#Metoo – die sexuelle Revolution frisst ihre Kinder

Kürzlich war ich in Heidelberg und übernachtete dort in einem auf bayrisch getrimmten Hotel, das weibliche Personal entsprechend in Dirndl gezwängt. So konnten an der Rezeption und im Restaurant tiefe Einblicke in entzückend jugendliche Busen gar nicht ausbleiben. Sie waren nicht weniger schön als der Blick von der Alten Brücke auf das Heidelberger Schloss und von der Bahnstrecke am Rhein auf die Loreley. Auf der Rückfahrt habe ich in den dicken Sonntagszeitungen die Metoo-Stories gelesen. Da kamen mir die Einträge über die Sexdefizit-These von Roy Baumeister u. a., das darauf aufbauende Konzept der Geschlechterbeziehungen als Austauschverhältnis[1] sowie Catherine Hakims Erotisches Kapital in Erinnerung, übr die die ich vor Jahr und Tag an dieser Stelle reichlich ratlos geschrieben hatte.

Der Eintrag vom 30. Juni 2015 über den – wie ich fand – skandalösen Artikel von Roy F. Baumeister und Kathleen D. Vohs[2], den ich aus Anlass von Baumeisters Einladung an die Universität Bamberg verfasst hatte, zog hier im Blog zu meiner Enttäuschung keine Kommentare auf sich. Eine kleine Email-Korrespondenz, die Ulrike Schultz von der Fernuniversität Hagen auf meine Bitte in ihrem Netzwerk initiiert hatte, brachte einige Antworten hervor, in denen zwar allgemein Empörung geäußert wurde, die aber keine Hilfe für eine sachliche Auseinandersetzung mit Baumeister und Vohs boten. Ich hatte gehofft, dass mir jemand diese Auseinandersetzung abnehmen könnte (zu der ich mich auch heute noch nicht im Stande sehe). Immerhin teile ich die Ausgangsposition von Baumeister und Vohs, nämlich die Annahme, dass die Geschlechterbeziehungen sich als Austauschverhältnis modellieren lassen und dass es daher auch möglich sein müsste, sie einer quasi-ökonomischen Analyse zu unterziehen.[3] Das Austauschmodell prallt bisher, soweit ich sehe, an der Perspektive eines wohlwollenden Sexismus (benevolent sexism[4]) ab, die sich nicht mehr durchhalten lässt, wenn man das Austauschmodell ernst nimmt. Ich halte es auch nach wie vor für plausibel, wenn Catherine Hakim unter Berufung auf Bourdieu, erklärt:

»Erotic capital is just as important as economic, cultural and social capital for understanding social and economic processes, social interaction and social mobility.«[5]

Eine ausführliche Stellungnahme zu Hakims Thesen von Andreas Schmitz und Jan Rasmus Riebling[6] zeigt wichtige Kritikpunkte. Mit gutem Grund kritisieren sie, wie andere auch[7], dass Hakim, jedenfalls in ihrem Buch, postfeministische Ratgeberliteratur geliefert habe, die der Ungleichheit der Geschlechter durch besseres Selbstmanagement abhelfen solle und stattdessen nur zur Reproduktion von Geschlechterunterschieden beitrage. Vor allem beanstanden sie, dass die distinkten Elemente, aus denen sich nach Hakim das erotische Kapital zusammensetzen soll, nicht zu der Kapitaldefinition Bourdieus passen. Diese Kritik verstehe ich nicht. Ich habe noch einmal einen einschlägigen Text Bourdieus[8] gelesen und hatte den Eindruck, dass man dort an Stelle der drei von Bourdieu behandelten Kapitalformen immer wieder auch das erotische Kapital interpolieren kann. Insoweit bedarf es einer ausführlicheren Diskussion, für die hier nicht der Ort ist.

