeweise, die auch vor dem Hintergrund er Evolutionstheorie angemessen bleibe (S. 185ff). Der Kritik von Leist könnte man begegnen, indem man die Spezies als System setzt und auf die Funktion der für relevant gehaltenenen Eigenschaften innerhalb einer Lebensform abstellt. Damit würde die »natürliche Normativität« allerdings zur bloßen Funktionalität, und es würde klar, dass Foot mit ihrer Redeweise schon den von Thompson apostrophierten »verborgenen normativen Unterbau« einzieht.

[13] Thomas Hoffmann/Michael Reuter, Auf dem Weg zum natürlich Guten Eine Einführung in die Moralphilosophie Philippa Foots, in: dies. (Hg.), Natürlich gut, Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, 2010, 1-24, S. 13.

[14] Wie Fn. 3, S. 172f)

[15] Wie Fn. 4, S. 127.

[16] Dazu verweise ich auf Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977. Dieses Buch habe ich in mehreren Einträgen auf Rsozblog gewürdigt.

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Die Verteidigung der natürlichen Ordnung

Zur Erinnerung: Die Reihe der Einträge zum Natural Turn soll die These begründen, dass der Interdisziplinaritätsimperativ die neue Formel für die »Natur der Sache« bildet. Was den Bereich des Rechts der Reproduktionsmedizin und der Gentechnik angeht, muss die Jurisprudenz auf die durch Gentechnik und Medizin eröffneten Perspektiven und die umfangreiche philosophische und soziologische Diskussion reagieren und ihre Schlüsse ziehen. Die Diskussion hat längst Dimensionen erreicht, die der Durchschnittsjurist nicht mehr adäquat übersehen und verarbeiten kann. In dieser Situation liegt es nahe, die Situation auf Natürlichkeitsargumente zu verkürzen. Meine These lautet dagegen: Die Berufung auf die Natur bedeutet keine (populistische?) Reduktion. Natürlichkeitsargumente sind vielmehr sachlich, politisch und philosophisch ernst zu nehmen. Das zeigt sich am Beispiel des reproduktiven Klonens.

Im Seinsbereich gibt es eine natürliche Ordnung der Welt. Die Naturwissenschaften betreiben erfolgreich deren Entzifferung. Wer sich heute für Moral oder Recht auf die Verteidigung der natürlichen Ordnung beruft, wenn er Reproduktionsmedizin generell oder auch nur für gleichgeschlechtliche Paare ablehnt, muss mit einem Sturm der Entrüstung rechnen. Aber es gibt einen Grenzfall, in dem die Berufung auf die natürliche Ordnung als Argument noch akzeptiert wird, nämlich den Fall des reproduktiven Klonens.[1] Die vielen Versuche, das Verbot reproduktiven Klonens, wie es in Art. 3 II der Grundrechte-Charta der EU positiviert ist, durch eine universalistische Ethik zu begründen, reichen anscheinend nicht aus. Man beruft sich auf das Prinzip der Menschenwürde oder auf ein Tabu. Aber das Prinzip ist unscharf, und Tabus fordern dazu heraus gebrochen zu werden. In dieser Situation wird »die Verteidigung der natürlichen Ordnung« als moralisches und letztlich auch als juristisches Argument angeführt.

Es besteht kein Grund, das Argument der Natürlichkeit für diese besondere Situation zu reservieren. Es ist ebenso wenig zwingend wie alle anderen Argumente dieser Art. Aber der Appell an die Natur hat eine schwer zu übertreffende Überzeugungskraft. Zwar kommt dann sofort wieder die Frage auf, was im konkreten Streitfall als natürlich zu gelten hat. Aber es ist nicht verboten, diese Frage zu stellen und Antworten zu versuchen. Die Suche ist nicht hoffnungslos. Es ist, wie auch sonst im Recht. Ein Übermaß an philosophischer Reflexion macht entscheidungsunfähig. Das zeigt Birnbachers Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus (oder Posthumanismus).[2]

Den Begriff der Gattungsethik hat Jürgen Habermas eingebracht.[3] Der Begriff bezeichnet eine Kategorie von Normen, die über die Individuen hinaus dem Schutz der Integrität der menschlichen Gattung dienen sollen. Schon zuvor hatten Juristen eine unverletzliche Menschenwürde nicht nur für Individuen, sondern auch für die Menschheit als Gattung postuliert.[4] Unter Transhumanismus wird die Auffassung verstanden, dass die Gattung über ihre überkommene biologische Ausstattung hinaus verbessert werden könne. Ein Zündfunke dieses Gedankens war Donna Haraways »Manifesto for Cyborgs« von 1985.[5]

