Was taugt die neue Rechtsbiologie?

Kritik der Soziobiologie Teil I

Im Eintrag über Ernst-Joachim Lampes »Historiogenese des Rechts« habe ich auf zwei weitere Neuerscheinungen hingewiesen:

Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen, Duncker & Humblot, Berlin, DOI https://doi.org/10.3790/978-3-428-58217-4. 322 S.

Axel Montenbruck, Naturethik; Bd. 1 »Universelle Natur- und Schwarmethik«, 2021, Bd. 2 »Biologische Natur- und Spielethik«, Bd. 3 »Naturalistische Kriminologie und Pönologie«, im Open Access bei der FU Berlin.

Beide Titel sind von Benno Heussen, der sich kurz zuvor seinerseits auf die »Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts« begeben hatte[1], lobend rezensiert worden. Das kann nicht auf sich beruhen. Zunächst will ich auf das Buch von Krimphove eingehen, wiewohl vermutlich viel von dem Gesagten auch für das Machwerk Montenbrucks gilt, das durchgehend zu lesen ich mich bisher geweigert habe.

Um das Buch von Krimphove einzuordnen, ist ein Rückblick auf die Soziobiologie – teilweise spricht man auch von Biosoziologie – notwendig, denn trotz aller Beteuerungen des Autors über die Neuartigkeit und Interdisziplinarität seines Ansatzes, handelt es sich im Kern um eine evolutionsbiologische Ausmalung des Rechts. Es ist lange her, dass ich mich mit dieser Thematik befasst habe. Die folgenden Ausführungen dienen daher der Selbstverständigung. Für den Kenner bieten sie nicht Neues. Vielleicht helfen sie dem, der sich näher mit der Materie befassen will, insbesondere durch die Literaturhinweise, zu einem schnelleren Einstieg. Vorab sei daher auf einige Übersichtsarbeiten hingewiesen, die mir besonders geholfen haben: Als Einstieg diente die immer noch nicht überholte Kritik der Soziobiologie von Dirk Richter.[2] Erst relativ spät habe ich die noch zwei Jahre ältere Stellungnahme von Heiner Rindermann[3] entdeckt, (die Richter ignoriert) und die mir interessant erscheint, weil sie detaillierter auf die (zweifelhafte) Beweiskraft evolutionstheoretischer Argumentation und deren normative Implikationen eingeht. Ein ordentliches Referat über Erträge der Evolutionsbiologie bietet die Dissertation von Patrick Riordan.[4] Eine ausführliche Analyse der Beziehungen von Soziologie und Biologie von den Anfängen bis heute bieten Russel K. Schutt und Jonathan H. Turner.[5] In einem zweiten Teil entwickeln sie eigene Vorstellungen über eine evolutionsbiologisch informierte Soziologie.[6] Mein Eindruck geht dahin, dass man in der Soziologie etwas Abstand vom kulturellen Konstruktivismus gewonnen und (wieder) stärker an Evolutionstheorie[7] und darüber auch an Biologie[8] anzuknüpfen versucht.

Die Kombination von Evolutionstheorie und Soziobiologie, um die es hier geht, fand und findet nicht nur in Publikumsmedien ein großes Echo. Sie stand als »Rechtsbiologie« zeitweise auch bei Juristen hoch im Kurs.[9] Von dem amerikanischen Juristen Edwin Scott Fruehwald stammen zusammenfassende Darstellungen von Ergebnissen, die für das Recht relevant sein sollen. Sie sind kurz, klar und lesbar geschrieben und zudem leicht zugänglich, so dass darauf für einen ersten Eindruck verwiesen werden kann. Was Fruehwald affirmativ berichtet, wirkt auf mich allerdings weitgehend wie eine Spekulation von Amateur-Evolutionsbiologen. Es ist schwer vorstellbar, dass das alles wirklich auf der Gen-Ebene nachgewiesen ist. Es scheint vielmehr so, dass geläufige individualpsychische und soziale Phänomene (um nicht zu sagen Stereotype) in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und von dort in die Biologie hineininterpretiert werden. Auf diesem Wege suchen Juristen ihre Vorstellungen von der Welt und deren Recht in den Genen. Was auch immer ihnen an Trivial-Psychologie und Soziologie durch den Kopf geht, findet eine natürliche Erklärung. Dahinter steht die vage Hoffnung, in der »Natur« eine Stütze für die immer wieder schwierigen Entscheidungen zu finden, die die Jurisprudenz zu treffen hat. Das ist im Grunde auch schon der Tenor meiner Kritik an dem Buch Krimphoves.

Die Soziobiologie wurde von Edward O. Wilson (Sociobiology. The New Synthesis, 1975) und Richard Dawkins (The Selfish Gene,1976) auf den Weg gebracht und alsbald durch eine evolutionäre Psychologie flankiert. Diese Soziobiologie löste einen Wissenschaftskrieg[10] aus, der mit Protesten und Sprechverboten der aktuellen Auseinandersetzung der Community der Transmenschen und ihrer Unterstützer mit dem Feminismus von Kathleen Stock ähnelt. Einen Höhepunkt erreichte der Nativismus, also die Annahme, dass Persönlichkeitszüge und kulturelle Universalien biologisch programmiert sind, mit Steven Pinkers »Blank Slate« 2002.[11] Ich staune aber immer wieder, wie differenziert Bericht und Stellungnahme Pinkers – die ich bislang nicht selbst gelesen hatte – ausfallen. Das gilt auch für seinen Bericht über den »Wissenschaftskrieg«, in dem er geltend macht, dass die Kritiker der Soziobiologie die einschlägigen Texte gar nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen haben.

Die Soziobiologie steht unter dem Verdacht eines biologischen Reduktionismus und genetischen Determinismus. Ihr wird die Unterwanderung einer (kritischen) Sozialwissenschaft durch biologistische Pseudoempirie vorgeworfen. Aus feministischer Sicht wird die (begründete) Befürchtung geäußert, dass Soziobiologie Vorstellungen von Heterosexualität und Monogamie sowie eine evolutionär funktionale Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern rechtfertigen könnte.[12] Die Soziobiologie ist schließlich ist Gegenstand der Kapitalismuskritik: In Dawkins egoistischem Gen spiegelt sich der homo oeconomicus mit seinem Nutzenkalkül. Deshalb kritisieren Deus u. a., »die evolutionistische Deutung der Gesellschaft als hoch individualisierter Überlebenskampf aller gegen alle sei nichts anderes als eine Projektion kapitalistischer Marktmachtverhältnisse auf die gesamte belebte Natur«.[13]

Das Determinismusproblem ist auch in diesem Zusammenhang unlösbar. Der Vorwurf des Reduktionismus trifft besonders Edward O. Wilson, der die Soziobiologie als neue Einheitswissenschaft begründen wollte, die auch Sozial- und Geisteswissenschaft einschließen soll. Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften.[14] Ohne Bezug auf Wilson, aber mit ausführlicher Stellungnahme zum Evolutionsgeschehen meint Günter Dux, den Geist »erkenntniskritisch« retten zu können.[15] Es führt kein Weg daran vorbei: Der menschliche Geist, Gedanken und Erinnerungen, Handlungen und Gefühle und schließlich auch das Bewusstsein entstehen aus dem Zusammenspiel elektrochemischer Signale im Nervensystem. Die üblichen Stichworte Autonomie und Emergenz des sozial-kulturellen Systems sind nur Rettungsringe. So sehr ich mit dem Rettungsversuch von Dux sympathisiere, so meine ich doch, dass wir uns insoweit mit einer Philosophie des Als-Ob begnügen müssen und können.

Die weitere Grundsatzkritik ist in dem Sinne ideologisch, als sie erklärt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Insbesondere der Vorwurf der Rechtfertigung des status quo ist noch gegen jede empirische Sozialforschung erhoben worden. Triftig ist nur eine sachlich-inhaltliche Kritik, die geltend macht, dass die Soziobiologie eine falsche Evolutionstheorie zugrunde legt oder dass die Theorie zusammen mit der verfügbaren Empirie die behaupteten Ergebnisse nicht trägt.

Kritik an der zugrunde gelegten Evolutionstheorie kam schon aus dem Kollegenkreis von Wilson, nämlich von Richard Lewontin und Stephen Jay Gould. Ihre Kritik litt freilich darunter, dass beide die genzentrierte Soziobiologie von Wilson und Dawkins mit Überschriften wie »Biology as Social Weapon« polemisch bekämpften. Die Frage nach der »richtigen« Evolutionstheorie öffnet ein weites Feld, das ich nicht übersehe. Meine Kritik beschränkt sich daher auf die These, dass die gängige Soziobiologie, zumal in ihrer Form als Rechtsbiologie, ihre Aussagen maßlos überzieht. In diesem Sinne hatte Jay Gould die Aussagen der Soziobiologie mit den »Just So Stories« verglichen, mit denen Rudyard Kipling erklärte, wie der Leopard zu den Flecken auf seinem Fell und der Elefant zu seinem Rüssel kam. Die Soziobiologie habe nur Geschichten ohne empirische Falsifizierbarkeit erfunden. Zentrales Problem, so Gould, bleibe die biologisch ungeklärte Verbindung einzelner Gene zum Verhalten.[16]

Bei aller Skepsis gegenüber der Sozial- und Rechtsbiologie muss man mit der modernen Kognitionswissenschaft doch davon ausgehen, dass das Gehirn mit seinen neuronalen Netzwerken kein »unbeschriebenes Blatt« im Sinne einer neutralen Rechenmaschine ist. Alles andere wäre schlicht unrealistisch. Doch wie weit und wie konkret die Evolution menschlichen Kognitionsapparat vorprogrammiert hat, ist nach wie vor die große, weitgehend offene Frage. Konsens gibt es wohl darüber, dass grundsätzlich durch die »Vorprogrammierung« keine einzelne Handlung definitiv determiniert wird, ausgenommen vielleicht der Saugreflex des Säuglings. Vielmehr wird allgemein anerkannt, dass eine Besonderheit des Menschen eben darin besteht, dass sein Kognitionsapparat eine Reflexionsfähigkeit mit sich bringt, die Automatismen überspielen kann. So beteuern denn auch die Autoren, die das evolutionär geprägte Programm näher beschreiben, wie Wilson, Dawkins[17] und Pinker, dass sich aus der »Natur« nur Wahrscheinlichkeiten, jedoch kein Determinismus für die kulturelle Entwicklung insgesamt und für das Individuum ergebe. Doch die Kritiker glauben solchen Beteuerungen nicht. In manchen Juristenköpfen ist der Evolutionsgedanke so mächtig, dass er sie auf bestimmte Inhalte hin mitreißt. Deshalb habe ich versucht, mich noch einmal selbst zu vergewissern, was Sache ist.

Evolution fragt nach der Fitness von Lebewesen, dass heißt nach ihren Chancen, zu überleben und sich zu reproduzieren. Ein Lebewesen (Organismus) ist ein physisch abgegrenztes Etwas, das seine Grenze gegenüber der Umwelt über eine gewisse Zeit halten und sich während dieser Zeit reproduzieren kann. Alles hängt von der der Entstehung und Änderung, der Speicherung und dem Austausch von Information ab. Für die biologische Evolutionstheorie sind letztlich die in DNA und Chromosomen gebündelten Gene für die Speicherung und Weitergabe der Informationen maßgeblich, die das Leben ausmachen. Die Evolutionstheorie fragt, wie Umwelt und Zufall die Information variieren, selektieren und durch Replikation (Vererbung) stabilisieren.

