Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (III)

Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
1. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
2. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus und damit auf einen neuen homunculus.
3. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
4. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
5. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.
Zu 1. und 2 im Eintrag vom 16. September 2011.
Zu 3. – Homo symbolicus: Nachdem homo sociologicus und homo oeconomicus mühsam zu Grabe getragen wurden, zieht mit dem homo symbolicus der Kulturwissenschaften ein neuer Homunculus ein. Methodisch führen die Begriffe kulturelles Wissen und kulturelles Gedächtnis zur (neuen) Wissenssoziologie. Methoden der Wahl sind »dichte Beschreibung« und Rekonstruktion. Es geht dabei um die qualitativen Methoden der Sozialforschung, die im Anschluss an die »interpretative Wende« der Soziologie auch von der Rechtssoziologie rezipiert worden sind.
In den Kulturwissenschaften beanspruchen die qualitativen Methoden ein Übergewicht oder gar eine Monopolstellung. Es mag wohl zutreffen, »dass die Gestalt der Dinge in letztlich historisch und sozial kontingenten Sinnzusammenhängen und Praktiken kulturell produziert wird« [1]Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; S. 39.. Die sinnhafte Konstitution der Wirklichkeit steht außer Frage. Nur darf man darüber die Reifizierung des Sinnhaften nicht vergessen. Geäußerter Sinn wird zu etwas Dinglichem, an dem man sich stoßen kann. Es ist nicht ganz einfach, Menschen, die hinter Gittern sitzen, bei denen die Gerichtsvollzieherin vor der Tür steht, den Opfern von Vergewaltigung oder Betrug oder auch nur dem Steuerzahler zu sagen, die soziale Welt existiere nur als symbolische; was sie erlebten, beziehe seine Bedeutung aus kollektiven Wissensordnungen, sei sozial konstruiert und deshalb kontingent. Rechtssoziologie muss daher nach wie vor bei Handlungen und Konflikten, Normen und Institutionen ansetzen.
Zu 4. – Empiriefeindlichkeit: Im Zentrum der Kulturwissenschaft geht es noch um anderes und mehr als um eine Eroberung des Gegenstandsfeldes der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es geht um die Auswechslung von Basis und Überbau. Die geistig-ideelle Sphäre, die dem Marxismus als bloßer Überbau des Materiellen galt, wird zur Basis aller sozialen Phänomene. Menschliches Handeln und menschliche Beziehungen sind nunmehr nur noch Epiphänomene einer symbolisch sinnhaft konstituierten Welt. Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden. Juristen haben das Recht nie anders als ein kollektives Sinnsystem behandelt. Aber jetzt wird der Spieß umgedreht. Eine postempirische oder postpositive Epoche wird ausgerufen. Methoden, die zählen und messen, werden als empiristisch denunziert. Psychologische und biologische Beobachtungen passen schon gar nicht mehr ins Bild. Stattdessen sind Interpretation und Rekonstruktion angesagt. Für beide gilt ein radikaler Kontextualismus. Er geht davon aus, dass kulturelle Produkt kulturelle Praktiken außerhalb des Kontextes nicht fassbar sind. Generalisierungen, die doch eigentlich das Ziel von Wissenschaft sind, werden damit ausgeschlossen.
Zu 5. – Wissenssoziologische Rekonstruktion: Methodisch führt Kulturwissenschaft zu einer wissenssoziologischen »Rekonstruktion« dessen was bisher in der Rechtssoziologie als Rechtsbewusstsein geläufig war. Immerhin gibt es hier durch einen entschiedenen Blick auf die Alltagskultur (im Sinne von Lebenswelt) neue Akzente. Es wird betont, dass »Recht« weitaus ubiquitärer ist, als es die klassische Frage nach »knowledge and opinion about law« aufdecken kann. Recht beeinflusst die Menschen nicht von außen, sondern ist Teil ihres Selbstverständnisses. Sie sehen sich selbst, wie das Recht sie sieht, und daraus bezieht wiederum das Recht seine Bedeutung. So wird in von den Kulturwissenschaften mit immer neuen Formulierungen und Beispielen die Zirkularität des Denkens beschworen. Als Beispiel hier eine Formulierung von Ulrich Haltern [2]Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 18.:
»Das Recht konstituiert die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist. Damit ist nicht nur gesagt, dass das Recht weitaus ubiquitärer ist, als instrumentalistische Theorien meinen, sondern vor allem, dass es bereits integraler Bestandteil dessen ist, was es regelt. Recht beeinflusst uns nicht von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die das Recht vornimmt. Wir internalisieren die Repräsentationen, die das Recht von uns formt, und können unsere Ziele und Einsichten nicht länger von ihnen trennen.«
Das ist der gute alte hermeneutische Zirkel kulturtheoretisch gewendet.
Das Ergebnis solcher Anstrengungen ist ein mehr oder weniger radikaler Konstruktivismus. Es lohnt nicht, daran zu zweifeln, dass alle Beobachtungen und Interpretationen letztlich ein Produkt menschlicher Sinne und Denkwerkzeuge sind. Es ist längst eine Trivialität, dass jede Beobachtung durch den Standpunkt des Beobachters bestimmt ist. Es mag ja zutreffen, dass wissenschaftliche Theorien durch Fakten oder Daten irreduzibel unterbestimmt bleiben. Es ist ja richtig, dass sich zwischen Theoriesprache und Beobachtungssprache letztlich nicht differenzieren lässt. Aber was sich auf dem Feld der Kulturtheorien ereignet, ist ein Kurzschluss zwischen philosophischer Wissenschaftstheorie und dem operativen Geschäft der Normalwissenschaft. Der radikale (epistemologische) Konstruktivismus als wissenschaftstheoretische Position wird nicht hinreichend vom kognitiven und sozialen Konstruktivismus unterschieden. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Zu 6. – Poststrukturalismus: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als poststrukturalistisch. Die klassischen Analyseraster wie Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Struktur und Prozess werden als falsche Dualismen zurückgewiesen. Eine Folge ist der weitgehende Verzicht theoretischen Verallgemeinerungen und die Konzentration auf das Prozesshafte des sozialen Geschehens in mikrosoziologischen Konversationsanalysen.
Kulturwissenschaften im Verbund mit der neuen Wissenssoziologie treten mit einem imperialen Anspruch auf. Sie reklamieren mehr oder weniger alle Themen für sich, die bislang spezialisierten Sozial- und Geisteswissenschaften zugerechnet wurden. Als Preis für die Aufnahme in das Reich der Kulturwissenschaften sollen Rechtswissenschaft, Rechtssoziologie und andere mehr ihre Individualität hergeben und zu einer sozialen Einheitswissenschaft verschmelzen. Der Preis wäre die Vielfalt der ganz unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten bergenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze. Die Rechtssoziologie muss daher den imperialistischen Anspruch der Kulturwissenschaften zurückweisen.
Auch manche Rechtssoziologen (und Juristen) berufen sich heute auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz. Ihr Flirt mit den Kulturwissenschaften ist zunächst wohl opportunistisch begründet. Es will einfach nicht (mehr?) gelingen, mit dem alten Label »Rechtssoziologie« institutionelle Unterstützung zu finden und eine größere Truppe hinter sich zu versammeln. Aber der Flirt bleibt nicht ohne Folgen. Kulturwissenschaftliche Rechtsforschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es den einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Die Folge ist Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Vielfach wird längst Bekanntes reproduziert. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus. Vor allem aber verliert die Rechtssoziologie ihren Biss. Ein Interview mit dem Kriminologen Nigel Fielding für den Nuffield-Report [3]Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, Law in the Real World: Improving our Understanding of How Law Works, London 2006, S. 33. bringt die Sache auf den Punkt:
»Younger social scientists seem to lack the interest in the critical matters of social structure, power and social class that lead one very quickly to the law a major element in constituting society as it is. Sociology has turned from matters of production to matters of consumption. For example, a great deal of research attention is now given to how people use mobile telephones. If a previous generation had had those devices, the issue would have been how they were socially distributed. Now the issue is, how they are decorated.«
Zu erkennen ist Rechtssoziologie letztlich nur an Thema und Methode. Ihre Methode ist keine andere als die der allgemeinen Soziologie. Das bedeutet vor allem, dass immer in irgendeiner Weise kontrollierte Empirie dazugehört. Ihr Thema ist das Recht als integraler Bestandteil der Gesellschaft. Ganz gleich, wer auch immer in diesem Sinne arbeitet und in welchem institutionellen Zusammenhang das geschieht: Es handelt sich um Rechtssoziologie. Und als solche sollte man sie benennen. In diesem Sinne gibt es eine ganze Menge Rechtssoziologie, nicht nur bei Juristen und Soziologen, sondern auch bei Politikwissenschaftlern, Ökonomen, Historikern, Anthropologen und auch bei denen, die sich als Kulturwissenschaftler verstehen.
Eine kulturelle Wende der Rechtswissenschaft empfiehlt Ulrich Haltern. [4]Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005. Er verspricht sich davon eine Öffnung der Jurisprudenz für Interdisziplinarität, ohne dass das Recht seine Autonomie verliert und ohne dass die Rechtswissenschaft in den Nachbarschaften aufgeht. Dazu soll das Recht als eine spezifische »Imagination« der Welt und vor allem des Politischen verstanden werden. »Statt nur danach zu fragen, wie man das Recht verbessern könne, kann man Raum schaffen für den akademischen Versuch, den Platz des Rechts in der Kultur zu verstehen und die Macht zu beschreiben, die das Recht über die Imagination der Bürger besitzt.« (S. 12). Für diesen Ansatz nutzt Haltern die Bezeichnung »Recht im Kontext«. Der Kontext des Rechts gerät allerdings wieder etwas aus dem Blick, wenn wir (S. 18) erfahren, der kulturtheoretische Ansatz habe sich »auf das Bedeutungssystem des Rechts zu konzentrieren, das sich in Symbolen materialisiert.« Und weiter:
»Der zentrale Auftrag der kulturtheoretischen Perspektive im Recht besteht darin, diesen symbolischen Formen nachzugehen und die Beobachtungen sichtbar zu machen, die Menschen einerseits an das Recht herantragen und die sie andererseits aus dem Umgang mit ihm gewinnen. Symbolische Formen wie Recht verweisen nicht nur auf etwas oder sind der Ausdruck von etwas, sondern üben selbst strukturierende und konstituierende Kraft in alltäglichen, politischen und anderen Bereichen aus, indem sie die in subtiler und oft diffuser Weise durchdringen.«
Zur Rechtssoziologie kommt man von dort zurück, wenn man den Symbolbegriff präzisiert, so dass Symbole einer empirischen Untersuchung zugänglich werden. [5]Dazu mein Aufsatz über »Die Macht der Symbole«,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; S. 39.
2 Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 18.
3 Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, Law in the Real World: Improving our Understanding of How Law Works, London 2006, S. 33.
4 Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005.
5 Dazu mein Aufsatz über »Die Macht der Symbole«,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.