Birnbacher bietet eine schulmäßig perfekte Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus. Wie es die philosophische Anthropologie formuliert hat, ist der Mensch ein Mängelwesen, der allein mit seiner biologischen Substanz nicht lebensfähig wäre. Daher ist er immer schon auf die Künstlichkeit der Kultur angewiesen. Wenn aber Kultur zur Substanz des Menschen gehört, gibt es keine »natürliche« Grenze, an der sich die Ontogenese aufhalten ließe. Der Gattungsbegriff ist unbestimmt. Wo die Gattung Mensch endet, lässt sich weder genetisch noch genealogisch noch funktionell eindeutig bestimmen. Eine immerhin mögliche typologische Bestimmung bleibt historisch zeitgebunden. Birnbacher findet daher im Zweikampf zwischen Gattungsethik und Transhumanismus keinen Sieger.

Der Fehler in dieser Argumentation liegt darin, dass Birnbacher eine eindeutige Bestimmung der Gattungsgrenzen fordert. In der lebendigen Natur gibt es keine absoluten, unverrückbaren Grenzen. Aber es gibt doch Phänomene, die als universal wahrgenommen werden. Scharfe Grenzen gibt es nur in der Logik. Insbesondere binäre Denkmuster zur Ordnung der realen Welt sind immer (oft nützliche) Vereinfachungen.

Der Begriff der Gattung Mensch ist immerhin so brauchbar, dass bislang kein Fall bekannt geworden ist, indem man die Menschqualität eines Lebewesens nicht eindeutig hätte feststellen können. Gewissheiten darf man nicht beiseiteschieben, weil sie in dem Sinne kontingent sind, dass sie über (lange) Zeit verloren gehen könnten. Recht und Politik müssen mit solchen Gewissheiten leben.

Gutmann weist den Gedanken einer restriktiven Biopolitik unter Berufung auf den Gedanken der Gattungsethik zurück als Versuch, »die verbürgten subjektiven Freiheitsrechte der Betroffenen klein zu reden und klandestin aus dem Prozess der Abwägung zu entfernen, bevor dieser begonnen« habe.[6] Tatsächlich liegt es wohl umgekehrt. Das Natürlichkeitsargument wird kleingeredet. Wenn es nicht zum Frankenstein-Argument deklassiert wird, wird es als »intuitiv« und »bloß rhetorisch« beiseitegeschoben.[7] Natürlichkeit ist natürlich nur eine »vermeintliche«. Gutmann ironisiert das Argument als Wunsch nach einer »mit verfassungsrechtlichen Weihen versehenen bioethischen Leitkultur«.[8] Indessen ist das Freiheitsargument nicht stringenter als das Natürlichkeitsargument. Der Freiheitsbegriff ist ebenso schwierig wie der Naturbegriff. Die Kantische Kompatibilitätsformel hat längst ausgedient. Freiheit wird an vielen Stellen zugunsten nicht individualisierter Gemeinschaftsgüter beschränkt. Die »grundrechtlich garantierte Fortpflanzungsfreiheit«[9] ist kein Erfolgsversprechen. Sie begründet kein Recht auf ein Kind.[10]

Politik und Jurisprudenz müssen Grenzen ziehen. In der jeweiligen historischen Situation müssen sie entscheiden, wieweit die technisch mögliche Verfügung über die Natur rechtlich beschränkt werden soll. Seitdem mit dem Klimawandel das Gefüge der natürlichen Umwelt ins Wanken geraten ist, besteht weithin Konsens, dass insoweit eine Kontrolle des technisch Möglichen notwendig ist. Eingriffe in das Genom überschreiten die nächste Schwelle, denn sie greifen »in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer Person ein« und verfügen damit über die Natur des Menschen wie  über Sachen.[11] Das bedeutet nicht, dass alle Eingriffe in das Genom von vornherein unzulässig wären. Aber sie lassen sich als Eingriff in die Natur kritisieren.