Ein zentrales Problem für eine an Darwin orientierte Evolutionstheorie bereitet die Frage, auf welcher Ebene die natürliche Auswahl greift. Sind es die Gene, Organismen als Individuen, Gruppen von Organismen, Arten oder Ökosysteme? Da die Evolutionstheorie auf dem Axiom aufbaut, dass »Leben« durch einen endogenen Imperativ zum Selbsterhalt und zur Fortpflanzung bestimmt ist, wäre diese Einheit gewissermaßen definitionsgemäß egoistisch (selfish).[18] Der »neue Darwinismus« der Soziobiologie setzt auf Individuen und ihre Gene.

Man sollte erwarten, dass Lebewesen alle Ressourcen »egoistisch« auf ihr Überleben und ihre Fortpflanzung verwenden. Aber im Tierreich gibt es zahlreiche Beispiele von Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick altruistisch wirken, z. B. die Sammeltätigkeit von Arbeitsbienen oder Warnrufe von Vögeln. Die Funktion altruistischer Verhaltensweisen ist daher eines der Rätsel der Evolutionstheorie. Dawkins sagt von seinem Buch:

»My purpose is to examine the biology of selfishness and altruism.«[19]

Diese Frage haben vor ihm schon andere Biologen gestellt und grundsätzlich beantwortet. Im Prinzip werden drei Erklärungen angeboten, die zeigen, dass der Altruismus evolutionär sinnvoll ist, weil er auf Umwegen der Fitness dient: Verwandtenselektion (inclusive fitness[20] oder kin selection[21]), Reziprozität[22] und ESS-Theorie[23]. Die Verwandtenselektion arbeitet mit der These der inclusive fitness. Das heißt, sie geht davon aus, dass dem Reproduktionsimperativ gedient ist, wenn Verwandte überleben und sich reproduzieren, die jedenfalls teilweise die gleichen Gene tragen. Der Reziprozitätsmechanismus besteht darin, dass ein Individuum mit kleinem Einsatz anderen zu größerem Gewinn verhelfen kann und damit die Chance erhält, seinerseits in den Genuss solchen Gewinns zu gelangen. Die ESS-Theorie besagt, dass ein Tit for Tat eine »evolutionär stabilen Strategie« darstellt, eine Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist.

Die Tierverhaltensforschung hat viele Beobachtungen beigebracht, die den Altruismus mit einer oder mehreren dieser drei Theorien als evolutionär erfolgreich erklären können. Dazu tritt die Evolutionspsychologie auf den Plan, um diese Frage jedenfalls grundsätzlich zu bejahen.[24] Mit zahlreichen Experimenten haben Psychologen immer wieder aufgezeigt, dass Menschen nicht ausnahmslos egoistisch handeln, sondern nicht ganz selten ein altruistisches Verhalten an den Tag legen, vor allem aber, dass sie unfaire Aufteilungen regelmäßig missbilligen.[25] Mit MRT-Scans identifiziert man bestimmte Hirnareale, die aktiv werden, wenn Versuchspersonen einschlägige Fragen beantworten. So genannte maximale Altruisten sollen über ein größeres Amygdala-Volumen verfügen, und die bei altruistischen Entscheidungen aktiven Hirnregionen reagieren verstärkt auf das Peptidhormon Oxytozin.[26] Aus solchen Experimenten nährt sich die Überzeugung, dass ein gewisser Altruismus schon genetisch angelegt sei. Alles klingt plausibel oder gar logisch. Doch es handelt sich um bloß um einen schwachen Indizienbeweis, der mit Analogien und Metaphern arbeitet. Die Kausalkette zwischen dem Verhalten und den Genen bleibt offen. Die vorgefundenen Zusammenhänge lassen sich auch sozialkonstruktivistisch plausibilisieren.

Wenn Ethologen überzeugt sind, dass ein gewisser Altruismus und ein Sinn für Fairness bereits genetisch programmiert sind, dann muss doch in Erinnerung gerufen werden, dass der im Evolutionsgeschehen angelegte Altruismus stets als erklärungsbedürftige Ausnahme von dem primären Egoismus-Imperativ der Evolution angesehen wurde. Wenn schon prosoziales Verhalten genetisch pogrammiert ist, dann liegt es nahe, beinahe mit einem Erst-recht-Schluss, auch a-soziale Verhaltensweisen wie Aggressionen und Territorialverhalten, einen In-Group-Mechanismus und allgemeiner Ethnozentrismus auf die Gene zurückzuführen. In der Tat können Psychologen solche Verhaltensweisen ähnlich belegen wie altruistisches Verhalten. Wenn aber sowohl Egoismus als auch Altruismus eine biologische Basis haben, wie sollen diese widersprüchlichen Anlagen konkrete Handlungen programmieren?

Die biologische Evolutionstheorie endet dort, wo Eigenschaften und Fähigkeiten nicht über die Gene weitergegeben, sondern von den Individuen gelernt werden. Aber natürlich lernt nicht jedes Individuum neu, so dass die Frage auftaucht, wie die Lerninhalte tradiert werden. Die Antwort bereitete der Entomologe Alfred E. Emerson vor, indem er auf Symbole als funktionale Äquivalente der Gene verwies:

»The higher mammals can learn a remarkably wide variety of things. I knew a dog that would respond to over one hundred words and phrases purely by sound. Higher mammals certainly can do a lot of learning. What they do not do is to symbolize their signals in such a fashion as to pass learning on to the next generation or to another individual directly. In other words, what they pass on is through the germ plasm rather than through symbolization. This gives rise to the marked difference between animals and humans in cultural evolution—the evolution of accumulated symbolic systems and communication systems.«[27]

Kultur besteht also aus Lerninhalten, die in irgendeiner Weise symbolisch gespeichert sind. Symbole sind mithin das kulturelle Analogon zu den Genen.

Damit stellt sich die weitere Frage, ob die Gesetze der Evolution auch für die Entwicklung der Kultur gelten. Davon geht man heute grundsätzlich aus.[28] Es handelt sich um eine multidisziplinäre Evolutionstheorie, die besagt, dass in allen Realitätsbereichen »blind-variation-and-selective-retention« wirksam sind, dass aber die Möglichkeit sach- und fachspezifischer Besonderheiten besteht. Es wird also akzeptiert, dass auch die Entwicklung der Kultur im Dreischritt von Variation, Selektion und Stabilisierung erfolgt. Allerdings ist dabei wohl nicht nur der Zufall am Werk, sondern ebenso menschliche Kreativität und Wahlhandlungen, die in Zustimmung und Ablehnung münden. Auch Niklas Luhmann hat bekanntlich diesen Dreischritt zur Grundlage seiner Evolutionstheorie gemacht.[29] »Natürlich« verzichtet Luhmann darauf, die Evolution an den Genen fest zu machen. Er setzt dafür ganz auf Kommunikation. Stichweh findet Luhmanns

»originären Beitrag … darin …, dass er Evolutionstheorie als Konflikttheorie entwirft. Es ist für ihn die Möglichkeit, ›nein‹ zu sagen, auf eine Erwartung mit der Negation dieser Erwartung zu reagieren, die die Dynamik soziokultureller Evolution freisetzt.«[30]

Auf allen Ebenen wird die Spieltheorie ins Spiel gebracht. Trivers hatte schon 1971 die Gene auf Reziprozität getrimmt[31]. 1973 entwickelten John Maynard Smith und George R. Price das Konzept einer »evolutionär stabilen Strategie«, einer Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist.[32] Der Mathematiker Ken Binmore hat sich in zwei dicken Bänden darum bemüht, die Idee einer Verhandlung unter dem Schleier des Unwissens von John Rawls in die Spieltheorie zu übersetzen.[33] Eine zusammenfassende Darstellung, die sich an ein nicht mathematisch vorgebildetes Publikum wendet, ist 2005 unter dem Titel »Natural Justice« erschienen.[34] Wir erfahren, dass reziproker Altruismus, das heißt Altruismus in Erwartung einer Gegenleistung, ein evolutionär stabiler Mechanismus ist, auf den sich ein fairer Gesellschaftsvertrag bauen lässt. Was Binmore über Reziprozität, Fairness und Gleichheit schreibt, ist höchst plausibel, endet aber genau in den abstrakten Formeln der Moralphilosophie, die er durch exakte Wissenschaft ersetzen möchte. Vor allem aber: Auch der Mathematiker kommt nicht ohne die Gene aus:

»So how did our unique style of cooperation evolve? Because relatives share genes.« (2005 S. 8). »We must look at the deep structure of human social contract written into our genes.« (2005 S. 14).

Freilich dauert es sehr lange, bis der Gen-Pool sich neuen Herausforderungen anpasst (2005 S. 157). Dass sich die kulturelle Evolution mit Hilfe der Spieltheorie erklären lässt, leuchtet ein. Aber wie die Gene das Spielen gelernt haben sollen, bleibt dem Laien verborgen. Aber auch ein Experte wie Luigino Bruni verortet die evolutionäre Spieltheorie ganz in der kulturellen Evolution. Die evolutionäre Bedeutung spieltheoretisch erfolgreicher Strategien soll darin liegen, dass sie nicht von Rationalität und Maximierungsverhalten abhängt, sondern allein von Nachahmung, die man sich analog zur biologischen Reproduktion nach Dawkins Modell der Memetik vorstellen soll.[35]

Teil II folgt hier.


[1] Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts. Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 4, 2019, 294-322.

[2] KZfSS 57, 2005, 523-542.

[3] Heiner Rindermann, Evolutionäre Psychologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Ethik, Journal für Psychologie 11, 2003, 331–367, S. 359. Rindermann ist später in politische Kontroversen geraten, zunächst, als er 2010 in der FAZ dem umstrittenen Autor Thilo Sarrazin bescheingte, dessen »Thesen seien ›im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar›‹ « (Andreas Kemper, Sarrazins deutschsprachige Quellen, in: Michael Haller/Martin Niggeschmidt (Hg.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz, 2012, 49–67), später durch einen Artikel über Immigranten als »Ingenieure auf Realschulniveau« im Focus-Magazin vom 17. 10. 2015. Dazu lesenwert ein ausführliches Hintergrundgespräch.

[4] Patrick Riordan, Attraktivität und Partnerschaft Wie tragfähig sind evolutionäre Überlegungen zu partnerschaftlichen Beziehungen?, München 2016. Online verfügbar unter https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19213/1/Riordan_Patrick.pdf.

[5] Russell K. Schutt/Jonathan H. Turner, Biology and American Sociology, Part I: The Rise of Evolutionary Thinking, its Rejection, and Potential Resurrection, The American Sociologist 50, 2019, 356–377.

[6] Jonathan H.Turner/Russell K. Schutt/Matcheri S. Keshavan, Biology and American Sociology, Part II: Developing a Unique Evolutionary Sociology, The American Sociologist 51, 2020, 470–505.

[7] Z. B. Rudolf Stichweh, Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften. Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[8] Z. B. Sebastian Schnettler, Evolutionäre Soziologie, Soziologische Revue 39, 2016, 507–536.

[9] Aus der einschlägigen Literatur: Richard D. Alexander, The Biology of Moral Systems, 1987; John H. Beckstrom, Sociobiology and the Law: The Biology of Altruism in the Courtroom of the Future, 1985; Wolfgang Fikentscher/Michael T. McGuire, A Four-Function Theory of Biology for Law, RTh 25, 1994, 1-20; Edwin Scott Fruehwald, Law and Human Behavior, A Study in Behavioral Biology, Neuroscience, and the Law, 2011; ders., An Introduction to Behavioral Biology for Legal Scholars, 2010/2014, SSRN 1627363; Margaret Gruter, Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft, 1976; dies./Manfred Rehbinder (Hg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, 1983; Roger D. Masters; The Ethological Basis of Trust, Property and Competition: An Evolutionary Approach to Comparative Legal Culture, Rechtstheorie 23, 1992, 407-427; ders./Margaret Gruter (Hg.), The Sense of Justice: Biological Foundations of Law, 1992; Werner Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten, 1983; Anne C. Thaeder, Die soziobiologische Erklärung der menschlichen Natur bei E. O. Wilson, in: Anne C. Thaeder (Hg.), Geistwesen oder Gentransporter, 2018, 91-181; Eckart Voland, Soziobiologie, 4. Aufl. 2013; ders., Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie, 2007; ders., Wir erkennen uns als den anderen ähnlich, Deutsche Zf Philosophie 55, 2007, 739-749; Wolfgang Wickler/Wolfgang Fikentscher, System und Außenanbindung epigenetischer Verhaltenssteuerung, RTh 30, 1999, 69-77. Kritisch: Erhard Blankenburg, Die Rechtsbiologie – Renaissance des Naturrechts auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1985, 135-140; Brian Leiter/Michael Weisberg, Why Evolutionary Biology Is (so Far) Irrelevant to Law, 2007, SSRN 892881; Hubert Rottleuthner, Argumentation und Korrelation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, FS Thomas Raiser, 2005, 579-598.