Nun hat in Hollywood ein Sexmonster gewütet. Das ist für den Markt der zwischengeschlechtlichen Beziehungen schlimmer noch als der VW-Skandal für den Dieselmarkt. Das Vertrauen in den Dieselmotor ist dahin, wiewohl dieser technisch, auch was die Nachhaltigkeit betrifft, überlegen ist. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern scheint gestört, denn das Anbieten, Werben und Wählen verliert die Unbefangenheit, von der es lebt. Das kultivierte, elegante und oft auch triviale Spiel mit erotischen Elementen jenseits von plumpem Sex ist gefährdet. Damit geht viel von dem, was das Leben – auch für Frauen – lebenswert macht, verloren. Wo ist das Pendent zu der verpönten Abschaltvorrichtung in Dieselmotoren? Die sexuelle Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war wohl von Männern gemacht und sie haben sie in ihrem Sinne interpretiert, indem sie Frauen zum Freiwild erklärten, natürlich nicht explizit, sondern als Hintergrundmetapher im Sinne Blumenbergs[9]. Was wir gerade erleben ist keine »moralische Panik«[10], sondern eine »moralische (Gegen-) Revolution«[11], angetrieben von einem Bedürfnis nach Respekt und Anerkennung.

Diese Ad-hoc-Erklärung ist natürlich insofern zu kurz, als Männermacht schon immer dazu diente, sich Frauen gefügig zu machen. Aber der Vergleich zwischen Harvey Weinstein und Graf Almaviva will nicht passen. Für die Ambivalenz, die da Ponte und Mozart trotz der für ihre Zeitgenossen revolutionären Kritik immer noch mit der Figur des Almaviva verbunden haben, wäre heute kein Raum mehr.

Der #Metoo-Diskurs ist ein Schulbeispiel für einen Machtdiskurs im Sinne Foucaults. Er verschiebt den metaphorischen Hintergrund vom Freiwild zum Sexismusopfer. Damit wird Männermacht abgebaut und Frauenmacht aufgebaut. Mit Hilfe der Medien gelingt es, die Position des nicht unmittelbar anwesenden Dritten oder gar der Öffentlichkeit präsent zu machen, die notwendig ist, um den Vorwurf einer bloß subjektiven Bewertung der Demütigung durch das Opfer abzuwehren.[12]

Was als Demütigung (embarrassement) oder Belästigung (harassment) gilt, ist kein Naturphänomen, sondern ein soziales Konstrukt. Das gilt bis zu einem gewissen Grade sogar für Vergewaltigungen.[13]

»Das erniedrigende Verhalten im Akt der Demütigung ist von normalem Machtverhalten innerhalb einer Hierarchie, etwa in einer hierarchischen Institution, dadurch zu unterscheiden, dass es etablierte Grenzen und Erwartungen überschreitet …«[14]

Auch vor dem Weinstein-Skandal gab es etablierte Grenzen. Jede Form körperlicher Gewalt und expliziter Nötigung war indiskutabel, ebenso die Berührung von primären und sekundären Geschlechtsorganen. Viele andere Verhaltensweisen dagegen, die jetzt als sexual harassement gelten, wurden mehr oder weniger entrüstet hingenommen oder abgeschüttelt, so die berühmt-berüchtigte Hand auf dem Knie, Bemerkungen über Aussehen oder Verbalerotik. Man darf deshalb nicht so tun, als ob alle Normen, die jetzt in Anspruch genommen werden, schon immer maßgeblich gewesen wären, auch wenn sie als moralische Forderung im Raum standen. Im #Me-too-Diskurs werden diese Grenzen jetzt verschoben. Da gilt kein nulla poena sine lege. Eine gelingende Skandalisierung macht eine neue Moral rückwirkend zum Standard.