Politik und Jurisprudenz müssen sich entscheiden. Freilich finden auch Juristen nicht zu einem verbindlichen Ergebnis, wenn sie die Entscheidung auf die Menschenwürde abladen. Das zeigen die Sätze, mit denen Gutmann seine an Sorgfalt und Umsicht schwer zu überbietende Erörterung des Themas beendet:

»Die Prinzipien der Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat verlangen, die Rechte der Individuen ernst zu nehmen. Der demokratische Souverän kann diesen Grenzen setzen und konkurrierende, individuelle wie kollektive Schutzgüter auszeichnen. Dies kann auf angemessene Weise geschehen, wenn der primär symbolische und expressive Diskurs über die Menschenwürde, der politische Entscheidungen gerade verhindern will, einer öffentlichen Debatte über Chancen und konkrete Gefahren der Humangenetik weicht.«[12]

Die öffentliche Debatte begnügt sich nicht damit, Chancen und Gefahren mehr oder weniger vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Sie endet früher oder später mit einer Wertung, der das Natürlichkeitsargument Gewicht hat.

Am Ende werden weder die analytische Ethik noch der juristische Fachdiskurs den Ausschlag geben. Die öffentliche Debatte wird von einer Grünstimmung getragen, und grün ist die Farbe der Natur. Noch ist ihr das Weltklima wichtiger als die Gattung Mensch. Die Bio-Welle hat die akademische Diskussion noch nicht erreicht. Als Wellenbrecher fungieren die Gender Studies. Dort wird das Natürlichkeitsargument zum Naturalisierungsargument umgedreht. So wird ein natural turn geradezu herausgefordert. Naturam expelles furca, tamen usque recurret.[13] Auch wenn du die Natur mit der Mistgabel austreibst, kehrt sie doch alsbald zurück. Dieses bekannte Horaz-Zitat lässt sich vordergründig »natürlich« dahin verstehen, dass die Natur sich zurückerobert, was man ihr abgerungen hat. Das heißt: Wenn du das Unkraut beseitigt hast, kommt es doch bald wieder. In einem übertragenen Sinne: Auch wenn wir in unseren ethischen und politischen Diskursen Natürlichkeitsargumente verbannen, kehren sie doch wieder zurück.

Natürlichkeitsargumente sind rechtspolitische Argumente unter anderen. Als solche sollten sie immerhin die Kraft haben, gegenüber Eingriffen in die Erbsubstanz zur Vorsicht zu mahnen. Dahinter steckt mehr als dumpfe Furcht vor dem Unbekannten, sondern eine handfeste Besorgnis vor einer Eugenik auf Gen-Ebene. In der jeweiligen historischen Situation lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, ob neue Technologien in einer bisher nicht erprobten Weise in natürliche biologische Abläufe eingreifen. Dagegen lässt sich viel schwerer abschätzen, ob diese Technologien negative Folgen für Dritte, das heißt für die Familienstruktur im Allgemeinen, für den künstlich gezeugten Nachwuchs im Besonderen und für das menschliche Erbgut haben werden.

Das Natürlichkeitsargument hat immerhin die Kraft, gegenüber solchen Eingriffen zur Vorsicht zu mahnen und eine besondere Rechtfertigung zu fordern. Freiheitsbeschränkungen sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig.[14] Aber legitimationspflichtig sind heute auch Eingriffe in die Natur. Der wissenschaftliche Diskurs wird Natürlichkeitsargumente ehe beiseite schieben als der demokratisch politische Meinungskampf. Es wäre aber zu billig, diese Argumente als populistisch zurückzuweisen.


[1] Wolfgang van den Daele, Soziologische Aufklärung zur Biopolitik, Leviathan, Sonderheft Biopolitik 23/2005, 7-41, S. 29.

[2] Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006, S. 169ff.

[3] Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2002.

[4] Thomas Gutmann, »Gattungsethik« als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, in: Wolfgang van den Daele (Hg.), Biopolitik (Leviathan Sonderheft 23), 2005, 235-264, S. 247ff.

[5] Donna Haraway, Manifesto for Cyborgs, Socialist Review 80, 1985, 65-108, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, 1995, 33-72.

[6]Gutmann S. 259.

[7] Katharina Beier/Claudia Wiesemann, Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie: Eine ethische Analyse, in: Claudia Wiesemann u. a. (Hg.), Patientenautonomie, 2013, 205-221.

[8] Gutmann S. 254.

[9]  Gutmann S. 259.

[10] Christian Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 2020, 12-20.

[11] Habermas S. 30.

[12] Gutmann S. 259.

[13]  Horaz, Episteln 1, 10, 24.

[14] Gutmann S.. 235.

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Naturschutz für den Menschen?