[10] Darüber berichtet Ullica Segerstrale, Defenders of the Truth. The Battle for Science in the Sociobiology Debate and Beyond, 2000. Aus demselben Jahr stammt die Dissertation von Jeremy Freese, What Should Sociology Do About Darwin? Evaluating Some Potential Contributions of Sociobiology and Evolutionary Psychology to Sociology, auf die Riordan (wie Fn. 4) vielfach Bezug nimmt. Von Freese auch: Genetics and the Social Science Explanation of Individual Outcomes, American Journal of Sociology 114, 2008, Supplement 1-35, sowie The Limits of Evolutionary Psychology and the Open-endedness of Social Possibility, Sociologica 2, 2006, 1-12.. Die jüngste materialreiche und lesenswerte Stellungnahme, die ich gefunden habe, stammt von Anja Maria Steinsland Ariansen: »Quiet is the New Loud«: The Biosociology Debate’s Absent Voices, The American Sociologist 52, 2021, 477–504.

[11] Ich zitiere nach der 2. Auflage der deutschen Ausgabe von 2018.

[12] Z. B. Giordana Grossi/Suzanne Kelly/Alison Nash/Gowri Parameswaran, Challenging Dangerous Ideas: A Multi-Disciplinary Critique of Evolutionary Psychology, Dialectical Anthropology 38, 2014, 281-285)

[13] Fabian Deus/Anna-Lena Dießelmann/Luisa Fischer/Clemens Knobloch, Einleitung der Herausgeber, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Neoevolutionismus. Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft, 9-43, S. 15.

[14] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 2000 [Consilience. The Unity of Knowledge, 1999].

[15] Günter Dux, Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017.

[16] Stephen Jay Gould, Sociobiology: The Art of Storytelling, New Scientist 1976, 530-533.

[17] Richard Dawkins, The Selfish Gene [1976], zitiert nach der Jubiläumsausgabe 2016, S. XVI: »One of the dominant messages of The Selfish Gene (reinforced by the title essay of A Devil’s Chaplain) is that we should not derive our values from Darwinism, unless it is with a negative sign. Our brains have evolved to the point where we are capable of rebelling against our selfish genes.«

[18] Dawkins S. VIIIf.

[19] Dawkins S. 2.

[20] William D. Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour, Journal of Theoretical Biology 7, 1964, 1-16 (Teil I), 17-52 (Teil II). Dazu als kurze aktuelle Würdigung: Geoff Wild, Pillars of Biology: »The Genetical Evolution of Social Behaviour, I and II«, Applied Mathematics Publications 7, 2023, https://ir.lib.uwo.ca/apmathspub/7.

[21] Den Begriff hat wohl zuerst John Maynard Smith ins Spiel gebracht: Kin Selection and Group Selection, Nature 201, 1964, 1145-1147. Hamilton sprach zunächst von inclusive fitness.

[22] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[23] Nachweise in Fn. 32.

[24] David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019; Linda R. Caporael, Evolutionary Psychology: Toward a Unifying Theory and a Hybrid Science, Annual Review of Psychology 52, 2001, 607–628; Joseph Henrich/Michael Muthukrishna, The Origins and Psychology of Human Cooperation, Annual Review of Psychology 72, 2021, 207–240.

[25] Detlef Fetchenhauer/Hans-Werner Bierhoff, Altruismus aus evolutionstheoretischer Perspektive, Zeitschrift für Sozialpsychologie 35, 2004, 131–141.

[26] R. Hurlemann/N. Marsh, Neue Einblicke in die Psychobiologie altruistischer Entscheidungen, Der Nervenarzt 8, 2016, 1131–1135.

[27] Alfred E. Emerson, Homeostasis and Comparison of Systems, in: Roy R. Grinker (Hg.), Toward a Unified Theory of Behavior, 1956, 147-154, S. 151.

[28] Diese Auffassung stützt sich vor allem auf da Werk des amerikanischen Sozialpsychologen und Methodologen Donald T. Campbell (1916-1996). Die Diskussion nahm ihren Ausgang von Campbells Artikel »On the Conflicts Between Biological and Social Evolution and Between Psychology and Moral Tradition« (American Psychologist 30, 1975, 1103-1126; näher Franz M. Wuketits, The Philosophy of Donald T. Campbell: A Short Review and Critical Appraisal, Biology and Philosophy 16, 2001, 171–188).

[29] Für das Recht hatte Niklas Luhmann schon relativ früh eine Evolutionstheorie entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132ff. Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«.

Auch andere Juristen, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts nur an die biologische Theorie an, so in erster Linie Fögen und Teubner, Amstutz und Vesting. Christoph Henke (Über die Evolution des Rechts, 2010), der sich der Evolutionstheorie ohne die Brille der Systemtheorie nähert, distanziert sich ausdrücklich von einer Biologie genetischer Vererbung, nutzt aber gleichfalls das Schema von Variation, Selektion und Stabilisierung, um die Rechtsentwicklung analog zur biologischen Theorie zu erklären.

[30] Rudolf Stichweh, Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften. Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[31] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[32] John. Maynard Smith/G. R. Price, The Logic of Animal Conflict, Nature 1973, 15–18. Maynard Smith hat das Thema intensiv weiter verfolgt: Evolution and the Theory of Games: In situations characterized by conflict of interest, the best strategy to adopt depends on what others are doing, American Scientist. 64, 1976, 41-45; Evolution and the Theory of Games, 1982; Evolutionary Genetics. 2. Aufl. 1988; John Maynard Smith/Eörs Szathmáry, Evolution. Prozesse, Mechanismen, Modelle, 1996. Dagegen platziert Robert Axelrod sein berühmtes Tit-for Tat nicht in den Genen, sondern als Strategie egoistischer Akteure: Robert Axelrod, The Emergence of Cooperation Among Egoists, American Review of Political Science 75, 1981, 306–318; ders., The Evolution of Cooperation, 1984; dt. Die Evolution der Kooperation, 2000.

[33] Game Theory and the Social Contract I: Playing Fair, 1984, Bd. II: Just Playing, 1988.

[34] Beiträge zu einem »Symposium on Kenneth Binmore’s Natural Justice« findet man in Heft 1 der Zeitschrift »Analyse & Kritik« 28, 2006;Rezensionen: Giacomo Sillari, Economics and Philosophy 24, 2008, 287-295, Achim Kemmerling, PVS 48, 2007, 773-775; Karl Widerquist, Utilitas 21, 2009, 529-532.)

[35] Luigino Bruni, Reziprozität, 2020, S 126ff.

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Der Wandel des Rechts wird oft wie selbstverständlich als Evolution bezeichnet. Aber es ist nicht klar, ob für die Gesellschaft und ihr Recht die gleichen Gesetze der Evolution gelten wie für die belebte Natur. Es ist im Gegenteil höchst fraglich, ob und wie man den Wandel des Rechts als Teil der kulturellen Evolution mit Hilfe der von Charles Darwin (1809-1882) begründeten Evolutionstheorie erklären kann.[1]

Auf den ersten Blick scheint alles von der Antwort auf die Frage nach der ontologischen Verfasstheit der Welt abzuhängen. Ist die Welt ein Kontinuum, das sich von der unbelebten und belebten Natur bis zur Gesellschaft, der Kultur und dem Recht erstreckt? Oder gibt es zwischen Natur und Gesellschaft eine Bruchlinie, wie sie etwa in dem Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft vorausgesetzt zu werden scheint? Wer die erste Position einnimmt, wird für eine universelle Evolutionstheorie plädieren, das heißt, für eine direkte oder analoge Anwendung der Theorie Darwins auf Kultur und Recht. Wer dagegen die dualistische Antwort bevorzugt, wird eine Übertragung der biologischen Theorie auf die Gesellschaft ablehnen und die Evolutionstheorie nur als Heuristik und ihre Begriffe allenfalls metaphorisch heranziehen wollen. In diesem Sinne machen die philosophische Anthropologie, aber auch Sozial- und Kulturwissenschaften, geltend, dass die Entwicklung von Kultur und damit auch von Recht anderen Regeln folgt als die biologische Evolution.

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Ernst-Joachim Lampe, Historiogenese des Rechts. Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie); Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Ferner hat der Strafrechtler Axel Montenbruck eine dreibändige »Naturethik« vorgelegt: Bd. 1 »Universelle Natur- und Schwarmethik«, 2021, Bd. 2 »Biologische Natur- und Spielethik«, Bd. 3 »Naturalistische Kriminologie und Pönologie«.

Krimphove und Montenbruck sind von Benno Heussen, der sich kurz zuvor seinerseits auf die »Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts« begeben hatte[2], positiv rezensiert worden.[3] Aber nur der Band von Lampe ist ernst zu nehmen. Darauf will ich mich heute konzentrieren. Die Texte von Krimphove und Montenbruck laufen auf einen unkritischen retrograden Naturalismus hinaus. Dazu werde ich in einem weiteren Eintrag auf Rsozblog Stellung nehmen.

Der Strafrechtler Ernst-Joachim Lampe hatte bereits 1970 einer »Rechtsanthropologie« vorgelegt. 1987 folgte der Band »Genetische Rechtstheorie. Recht, Evolution und Geschichte«, der vorübergehend die Diskussion über eine evolutionstheoretische Aufarbeitung der Rechtsgeschichte[4] belebt hat. Nun hat Lampe er noch einmal die »Historiogenese« des Rechts aufgearbeitet und dabei eine unglaubliche Fülle von Material verarbeitet, darunter auch viel ältere, heute oft vergessene Literatur. Entsprechend ist die Lektüre der 1021 Textseiten eine Zumutung, wiewohl die umfangreichen »erzählenden« Abschnitte durchaus interessant ausfallen. Der Autor kann schreiben. Er bietet eine Weltgeschichte des Rechts, vollständiger als die bekannten Werke von Seagle und Wesel. Ich bin gespannt, wie die Fachhistoriker, in deren Geschäft er sich damit einmischt, die Darstellung würdigen. Mich hat sie deshalb interessiert, weil Lampe die Rechtsgeschichte als evolutionäres Geschehen betrachtet, ohne, wie die Bücher von Krimphove und Montenbruck, in einen darwinistischen Naturalismus abzugleiten.