Es gibt verschiedene Marktplätze für erotisches Kapital. Um die beiden Extreme zu nennen: Auf der einen Seite stehen die langfristigen Beziehungen in Gestalt von Ehe und Lebenspartnerschaft, bei denen die Sexualität in eine allumfassende Beziehung eingebettet ist. Am anderen Ende stehen Spot-Märkte[15] für Prostitution und Pornographie. Der #Metoo-Diskurs betrifft die Marktplätze dazwischen, und zwar hier ganz besonders das Verhalten in Organisationen. Deshalb ist ein Blick in die Forschungsliteratur angezeigt, die sich mit sexuell interpretierbaren Praktiken (siP) in Organisationen befasst.[16]

Zwei neuere Auswertungen dieser Literatur[17] erscheinen mir interessant, wiewohl zu befürchten ist, dass die Autoren wegen einer gewissen Wirtschafts- und Managementnähe, die man nach den Publikationsorten vermuten kann, mit einem schrägen Blick an die Dinge herangehen. Das gilt jedenfalls, wenn sie zunächst festhalten, dass die Forschung von der Auffassung getragen werde, dass siP am Arbeitsplatz grundsätzlich als unerwünscht sei, nicht nur weil sie als Form männlicher Herrschaft gelten, die in modernen demokratischen Gesellschaften keinen Platz haben, sondern auch, weil sie die Produktivität stören und weil sie Anlass zu Klagen wegen Diskriminierung geben können. Wohl als Konsequenz beschränkten sich Studien über siP am Arbeitsplatz auf zwei Aspekte, nämlich auf sexuelle Belästigung von Frauen durch Männer (sexual harassment) und auf Paarbeziehungen (workplace romances).

Wichtig und richtig scheint mir aber doch das Resumee, die Forschung vernachlässige darüber die positive Seite von siP in Organisationen ; immerhin hätten nicht wenige Untersuchungen gezeigt, dass siP auch in Organisationen positive Funktionen hätten, und das nicht nur, weil Organisationen, insbesondere Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz, nun einmal die erfolgreichste Umgebung zur Anbahnung von Partnerschaften sind. SiP sind Bestandteil des Eindrucksmanagements, das am Arbeitsplatz üblich oder gar gefordert ist. SiP dienen dazu, sich dem Gegenüber umgänglich, aufgeschlossen und hilfsbereit zu zeigen. Sie bilden eine Möglichkeit, sich selbst positiv darzustellen und das Gegenüber in seinem positiven Selbstbild zu verstärken. Sie können die Stimmung am Arbeitsplatz verbessern und helfen, die nicht selten eher ermüdende und langweilige Tätigkeit zu ertragen. Und auch das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe und die Kreativität werden verbessert.

Zwei Beobachtungen fügen sich gut in das Marktmodell: Männer interpretieren ein Verhalten von Frauen eher als sexualitätsbezogen als es dem Selbstverständnis der Frau entspricht.[18] Anscheinend verstehen Frauen ihre eigenen siP oft schlicht als Bemühen um ein ästhetisches Selbstbild (meine Erklärung). Zwar üben grundsätzlich Männer ebenso wie Frau siP am Arbeitsplatz. Aber Männer verfügen eher über materielle Ressourcen und Macht als Frauen, die ihr Defizit eher durch siP zu kompensieren versuchen.

Obwohl Aquino u. a. ebenso wie zuvor Watkins u. a. die insgesamt positiven Funktionen von siP in Organisationen hervorheben, wird die Kehrseite nicht unterschlagen. Dazu gehört etwa die Befestigung traditioneller Geschlechterrollen, die Möglichkeit, dass einzelne Personen sich aus einer Gruppe, die sich auf siP versteht, ausgeschlossen sind, und nicht zuletzt die Gefahr, dass unter dem Mantel harmloser siP sexuelle Übergriffe verborgen werden.

Im Ergebnis ist die Bilanz für siP in Organisationen aber positiv, ganz abgesehen davon, dass diese sich ohnehin nicht vollständig kontrollieren ließen.

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[1] Roy F. Baumeister/Dianne M. Tice, The Social Dimension of Sex, 2001, Kapitel 5; Roy F. Baumeister/Kathleen R. Catanese/Kathleen D. Vohs, Is There a Gender Difference in Strength of Sex Drive? Views, Conceptual Distinctions, and a Review of Relevant Evidence, Personality and Social Psychology Review 5, 2001, 242-273; Catherine Hakim, The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century, International Sociology 30, 2015, 314-335.