Naturschutz auch für den Menschen? Bio-Sex? Bio-Ehe? Bio-Kinder? Da wird die Sache heikel. Wer wäre »der Mensch«, der geschützt werden sollte? Die Frage nach der Natur des Menschen wird schnell zu einem normativen Unternehmen. Der Gedanke drängt sich auf, dass man sich seiner »Natur«, seinem »Wesen« entsprechend »menschlich« verhalten müsse. Wesensbestimmungen der menschlichen Natur haben zu unmenschlichen Konsequenzen geführt. Viele halten deshalb eine deskriptive Bestimmung der Natur des Menschen von vornherein für ausgeschlossen. Wer jedoch grundsätzlich die Unterscheidung von Sein und Sollen akzeptiert, wiewohl sie praktisch immer gefährdet ist, der wird auch Versuche einer wertfreien Bestimmung der »Natur« des Menschen nicht von vornherein abweisen.

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur. Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um das Denken aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[1]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht mit der Anthropologie eine ganze Disziplin mit Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie bereit. Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Anschein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Für die Unterscheidung von Natur und Kultur ist Anthropologie jedoch wenig hilfreich.

Handfestere Aussagen findet man in Biologie, Psychologie und Medizin. Auch zwischen diesen Disziplinen und der Kultur gibt es unscharfe Grenzen, verändert doch Kultur auch körperliche Vorgänge, die lange als unveränderlich galten. Aber das ist nicht eigentlich das Problem. Biologen, Mediziner und Psychologen greifen ohne Schwierigkeiten auf die erste Natur des Menschen zurück, die ihnen mindestens als relative Unverfügbarkeit begegnet, und zwar relativ in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, das seit Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil sie sich erst im Laufe der Evolution entwickelt hat und weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution auch wieder verloren geht. Aber in diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eben doch unverfügbar. Dieser Rahmen erscheint uns als Normalität. Was aus der Normalität fällt, ist deshalb nicht unnatürlich. Das Anormale ist Teil der Natur. Das wertend normative Urteil ist damit offen, wiewohl es unreflektiert von der normativen Kraft des Faktischen getrieben wird.

Was folgt daraus? In unserem Kulturkreis wird keiner, den wir ernst nehmen, widersprechen, wenn wir sagen, aus der »Natur der Sache« folge, dass Homosexualität nicht unmoralisch und schon garkeine Straftat sein kann, weil sie zur Natur gehört. Naturalia non sunt turpia. Die Einmütigkeit endet aber schon, wenn jemand erklärt, aus der »Natur der Sache« ergebe sich, dass Homosexualität als Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX anzusehen sei, weil für Homosexuelle die Mehrzahl der Menschen als Geschlechtspartner ausscheidet und weil sie ohne Unterstützung Dritter keine Kinder bekommen können. Man wird sogleich entgegenhalten, damit werde ein natürlicher Zustand pathologisiert und in das binäre Geschlechterschema eingepasst. Zum Glück ist die Frage, ob Homosexualität als Behinderung subsumierbar ist, gegenstandslos, weil es keine Hilfemöglichkeiten oder gar Therapien gibt. Sie gegenstandslos aber auch deshalb, weil man aus § 9 SGB VIII Nr. 4 im Umkehrschluss folgern muss, dass die in Nr. 3 genannten nichtbinären Geschlechtlichkeiten nicht als Behinderungen anzusehen sind. Immerhin spricht das Natürlichkeitsargument für eine Privilegierung der traditionellen heterosexuellen Ehe. Doch insoweit ist der Zug längst abgefahren. Es bleibt nur noch Denkmalschutz.

Entscheidungsbedarf gibt es aber schon, wenn man fragt, ob Transsexualität und Intersexualität als Behinderung im Rechtssinne einzuordnen sind, denn hier ist medizinische Hilfe möglich, und sie wird auch gewünscht. Das ändert nichts daran, dass der Zustand ebenso natürlich ist wie ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte. Die Situation der Betroffenen ist so individuell, dass Dritte sich schwerlich hineinversetzen können. Oft braucht es einen längeren Entwicklungsprozess, bis die geschlechtliche Identität subjektiv klar ist. Diesen Menschen darf man die sexuelle Selbstbestimmung, die eigentlich gar keine ist, nicht verwehren. Als Argument zulässig bleibt jedoch die Behauptung, die Natur spreche dagegen, fluide Geschlechtlichkeit schlechthin für wünschenswert zu halten. Dieses Argument wendet sich die Forderung nach einem Menschenrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als Jedermann-Recht. Hier wird das Dilemma der Differenz relevant. Man muss sich entscheiden, was schwerer wiegt, die Vermutung, dass ein unbeschränktes Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eine gefährliche Jugendmode befördern könnte oder die Aussicht, dass die wirklich Betroffenen entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