Lampe verzichtet zwar »auf eine gründliche Kritik der soziobiologischen Begründung von Rechtsnormen«[5]. Aber er bleibt vorsichtig:

» … Deshalb haben alle Versuche, durch Übertragung der im biologischen Bereich geltenden Entwicklungsgesetze auch die psychischen und kulturellen Entwicklungsprozesse zu erklären, sich in der Vergangenheit als nicht zielführend erwiesen, sondern nur die selbstverständliche Erkenntnis bestätigt, dass unter komplexeren Verhältnissen differenziertere Tendenzen oder gar Einmaligkeiten die Entwicklung beherrschen. Der Titel meiner Untersuchung ist daher nicht so zu verstehen, dass ich die Erkenntnisse zur Darwinschen Evolutionstheorie als biologische Variante einer Allgemeinen Evolutionstheorie begreife, die sich per analogiam auch auf die Rechtsentwicklung anwenden lässt.« (S. VII)

In der Folge unterscheidet Lampe zwischen »Bioevolution«, »Psychoevolution« und der Rechtsentwicklung als Teil einer sozialen Evolution, die vor allem auf schöpferischen Prozessen beruht (S. IXf). Als »Historiogenese« baut er sich seine eigene Evolutionstheorie mit Orthogenese und Anagenese als einer Tendenz zu einer irreversiblen Höherentwicklung (S. 638ff, 657).

»[Der Biologe] begreift Evolution als Entstehung und Untergang von Arten. Der Anthropologe denkt anders. Er begreift den Menschen nicht nur als eine besondere biologische Art, sondern auch als Schöpfer und Geschöpf von Kultur. Und er definiert kulturelle ›Evolution‹ nicht nur, Darwin folgend, als ›Veränderung‹, sondern auch, Spencer folgend, als Veränderung durch spontan schöpferische, eigendynamische Kräfte, die ihn ›orthogenetisch‹ bzw. unumkehrbar (›irreversibel‹) vervollkommnen, indem sie ihm die Entfaltung immer reicherer Möglichkeiten (die ›Anagenese‹) eröffnen. Kulturverfall und Zusammenbruch fallen daher nicht unter seinen Evolutionsbegriff; sie sind Devolutionserscheinungen.« (S. 607)

Diese Tendenz gilt freilich nur, wenn man das Große und Ganze betrachtet. Im Bereich konkreter Rechtskulturen »hat es eine ununterbrochene Evolution i. S. einer geradlinig verlaufenen Anagenese niemals und nirgends gegeben.« Die Frage, ob das Lernen bzw. Verlernen von kulturellen Fähigkeiten als individuelles Lernen in den Menschen oder in Strukturen, also für das Recht in der Entwicklung von Normen und Institutionen stattfindet, beantwortet der Jurist Lampe nach sorgfältiger Diskussion der Meinungslager am Ende mit einer »Vereinigungstheorie, welche die Verteilung der Anteile von Psychogenese und Soziogenese, je nach der historischen Situation als offen ansieht« (S. 658).

Nicht so klar wird, wieweit die Psychogenese ihrerseits sozialkonstruktivistisch biologisch genetisch erklärt werden muss. Zwar distanziert sich Lampe von der Rechtsbiologie, mit der er früher geliebäugelt hatte[6]. Ganz verzichtet er aber nicht auf den Rückgriff auf die Gene: »Für die Funktionen des Rechts wurden vor allem zwei genetisch überlieferte Bedürfnisse leitend: diejenigen nach einer vorhersehbaren und nach einer gerechten Welt.« (S. 361). Die »biopsychische Basis« (S. 357), das »Psychogramm … [hat jeder Mensch] nur teilweise ererbt, während es großenteils epigenetisch geprägt wird« (S. 611). Diese Basis zeigt sich für Lampe im »Rechtsbewusstsein« und seiner »Psychogenese«, ein Thema, dass ihn schon früher beschäftigt hatte.[7] In einer Fußnote (Nr. 222 auf S. 68) erfahren wir:

»Offenbar ist die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genetisch nur unvollkommen vorgeprägt und weitestgehend epigenetisch entwicklungsfähig und somit unterschiedlichen Umwelt- und Kultureinflüssen gegenüber ›plastisch‹.«

Was genau man sich unter Epigenese vorzustellen hat, bleibt jedoch offen. Die Erläuterung erschöpft sich darin, dass Lampe auf ein Konzept der »epigenetischen Entwicklung sozialer Beziehungen in Kleingruppen« (S. 558) Bezug nimmt, für das in Fn. 557 die »Entwicklung von intrafamiliären Beziehungen [als] Prototyp der Epigenese aller auf Dauer ausgerichteter Beziehungssysteme« zitiert wird. So ist es denn vor allem das Rechtsbewusstsein, dass von der Anagenese, von der evolutionären Höherentwicklung profitiert.[8]

Die Ausführungen über »Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein« (S. 514ff) beklagen, dass die Entwicklung von Moral und Recht von der Psychologie nur phänomenologisch beschrieben werde, dass es jedoch an phylogenetischen Untersuchungen fehle. Das Zwischenergebnis der Literaturauswertung lautet:

»Unbestritten ist ein spezielles Rechtsbewusstsein dem Menschen nicht einmal keimhaft angeboren, sodass es unter günstigen kulturellen Bedingungen lediglich auszureifen bräuchte. Angeboren sind dem Menschen lediglich gewisse normative Grundregeln ohne spezifisch juristische Relevanz wie das schon genannte Verbot, andere zu schädigen, und das Gebot, anderen in Notlagen zu helfen. Angeboren sind ihm ferner – wahrscheinlich nicht vom Anbeginn seiner Entwicklungsgeschichte, wohl aber spätestens seit 15.000 Jahren ‒ die Fähigkeiten, Verhaltensnormen auszubilden und sich nach ihnen auszurichten. Zusätzlich zu den angeborenen Grundregeln kann er insbesondere diejenigen Verhaltensnormen erlernen, die in seiner Gemeinschaft speziell gelten. Zur Vervollkommnung dieser Fähigkeiten bedarf er freilich einer umfangreichen Einarbeitung in die Kultur seiner Gemeinschaft, die er aber schon in frühester Kindheit beginnt und ab dem Zeitalter der Pubertät verstärken und kritisch hinterfragen kann.« (S. 537)

Lampe ist anscheinend davon überzeugt, dass auch seither die psychischen Qualitäten des Menschen mit ihren »neuronalen Substraten« evolutionär entwickelt und so ein komplexeres Rechtsbewusstsein möglich gemacht haben. Aber:

»Soweit erkennbar, ist derzeit das Bewusstsein selbst der zivilisatorisch am weitesten fortgeschrittenen Völker noch immer nicht hoch genug entwickelt, um die Achtung und den Schutz von Menschenrechten als immanentes Gebot nicht nur zu erleben, sondern es auch an die nachfolgende Generation genetisch (!) weiterzugeben.« (S. 540)

Also doch wieder ein Kokettieren mit den Genen.

Die Ausgangshypothese von der Höherentwicklung des Rechtsbewusstseins, die im weiteren Verlauf mit vielen Differenzierungen bejaht wird, formuliert Lampe als Frage,

»ob der Evolution des Rechts

    • innerhalb des Gefühlsbereichs eine immer klarere Fähigkeit zugrunde lag, (objektives) Recht und Unrecht, Rechtsgrund und Rechtsfolge, (subjektives) Recht und Pflicht sowie Freiheit und Ordnung zu unterscheiden;
    • innerhalb des rationalen Bereichs eine Erweiterung der Fähigkeit korrespondierte, Allgemeinbegriffe sowie generelle Regeln zu bilden, die es erlauben, soziale Prozesse zu identifizieren, sie Personen als Urhebern zuzurechnen und zweckmäßig darauf zu reagieren;
    • innerhalb des Ich-Zentrums eine immer differenziertere Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie ein Wille entsprachen, die subjektive Verantwortlichkeit dafür und die soziale Reaktion darauf gerecht zu bemessen und zu verteilen.« (S. 42).

Ich verzichte darauf, Lampes Geschichtserzählungen zu referieren und springe zu den letzten 40 Seiten, auf denen Lampe unter der Überschrift »Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt« seine Zeitdiagnose ausbreitet.

Die Verrechtlichung zeigt sich für Lampe im Anwachsen der Staatsaufgaben, die Anagenese in der Überlegenheit des Rechtsstaats, der durch die Ausrichtung auf individuellen Rechtsschutz und Gewaltenteilung charakterisiert ist. Dessen Alternativen, die von einer philosophischen oder theologischen Gesellschaftstheorie ausgehend, Recht lediglich instrumentell benutzten, müssten an der Komplexität »aufgrund der technisch-technologischen Revolution geschaffenen ökonomischen und sozialen Verhältnisse« scheitern (S. 988).

Die Evolution habe offenbar in der menschlichen Vernunft den Fortschritt erkannt (S. 989). Zu den rationes, die hier durchdekliniert werden, gehört eine ratio voluntatis, die die Toleranz und Billigkeit vereinigt. Sie soll überall dort greifen, » wo außerhalb des naturwissenschaftlichen Bereichs Meinungen die Stelle von Erkenntnissen vertreten«. Sie legitimiert »die Geltung voneinander abweichenden (Rechts-)Meinungen, wenn alle zu ›vertretbaren‹ Ergebnissen führen« (S. 1012). Freilich sei mit der »Fähigkeit zu vernünftigen Entscheidungen keineswegs ein Wille zu vernünftigem Handeln verbunden«, denn evolutionär habe menschliches Handeln die Sicherheit instinktiv-gefühlsmäßiger Determination verloren, »ohne jedoch eine den Verlust ausgleichende Determination durch die Vernunft gewonnen zu haben« (S. 989f). An die Stelle einer natürlichen Determination muss daher eine Rechtsverfassung treten. Deren Bestandteile werden in einem sechsstufigen Pyramidenmodell mit den Inhalten der modernen westlichen Rechtskultur ausgestattet. Das geht im Detail so weit, dass auch die Einrichtung von Gütestellen nach § 15a EGZPO zur »individuale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates« gehören kann (S. 999).

Überlegungen zur »sozialen Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates« (S. 1000ff) veranlassen den Verfasser nicht nur etwa zu der Feststellung:

» … ist Grundlage des nationalen Wohlstands der Reichtum an menschlicher und tierischer Arbeitskraft, der durch den Einsatz von technischen Geräten und elektrisch betriebenen Maschinen einerseits verstärkt, andrerseits um die zur Erzeugung der technischen Geräte und der Elektrizität benötigten Mittel vermindert wird. Deshalb wird es heute mehr denn je als wichtig angesehen, dass die Mittel zur Elektrizitätserzeugung von der Natur in Form von Wind- und Wasserkraft bereitgestellt werden, ohne dass dadurch an anderer Stelle ein Energieverlust eintritt.« (S. 1001)

Sie geben auch Anlass zu einem Vergleich der sozialpolitischen Vorstellungen von John Rawls, Roland Dworkin und Amartya Sen, der aber keine Lösung bietet, so dass Lampe sein eigenes sozialpolitisches Gerechtigkeitsmodell präsentiert: Die ratio utilitatis gebietet es, allen Menschen eine Beschäftigung anbieten, die nicht nur einen ausreichenden Familienunterhalt gewährt, sondern auch die Entfaltung von Interessen und Talenten ermöglicht (S. 1006f).

Erhellend die Beobachtung, »im Bereich der ausgleichenden Sozialpolitik [sei] gegenüber früher eine Veränderung eingetreten, weil der Austausch zwischen den Anbietern und den Verbrauchern von Produkten fast ausschließlich über Händler verläuft und der Staat infolgedessen in der Lage ist, ausgleichende Normen sowohl für den allgemeinen Handelsverkehr als auch für spezielle Handelsmärkte zu erlassen« (S. 1011), irritierend die Bemerkung, das Problem der Todesstrafe sei komplizierter, als es allgemein dargestellt werde (1012), beachtenswert die Ausführungen zur Globalisierung, die von der Beobachtung ausgehen, dass die Zahl allein der europäischen Staaten in der Neuzeit von mehr als 500 im 16. Jahrhundert  auf etwa ein Zehntel geschrumpft sei mit der Folge einer Übermacht der großen Staaten im Globalisierungsgeschehen; interessant Erörterungen der Frage, ob und in welchem Umfang unter den Bedingungen der Globalisierung souveräne Staaten berechtigt oder gar verpflichtet sind, in Not- und Katastrophenlagen und bei schweren Menschenrechtsverletzungen in die Sphäre anderer Staaten einzugreifen.  Das Buch endet mit der

»Lehre aus Vergangenheit …, dass soziale Evolution unvermeidlich die Umwelt destruiert.« (S. 1021).