Ähnliche Themen

Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (II)

1. Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
2. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
3. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus [1]Ernst Cassirer sprach vom animal symbolicum (An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture New Haven 1944, 26; dt. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der … Continue reading und damit auf einen neuen homunculus.
4. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
5. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
6. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.
Heute nur zu den ersten beiden Punkten.
Zu 1. – Geringschätzung der traditionellen Disziplinen: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als Neubeginn. Damit können sie, was von den traditionellen Wissenschaften geleistet worden ist, bequem beiseiteschieben: Die in ihren Disziplingrenzen befangenen Juristen, Historiker, Germanisten usw. haben ohnehin nichts verstanden. Kulturwissenschaftler sind anscheinend nicht bereit, sich näher auf den Objektbereich, über den sie reden wollen, einzulassen. Ihre Ergebnisse sind oft trivial. Juristen sind sie schwer zu vermitteln.
Zu 2. Themenangebot: Für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung wird eine lange Reihe von Themen [2]Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem meines Wissens unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung … Continue reading empfohlen:
a) Gedächtnis: Kultur bildet einen Komplex identitätssichernden Wissens, sozusagen das Gedächtnis einer sozialen Gruppe oder gar der Gesellschaft. So verstanden ist Kultur das Arrangement von Symbolen, das die Bilder und Zeichen, Geschichten und Charaktere, Szenarien und Metaphern bereit hält, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gruppe ihrem Leben und der Welt um sie herum einen Sinn geben. Im Anschluss an Aleida und Jan Assmann ist daher das »kulturelle Gedächtnis« zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften geworden. Das Gedächtnis nimmt in Mythen und Riten, Liedern und Festen, Bildern und Texten Gestalt an. Eine »gedächtnisorientierte« Wissenschaft sucht dann nach den Ursprungsmythen moderner Institutionen. Und sie wäre keine solche, entdeckte sie nicht überall, wonach sie sucht, etwa für das Verfassungsrecht einen revolutionären Ursprungmythos, der es dem Verfassungsrecht gestatten soll, »an die Partikularität und Körperlichkeit von Revolutionen anzuknüpfen«. Oder sie beschwört den demokratischen Gründungsmythos der sogenannten verfassungsgebenden Gewalt des Volkes (Giorgio Agamben, Homo sacer, 2002, 50 ff.). Die entdeckten Symbole sind oft nicht viel besser als der Kadaver des Ziegenbocks, der in der Essener Inszenierung der »Elektra« über dem Kopf Klytaimnestras pendelte. Es handelt sich regelmäßig um paradigmatische Überinterpretationen, die in der Soziologie keinen Platz haben. Das meiste, was die Kulturwissenschaft als kulturelles Gedächtnis behandelt, ist längst Thema der Mediensoziologie und von dort auch in die Rechtssoziologie übernommen worden. In der allgemeinen Soziologie spricht man vom kollektiven Gedächtnis. Es spielt u. a. bei der Erklärung der Evolution des Rechts eine Rolle.
b) Alltagskultur und Popkultur: Die Kulturwissenschaften halten sich weiter zugute, dass sie den Blick auf die Bedeutung des Alltagswissens und der Populärkultur gelenkt habe. Da war die Rechtssoziologie allerdings auch schon ohne ihre Hilfe angekommen.
c) Visualität: Auf die Alltags- und Popkultur ist die Rechtssoziologie mittelbar durch Film und Fernsehen aufmerksam geworden, die in ihrem Themenhunger nicht nur Kriminalthemen, sondern viel allgemeiner Recht und Gerichte zum Thema von Unterhaltungsstoffen gemacht haben. Auf diesem Umweg ist nicht nur die visuelle Kommunikation, sondern viel allgemeiner die Relevanz der Kommunikationsmedien für das Recht Thema der Rechtssoziologie geworden.
d) Zeitlichkeit des Rechts: Raum und Zeit geben der Welt im Erleben der Menschen Struktur. Diese Struktur ist primär natürlich, beim Raum durch die Gestalt der Erde und ihrer Landschaften, bei der Zeit durch den Wechsel von Jahreszeiten, Tag und Nacht. Aber die natürliche Struktur wird überlagert durch eine soziale. Die Landschaften sind durch Besiedlung und Bauten gestaltet. Die Zeit erhält durch Kalender, Uhren und Gewohnheiten und Pläne ihren Rhythmus. Zeit korrespondiert mit Kausalität, denn Kausalität wird als eine zeitliche Abfolge von Ereignissen gedacht. Die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Rechtsgeschichte und historische Soziologie bringt Periodisierungen hervor, die auf das Verständnis des aktuellen Rechts zurückwirken. Für den Alltagsgebrauch sind es die sog. Narrationen, die das Recht zeitlich gliedern. Monoton wird beklagt, dass die Beziehung zwischen Recht und Zeit wissenschaftlich vernachlässigt worden sei. Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«.)) Tatsächlich ist die Literatur zum Thema gar nicht so spärlich. [3]David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; … Continue reading
Überall im Recht ist die Zeit präsent, beim Alter von Personen, in Fristen und Terminen, bei der Verjährung, der Dauer einer Strafe usw. usw. Positivität des Rechts bedeutet Änderbarkeit und begründet damit auch ein Zeitphänomen. Das ist durch Niklas Luhmann zu einem klassischen Thema der Rechtssoziologie geworden. Das alles ist trivial. Aber die Kulturwissenschaften leben davon, Trivialitäten hochzustilisieren. Interessanter als die Zeitlichkeit des Rechts ist die Veränderung der Zeitperspektive der Gesellschaft. Zu beobachten sind gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite steht die Dehnung der für relevant angesehenen Zeit. Traditionelle Verjährungsvorstellungen sind zu einem erheblichen Teil obsolet geworden. 1949 verjährte die Verfolgung von Mord noch in 20 Jahren. Dann wurde diese Verjährungsfrist im Blick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf 30 verlängert, und als 1979 auch diese Spanne ablief, ganz aufgehoben. Aber auch zivilrechtliche Wiedergutmachungsansprüche werden heute ohne Rücksicht auf Fristen zugelassen. Hier sind ganz deutlich die rechtlichen Konsequenzen einer Neubewertung von Kolonialismus und Sklaverei, Naziverbrechen und sozialistischen Diktaturen zu spüren. In der Sprache der Kulturwissenschaften: In den 1960er Jahren hat man von einer Kultur des Vergessens auf eine Kultur der Erinnerung umgestellt. Die Konsequenz ist eine »Vermessung der Geschichte durch die Gerichte« [4]Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical … Continue reading. Rückwirkende Moralisierung schlägt auf das Recht durch. Auf der anderen Seite Beschleunigung: Die Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsvorgängen durch die moderne Technik und die (dadurch beförderte) Globalisierung der Wirtschaft mit dem daraus folgenden Konkurrenzdruck haben zu einer Art Nonstop-Gesellschaft geführt. Die rechtliche Regelung von Feiertagen und Ladenschluss, Arbeitszeiten und Fristen aller Art muss darauf reagieren.
e) Raum: Recht braucht einen Anwendungsbereich. Der ist, seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, in erster Linie räumlich bestimmt. Traditionelle Rechtsvorstellungen sind daher mit Stadt und Staat verbunden. Eine alte Fragestellung der Rechtssoziologie befasst sich dem Phänomen lokaler Rechtskulturen, nämlich damit, dass Recht, das seinem Anspruch nach in einem bestimmten Territorium eigentlich einheitlich gelten sollte, in der Praxis ganz unterschiedliche Ausprägungen annimmt. Das geht bis hin zu den illegalen Siedlungen in Großstädten von Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen sich relativ unabhängig vom staatlichen Recht ein Ordnungssystem entwickelt, für das die Bewohner Rechtsqualität in Anspruch nehmen. [5]Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.
Mit der Beförderungs- und der Kommunikationstechnik sind die Menschen mobiler geworden. Politischer Druck und wirtschaftlicher Sog bringen sie in Bewegung. Grenzen sind durchlässiger geworden. Raum und Mobilität haben dadurch als Rechtstatsachen Bedeutung gewonnen. Das ist offensichtlich, wenn es um die Globalisierung des Rechts oder um Immigration und Integration geht. Durch die neue Mobilität haben sich die Raumerfahrung auch das Selbstverständnis der Menschen und damit ihre Beziehung zum Recht verändert. Die über den Raum vermittelte Loyalität zu Stadt, Staat und Recht hat sich abgeschwächt. Das alles ist nicht neu und reicht sicher nicht aus, um, etwa analog zur Wirtschaftsgeographie, wie sie der Nobelpreisträger Paul Krugman, angeregt von Ansätzen deutscher Raumwirtschaftstheoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und fortentwickelt hat, einer Rechtsgeographie das Wort zu reden. Was dazu angeboten wird [6]Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of … Continue reading, lässt sich einfacher in den konventionellen Kategorien der Rechtssoziologie unterbringen.
Man kann das Raumthema aber auch kunsthistorisch und architekturästhetisch ausmalen. Alessandro Nova [7]Nova ist Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, das als Max-Planck-Institut firmiert. hat gerade einen Vortrag über »Recht und Piazza« angekündigt. Um sich unter diesem Thema etwas vorstellen zu können, muss man wohl erst den von Nova und Jöchner herausgegebenen Band »Platz und Territorium: urbane Struktur gestaltet politische Räume« (2010) zur Hand nehmen. Man kann sich auch das Programm einer Tagung im Frankfurter MPI für Europäische Rechtsgeschichte über »Recht, Bild und Raum« ansehen.
In der modernen Soziologie ist zwar viel von Räumen (space) die Rede. Meistens wird der Begriff aber nicht geographisch, sondern im übertragenen Sinne verwendet wie von Bourdieu, wenn er von juristischen Feldern [8]Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19. spricht. Als Metapher trägt er wenig zur Sache, aber viel zur Komplikation der Darstellung bei. Von den Herausgebern des Legal Geographies Reader ( S. XII f.) erfahren wir:

»First, by reading the legal in terms of the spatial and the spatial in terms of the legal, our understandings of both, ›space‹ and ›law‹ may be changed. Old stabilities begin to reveal gaps and tensions. … Second, … the spaces of experience and imagination are profoundly molded by inherited legal notions such as ›rights‹, ›ownership‹ and ›sovereignty‹ … Social space is saturated with legal meanings, but these meanings are always multiple and usually open to a range of divergent interpretations. … Third … the legal and the spatial are, in significant ways, aspects of each other and as such, they are fundamental and irreducible aspects of a more holistically conceived social-material reality.«

Es ist sicher richtig, dass man bei Untersuchungen über die Wirklichkeit des Rechts auch über Immigration und Globalisierung hinaus vielfach an räumlichen Grenzen anknüpfen kann, etwa bei der Verteilung von Grundeigentum oder bei der Durchsetzung von Ordnung in öffentlichen Plätzen. Dass räumliche Grenzen, etwa die zwischen Slums und guten Wohnvierteln oder gar fenced communities auch Grenzen zwischen Arm und Reich, Stark und Schwach darstellen, ist bekannt. Für all das braucht man weder eine Rechtsgeographie noch die Kulturwissenschaften.
f) Technik: Das Verhältnis von Recht und Technik wird seit jeher unter der Überschrift »Recht und sozialer Wandel« thematisiert.
g) Gewalt fasziniert die Kulturwissenschaften im Zusammenhang mit dem Recht wegen ihrer Doppelrolle. Das Recht versteht sich als Friedensordnung. Historisch ist es aber nicht selten durch einen gewaltsamen Akt, durch Krieg oder Revolution, entstanden. Einerseits bekämpft das Recht die Gewalt, wenn sie als Selbsthilfe, gewöhnliche Kriminalität oder gar Terrorismus auftritt. Andererseits droht das Recht seinerseits mit Gewalt und wendet sie bei Bedarf auch an. Der Beitrag der Kulturwissenschaften besteht darin, dass sie diese Doppelrolle zur Paradoxie hochstilisiert.
h) Körperlichkeit: Wenn Kulturwissenschaftler der Rechtsforschung den Körper als Thema nahelegen, so meinen sie verschiedene Dinge. [9]Die Kulturwissenschaften teilen die postmoderne Neigung zu Wortspielereien und zur Ausschöpfung von Mehrdeutigkeiten. In diesem Zusammenhang etwa ist regelmäßig von embodiment die Rede. Offen … Continue reading Erstens geht es um die physische Gewalt. Die ist immer schon ein Thema von Psychologie und Soziologie gewesen. Zweitens geht es um die materielle (körperliche) Basis der Rechtskommunikation: »Das Recht wird als Zeichenkörper konstituiert.« [10]Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7. Solche aufgeblasenen Formulierungen sind für die Kulturwissenschaften typisch. Drittens: Manchmal geht es aber auch nur um metaphorischen Sprachgebrauch, so wenn wir erfahren, in Hobbes’ Leviathan erscheine der Staat als Verkörperung des Rechts. Viertens geht es um die Einwirkung des Rechts auf den Körper. Immer wieder fasziniert die Geschichte der Leibes- und Lebensstrafen. Aber es ist wohl richtig, dass heute über der Technik und den sozialen Strukturen die Leiblichkeit vernachlässigt oder gar vergessen wird. Es scheint, als ob das moderne Recht direkte Zugriffe auf den menschlichen Körper möglichst ausspart. Folter und Todesstrafe sind indiskutabel, körperliche Züchtigung jeder Art verboten. Fünftens: Gegenüber dem Zugriff von Medizin und Neurowissenschaft auf den Körper ist das Recht weitgehend ratlos. Sechstens: Ein interessanter Aspekt von Körperlichkeit wird in der Soziologie als »tacit knowledge« (M. Polanyi) oder (von Bourdieu) als Habitus thematisiert. Es geht darum, dass es zur Erklärung von Handlungen nicht genügt, bloß das Bewusstsein der Handelnden zu analysieren, weil es von einer unbewussten Handlungsbereitschaft getragen wird, die zu situationsadäquaten Improvisationen befähigt. So können Jazzmusiker zusammen spielen, ohne bewusst bestimmten Regeln zu folgen, weil sie die Fähigkeit entwickelt haben, auf das zu hören, was die anderen spielen, und darauf passend zu reagieren. Autofahrer entwickeln einen »sens pratique«, der sie Gas geben, lenken und bremsen lässt, ohne dass sie überlegen oder sich auch nur bewusst machen, was sie tun. Wenn ich an der Tastatur sitze und schreibe, geben meine Finger nicht ganz selten Zeichenketten ein, die dem gemeinten Wort ähnlich sind. Was daraus für das Recht folgen könnte, ist mir noch unklar.
h) Textbegriff: Für Recht und Rechtssoziologie nicht ganz unwichtig ist eine Erweiterung des Textbegriffs, manche sprechen sogar von einem textual turn: Zunächst muss ein neuer Ausdruck her: Textualität. Textualität ist eine Eigenschaft der Kultur, die nicht von Texten im technischen Sinne des gesprochenen oder geschriebenen Wortes abhängt. Die ganze Welt wird zum Text. Damit ist der Text nicht mehr selbstgenügsam und verliert seine Funktion als Bedeutungsträger. Danach geht es an die Dekonstruktion. Dabei hilft der Begriff der Kontingenz: Kultur ist alles, was anders hätte ausfallen können, also ein Konstrukt. Jedes Konstrukt kann auf alternative Konstruktionsmöglichkeiten befragt werden; es kann dekonstruiert werden. Das gilt sowohl für den vorgefundenen Text wie für dessen Lektüre. Der Beobachter zweiten Grades findet auf beiden Seiten, auf der des Textes und der der Lektüre, eine Wahl, die so oder anders hätte getroffen werden können. Der Text müsste nicht so da stehen, wie er steht, und der Leser hätte ihn anders verstehen können als er tat. Einige Varianten mögen manifest erscheinen. Andere werden nur als Negationshorizont mitgeführt und könnten bei Anlass oder Bedarf belebt werden. Text und Lektüre demontieren sich auf diese Weise selbst. Doch es ist nicht nur der Leser, der so bei der Lektüre beobachtet wird. Textualität der Kultur soll vielmehr besagen, dass jeder Text in vielfältiger Weise mit anderen verflochten ist und darüber hinaus einem sich ständig verändernden Kontext angehört.