Auch bei trivialeren Problemen sind Natürlichkeitsargumente einschlägig, so etwa bei Bekleidungsvorschriften im Schwimmbad. In Berlin war eine Frau mit ihrer Antidiskriminierungsbeschwerde erfolgreich, die beanspruchte, sich im Schwimmbad ebenso mit bloßem Oberkörper aufzuhalten wie Männer. Gleichberechtigung ist hier der falsche Ansatz. Das Natürlichkeitsargument spricht gegen die Heranziehung des Gleichheitssatzes, denn der Oberkörper einer Frau ist »natürlich« anders als der eines Mannes. Viel eher kommt eine unzulässige Freiheitsbeschränkung in Betracht. Da wäre dann abzuwägen, was schwerer wiegt, Bekleidungs-Freiheit oder die Befürchtung vor einer Sexualisierung öffentlicher Plätze. Befürworter des Brustfrei-Schwimmens erhoffen sich im Gegenteil eine Entsexualisierung der weiblichen Brust. Dagegen ließe sich wiederum als Natürlichkeitsargument vorbringen, dass die sexuell stimulierende Wirkung sekundärer Geschlechtsmerkmale biologisch verankert sein könnte. Allein darüber könnte man dann wieder lange streiten. Während dessen käme auf einer anderen Ebene die Diskussion auf, ob aus der Erlaubnis des Brustfrei-Schwimmens nicht alsbald ein sozialer Zwang zum Frei-Schwimmen werden könnte mit der Folge, dass sich die Liste der diskriminierenden Praktiken analog zum fat shaming um ein tit-shaming verlängerte. Man sieht, es gibt keine zwingenden Argumente pro oder contra. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Natürlichkeitsargumente nicht a limine unzulässig sind.

Natürlichkeitsargumente stützen einen Differenzfeminismus. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daraus folgt aber nicht, dass man dem einen oder dem anderen Geschlecht irgendwelche gesellschaftlichen Positionen verwehren dürfte. Das Natürlichkeitsargument zieht jedoch gegenüber der Forderung, dass alle Geschlechter in allen gesellschaftlichen Positionen gleichmäßig repräsentiert sein müssten.

Streiten muss man über die Frage, ob auch erworbene, aber kontingente Verhaltensmuster des Menschen als natürlich gelten und damit als Basis für Natürlichkeitsargumente gelten können. Der Streit beginnt schon bei der Frage, ob es solche Muster überhaupt gibt, ob sie genetisch oder jedenfalls epigenetisch verankert sind oder ob es sich um sozialevolutionäre Errungenschaften bzw. Überbleibsel handelt. Ich habe mich auf die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers bezogen. Mayer hatte die Vorstellung biologisch angelegter Verhaltensweisen zurückgewiesen, aber ein beträchtliches Erbe an Verhaltensmustern aus der Kleingruppenphase der Menschheitsgeschichte behauptet. Zwei Verhaltensmuser stehen immer noch und immer wieder zur Debatte: Männer zeigen ein stärkeres Wettbewerbsverhalten. Frauen haben eine größere Affinität zur Sorge für andere Menschen. Selbst wenn das zuträfe, folgte daraus kein Argument für ethische, politische oder juristische Normen. Der Gleichheitssatz ist stärker.


[1] Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

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Mangolds Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments

Als ich die Reihe zum Natural Turn begann, war die Habilitationsschrift von Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht[1], noch nicht verfügbar. Ihre Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments will ich hier nachtragen:

»Rechtliche Regelungen und Praktiken wirken in erheblichem Maße an der Etablierung und Aufrechterhaltung von Kategorisierungen mit, was freilich invisibilisiert wird, indem die Natürlichkeit und Vorgängigkeit der kategorisierenden Unterscheidungen behauptet wird. In einem argumentativen Dreischritt werden diese kategorisierenden Unterscheidungen zwischen Menschen als ›natürlich‹ und ›normal‹ zugrunde gelegt, zu denen sich das Recht ganz ›neutral‹ verhalte. Das Argument der Natürlichkeit einer Unterscheidung zwischen Personengruppen besagt, dass diese vorfindlich sei, unbeeinflussbar von der Natur vorgegeben werde – etwa jene zwischen Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung. Diese Natürlichkeitsbehauptung wird flankiert von einer Normalitätsbehauptung, dass die Unterscheidung schon immer allgemein akzeptiert und praktiziert worden sei, sie mithin ganz ›normal‹ sei. … Das Recht schließlich, so der letzte Schritt des Argumentationsgangs, sei völlig neutral in der Frage der Kategorisierung, es setze die ›natürliche‹ und ›normale‹ Unterscheidung und unterschiedliche Behandlung also selbst lediglich voraus und reagiere bloß auf diese.«[2]

Es ist vollkommen richtig, dass Natürlichkeits- und Normalitätsargumente über lange Zeit diskriminierend gewirkt haben und noch wirken. Richtig ist auch, dass das Recht darauf hereingefallen ist und die Diskriminierung als Neutralität legitimiert hat. Damit sind diese Argumente zwar »belastet«, aber als solche noch nicht obsolet. Meine Kritik der Kritik gilt dem konstruktivistischen Kulturalismus, dem auch Mangold huldigt, wenn sie schlechthin eine ontologische Basis von Kategorien verneint und diese zu sozialen Konstruktionen erklärt (S. 313ff). So wie Texte als gedruckte oder digitalisierte eine ontologische Qualität haben, haben auch Menschen als Kinder und Erwachsene, als Frauen und Männer, als Schwarze und Weiße, als Behinderte und Nicht-Behinderte objektive Eigenschaften. Aktuell diskutiert man etwa die unterschiedliche Krankheitsanfälligkeit von Männern und Frauen und ihre Reaktion auf Medikamente. Nur wenige natürliche Eigenschaften sind als solche sozial unmittelbar relevant wie das Alter oder die Gebärfähigkeit von Frauen. Es kommt alles darauf an, wie diese Eigenschaften im sozialen Umgang bewertet werden. Wer ihre ontologische Qualität verneint, wird nie zu den psychischen Mechanismen vordringen, die eine primäre Ursache von Diskriminierungen bilden und die es sozial zu beherrschen gilt. Dazu gehören nicht zuletzt die Fehldeutungen, die mit der Augenfälligkeit einiger natürlicher Eigenschaften verbunden sind.

Analoges gilt vom Normalitätsargument, wenn man sich Normalität mit Mangold (S. 314) von vornherein nur als normatives Phänomen vorstellen kann. Dann verkennt man die »normative Kraft des Faktischen«, der es beizukommen gilt, um die fraglos gegebene Diskriminierungswirkung von Normalität zu bekämpfen. Dann verkennt man ferner, dass Diskriminierung »normalerweise« Minderheiten trifft, die als solche keine politischen Mehrheiten bilden können.[3] Damit verkennt man auch, dass die Diskriminierung von Frauen auf einem anderen Blatt steht als etwa die Diskriminierung von Behinderten. Was sich seit einigen Jahrzehnten auf dem Gebiet der Frauengleichstellung ereignet, lässt sich nur mit dem Kampf und den Erfolgen der Arbeiterbewegung vergleichen.

Die aktuelle Literatur, die sich dem Kampf gegen soziale Diskriminierung widmet, erweckt gelegentlich den Eindruck, als führe der Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft zurück zur Natur ins Paradies der Gleichheit. Genau das Umgekehrte ist richtig. Die Menschen sind ungleich. Die Natur ist es, die, sich selbst überlassen, diskriminiert. Die Abwesenheit (bestimmter) Diskriminierungen ist ein unnatürlicher = zivilisatorischer Fortschritt. Die Schwelle zum Fortschritt ist der Entschluss, alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre natürliche Ungleichheit in möglichst allen Dimensionen sozialen Lebens als gleich zu behandeln. Die Ironie der Geschichte: Der Fortschritt kam mit einem Natürlichkeitsargument, beginnt doch die Virginia Declaration of Rights von 1776:

That all men are by nature equally free and independent ….


[1] Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen, Tübingen 2021. Mangold bietet eine profunde und gut lesbare dogmatische Aufarbeitung des Antidiskriminierungsrechts, die eine ausführliche Besprechung verdient. Dazu sind andere berufen.

[2] S. 6f.