Diese Andeutungen über den Inhalt werden den klugen Ausführungen nicht gerecht, mit denen Lampe seine Zeitdiagnose ausbreitet. Nichts ist trivial. Alles erscheint plausibel, auch wenn es sich »theoretisch« oder gar »logisch« nicht aus der Geschichte ableiten lässt. Ob der Aufwand einer Weltgeschichte des Rechts und Ihre Einkleidung in eine Evolutionstheorie dafür erforderlich war? Er war mindestens hilfreich.


[1] Darwin selbst hätte die Frage eher verneint. Er definierte: »Ein moralisches Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, seine vergangenen und zukünftigen Handlungen oder Beweggründe mit einander zu vergleichen und sie zu billigen oder zu mißbilligen. Zu der Annahme, daß irgend eines der niederen Thiere diese Fähigkeit habe, haben wir keinen Grund.« (Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 5. Aufl. 1890, S. 122). Darwin war also kein moralischer Evolutionist, im Gegenteil, Moralität galt ihm »als das prinzipielle Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier« (Nicola Erny, Darwin und das Problem der evolutionären Ethik, Zeitschrift für philosophische Forschung 57, 2003, 53-73, S. 64).

[2] Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts. Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 4, 2019, 294-322.

[3] RPhZ 8, 2022, 241-256 und 480-493.

[4] Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002; Hans-Peter Haferkamp, Rechtsgeschichte und Evolutionstheorie, in: Ludwig Siep (Hg.), Evolution und Kultur, 2011, 35-60.

[5] S. 97 Fn 358.

[6] S. 998 ist zu lesen: » Über die Befunde der Psychologie hierzu habe ich in meiner Rechtsanthropologie, über die Befunde der Ethologie haben u. a. Margaret Gruter und Hagen Hof in ihren Veröffentlichungen berichtet.« Dazu heißt es in Fußnote 781: » Die ethologischen Befunde haben M. Gruter (1976; 1993) und H. Hof (1996) ebenfalls als für das (nicht nur deutsche) Recht verbindlich erklärt. Weitere Nachweise aus der US-amerikanischen Literatur bei W. Fikentscher (2016), p. 240 ff.« In dem mit 52 Seiten ungewöhnlich langen Literaturverzeichnis fehlen jedoch die Titel von Gruter und Hof.

[7] Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[8] S. 514ff, 546, 658f, 686,

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Rechtssoziologie unter fremdem Namen gerät zur Triviallogie

Oft wird beklagt, es gebe zu wenig Rechtssoziologie. Dabei wird leicht übersehen, wie viel Rechtssoziologie unter fremdem Namen betrieben wird. Insbesondere in Soziologie, Sozialpsychologie und Ethnologie wird man immer wieder fündig. Deshalb habe ich mich zeitweise bemüht, hier auf Rsozblog auf einschlägige Forschungen anderer Disziplinen hinzuweisen. Selbstverständlich richtet sich der Blick dabei gelegentlich auch auf die entsprechenden Bochumer Fakultäten. So konnte ich vor bald vier Jahren notieren: In Bochum gibt es wieder Rechtssoziologie.

Nun wird im Newsletter der Sektion Rechtssoziologie in der DGS vom 9. 8. 2023 als neues Mitglied der Sektion Prof. Dr. Birgit Apitzsch vom Lehrstuhl für Arbeit Wirtschaft und Wohlfahrt in der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität begrüßt, die wohl schon im Oktober 2021 nach Bochum berufen wurde. Ihr Publikationsverzeichnis bietet eine ganze Reihe von Titeln, die man der Rechtssoziologie zurechnen kann. Sie befassen sich nicht zuletzt mit Legal Techs und dem Zugang zum Recht. Ich habe bisher nur einen Text gelesen, der in Zusammenarbeit mit Berthold Vogel entstanden ist.[1] Da habe ich nun freilich gestaunt, wie gestandene Soziologen mit Aufwand und Jargon Trivialitäten verbreiten.[2] Das war bisher eine Spezialität der Kulturwissenschaften. Es wird gejammert, der Stand der professionssoziologischen Forschung zur Justiz sei beklagenswert. Aber dann erfährt man außer Gendersternchen nicht Neues. Es wird nur bestätigt, dass Justizjuristen sich über ihre Arbeitsbelastung beklagen, im Arbeitsalltag aber nicht so aufsässig sind, wie es die Autoren wohl erwartet hatten, und dass sie die »strukturell« zu erwartenden Auseinandersetzungen ihren Berufsorganisationen überlassen.


[1]Birgit Apitzsch/Berthold Vogel, Der öffentliche Auftrag der Justiz. Die Wahrnehmung professioneller Autonomie durch Richter*innen und Staatsanwält*innen. In: Birgit Blättel-Mink (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, 2021.

[2] Das kann ich auch selbst.

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Naturschutz für den Menschen?

Naturschutz auch für den Menschen? Bio-Sex? Bio-Ehe? Bio-Kinder? Da wird die Sache heikel. Wer wäre »der Mensch«, der geschützt werden sollte? Die Frage nach der Natur des Menschen wird schnell zu einem normativen Unternehmen. Der Gedanke drängt sich auf, dass man sich seiner »Natur«, seinem »Wesen« entsprechend »menschlich« verhalten müsse. Wesensbestimmungen der menschlichen Natur haben zu unmenschlichen Konsequenzen geführt. Viele halten deshalb eine deskriptive Bestimmung der Natur des Menschen von vornherein für ausgeschlossen. Wer jedoch grundsätzlich die Unterscheidung von Sein und Sollen akzeptiert, wiewohl sie praktisch immer gefährdet ist, der wird auch Versuche einer wertfreien Bestimmung der »Natur« des Menschen nicht von vornherein abweisen.

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur. Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um das Denken aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[1]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht mit der Anthropologie eine ganze Disziplin mit Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie bereit. Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Anschein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Für die Unterscheidung von Natur und Kultur ist Anthropologie jedoch wenig hilfreich.

Handfestere Aussagen findet man in Biologie, Psychologie und Medizin. Auch zwischen diesen Disziplinen und der Kultur gibt es unscharfe Grenzen, verändert doch Kultur auch körperliche Vorgänge, die lange als unveränderlich galten. Aber das ist nicht eigentlich das Problem. Biologen, Mediziner und Psychologen greifen ohne Schwierigkeiten auf die erste Natur des Menschen zurück, die ihnen mindestens als relative Unverfügbarkeit begegnet, und zwar relativ in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, das seit Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil sie sich erst im Laufe der Evolution entwickelt hat und weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution auch wieder verloren geht. Aber in diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eben doch unverfügbar. Dieser Rahmen erscheint uns als Normalität. Was aus der Normalität fällt, ist deshalb nicht unnatürlich. Das Anormale ist Teil der Natur. Das wertend normative Urteil ist damit offen, wiewohl es unreflektiert von der normativen Kraft des Faktischen getrieben wird.

Was folgt daraus? In unserem Kulturkreis wird keiner, den wir ernst nehmen, widersprechen, wenn wir sagen, aus der »Natur der Sache« folge, dass Homosexualität nicht unmoralisch und schon garkeine Straftat sein kann, weil sie zur Natur gehört. Naturalia non sunt turpia. Die Einmütigkeit endet aber schon, wenn jemand erklärt, aus der »Natur der Sache« ergebe sich, dass Homosexualität als Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX anzusehen sei, weil für Homosexuelle die Mehrzahl der Menschen als Geschlechtspartner ausscheidet und weil sie ohne Unterstützung Dritter keine Kinder bekommen können. Man wird sogleich entgegenhalten, damit werde ein natürlicher Zustand pathologisiert und in das binäre Geschlechterschema eingepasst. Zum Glück ist die Frage, ob Homosexualität als Behinderung subsumierbar ist, gegenstandslos, weil es keine Hilfemöglichkeiten oder gar Therapien gibt. Sie gegenstandslos aber auch deshalb, weil man aus § 9 SGB VIII Nr. 4 im Umkehrschluss folgern muss, dass die in Nr. 3 genannten nichtbinären Geschlechtlichkeiten nicht als Behinderungen anzusehen sind. Immerhin spricht das Natürlichkeitsargument für eine Privilegierung der traditionellen heterosexuellen Ehe. Doch insoweit ist der Zug längst abgefahren. Es bleibt nur noch Denkmalschutz.

Entscheidungsbedarf gibt es aber schon, wenn man fragt, ob Transsexualität und Intersexualität als Behinderung im Rechtssinne einzuordnen sind, denn hier ist medizinische Hilfe möglich, und sie wird auch gewünscht. Das ändert nichts daran, dass der Zustand ebenso natürlich ist wie ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte. Die Situation der Betroffenen ist so individuell, dass Dritte sich schwerlich hineinversetzen können. Oft braucht es einen längeren Entwicklungsprozess, bis die geschlechtliche Identität subjektiv klar ist. Diesen Menschen darf man die sexuelle Selbstbestimmung, die eigentlich gar keine ist, nicht verwehren. Als Argument zulässig bleibt jedoch die Behauptung, die Natur spreche dagegen, fluide Geschlechtlichkeit schlechthin für wünschenswert zu halten. Dieses Argument wendet sich die Forderung nach einem Menschenrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als Jedermann-Recht. Hier wird das Dilemma der Differenz relevant. Man muss sich entscheiden, was schwerer wiegt, die Vermutung, dass ein unbeschränktes Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eine gefährliche Jugendmode befördern könnte oder die Aussicht, dass die wirklich Betroffenen entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

Auch bei trivialeren Problemen sind Natürlichkeitsargumente einschlägig, so etwa bei Bekleidungsvorschriften im Schwimmbad. In Berlin war eine Frau mit ihrer Antidiskriminierungsbeschwerde erfolgreich, die beanspruchte, sich im Schwimmbad ebenso mit bloßem Oberkörper aufzuhalten wie Männer. Gleichberechtigung ist hier der falsche Ansatz. Das Natürlichkeitsargument spricht gegen die Heranziehung des Gleichheitssatzes, denn der Oberkörper einer Frau ist »natürlich« anders als der eines Mannes. Viel eher kommt eine unzulässige Freiheitsbeschränkung in Betracht. Da wäre dann abzuwägen, was schwerer wiegt, Bekleidungs-Freiheit oder die Befürchtung vor einer Sexualisierung öffentlicher Plätze. Befürworter des Brustfrei-Schwimmens erhoffen sich im Gegenteil eine Entsexualisierung der weiblichen Brust. Dagegen ließe sich wiederum als Natürlichkeitsargument vorbringen, dass die sexuell stimulierende Wirkung sekundärer Geschlechtsmerkmale biologisch verankert sein könnte. Allein darüber könnte man dann wieder lange streiten. Während dessen käme auf einer anderen Ebene die Diskussion auf, ob aus der Erlaubnis des Brustfrei-Schwimmens nicht alsbald ein sozialer Zwang zum Frei-Schwimmen werden könnte mit der Folge, dass sich die Liste der diskriminierenden Praktiken analog zum fat shaming um ein tit-shaming verlängerte. Man sieht, es gibt keine zwingenden Argumente pro oder contra. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Natürlichkeitsargumente nicht a limine unzulässig sind.