Die Rechtssoziologie hat auf dieses Themenangebot längst reagiert, unter anderem durch das Konzept des Legal Pluralism und durch die Rezeption qualitativer Methoden der Sozialforschung.
(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ernst Cassirer sprach vom animal symbolicum (An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture New Haven 1944, 26; dt. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 1990, 51.
2 Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem meines Wissens unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in Bielefeld stattgefunden hat. Das Themenangebot lässt sich auch an den vielen »turns« ablesen, die als Epigonen des Cultural Turn ausgerufen wurden; zu diesen Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 3.2010. Vgl. auch meinen Eintrag vom 15. 10. 2010 zum Temporal Turn.
3 David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; Ali Khan, Temporality of Law, McGeorge Law Review 40, 2008; Bruce C. Peabody, Reversing Time’s Arrow: Law’s Reordering of Chronology, Causality, and History, Akron Law Review 40, 2007, 587-622; Charles F. Wilkinson, American Indians, Time and the Law, Yale University Press 1987.
4 Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical Injustice, 2004.
5 Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.
6 Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of Legal Systems: Towards a Geography of Law? , Journal of Law and Society 13, 1986, 161-181.
7 Nova ist Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, das als Max-Planck-Institut firmiert.
8 Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19.
9 Die Kulturwissenschaften teilen die postmoderne Neigung zu Wortspielereien und zur Ausschöpfung von Mehrdeutigkeiten. In diesem Zusammenhang etwa ist regelmäßig von embodiment die Rede. Offen bleibt dabei, ob es sich um die Verkörperung von Sinn in Bildern oder anderen Zeichen handelt oder um den Niederschlag von irgendetwas im menschlichen Körper.
10 Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7.

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Von der Rechtssoziologie zu den Kulturwissenschaften und zurück (I)

Der Begriff der Kultur ist noch unschärfer als derjenige des Rechts. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Kulturbegriff als normativer Kampfbegriff etwa gegen die französische »Zivilisation« dienen. Ein halbes Jahrhundert später waren »Kulturindustrie« (Horkheimer/Adorno) oder »affirmative Kultur« (Marcuse) Gegenstand kritischer Analyse. Heute ist der Kulturbegriff durch inflationären und vieldeutigen Gebrauch verwässert. Das Spektrum reicht von »Multikulturalität« und »interkultureller Vermittlung« über »Alternativ-, Pop-, Medien-, Alltags-« oder »Unternehmenskultur« bis zur »Netz-« und »Industriekultur«. Der Schriftsteller Eckhard Henscheid hat ironisch 756 Kulturen identifiziert. [1]Eckhard Henscheid, Alle 756 Kulturen: eine Bilanz, 2001. Als soziologischer Klassiker gilt A. L. Kroeber/Clyde Kluckhohn, Culture, A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952. … Continue reading Doch ähnlich wie beim Recht muss man gar nicht mit einer Definition beginnen. Meistens weiß man auch so, was gemeint ist.
Das Recht ist Teil der Gesellschaft und damit in deren Kultur eingebettet. Das ist eigentlich eine Trivialität, und ebenso selbstverständlich sollte es sein, dass das Recht seinerseits einen Teil dieser Kultur bildet. Aber Trivialitäten sind langweilig, und gelegentlich werden sie vergessen oder verdrängt, so auch, wenn man sich zu intensiv nur mit dem einen oder dem anderen beschäftigt, die wechselseitige Bedingtheit von Kultur und Recht. Dann wird früher oder später eine Wende ausgerufen, nach dem linguistic turn und dem pictorial turn nun auch der cultural turn. Um 1980 war noch alles Struktur und Funktion. Heute ist alles Kultur. Nicht wenige Juristen und Rechtssoziologen sind mit einem geradezu heroischen Willen zur Interdisziplinarität bemüht, die Deutungshoheit über Begriffe ihres Faches an die Kulturwissenschaften abzutreten.
Eine erste kulturalistische Wende in den Human- und Sozialwissenschaften gab es schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie ist mit den Namen wie Sigmund Freud oder Aby Warburg verknüpft. Ähnlich wie die Rechtssoziologie gab und gibt es auch eine Kultursoziologie. Auch sie beruft sich auf große Namen wie Max Weber oder Georg Simmel. In die Ahnenreihe gehört auch der als Rechtssoziologie bekannte Theodor Geiger. Von Geiger stammt der in diesem Zusammenhang wichtige Begriff der repräsentativen Kultur. Sie ist das Gegenstück zur anonymen Volkskultur, deren Bestände sich – vergleichbar der Sprache oder dem Gewohnheitsrecht – formlos vererben und sich dabei laufend verändern. Dadurch unterscheidet sie sich von der (von Geiger so genannten) substanziellen Kultur, die sich aus individualisierbaren Werken zusammensetzt und in ihrer Summe die repräsentative Kultur ausmacht.

»Diese substanzielle Fassung des Kulturbegriffs entspricht unserem Kulturstil selbst. Sie ist Ausdruck dafür, dass unsere Zeit im Zeichen einer Repräsentativ-Kultur steht. Damit ist gemeint, dass aufgespeicherte Kulturbestände, deren jegliches Stück einem – bekannten oder unbekannten—Urheber zugeschrieben wird, ›die Kultur der Epoche‹ repräsentieren.« [2]Theodor Geiger, Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949, 2.

Repräsentative Kultur ist Hochkultur. Sie stellt die hegemonialen Muster für die Deutung der sozialen Wirklichkeit bereit.