[3] Mangold nimmt (S. 79ff) den völkerechtlichen Minderheitenschutz in den Blick. Sie weist darauf hin, dass der Minderheitenbegriff insofern ungeklärt sei, als persönliche Merkmale betroffen sind. Dass Diskriminierung generell als Minderheitenproblem betrachtet werden könnte, kommt dabei nicht in den Blick.

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Natürlichkeitsargumente

Natürlichkeitsargumente im engeren Sinne sind solche, welche die Natur im Sinne von physikalischen und biologischen Vorgegebenheiten zur Begründung politischer, rechtlicher oder moralischer Forderungen anführen, also die Natur, wie sie als natürliche Umwelt angesprochen wird.

Das Natürlichkeitsargument i. e. S. wirft ähnliche Probleme auf wie das Normalitätsargument. Die Auszeichnung eines Sachverhalts als natürlich kann deskriptiv oder normativ gemeint sein. Aber die Bedeutungen sind noch stärker verschränkt und der normative Anspruch weitaus höher. »Normalismus« ist (nur) eine kritisch gemeinte Diagnose der Soziologie. Naturalismus tritt dagegen mit dem Anspruch einer philosophisch begründeten Ethik auf.[1] Der Appell an die Natur weckt die stärksten moralischen Intuitionen. »Die Natur schreit uns an«, so der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit Blick auf Corona-Pandemie und Klimawandel. Vor allem aber ist ein Trivial-Naturalismus weit verbreitet. Alle lieben die »Natur«. Alle wollen es »grün« und »bio«. Doch sie machen sich kaum Gedanken darüber, wo »Natur« beginnt und wo sie endet.

Während Natürlichkeit in der Alltagsmoral einen hohen Stellenwert besitzt, wird das Argument von der akademischen Ethik eher verachtet. Es ist »natürlich« vollkommen richtig, dass sich aus der Natur unmittelbar keine ethischen oder juristischen Normen ableiten lassen. Natürlichkeit ist nur ein Argument unter vielen anderen. Aber mächtige Diskurse haben dieses Argument in Verruf gebracht haben. Die antireligiöse Aufklärung verdächtigt die Berufung auf Natürlichkeit einer Aufladung durch gottgewollte Normativität. Kulturalistische Sozialwissenschaft hat die Natur selbst dekonstruiert. Natürlichkeitsargumente sind als Naturalisierungsargumente delegitimiert. »Naturalisierung« ist zum Kampfbegriff geworden.[2] Es ist an der Zeit für einen natural turn.

Natürlichkeitsargumente sind im buchstäblichen Sinne Argumente aus der »Natur der Sache«, und sie begegnen damit allen Einwänden, die mit Wesensargumenten verbunden sind, insbesondere »natürlich« dem Einwand, sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss. Dieser Einwand ist allerdings unbegründet, wenn das Argument nicht als zwingende Ableitung vorgetragen wird, sondern lediglich fordert, bei der Abwägung auch einen (näher bezeichneten) Gesichtspunkt der Natürlichkeit einzustellen. Das Natürlichkeitsargument bringt aber ein anderes Problem mit sich, das sehr viel schwerer auszuräumen ist, nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur. Die Zurückweisung von Natürlichkeitsargumenten als Naturalisierung beruht ja darauf, dass der kulturalistische Konstruktivismus jede Wahrnehmung der Natur als sozial oder kulturell geprägt ansieht mit der Folge, dass Natürlichkeitsargumente nur die persuasive Kraft der Natürlichkeit ausschöpfen, ohne aber zur Natur vordringen zu können. Paradebeispiel ist die Zweigeschlechtlichkeit.[3]

Nach einer verbreiteten Auffassung lassen sich der deskriptive und der normative Aspekt der Natürlichkeitsbehauptung gar nicht entwirren, weil es von vornherein keine Möglichkeit gibt, sich empirisch der Natürlichkeit eines Sachverhalts zu versichern. Der Staudamm des Möhnesees ist sicher nicht natürlich. Doch was gilt von dem Staudamm, den Biber in einem Fluss errichten? Man kann vielleicht noch ein paar Beeren und Pilze sammeln. Aber sonst sind keine Nahrungsmittel zu haben, die ganz natürlich gewachsen sind. Kochen, Backen, Braten nimmt ihnen vollends die Natürlichkeit. Umgekehrt erscheinen soziale Praktiken, wenn sie selbstverständlich werden, als natürlich. Darauf beruht die zum Dogma geronnene Ablehnung von Natürlichkeitsargumenten durch die kulturalistische Soziologie.