Natürlichkeitsargumente stützen einen Differenzfeminismus. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daraus folgt aber nicht, dass man dem einen oder dem anderen Geschlecht irgendwelche gesellschaftlichen Positionen verwehren dürfte. Das Natürlichkeitsargument zieht jedoch gegenüber der Forderung, dass alle Geschlechter in allen gesellschaftlichen Positionen gleichmäßig repräsentiert sein müssten.

Streiten muss man über die Frage, ob auch erworbene, aber kontingente Verhaltensmuster des Menschen als natürlich gelten und damit als Basis für Natürlichkeitsargumente gelten können. Der Streit beginnt schon bei der Frage, ob es solche Muster überhaupt gibt, ob sie genetisch oder jedenfalls epigenetisch verankert sind oder ob es sich um sozialevolutionäre Errungenschaften bzw. Überbleibsel handelt. Ich habe mich auf die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers bezogen. Mayer hatte die Vorstellung biologisch angelegter Verhaltensweisen zurückgewiesen, aber ein beträchtliches Erbe an Verhaltensmustern aus der Kleingruppenphase der Menschheitsgeschichte behauptet. Zwei Verhaltensmuser stehen immer noch und immer wieder zur Debatte: Männer zeigen ein stärkeres Wettbewerbsverhalten. Frauen haben eine größere Affinität zur Sorge für andere Menschen. Selbst wenn das zuträfe, folgte daraus kein Argument für ethische, politische oder juristische Normen. Der Gleichheitssatz ist stärker.


[1] Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

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Rasse als soziale Züchtung

Es ist heuchlerisch, den Rassenbegriff zu vermeiden, wenn man sich gegen Rassismus wenden will. Ein Workshop im Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (von dem ich nur aus einer Pressenotiz erfahren habe) widmet sich am 10. Februar dem Rassenbegriff. Das ist für mich Anlass, noch einmal ausführlich aus der Anthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer zu zitieren, die dieser 1977 unter dem Titel » Die gesellige Natur des Menschen« veröffentlich hatte.

Mayers Rede von der Rassen als »sozialer Züchtung« wird manchen abstoßen, wiewohl sie in der Sache antirassistisch ist.

»Die soziale Veranlagung der recenten Menschheit dürfte im Wesentlichen als gleichartig angesehen werden können. Zwar finden wir bei ethnologischen Beobachtungen sehr große Unterschiede in den Sozialstrukturen und damit auch in den sozialen Verhaltensweisen. Es ist bisher aber nirgends gelungen, diese Unterschiede aus Rassenunterschieden abzuleiten, während sie sich ziemlich mühelos historisch-soziologisch erklären lassen. … Selbst wenn wir gewisse Populationen als rassisch einheitlich bestimmt betrachten, so sind doch die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population immer viel größer als die Unterschiede zwischen den rassisch bestimmten Populationen.« (S. 14)

»Die älteren Versuche der Rassenanthropologen, die verschiedenartigen Gestaltungen, wie wir sie in Sozialformen und Sozialverhalten bei Natur- und Niederkulturvölkern vorfinden, aus Rassenunterschieden abzuleiten, überzeugen nicht. Sozialformen wirken ihrerseits züchtend und bringen verschiedenartige Typen von Menschen hervor. Hirtenkrieger (Massai) und Feldbauern (Bantu) sehen heute zweifellos verschieden aus, aber die verschiedenen Typen sind das Züchtungsergebnis verschiedener Lebensweisen.« (S. 71f)

»Der Kulturzustand der rezenten Menschheit ist überaus verschieden. In ihrer Jugendsünden Maienblüte hat die junge Wissenschaft der Genetik im Seitenzweig der Rassenlehre diese Kulturunterschiede rassenpsychologisch erklären wollen. Heute ist Mode, die Möglichkeit von Rassenunterschieden prinzipiell zu leugnen. Naturwissenschaftlich ist dies ebenso töricht, wie der vormalige Hochmut der Europäer, welche historisches Glück mit ihrer angeblich so vorzüglichen Rasse fehlerklärten. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, weil es Gleichheit in der lebendigen Natur nicht geben kann. Aber nüchterne Beobachtungen belehren uns darüber, daß diese problematischen Unterschiede nicht ausreichen, um die wirklich vorhandenen Kulturunterschiede zu erklären, so daß man von einer relativen Gleichheit der Menschen ausgehen kann. Alle Rassen sind auf allen Gebieten lernfähig, die Lernfähigkeit ist allerdings teilweise bedingt durch die von Generation zu Generation gesteigerten Traditionsvorteile.« (S. 90)

»Die Befähigung junger Jurastudenten auf afrikanischen Hochschulen, mit den Denkmitteln der englischen Präjudizienjurisprudenz umzugehen, kann einen deutschen Professor mit Neid erfüllen.« (S. 91)

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Digitalisierung verstärkt die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation und erschwert den Zugang zum Recht

Heute, am Tag der Internetsicherheit, ausgerufen von der Europäischen Union, kommen die Schattenseiten der Digitalisierung in den Blick. Digitalisierung befestigt soziale Ungleichheit und erschwert den Zugang zum Recht. Dafür braucht man gar nicht erst nach Spanien zu schauen, wo die Rentner gegen das Online-Banking aufbegehren. Das ist nicht nur ein Altersproblem. Es geht vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die mit der Digitalisierung wächst.

Allerdings hinken die Alten mit der Internetnutzung hinterher:

Ich bin alt. Aber ich bilde mir ein, noch immer digifit zu sein. Anfang der 1980er Jahre war ich der erste in meiner Umgebung mit einem eigenen PC, einem Kaypro II mit dem CPM-Betriebssystem und zwei Floppy-Disk-Laufwerken mit 195 KB Speicherkapazität.

Das Textverarbeitungsprogramm hieß damals Wordstar. Da musste man noch einige Grundeinstellungen wie z. B. die Seitenränder direkt in das Programm eingeben. Ich habe dann alle Umstellungen auf die neueren Betriebssysteme, zuerst MSDOS und dann Windows mit seinen verschiedenen Versionen mitgemacht. Mein erstes Literaturverwaltungsprogramm habe ich mir mit dBase selbst zusammengebastelt. Leider – so muss ich heute sagen – habe ich irgendwann das wunderbare Textverarbeitungsprogramm Nota Bene zugunsten von Word verlassen. Auch den Wechsel zu cloudbasierten Diensten habe ich hinter mir. Noch in den 1980er Jahre gab es in Bochum die erste Tagung, bei der mit Hilfe der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in St. Augustin, die damals mit der Digitalisierung der Justizstatistik befasst war, Daten fernübertragen wurden.[1] Als Direktor des Zentralen Rechtswissenschaftlichen Seminars das erste JURIS-Terminal in Betrieb genommen und für Studenten zugängliche PC aufgestellt. Später habe ich für die Vereinigung für Rechtssoziologie eine Webseite eingerichtet, die – völlig veraltet – immer noch im Netz steht. Meine alte Lehrstuhlseite habe ich bis 2009 noch selbst gepflegt. Noch immer betreibe ich mit RSOZBLOG.de und Rechtssoziologie-online aktiv zwei Internetseiten. Nach alledem bilde ich mir ein, noch immer einigermaßen digifit zu sein. Aber nun bin ich doch mit der Steuererklärung mit dem neuen Mein Elster-Programm vorläufig gescheitert.

Ein Freund, der als Steuerberater zugelassen ist und dem ich davon erzählt habe, hat mir erklärt, er selbst wende sich an ein größeres Büro, um seine eigene und die Steuerklärungen seiner (wenigen) Mandanten abzugeben. Als ich mich heute am Tag der Internetsicherheit wieder bei Mein Elster einloggen will, verlangt das Programm, dass ich zuvor Java aktiviere. War nicht dieses Programm grade als Einfallstor für Computerhacks ins Gerede gekommen?

Keine Frage: Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Das Online-Banking bei der Commerzbank funktioniert erstklassig. Die Steuererklärung mit dem alten Elster-Programm lief ganz gut, und mit dem neuen Programm werde ich es auch noch schaffen. Aber es geht nicht um mich, der ich täglich so lange vor dem PC sitze wie andere vor dem Fernseher. Es geht auch nicht allein um Internetzugang und die Kompetenz zum Umgang mit kleinen und großen Endgeräten. Es geht wie gesagt vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die James S. Coleman schon vor Jahrzehnten für so grundlegend ansah, dass er von der asymmetrischen Gesellschaft sprach[2]. Mit der Digitalisierung ist die Differenz gewachsen, und sie wächst weiter.

Von den acht Merkmalen dieser Differenz, die ich in Rechtssoziologie-online § 76 VI. aufgezählt habe, ist besonders die Außenkommunikation betroffen.

Die alten Kommunikationswege – Präsenz, Brief, Telefon –, die jedermann einfach und kostengünstig zur Verfügung standen, sind unbrauchbar geworden. Sieht man einmal vom stationären Einzelhandel ab, so kommuniziert der Bürger heute mit Behörden und Firmen aller Art in der Hauptsache elektronisch. Der immer noch relativ einfache Email-Kontakt funktioniert in vielen Fällen nicht mehr. Organisationen verlangen, dass man sich auf ihren Webseiten anmeldet. Für den Kontakt genügen nicht Name und Anschrift, sondern es wird nach Passworten und nach vielstelligen Kunden- oder Geschäftsnummern gefragt. Das Individuum muss sich durch eine mehr oder weniger übersichtliche Internetseite durchklicken. Es kann sein Anliegen nicht frei formulieren, sondern nur vorformulierte Antworten ankreuzen. So ist die Kommunikation einseitig kanalisiert. Einen Sachbearbeiter bekommt man nicht mehr zu Gesicht und auch nicht mehr ans Telefon. Behörden und Unternehmen verbergen ihre Durchwahltelefonnummern und bieten nur noch eine Servicenummer an, die in ein Callcenter führt und dort, meistens nach Wartezeiten, oft mit einem automatisierten Sprachdialogsystem beginnt. Personen- oder ressortbezogene Mailadressen bleiben ebenso wie die Telefonnummern verborgen. In Behörden sind persönliche Vorsprachen nur noch nach elektronischer Terminvergabe möglich. Vom Bürger-Individuum wird verlangt, dass es eine Mailadresse unterhält, obwohl es sie aktiv kaum noch nutzen kann. Die Mailadresse dient nur noch den Organisationen als Identifikationsmerkmal und als Zugangskanal. Wenn man heute am Tag der Internetsicherheit in den Zeitungen liest, wie gefährlich der Umgang mit der Email ist, wünscht man sich den guten alten Briefkasten zurück. Man kann seine Email-Adresse aber auch nicht einfach wechseln. Damit hätte man sich aus vielen Diensten ausgesperrt.

Unter dem Thema »Zugang zum Recht – zugängliche Rechte« haben die deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen für 2023 eine Tagung angekündigt. Ich kann nur hoffen, dass dort auch die Erschwerung des Zugangs zu rechtlichen Dienstleistungen durch die Digitalisierung thematisiert wird.

Nachtrag vom 11. 2. 2022: Auch diese Untersuchung von Herbert Kubicek über »Internetnutzung älterer Menschen in Bremen und Bremerhaven« geht davon aus, dass es allein darum gehe, der »Alterslücke« bei der Digitalisieung auf der Nachfrageseite beizukommen. Aber es geht nicht um digitale Teilhabe, sondern um digitale Überwältigung der Bürger durch Bürokratie und Wirtschaft.


[1] Damals war die vom Bundesministerium der Justiz veranlasste #Strukturanalyse der Rechtspflege« in vollem Gang. JURIS war im Aufbau. Im BMJ stand vor allem Dieter Strempel dahinter, aus der GMD ist mir Hellmut Morasch unvergessen. Aus der umfangreichen im Verlag des Bundesanzeiger erschienenen Schriftenreihe »Rechstatsachenforschung« sei hier nur der von Herbert Fiedler und Fritjof Haft herausgegebene Band »Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern« angeführt.