»Repräsentative Kultur … entwickelt sich in allen arbeitsteiligen Gesellschaften, sobald eine spezifische Gruppe oder Schicht entsteht, die sich auf Erhalt und Tradierung der immateriellen Kultur, der ursprungssagen, der Mythen, der Religion, der Riten und des kollektiven Gedächtnisses, spezialisiert. Sie entwickelt den Deutungsrahmen des Alltagshandelns fort, baut neue Ereignisse (Naturkatastrophen, Kriege) in den alten Rahmen ein, legitimiert oder delegitimiert politische Herrschaft und kann auf Anerkennung ihrer Sinndeutungen rechnen. Repräsentative Kultur entwickelt also notwendig einen Anspruch auf Geltung, der über die unmittelbare Trägerschicht hinausreicht.« [3]Clemens Albrecht, Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies, in: Udo Göttlich u. a. (Hg.), Populäre Kultur als repräsentative Kultur, Die Herausforderung der Cultural … Continue reading

Protagonisten sind Geisteswissenschaftler, Künstler, Literaten und Journalisten, Intellektuelle und Kulturschaffende, wie man sie anerkennend oder abschätzig nennen mag. Die Trägerschicht dieser Kultur ist aber viel breiter. Man hat sie oft mit dem Bürgertum identifiziert. Bürgerliche Kultur, wie sich sie in Bildung und Habitus äußert, wurde damit – als Kultur der herrschenden Klassen – neben der Stellung der Menschen im Produktionsprozess zu einem Merkmal der sozialen Schichtung.
Die neue Wende zur Kultur ging in den 60er Jahren von amerikanischen und britischen Anthropologen aus. Sie wurde angetrieben von der politischen Forderung, sich nicht länger auf das Studium der Objektivierungen menschlichen »Geistes« in Geschichte, Literatur und Künsten zu kaprizieren, sondern die pluralen Ausdrucksformen von a priori gleichberechtigten Kulturen anzuerkennen. Mit Kritik an der »Hochkultur« verband sich die Hoffnung auf ein subversives Potential der »Subkulturen«. Anthropologie und Ethnologie, die sich bislang auf »fremde« Kulturen beschränkt hatten, beobachteten nun die eigene Gesellschaft und erschlossen sich so mit den cultural studies neue Gegenstandsbereiche. Das geschah mit dem politischen Anspruch, Felder sozialer Ungleichheit zu entdecken, die überkommene Unterscheidung zwischen Hochkultur und Popularkultur aufzubrechen und den Kampf um Bedeutungen zu analysieren.
Auch in Europa wurde den 1990er Jahren »Kultur« zum Leitbegriff für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier fehlt ihm allerdings der starke kritisch-politische Angriffsgeist. Die Geistes- und Sozialwissenschaften stehen unter einem erheblichen Legitimationsdruck. Mit einer Neuorientierung als Kulturwissenschaften hoffen sie, sich die Überlebensfähigkeit zu sichern. Daraus hat sich eine merkwürdige Eigendynamik ergeben. Während die cultural studies mit einem kritischen Impetus gestartet waren, geht es heute um Studiengangsplanung und Berufsorientierung akademischer Abschlüsse im Sinne der ökonomischen Verwertbarkeit kultureller Kenntnisse oder gar um die Möglichkeiten der Wirtschaftsförderung durch Kultur. Vor allem aber ermöglicht die Hinwendung zu »Kultur« eine beinahe beliebige Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Geistes- und Sozialwissenschaften. Als Kulturwissenschaften fühlen sie sich für alles zuständig, auch für das Recht. Sozusagen als Gegenleistung gibt es ein dreifaches Versprechen:
1. Aus dem Abbau der Disziplingrenzen soll eine Perspektiven-erweiterung resultieren.
2. Es sollen neue Themenfelder eröffnet werden.
3. Eine neue Methode soll die »kulturellen Differenzerfahrungen« der Moderne erschließen.
Die Versprechen klingen gut. Aber nach zwanzig Jahren Kulturwissenschaft ist die Bilanz für die Rechtssoziologie gemischt.
Als Disziplin mit institutioneller Basis und Organisation gab es die Rechtssoziologie eigentlich nie. Sie wurde und wird in der Hauptsache von Juristen und in der Nebensache von Soziologen und vielen anderen betrieben. Rechtssoziologie war immer schon in dem Sinne interdisziplinär, dass in ihrem Namen Juristen ihre Disziplingrenzen überschritten haben. Viel zu öffnen gibt es also gar nicht. Immer schon waren zur Rechtssoziologie alle eingeladen, die sich für das Recht interessieren. Als Kulturwissenschaft verkleidet haben nun mehr oder weniger alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, etwa Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft und andere mehr das Recht entdeckt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch sind aber Bestrebungen, auf die Selbstbenennung des Faches als Rechtssoziologie zu verzichten und nach dem amerikanischen Vorbild von »Law & Society« nur noch von (Forschungen über) »Recht und Gesellschaft« zu sprechen. Die Öffnung der Rechtssoziologie gegenüber der Kulturwissenschaft führt damit zu ihrer Selbstauflösung. Auch das wäre nicht weiter schlimm, wenn dafür etwas gewonnen würde. Doch im Gegenteil, gewonnen wird wenig, aber es geht viel verloren. (Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eckhard Henscheid, Alle 756 Kulturen: eine Bilanz, 2001. Als soziologischer Klassiker gilt A. L. Kroeber/Clyde Kluckhohn, Culture, A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952. Kroeber und Kluckhohn kamen auf 164 unterscheidbare Verwendungen des Kulturbegriffs.
2 Theodor Geiger, Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949, 2.
3 Clemens Albrecht, Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies, in: Udo Göttlich u. a. (Hg.), Populäre Kultur als repräsentative Kultur, Die Herausforderung der Cultural Studies, 2002, 16–32, S. 21.

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Warum ist Luhmann so bedeutend und warum gehe ich auf Distanz?