Natürlichkeitsargumente werden als essentialistisch zurückgewiesen. Das ist in der Sache nichts anderes als die Zurückweisung von Wesensargumenten. Dahinter steht ein großes Kapitel Philosophie. Ausgangspunkt ist die Ideenlehre Platons, die das Wesen der Dinge, der realen wie der geistigen, jeweils in ihren transzendenten Ideen suchte. Platons Schüler Aristoteles hat diese Ideenlehre konkreter ausgeformt, indem er die Ideen in die reale Welt hineinholte. Nach seiner Vorstellung steht hinter jeder konkreten Erscheinung – einem Stein, einem Baum, einem Tier, einem Menschen, einer Familie, dem Staat – eine Idee, oder wie Aristoteles gleichbedeutend sagt, ein Begriff oder eine Form. Man kann auch sagen, der Begriff wird den Dingen nicht äußerlich angeheftet, sondern er steckt in ihnen selbst, er ist die Ursache ihrer Existenz, ihrer Einheit, ihres Handelns oder ihrer Entwicklung. Der Wissenschaft hat Aristoteles die Aufgabe zugesprochen, die Form in oder hinter der Sache zu erkennen und damit das Wesen der Sache zu beschreiben oder zu »definieren«.

Solches Bemühen kann zu empirischen Gesetzen führen, also zu dem, was oft Realdefinition genannt wird:

Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sterblich ist.

Gemeint ist nichts anderes als die empirische Aussage: Alle Menschen sind sterblich. Kaum weniger einleuchtend klingen Aussagen über soziale Tatbestände, z.B. des Aristoteles berühmter Satz vom Wesen des Menschen:

»Daß aber der Mensch, mehr noch als jede Biene und jedes schwarm- oder herdenweise lebende Tier, ein in staatlicher Gemeinschaft lebendes Wesen (politikón zóon) ist, liegt am Tage.« (Politik 1253a)

Das Problem solcher Aussagen – die auch ontologisch genannt werden – liegt darin, dass aus ihnen unter dem Deckmantel bloßer Beschreibungen oder Definitionen nicht selten Handlungsanweisungen oder Rechtfertigungen abgeleitet werden: Wenn es zum Wesen des Menschen gehört, dass er in Gesellschaft lebt, so ist es ihm auch wesensgemäß, dass er sich den Anfor­derungen der Gesellschaft beugt, ihren Gesetzen gehorcht, dass Gemeinnutz vor Eigen­nutz geht usw.

Eine essentialistische Vorstellung der Geschlechter wäre also transzendental vorgegeben. Doch nur die wenigsten, denen Essentialismus vorgehalten wird, sind Platoniker oder Aristoteliker. Die meisten sind Empiristen, die durchaus akzeptieren, dass Begriffe erst aus einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen wachsen. Sie insistieren aber darauf, dass es auch diesseits jedenfalls Beobachtungen und daraus abgeleitete Gesetzmäßigkeiten gibt, die sich mindestens als relative Unverfügbarkeiten erweisen und sich nicht wegdiskutieren lassen. Relativ ist die Unverfügbarkeit in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution oder der Entwicklung von Reproduktionsmedizin und Gentechnik verloren gehen kann. In diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eine (Natur-)Tatsache, mit der wir leben müssen.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Prominent vertreten durch Philippa Foot, Natural Goodness, 2001. Die immer noch maßgebliche Kritik dieser Ethik hat Dieter Birnbacher geliefert: Natürlichkeit, 2006, freilich noch ohne Auseinandersetzung mit Foot.

[2] Uwe H. Bittlingmayer, Wider die Naturalisierung der zweiten Natur! Pierre Bourdieus Soziologie zwischen Kritik und Politik, in: Mark Hillebrand u. a. (Hg.), Willkürliche Grenzen 2006, 33-60; Timo Heimerdinger, Naturalisierung als Kampfbegriff, in: Eva Tolasch/Rhea Seehaus (Hg.), Mutterschaften sichtbar machen, 2016, 125-140; Lisa Krall, Das Paradigma der Natur – Zum Umgang mit Naturalisierung und Dualismen in der Geschlechterforschung, IFFOnZeit 4, 2014, 18-31.

[3] Gero Bauer/Regina Ammicht Quinn/Ingrid Hotz-Davies (Hg.), Die Naturalisierung des Geschlechts, Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit, 2018.

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