[2] Roy F. Baumeister/ Kathleen D. Vohs, Sexual Economics, Culture, Men, and Modern Sexual Trends, Society 49, 2012, 520-524. Dabei handelt es sich um eine Art Update zu dem Buch Roy F. Baumeister, Is There Anything Good About Men?. How Cultures Flourish by Exploiting Men, 2010, das 2012 auch auf deutsch erschienen ist (Wozu sind Männer eigentlich überhaupt noch gut? Wie Kulturen davon profitieren, Männer auszubeuten).

[3] Dazu jetzt neu Roy F. Baumeister/Tania Reynolds/Bo Winegard/Kathleen D. Vohs, Competing for Love. Applying Sexual Economics Theory to Mating Contests, Journal of Economic Psychology, 2017, im Druck. Dieser von den Autoren als Update zu dem Aufsatz von 2004 bezeichnete Text ist allerdings mit seinen kruden evolutionstheoretischen Annahmen und steilen Analogien zum Gütermarkt eher abschreckend. Völlig daneben ist die durchgehende Annahme, dass Frauen sich im Austausch für Sex materiell und durch sozialen Status belohnen lassen. Baumeister und seine Truppe hätten sicher keine Probleme, den #Me-too-Diskurs als kollektive Strategie zur Verteuerung des femininen Angebots auf dem Markt der Geschlechterbeziehungen zu interpretieren.

[4] Begriff wohl von Peter Glick/Susan T. Fiske, The Ambivalent Sexism Inventory: Differentiating Hostile and Benevolent Sexism, Journal of Psrsonality and Social Psychology 70 , 1996, 491-512.

[5] Zitiert nach der Zusammenfassung des Buches in einem Referat auf der Tagung der Nordic Association for Clinical Sexology NACS 2012, S. 27.

[6] Gibt es »erotisches Kapital»? Anmerkungen zu körperbasierter Anziehungskraft und Paarformation bei Hakim und Bourdieu, Gender, Zeitschrift für Geschlecht und Kultur, 2013, Sonderheft 2, S. 57–79.

[7] Thomas Karlauf in der FAZ vom 8. 11. 2011; und von Andreas Schmitz/Hans-Peter-Blossfeld, KZfSS 64, 2012, 836-838.

[8] Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.

[9] Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Archiv für Begriffsgeschichte, 6, 1960, 7-142, S. 16.

[10] Eine solche zeichnet sich durch eine Aufregung aus, die in keinem Verhältnis zum Anlass steht und sich damit die gefühlte Bedrohung erst erschafft (Erich Goode/Nachman Ben-Yehuda, Moral Panics. The Social Construction of Deviance, 2. Aufl. 2009).

[11] Kwame Anthony Appiah, Eine Frage der Ehre: oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, 2010.

[12] Vgl. Hilge Landweer, Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?, in: Hilge Landweer/Dirk Koppelberg (Hg.), Recht und Emotion I: Verkannte Zusammenhänge, 2017, 103-135, S. 120f.

[13] Landweer S. 124.

[14] Landweer S. 107.

[15] Hakim a. a. O. S. 37. Der feministische Diskurs hat nur diese Spotmärkte als Tauschmärkte im Blick; vgl. Laurie Shrage, Feminist Perspectives on Sex Markets, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2016.

[16] Ein einschlägiger deutscher Titel wäre Ursula Müller/Birgit Riegraf/Sylvia M. Wilz (Hg.), Geschlecht und Organisation, 2013.

[17] Karl Aquino/Leah Sheppard/Marla Baskerville Watkins/Jane O’Reilly/Alexis Smith, Social Sexual Behavior at Work, Research in Organizational Behavior 34, 2014, 217-236. Vorausgegangen war M. B. Watkins/A. N. Smith/K. Aquino, The Use and Consequences of Strategic Sexual Performances, Academy of Management Perspectives 27, 2013, 173-186.

[18] Zur unterschiedlichen Interpretation von sexualitätsbezogenen Signalen durch Frauen und Männer Barbara A. Gutek/Bruce Morasch/Aaron Groff Cohen, Interpreting Social-Sexual Behavior in a Work Setting, Journal of Vocational Behavior 22, 1983, 30-48.

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