Soeben ist von Knut Papendorf, Stefan Machura und Kristian Andenaes als Herausgebern der Band »Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies« [1]LIT-Verlag, Berlin 2011.erschienen. Er gibt die Vorträge wieder, die 2009 auf einer kleinen, aber feinen Tagung im Institut für Kriminologie und Rechtsoziologie der Universität Oslo gehalten wurden und die zum Ziel hatten, die skandinavische und die deutsche Rechtssoziologie einander näher zu bringen. Natürlich finden sich in dem Band auch Aufsätze zu den beiden Hauptexportartikeln der deutschen Rechtsoziologie, Max Weber und Niklas Luhmann. Luhmann ist gleich zwei Mal vertreten. Luhmann-Kenner müssen die beiden Artikel nicht lesen. Und wer Luhmann nur als Steinbruch benutzt, findet bessere Anleitungen. Für mich war der Artikel von Frank Welz [2]Frank Welz, Niklas Luhmann’s Sociology of Law: A Critical Appraisal, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies, 2011, S. 80-108. jedoch ein Auslöser, um die folgenden Notizen, die schon länger schlummerten, aufzuwecken.
Warum also ist Luhmann so bedeutend?
In den 1950er und 60er Jahren hatten sich mehr oder weniger alle, die nicht in das marxistische Lager gewechselt waren, auf Empirie gestürzt. Empirische Forschung zeigt jedoch immer nur kleine Ausschnitte der Gesellschaft. Sie kann nicht das Ganze in den Blick nehmen. Das aber möchte eigentlich jeder, ob Laie oder Wissenschaftler. Luhmann bietet nun eine Großtheorie, die genau das zu leisten verspricht. Durch den Zuschnitt der Systeme kann sie Teile der Welt, die den jeweiligen Betrachter besonders interessieren, in den Blick nehmen und zu anderen Teilen und zum Ganzen in Beziehung setzen. Die marxistische Theorie war in dem Sinne »holistisch«, dass sie für alles eine Erklärung anbot – und damit war sie zum Scheitern verurteilt. Luhmann erklärt uns gerade umgekehrt, warum wir nicht alles wissen müssen und können. Damit hat er seine Theorie, ohne sich auf lange Erörterungen einzulassen, wissenschaftstheoretisch abgesichert. Er umgeht das Problem der Fundamentalphilosophie, die Frage nämlich: wo findet Wissenschaft einen sicheren Anfang der Erkenntnis, ohne in einen immer neuen Regress zu verfallen, indem er Rekursivität zu einem zentralen Theoriebaustein macht. Alle Aussagen sind solche eines Beobachters, der Unterscheidungen trifft. Der Beobachter kann sich selbst aber beim Beobachten nicht beobachten und deshalb nicht alles wissen. Daraus folgt ein radikaler Konstruktivismus. Rekursivität gibt es aber auch auf der Systemebene, denn Systeme konstituieren sich selbst, indem sie die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, aus den Elementen ableiten, aus denen sie bestehen. Die daraus resultierend Geschlossenheit der Systeme hat zur Folge, dass man nicht alles wissen kann. Denn über die Systemgrenzen hinaus gibt es keine einfachen Ursache-Wirkungsbeziehungen (sondern nur »strukturelle Kopplungen«). Die Definition der Systemgrenzen gelingt Luhmann allerdings nur deshalb so gut, weil er ein großartiger Beobachter ist.
Luhmanns Theorie ist ebenso wie diejenige von Marx eine Entwicklungstheorie. Doch anders als bei Marx ist die Evolution bei Luhmann nicht gerichtet und sie kennt schon gar keinen Fortschritt. Sie lässt sich deshalb mit der aktuellen Großtheorie für die Entwicklung des Lebens, der darwinistischen Evolutionstheorie, mindestens parallelisieren. Und nicht zuletzt: An intellektuellem Format ist Luhmanns Theorie der marxistischen ebenbürtig. Auf eine solche Theorie hatten viele gewartet.
Und warum gehe ich auf Distanz?
Wie immer, kann eine Kritik grundsätzlich oder am Detail ansetzen. Am Detail habe ich nicht viel zu kritisieren. Luhmann ist einfach gut. Grundsatzkritik dagegen ist billig. Jedes große Theoriegebäude ruht auf letztlich unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzungen. Man muss nur danach suchen, und wenn man nichts Besseres findet, kann man den Autor oder seine Theorie ja immer noch unter Ideologieverdacht stellen.
So musste sich Luhmann oft gefallen lassen, in die konservative Ecke gestellt zu werden. Aber das ist kein adäquates Diskussionsniveau. Man kann nicht einmal sagen – wie gelegentlich zu hören –, dass seine Theorie die Erforschung der sozialen Ungleichheit nicht vorangebracht habe. Immerhin hat er die Begriffe »Inklusion« und »Exklusion« populär gemacht. [3]z. B. Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 581 ff.
Ich verstehe Luhmanns Theorie (nach dem Vorschlag von Frank Welz) als eine Fortsetzung der Phänomenologie Husserls. Luhmann suspendiert alle ontologischen Fragen, Fragen also nach Raum und Zeit, dem Wesen der Dinge und des Menschen. Es sagt einfach, »es gibt Systeme« [4]Soziale Systeme, 1984, S. 16., und konzentriert sich auf die Frage: Wie beschreibe ich sie. Damit erhält, was er beschreibt, den Charakter einer bloßen Möglichkeit. Alle Differenzen werden der Welt von dem Beobachter eingeschrieben. Alle Grenzen, insbesondere auch die Systemgrenzen, sind letztlich bloße Definitionen. Damit hat Luhmann sich gegen jeden Fundamentalismusvorwurf abgesichert. Das Ergebnis ist blanker Konstruktivismus, und den trägt Luhmann auch überall zur Schau. Seine Theorie ist Luhmann nur deshalb so gut gelungen, weil er ein großartiger Beobachter war.
Luhmanns Theorie liefert für sich genommen keine neuen Erklärungen. Aber sie strotzt vor Realität und führt immer wieder zu überraschend neuen Sichtweisen, nicht bloß, wenn wir erfahren, dass Leinenzwang zwar nur für den Hund vorgeschrieben ist, dass dann aber auch der Herr an die Leine muss [5]Das Recht der Gesellschaft, S. 341 f.. Der Anspruch dieser Theorie ist freilich ein anderer. Sie will die Evolution des Rechts erklären, wenn auch nicht in dem Sinne, »dass es so kommen musste«, so aber doch dahin, »dass es, obwohl unwahrscheinlich, so kommen konnte« [6]Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1981, S. 49.
Bald drei Jahrzehnte haben Luhmanns Konstruktionen die deutsche Rechtssoziologie mehr oder weniger beherrscht, und noch immer halten ihm viele die Treue. Ich gehe inzwischen bei aller Bewunderung aber doch auf eine gewisse Distanz. Grund dafür sind vor allem zwei Bauelemente der Theorie, nämliche die Vorliebe für Paradoxien und das Konzept der Autopoiese und der daraus folgenden operativen Schließung der Systeme. Luhmann ist dafür kritisiert worden, wie er das Konzept von Maturana und Varela aus der Biologie in die Soziologie übernommen hat, wo es allein schon wegen der eher willkürlich gezogenen Systemgrenzen nicht passt. Die Vorstellung von der operativen Schließung der Systeme verbietet es, das Recht als Instrument des sozialen Wandels anzusehen. Die Evolution ist blind. Nichts ist vorhersehbar. Alles entwickelt sich anders als geplant. Dieser Standpunkt ist vergleichbar mit jener deterministischen Einstellung, die die Willensfreiheit verneint. Er ist für die Rechtssoziologie gleicher Weise irrelevant wie für die Jurisprudenz.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 LIT-Verlag, Berlin 2011.
2 Frank Welz, Niklas Luhmann’s Sociology of Law: A Critical Appraisal, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies, 2011, S. 80-108.
3 z. B. Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 581 ff.
4 Soziale Systeme, 1984, S. 16.
5 Das Recht der Gesellschaft, S. 341 f.
6 Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1981, S. 49

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Rechtliche Identität

Zu den Berichten, die ich in meinen Einträgen zur Berichtsforschung im Blick hatte, gehört der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor »Making the Law Work for Everyone«. Es handelt sich um eine Kommission unter dem Dach des United Nations Development Programme (UNDP) in New York. Vorsitzende waren die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright und der peruanische Ökonom Hernando de Soto. 2008 hat die Kommission einen zweibändigen Bericht abgeliefert:
Der erste Band mit seinen 96 Seiten ist mit vielen Bildern und buntem Design wie eine Public-Relations-Broschüre aufgemacht. Man kann ihn wie ein Management Summary lesen. Als solches bietet er klare Kernaussagen und darüber hinaus ganz interessante Hinweise und Inhalte. Die dramatische Basisaussage: Vier Milliarden Menschen haben keinen Zugang zum Recht. Der zweite Teil mit seinen 353 Seiten ist nüchterner im Stil eines wissenschaftlichen Gutachtens gehalten. Es wird viel Literatur ausgewertet, und es werden illustrative Einzelbeispiele herangezogen. Aber es gibt keine systematische Datenerhebung.
Ein gute Übersetzung für Legal Empowerment ist mir bisher nicht eingefallen. »Zugang zum Recht« trifft die Sache nicht ganz. Blankenburgs »Mobilisierung des Rechts« [1]Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995. gefällt mir auch nicht 100%ig, weil sie auf die Aktivierung der Betroffenen abstellt. Das Problem beginnt nicht erst, wenn die Menschen nach Institutionen suchen, die ihnen helfen könnten, und sie sich bei diesen mit ihrem Anliegen durchsetzen müssen. Bei sehr vielen Menschen beginnt das Problem noch früher damit, dass sie keine legale Existenz haben, keinen amtlich registrierten Namen und folglich keinen Ausweis. Es fehlt damit die rechtliche Identität, an die der rechtliche Schutz von Eigentum und Vertragsrechten anknüpfen kann. Es fehlt die Identität vor Banken und Behörden. Mit Interesse hatte ich deshalb schon vor Jahr und Tag einen Zeitungsartikel von Christoph Hein mit der Überschrift »Eine Nummer für jeden Inder« gelesen. [2]FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39). Bisher gibt es in Indien keinen Pass oder Personalausweis für jedermann, sondern nur zweckgebundene Einzelausweise. Hein: »Wer Steuern zahlt, bekommt eine PAN, die Nummer für ein Steuerkonto. Wer älter als 18 Jahre ist, wird im Wahlregister vermerkt. Die Armen erhalten Karten für Nahrungsrationen. Die im Ausland lebenden Inder haben den Status des NRI – des Non-Resident Indian.« Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr dieser Zustand die Verwaltung des riesigen Landes erschwert. Deshalb hat die indische Regierung den Milliardär und Gründer von Infosys, Nandan Nilekani, beauftragt hat, 1,2 Millionen Inder mit einem Personalausweis zu versehen.

Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007

(Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007)

Nilekani ist nunmehr Leiter der Unique Identification Authority of India im Range eines Ministers. Nach dem Bericht von Christoph Hein zu urteilen, hat Nilekani die Aufgabe, hier Abhilfe zu schaffen, aber nicht übernommen, um der Verwaltung beizuspringen, sondern er sieht sie als eine soziale Aufgabe an.
Wie belastend ihr Zustand für die Ausweislosen ist, steht nicht ganz außer Frage. Die Doing-Business-Reports der Weltbank und ähnliche Berichte gehen einhellig davon aus, dass die Klarheit der Zuordnung von Eigentumsrechten, die Sicherheit des Eigentums und die Durchsetzbarkeit von Verträgen der Wirtschaft helfen. Autoren aus dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik weisen jedoch darauf hin, dass diese Annahme für den Informellen Sektor, der in den armen Entwicklungsländern für die Wirtschaft erhebliche Bedeutung hat, nicht zutreffen müsse. [3]Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. … Continue reading Sie berufen sich auf Studien, nach denen die Registrierung von Grundeigentum und Unternehmen für den informellen Sektor keine Bedeutung habe.
Die Eintragung von Grundeigentum kann sogar kontraproduktiv wirken, weil die Bodennutzung in manchen Regionen in einer Weise informell geregelt ist, die auch den Schwächsten noch eine gewisse Nutzungsmöglichkeit bietet. Die Registrierung von Grundeigentum führe dagegen zur Exklusion und zur Spekulation. Dem lässt sich wieder der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor entgegenhalten. Darin wird an einem Beispiel aus Kenya gezeigt, wie wichtig die Registrierung von Grundeigentum für den Zugang zum Recht sei. Ohne registriertes Eigentum hätten die Bewohner keine Chance zur Gegenwehr, wenn Behörden oder Unternehmen ganze Siedlungen abreißen, um neu und modern zu bauen.
Im Ergebnis wird man wohl sagen müssen: Sobald die Modernisierung eines Landes einmal eingesetzt und die alten sozialen Strukturen zerstört hat, geht es nicht mehr ohne die rechtliche Identität.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995.
2 FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39).
3 Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. und Matthias Krause, Seven Theses on Doing Business. Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 2008; Miguel Jaramillo, Is there Demand for Formality among Informal Firms? Evidence from microfirms in downtown Lima, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik 2009.

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Was Kommunikationswissenschaft für die Rechtssoziologie zu bieten hat

In der Rechtssoziologie stellt sich immer wieder die Frage nach der Verbreitung und der Verhaltenswirksamkeit von Rechtskenntnissen. Daran wurde ich erinnert, als mir in diesen Tagen zwei funkelnagelneue (nur äußerlich) dünne Bändchen aus einer Reihe »Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommunikations-wissenschaft« aus dem Nomos-Verlag in die Hände fielen. Diese Reihe war mir zunächst wegen der Art der Darstellung aufgefallen. Sie bietet kompakte, didaktisch gut aufbereitete Darstellungen von Kernkonzepten der Kommunikationswissenschaft. Dabei geht es ganz positivistisch um empirisch weitgehend ausgetestete Theorien. Von Luhmann haben wir gelernt, Recht als Kommunikationssystem zu betrachten. Luhmann hielt zwar nichts von einem Verständnis von Kommunikation als Informationsübertragung. Aber mir genügt hier eine Trivialausgabe seiner Theorie. Wenn Recht Kommunikation ist, warum sehen wir dann nicht viel stärker auf die Kommunikationswissenschaft? Diese Frage drängt sich auf, wenn man Band 5 und 6 der genannten Reihe aufschlägt. In Band 5 befasst sich Christof Klimmt mit dem Elaboration-Likelihood-Modell, in Band 6 Veronika Karnowski mit Diffusionstheorien.
Bei den Diffusiontheorien geht es um die Frage, wie sich Innovationen verbreiten. »Diffusion ist der Prozess, in dessen zeitlichen Verlauf eine Innovation über verschiedene Kanäle an die Mitglieder eines sozialen Systems kommuniziert wird.« (Karnowski nach Rogers [1]Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003., dem Pionier der Diffusionstheorie). Gedacht war allerdings zunächst an die Verbreitung technischer Innovationen (Unkrautvernichter und Kunstdünger in der Landwirtschaft, Fernseher, Handy, Internet usw.). Für die Verbreitung solcher Innovationen gibt es typische Verläufe. Die möglichen Adressaten einer Innovation müssen zunächst das erforderlichen Wissen erwerben, sie müssen sich von der Relevanz der Innovation überzeugen lassen, sie müssen sich entscheiden, sie müssen eine positive Entscheidung umsetzen, und schließlich suchen sie regelmäßig Bestätigung im Sinne von Dissonanzreduktion. Die Akzeptanz einer Innovation wird – wer hätte das anders erwartet – von persönlichen Eigenschaften der möglichen Übernehmer beeinflusst. Erst wenn eine kritische Masse erreicht wird, gewinnt die Verbreitung eine Eigendynamik. Innovatoren laufen dem Bandwagon voran, Meinungsführer springen als erste auf. Nach der Überschreitung der kritischen Masse folgt die frühe Mehrheit dem neuen Trend. Die späte Mehrheit und erst recht die Nachzügler werden dann von wirtschaftlichem und sozialem Druck getrieben. Und natürlich hängt die Verbreitung einer Innovation auch von deren »Qualitäten« ab. Dazu gehören neben der Eigenschaft, Probleme lösen oder Bedarfslücken füllen zu können, auch »Verpackung« und Gebrauchsgeeignetheit.
Die Diffusionsforschung ist von Rogers für technische Innovationen entwickelt worden. Aber sie ist alsbald auch auf die Verbreitung von Nachrichten angewandt worden. »Innovation ist eine Idee, Tätigkeit oder Objekt, welche vom Übernehmer als neu angesehen wird.« (Karnowski S. 22). Innovationen müssen also nicht mit einer technischen Apparatur oder einem Ge- oder Verbrauchsgegenstand verbunden sein. Da liegt es nahe, auch rechtliche Regelungen, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, als Innovation anzusehen, sei es, dass sie durch Gesetzgebung oder Rechtsprechung tatsächlich neu entwickelt werden, sei es, dass längst vorhandene Optionen von Innovatoren entdeckt werden.
Die Diffusion technischer Innovationen endet nicht mit der Verbreitung bloßen Wissens, sondern mit der Anwendung durch die Übernehmer. Bei der Verbreitung von Nachrichten geht es zunächst nur um einen »verkürzten Übernahmeprozess«, der bloß bis zur Wissensübernahme (awareness-knowledge) verfolgt wird (Karnowski S. 63). Doch was zunächst als bloße Nachricht erscheint, kann zu Einstellungsänderungen führen und in der Folge verhaltenswirksam werden. So interessiert sich die politische Wissenschaft dafür, wie Nachrichten das Wählerverhalten ändern, und die Rechtssoziologie müsste sich dafür interessieren, wie Rechtsinformationen verhaltenswirksam werden. Ein wichtiger Unterschied, dessen Bedeutung ich nicht einschätzen kann, besteht allerdings wohl darin, dass der Nachrichtenwert von Rechtsinformationen vergleichsweise dürftig ist. Eine Folge ist vermutlich, dass Rechtsinformationen sich nur selten selbsttätig über die Medien verbreiten, sondern gezielt gestreut werden müssen.
Wenn es um eine Einstellungsänderung als Voraussetzung für die Handlungswirksamkeit neuen Wissens geht, greift die Persuasionsforschung, und als deren »Gold-Standard«, so habe ich von Klimmt gelernt, gilt das Elaboration-Likelihood-Modell. Aber dazu ein anderes Mal. Für einen Blogeintrag ist dieser Text schon wieder zu lang.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003.