[2] James S. Coleman, The Asymmetric Society, 1982.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen III: Es gibt keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen

Schon der Titel des Buches macht klar: Mayer zeichnet den Menschen anders als Hobbes nicht als potentiellen Feind seines Mitmenschen. Nach dem Untertitel handelt es sich um eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«. Daher liegt es nahe, Textstellen zu zitieren, die auf Kriminalität Bezug nehmen.[1]

»Daß der Mensch von Natur aus als ζῷον πολιτικόν geneigt ist, unter gewöhnlichen Lebensbedingungen friedlich mit seinesgleichen in gesellschaftlichen Gebilden zusammenzuleben, lehrt die überwiegende Erfahrung. Daß er vermöge einer von der Natur in ihn hineingelegten Entelechie auch wirklich immer diesen Weg einschlägt und zielstrebig verfolgt, muß leider verneint werden.« (S. 2252)

»Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe [von der im vorigen Eintrag die Rede war] entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht.« (S. 64)

Dennoch ist nicht alles reine Harmonie:

» Der Mensch ist zugleich Einzelwesen mit einem sehr starken individuellen Selbstbehauptungsdrang. Der Selbstbehauptungsdrang nimmt die vitalen, der Selbsterhaltung dienenden Triebe in seinen Dienst, geht aber über deren Ziele weit hinaus und macht daher die Erscheinung des menschlichen Egoismus möglich.« (S. 64)

Aber mit der Feststellung, dass eine Verhaltensweise aus dem Rahmen des sozial Verträglichen fällt, darf nicht sogleich ein Werturteil verbunden werden. Man soll Menschen nicht deshalb als defizitär definieren, weil die friedliche Grundstruktur versagen kann: »Niemand würde es für vernünftig halten, das Auto als die Maschine zu definieren, welche Pannen erleidet.« (S. 254) So gibt es denn keinen geborenen Verbrecher und kein natürliches Verbrechen.

»Es gibt kein empirisches Phänomen ›crimen‹, welches vor und außerhalb der Steuerungsvorgänge läge. Zwar gibt es soziale Vorgänge, welche Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft nahelegen und schließlich zur Einrichtung des Strafrechtssystems führen. Aber die Strafrechtsnorm ist logisch immer früher als das crimen, der Strafrichter (die Strafrechtsnorm) immer früher als der Straftäter. Bevor es den Strafrichter gibt, gibt es nur soziale Vorgänge, die als Störungen empfunden werden können, nicht müssen.« (S. 4)

»Die meisten Straftäter unterscheiden sich kaum vom Durchschnitt, wohl aber erleiden sie durch das Erlebnis ihrer Straffälligkeit und das Stigma der öffentlichen Strafe eine mehr oder weniger schwere psychische Schädigung. … Das Schema von Schuld und Sühne machte es dem Bürger leichter, den Mann, der seine Tat gesühnt hatte, eine neue Chance zu geben. Von äußerster Grausamkeit ist es, das künftige Verhalten des Täters vorausberechnen zu wollen und im Fall einer negativen Prognose ihn durch Dauerverwahrung zu eliminieren.« (S. 131)

»Es war eine verhängnisvolle Illusion der älteren Gefängnisreformer, wenn sie meinten, daß bloße Arbeitsgewöhnung den Menschen sozialisiere, d. h. zum Sozialverhalten dressiere. Arbeit hilft nur, wenn sie als Erfüllung der Persönlichkeit erlebt wird.« (S. 155)

»So übertrieben auch die Meinung der sozialistischen Kriminologen war, die Kriminalität sei eine Folge der Klassenunterschiede, so wahr ist es, daß im Widerspruch zwischen Gleichheitsbedürfnis und faktischen sozialen Unterschieden eine der Hauptursachen für soziale und kriminelle Konflikte zu sehen ist.« (S.165)

Fortsetzung folgt.


[1] Alle Zitate aus Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen II

Eine Grundfrage jeder Anthropologie geht dahin, ob der Mensch »von Natur aus« gesellig sei. Mayer gibt schon mit dem Titel seines Buches die positive Antwort: Zur »vitalen Grundstruktur« des Menschen gehört ein »Sozialdrang«. Die Antwort wird doppelt qualifiziert. Die Lebensform des Frühmenschen ist der Kleinstamm mit Arbeitsteilung. Diese Form wirkt auch im modernen Menschen noch nach. Offen bleibt, wie diese Nachwirkung gesichert ist, ob sie genetisch oder sozial tradiert wird. Die neuere Vorstellung epigenetischer Vererbung kannte Mayer noch nicht. Er richtet den Blick zurück auf den »Frühmenschen« und erschließt die »vitale Grundstruktur« aus historischen und prähistorischen Reminiszenzen. Das ist eine ebenso verbreitete wie anfechtbare Methode. Heute weiß man, dass genetische Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben.[1] Wie lange genetische, epigenetische oder soziale Prägungen halten, ist unklar. Mayer ist davon überzeugt, dass es eine »vitale Grundstruktur« gibt und dass sie über die Jahrtausende hält. Aber – das ist der springende Punkt seiner Anthropologie – alle Prägungen sind nur Startkapital oder Schulden an die tierische oder frühmenschliche Vergangenheit. Das Bewusstsein und seine Äußerungen als »objektiver Geist« ändern alles. Alle Antriebe, Emotionen oder Verhaltensmuster müssen nicht, aber sie können den Weg durch das Bewusstsein nehmen. Sie wirken – um es mit der Metapher zu sagen, die ich schon im letzten Eintrag verwendet habe – wie Rückenwind oder Gegenwind beim Fahrradfahren. So ist es auch mit der geselligen Natur des Menschen.

Dabei vermeidet Mayer jede Theoretisierung der Beziehung zwischen Körper und Geist. Er betont die »Doppelnatur des Menschen, der zugleich als Tier und als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß.« Der Kleinstamm bildet die elementare Form der Gesellung. Den haben wir anscheinend immer noch in den Knochen. Das könnte erklären, was in der Psychologie als In-Group-Mechanismus und in der Soziologie als Othering geläufig. Was man heute »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«[2] nennt, wäre dann nur die Kehrseite der ursprünglich geselligen Natur des Menschen. Der moderne Kampf für die Überwindung dieser Grenze ist eine geistige Errungenschaft. Er leidet darunter, dass zu bekämpfende Phänomen als (nur) sozial geprägt vorschnell in eine moralische Ecke gestellt wird. Das ist schwarze Pädagogik. Von Mayer kann man lernen, das es gilt, nicht zu tadeln, sondern zur Nächstenliebe aufzurufen. Dazu aus den nachfolgenden Zitaten vorweg:

»Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues.«

Es folgen weitere Zitate aus dem Originaltext:

»Nur wenige Tiere leben solitär, begnügen sich also mit vorübergehender geschlechtlicher Begegnung. Die meisten Tiere leben sozial, wobei recht erhebliche Sozialleistungen zustandekommen. [31]

Das soziale Verhaltensinventar ist zu reich gegliedert, als daß es von einem einzigen Strukturelement ausgelöst und gesteuert werden könnte. Ein solcher Antriebsmechanismus müßte teleologische Fähigkeiten haben, was nur Vitalisten glauben können. [35]

Die einfachste Form aller Sozialbindungen finden wir in der Brutpflege. [36]

Die Menschheit ist ohne Zweifel eine primär – nicht etwa sekundär – gesellig lebende Species. Die sozialen Antriebe ergeben insgesamt einen sehr starken Sozialdrang, der sich nicht selten bis zur Aufopferung des Einzelnen steigert. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die Menschen sich untereinander feindlich oder gar aggressiv gegenüberstünden. Dem Menschen eignet aber zugleich ein individueller Selbstbehauptungswille, wie ihn vielleicht in dieser Stärke keine andere gesellig lebende Art besitzt. Im Miteinander und Gegeneinander dieser beiden hauptsächlichen Teilstrukturen entfaltet sich das menschliche Sozialleben. [58]

Der Sozialdrang. – Geselligkeitstrieb ist ein viel zu schwacher Ausdruck – ist dem Menschen sowohl in seiner vitalen Grundstruktur mitgegeben als auch in seinem geistigen Wesen angelegt.

  1. Der vitale Sozialdrang wirkt schon vor jeder Reflexion. Vielfach ist sich der Mensch dieses seines Dranges gar nicht bewußt, wenn er ihn sich natürlich auch bewußt machen kann. Die stammesgeschichtliche Herkunft erweist den Menschen wie auch die Primaten als soziales Tier. Man hat wohl mit Recht gesagt, ein einzelner Schimpanse sei gar kein rechter Schimpanse. Der Sozialdrang ist die Voraussetzung der Homination. Wären nicht bereits die Prähominiden von diesem Drang erfüllt gewesen, wäre er nicht durch Selektion gesteigert worden, so hätte es niemals den Menschen, homo sapiens geben können. Als Einzelexemplar wäre der Mensch ein sehr schwaches und hilfloses Geschöpf, von der Natur weder zu wehrhaftem Kampf gerüstet noch zu schneller Flucht befähigt. Hätte er erst auf seine Bedürftigkeit reflektieren müssen, um sich sekundär zu Gruppen zusammenzuschließen, so wäre er längst ausgerottet worden, bevor ihm Gruppenbildung hätte gelingen können. [59] Denn die Natur hat den Menschen zum gefährlichen Leben in der Steppe gedrängt, wo er sich Raubtieren, namentlich Raubkatzen gegenüber behaupten mußte. Weil der gesellige Mensch von Haus aus in der Gruppe wohl versorgt und mächtig war, so mußte die Selektion ihm keine natürlichen Waffen und keinen panikartigen Fluchtinstinkt anzüchten, welche beide den Weg zum homo versperrt hätten.

Baumaffen haben es verhältnismäßig bequem. Gefährliches Raubzeug kann ihnen kaum nachklettern. Sie können sich also mit einem sehr primitiven Sozialleben begnügen. Bei den Pavianen ist dies bereits etwas anders. Aber nur der Frühmensch mußte sogleich die komplizierte Lebensform des Kleinstammes entwickeln. Wir heben einige Grundelemente vorläufig hervor, wie sie sich in befriedigenden Hypothesen darstellen, welche durch Beobachtungen an Wildbeutern und anderen Primitiven wahrscheinlich gemacht werden. Der Stamm muß immerhin so menschenreich sein, daß er eine hinlängliche Anzahl von Männern zum Kampf gegen Raubwild und zur Jagd auf Großtiere herausstellen kann. Nur das Großwild liefert eine für den Stamm genügende Menge Fleisch. Die Mammutjagd ist denn auch schon für sehr frühe Zeiten durch Funde erwiesen und der rezente Buschmann jagt heute noch die Giraffe. Solche Jäger müssen unter sich in fester Kameradschaft zusammenstehen, also in einem Männerbund, in welchem jeder grundsätzlich den gleichen Rang des Kriegers und Jägers besitzt, unbeschadet der Autorität des möglicherweise charismatisch vorgestellten Vorkämpfers. Nur unter dieser Voraussetzung genügt eine etwas gesteigerte Schimpansenintelligenz dazu, den Kampf mit dem Raubwild aufzunehmen und Großtiere zu jagen. Der Massaijüngling von heute erlegt zwar als Einzelkämpfer den Löwen, aber eben mit dem eisenbeschlagenen Speer. Der Frühmensch konnte nur in der Gruppe abwehren und jagen. Hatte er aber erst einmal gelernt, mit Feuer die Spitze der Holzstangen zu härten, so konnte er dem Raubzeug so schrecklich werden, daß auch heute noch die Raubkatzen auf freier Strecke den aufrecht gehenden Mann fürchten. Der Stamm kann übrigens nur leben, wenn die Frauen eine intensive Sammeltätigkeit aufnehmen. So bereitet sich sehr früh eine strenge Arbeitsteilung der Geschlechter vor, weil sie auch den Bedürfnissen der tragenden, gebärenden und stillenden Frau entspricht. Die frühzeitig einsetzende Hypersexualisierung nötigt zum dauernden paarweisen Zusammenleben. [61] Die lebenswichtige Kampfkameradschaft der Männer läßt keinen Boß aufkommen, der alle Weibchen für sich reklamiert.

  1. Auch die geistige Verfassung des Menschen ist auf soziale Verbindung ausgerichtet, wie auch Hugo Grotius den appetitus societatis nicht als Instinkt, sondern als geistige Bestimmung der Menschheit denkt. … Dabei kommen freilich sehr verschiedene Lösungen vom Nein bis zum Ja vor. Aber gewöhnlich wird die naive Verbundenheit doch auch klar gedacht und bejaht. Sentimentales, vernünftiges und auch intellektuelles Verhalten steigern sich also wechselseitig. Die egoistische Reflexion auf die soziale Interdependenz ist eine geschichtlich späte Erscheinung. [63f]
  1. Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues. Vorher ist in allen ursprünglichen Rechten der Fremde rechtlos. Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht. Der naive Sozialdrang kann sich nämlich naturgemäß nur soweit durchsetzen, als soziales Zusammenleben überschaubar ist. Der Primitive denkt und fühlt über den Kleinstamm zunächst nicht hinaus, wenn auch der Wildbeuter sich auch fremden Stämmen gegenüber relativ friedlich verhält. Sozietät setzt sprachliche Verständigung voraus. Die Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch den Griechen vom ›Barbaren‹, der vermeintlich keine Sprache hat.« [64]

Fortsetzung folgt.


[1] VanessaVillalba-Mouco u. a. , Genomic Transformation and Social Organization During the Copper Age–Bronze Age Transition in Southern Iberia, Science Advances Vol 7 vom 17. 11. 2021.

[2] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heißt das Konzept des Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, mit dem das Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in jährlich wiederkehrenden Untersuchungen nach Rassissmus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganis-mus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, der Abwertung von Obdachlosen, Behinderten, Lang-zeitarbeitslosen und nach Etabliertenvorrechten fragt.

 

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Zweite Natur und Naturalisierung – Auf der Suche nach einer Anthropologie

Der Begriff der Naturalisierung deckt sich nur zum Teil mit dem der zweiten Natur. Er ist insofern enger, als er darauf abstellt, dass Teile der zweiten, der sozialen Natur des Menschen, den Anschein erwecken, als gehörten sie zur ersten Natur. Diese Bedeutung ist zunächst von Karl Marx und später vor allem durch Bourdieu geprägt worden. Bourdieu spricht auch von Hexis und meint damit, dass bestimmte biologisch kontingente Verhaltensweisen so fest eingeprägt sind, als seien sie angeboren. Solche Prägung hat zur Folge, dass die Verhaltensweise nur sehr schwer zu ändern ist. Sie hat unvermeidlich aber auch normative Konsequenzen, denn daran schließt die normative Kraft des Faktischen. Hier ist diese Kraft doppelt stark, denn sie knüpft nicht nur an Normalität, sondern auch an den Anschein der Natürlichkeit, mit dem sich die Vorstellung verbindet, dass das Natürliche auch das Richtige sei. Daher ist es verständlich, dass im sozialen Diskurs Behauptungen, dass bestimmte Verhaltensweisen natürlich seien und deshalb akzeptiert werden müssten als (falsche) Naturalisierung zurückgewiesen werden. Diese Zurückweisung ist weithin so rigoros, dass Natürlichkeitsargumente als schlechthin indiskutabel gelten. Das geht jedoch zu weit.

Der Mensch ist kein Stichling. Dennoch darf hier an die Diskussion erinnert werden, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden.[1] In Deutschland betrieb insbesondere Hellmuth Mayer (1896-1980)[2] die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen, zusammenfassend in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen« von 1962. 15 Jahre später schrieb er noch eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«.[3] Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind wohl die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken. Irritierend für viele Leser sind vermutlich viele Beispiele, die Mayer als Soldat und »teilnehmender Beobachter« während des ganzen Ersten und anfangs auch noch des Zweiten Weltkriegs festgehalten hat. Erstaunlich sind die ethnologischen Beobachtungen aus Afrika, die sich daraus erklären, dass eine Tochter Mayers mit einem Nigerianer verheiratet war und ein Jahrzehnt als Ärztin in Tansania verbracht hatte.

1965 war ich als junger Richter für ein Jahr auf die Assistentenstelle am Kriminologischen Seminar der Kieler Universität abgeordnet. Hellmuth Mayer wurde mein Doktorvater. Damals bestand das »Seminar« aus dem schon emeritierten Mayer als Direktor, einer Sekretärin und einer kleinen Bibliothek. 2012 wurde aus dem Seminar ein »Institut«. In seiner »Institutsgeschichte« hat es die Anfänge unter Hellmuth Mayer vergessen. Als ich dort ankam, hatte das Kieler Kriminologische Seminar erfolgreiche Jahre hinter sich. Unter Mayers Anleitung konnten sich dort vier Strafrechtler[4] habilitieren. Der junge Privatdozent Friedrich Geerds nutzte das Seminar als Fließband für Dissertationen, die alle nach dem gleichen Muster als Aktenuntersuchung abliefen. Er zog dann als Ordinarius nach Frankfurt a. M. Wolfgang Naucke, ein scharfsinniger Kantianer, ergriff die Gelegenheit, um zusammen mit dem damals in Kiel tätigen Soziologen Paul Trappe auf die Rechtssoziologie aufmerksam zu machen (und ist dafür verantwortlich, dass ich den Weg von der Kriminologie zur Rechtssoziologie gefunden habe). Trappe hatte 1959 in Mainz über die Rechtssoziologie Theodor Geigers promoviert. 1962 gab er einen umfangreichen Band heraus, der Arbeiten zur Soziologie von Theodor Geiger enthielt, von denen einige zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. 1964 erschien der von Trappe edierte Neudruck von Geigers »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts«. Im gleichen Jahr wurde Trappe nach Kiel berufen, wo er zusammen mit Wolfgang Naucke in Seminaren und Veröffentlichungen Grundlagen für die in den Folgejahren aufblühende Rechtsoziologie legte. Auch Naucke wurde nach Frankfurt berufen. Friedrich W. Krause, ursprünglich Staatsanwalt, später in Mannheim und Würzburg, erwarb sich Verdienste besonders um Kriminalistik und Strafprozess. Joachim Hellmer schließlich nahm sich besonders der Sicherungsverwahrung an, die Mayer stets als grausam angesehen hatte. Er wurde Mayers Nachfolger als Seminardirektor, nachdem zwischenzeitlich Hilde Kaufmann diese Stelle innegehabt hatte.

Hellmuth Mayer war zu seiner Zeit als Anders-Mayer bekannt, weil er häufig anderer Meinung war als die Mehrheit seiner Fachkollegen. In Assistentenkreise hieß es, auf der Suche nach einem interessanten Thema könne man stets bei Mayer fündig werden. Damit bin ich nach einem kleinen Umweg wieder beim Natural Turn. Eine naturalistische Ethik muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Hellmuth Mayers Buch über »Die gesellige Natur des Menschen«, die eine »Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht« bieten sollte, kann da nicht als repräsentativ und maßgeblich gelten. Aber das buch ist immer noch eine Fundgrube. In der nächsten Fortsetzung werde ich daher voraussichtlich einige Fundstücke aus diesem Buch vorzeigen.


[1] Davon zeugt der Band von Fritz Sack/René König (Hg.), Kriminalsoziologie, 1968.

[2] Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980). Vom Verteidiger im Hitler-Prozess 1924 zum liberal-konservativen Strafrechtswissenschaftler; das vielgestaltige Leben und Werk des Kieler Strafrechtslehrers, 2008.

[3] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977.

[4] Friedrich Geerds, WolfgangNaucke, Friedrich Wilhelm Krause und Joachim Hellmer.

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Digitalisierung statt Mobilisierung von Recht

Mobilisierung des Rechts – das war einmal ein großes Thema der Rechtssoziologie.[1] Wirksamkeit des Rechts stellt sich nicht von selbst ein. In der Regel allerdings kann man sich darauf verlassen, dass sich Normbenefiziare finden, die qua rational choice vom Recht Gebrauch machen. Der Rechtsgebrauch verlangt indessen Kompetenz und Ressourcen. Viele rechtliche Möglichkeiten werden deshalb von denen, die davon profitieren könnten, nicht in Anspruch genommen, und zwar gerade von denen, denen damit besonders geholfen wäre. Es fehlt der »Zugang zum Recht«: Das Recht muss erst »mobilisiert« werden. Die herkömmlichen Instrumente sind Rechtsberatung und Prozesskostenhilfe. Aber auch die muss man erst einmal erreichen.

Nun könnte die Digitalisierung Abhilfe schaffen, indem die Verwaltung vom Antrags- auf einen Angebotsmodus umschaltet. Das entnehme ich einem Artikel von Alexander Haneke in der Heimlichen Juristenzeitung, der sich mit den nicht ausgeschöpften Möglichkeiten der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung befasst.[2] Haneke zitiert darin Jan Ziesing vom Berliner Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme[3] sinngemäß wie folgt:

Technologisch wäre es möglich, staatliche Leistungen nicht mehr von einem Antrag abhängig zu machen, sondern dem berechtigten Bürger anzubieten, worauf er einen Anspruch hat. Die Daten, aus denen sich die Anspruchsvoraussetzungen ergeben (Person des Berechtigten, Familienstatus, Kinder, Einkommen), sind den Behörden längst bekannt, sie müssten nur zusammengeführt und genutzt werden. Dann könnte, wer sich bei der Verwaltung auf seinem Nutzerkonto einloggt, eine Benutzeroberfläche vorfinden, wie sie den meisten Menschen vom Onlineshopping vertraut ist. Dort steht dann in einem Feld; »Sie hätten mit Ihren Daten auch einen Anspruch auf diese Leistung oder jene Unterstützung.«

Haneke kommentiert:

»Wie grundstürzend das wäre, lässt sich im Sozialrecht erahnen. Kaum jemand kann abschätzen, wie viele Ansprüche auf Sozialleistungen bislang nicht abgerufen werden, weil die Berechtigten schlicht nichts von ihren Möglichkeiten wissen. ›Auch die Steuererklärung ließe sich bei Standardfällen leicht umdrehen‹, sagt Ziesing. Der Staat habe fast alle relevanten Daten. „Warum bietet das Finanzamt dem Bürger nicht eine Steuererklärung an, die der dann nur noch modifizieren muss?«

Als »proaktive Verwaltung« bekäme das Ganze dann auch einen modischen Namen. Im Hintergrund steht das Onlinezugangsgesetz (OZG), das Bund, Länder und Kommunen verpflichet, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen über Verwaltungsportale auch digital anzubieten. Im OZG-Umsetzungskatalog werden annähernd 600 Verwaltungs-Leistungen in 35 Lebens- und 17 Unternehmenslagen gebündelt und 14 übergeordneten Themenfeldern wie »Familie und Kind« oder »Unternehmensführung und -entwicklung« zugeordnet.


[1] Donald Black, The Mobilization of Law, Journal of Legal Studies 2, 1973, 125-149; Erhard Blankenburg, Mobilisierung von Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1, 1980, 33-64; ders., Mobilisierung des Rechts. Eine Einführung in die Rechtssoziologie, 1995.

[2] Alexander Haneke, Urkunden wie aus einer anderen Zeit, FAZ vom 4. 5. 2021.

[3] Ein Original habe ich dazu nicht gefunden.

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