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Verlust der Empirie: Entkernung oder Entlastung der Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie als akademische Disziplin scheint eher durch Tiefen als durch Höhen zu gehen. Sie musste sich eine weitgehende Deinstitutionalisierung durch den Abbau von Lehrstuhldenominationen und Lehrveranstaltungen gefallen lassen. Sie muss mit dem anscheinend unaufhaltsamen Imperialismus der Kulturwissenschaften [1]Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100. leben. Und sie traut sich nicht mehr, unter ihrem angestammten Namen aufzutreten. [2]Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft. Immer deutlicher zeigt sich jetzt eine andere Entwicklung, die man als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen könnte, nämlich den Verlust der empirischen Forschung.
Ein Kernstück der Rechtssoziologie war die anwendungsbezogene Rechtstatsachenforschung. Sie ist heute weitgehend durch das verdrängt worden, was ich als Berichtsforschung beschrieben habe. [3]Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393. Die Berichtsforschung stellt sozusagen auf Vorrat Faktenwissen für Politik, Justiz und Verwaltung zusammen. Wenn dennoch einmal ad hoc eine Rechtstatsachenforschung in Auftrag gegeben wird, so wird sie nicht von der akademischen Rechtssoziologie, sondern von spezialisierten Sozialforschungsinstituten erledigt. [4]»DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als … Continue reading
Aber auch die empirische Grundlagenforschung ist abgewandert, und zwar in andere Disziplinen, nämlich in die Sozialpsychologie und die Verhaltensökonomie. Wenn ich zuletzt in meinem Blog über empirische Untersuchungen berichtet habe, so stammten die fast immer von Psychologen, so zuletzt »Das Frühstück der Richter und seine Folgen« sowie »Normstrenge und lockere Kulturen«.
Was folgt daraus? Soll man diese Entwicklung als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen und, den Laden schließen und die Arbeit anderen überlassen? Ich möchte das Abwandern der empirischen Forschung zu verschiedenen Spezialisten eher als Entlastung verstehen. Rechtssoziologie bleibt deshalb doch eine empirische Disziplin in dem Sinne, dass sie für alle Theorien und Thesen empirische Belege sucht, mögen die auch von anderen beigebracht werden. Das Recht ist zum dominierenden Faktor bei der Koordinierung und Regulierung des Komplexes von Subsystemen geworden sei, die das Gesamtsystem der modernen Gesellschaft ausmachen. [5]Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja … Continue reading Nur noch das Recht kann der Wirtschaft Paroli bieten. Über die Realität des Rechts werden Daten beinahe im Überfluss erhoben. Es bleibt die Aufgabe, die von anderen gesammelten Daten zu einem Wissenssystem zu integrieren. Das vermag nur eine Disziplin, welche die Beobachtung des Rechts als ihre zentrale Aufgabe versteht und die darin über lange und intensive Übung verfügt. Deshalb ist die Rechtsoziologie wichtiger denn je.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100.
2 Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft.
3 Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393.
4 »DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als Ankündigung eines Projekts der Rechtstatsachenforschung gelesen. Heute habe ich das Gefühl, dass sie für die Rechtssoziologie so richtig nicht mehr interessiert.
5 Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja entgegenhalten.

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Normstrenge und lockere Kulturen

Durch eine Pressemeldung der Universität Koblenz-Landau bin ich auf eine Veröffentlichung in dem amerikanischen Wissenschaftsmagazin SCIENCE [1]Bd. 332 vom 27. 5. 2011, S. 100-104 über »Differences Between Tight and Loose Cultures: A 33-Nation Study« aufmerksam geworden, die man als einen Beitrag zur Rechtssoziologie lesen kann. Von den 43 Autoren kommen zwei aus Deutschland (Klaus Boenke, Bremen; Manfred Schmitt (Koblenz-Landau).
Hier zunächst das Abstract:
With data from 33 nations, we illustrate the differences between cultures that are tight (have many strong norms and a low tolerance of deviant behavior) versus loose (have weak social norms and a high tolerance of deviant behavior). Tightness-looseness is part of a complex, loosely integrated multilevel system that comprises distal ecological and historical threats (e.g., high population density, resource scarcity, a history of territorial conflict, and disease and environmental threats), broad versus narrow socialization in societal institutions (e.g., autocracy, media regulations), the strength of everyday recurring situations, and micro-level psychological affordances (e.g., prevention self-guides, high regulatory strength, need for structure). This research advances knowledge that can foster cross-cultural understanding in a world of increasing global interdependence and has implications for modeling cultural change.
»Tight nations …have strong norms and a low tolerance of deviant behavior«, während »loose nations … have weak norms and a high tolerance of deviant behavior«. »Normstreng« und »locker« oder »rigide« vs. »tolerant« könnte das Gemeinte halbwegs treffen. »Permissiv« und »repressiv« passen wegen ihres negativen Beiklang nicht so gut.
Das Begriffspaar tightness/looseness knüpft an anthropologischen Untersuchungen an, die bei einfachen Stammesgesellschaften agrarischen Charakters mit hoher Bevölkerungsdichte strenge Kindererziehung beobachtet haben, während Jäger und Fischer ihre Kinder eher an der langen Leine hielten. Nun sollte geprüft werden, ob man auch moderne Gesellschaften auf einer Skala zwischen normstreng und tolerant einordnen kann. Dazu wurden 6823 Personen in 33 Nationen befragt, im Schnitt also etwas mehr als 200. Die Antworten wurden auf einem Tightness-Looseness-Score eingeordnet. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Normstrenge innerhalb einer Nation ziemlich einheitlich darstellt, während es zwischen den Nationen große Unterschiede gibt. Damit sehen sie Hypothese bestätigt. Am strengsten geht es in Pakistan (12,3) zu, gefolgt von Malaysia (11,8), Indien (11,0), Singapur (10,4) und Südkorea 10,0). Besonders locker ist es in ehemaligen Ostblockländern, so in der Ukraine (1,6), Estland (2,5) und Ungarn (2,9). Mit einer Drei vor dem Komma sind Israel, Brasilien, Griechenland, die Niederlande, Neuseeland und Venezuela dabei. Die alten Industrieländer liegen in der Mitte.

Man fragt ich natürlich, was denn dieser Tightness-Looseness Index taugt. Er wird aus Normdimensionen gewonnen, die nicht selbstverständlich zusammenlaufen. Da ist erstens die Dichte des Normbestandes, zweitens die Schärfe der Normen hinsichtlich der vorgeschriebenen Verhaltensweise, drittens die Strenge der vorgesehenen Sanktionen und viertens die Toleranz gegenüber Normverletzungen. Normen aller Lebensbereiche, ganz gleich ob sie persönliche Kommunikation, das Sexualverhalten oder den Straßenverkehr betreffen, werden über einen Kamm geschoren. Dennoch scheint das Ergebnis einigermaßen handfest zu sein.
In separaten Erläuterungen zu dem mit vier Seiten sehr kurzen Artikel (Supporting Online Material) wird die Anlage der Untersuchung erläutert und es werden die verwendeten Instrumente vorgestellt. Außerdem werden die Ergebnisse mit anderen Daten abgeglichen, so mit Experteneinschätzungen zu zur Rigidität der untersuchten Kulturen, zur Zahl der Linkshänder, die mit der rechten Hand schreiben, sowie mit Daten des World Value Survey und einer Reihe anderer Indices, darunter etwa Hofstedes Cultural Dimensions.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Bd. 332 vom 27. 5. 2011, S. 100-104

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Begriffssoziologie VII: Zur empirischen Seite der Konstitutionalisierung

Dieses Posting setzt die Beiträge über die strukturelle Seite der Konstitutionalisierung und die funktionale Seite der Konstitutionalisierung fort.
Die Systemtheorie nimmt immer wieder für sich in Anspruch, mit ihren Konzeptualisierungen einen radikalen Blickwechsel herbeizuführen. Durch einen Blickwechsel lässt sich auch die Konstitutionalisierungshypothese der Systemtheorie fruchtbar machen, indem man fragt, wo tatsächlich Gemeinwohlvorstellungen in das neue Weltrecht eindringen und wie die Türöffner beschaffen sind. Dazu gibt es von Teubner und seiner Schule interessante Hinweise. Sie bestätigen Luhmanns Andeutung, dass eine Rechtswirkungsforschung möglich sei, »ohne einen Gedanken an ›Autopoiesis‹ zu verschwenden« [1]Niklas Luhmann, Steuerung durch Recht?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 11, 1990, 137-160/144..
»Eine globale Verfassungsordnung steht vor der Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Teilsysteme so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Prozessen Selbstbeschränkungen ihrer Handlungsoptionen wirksam werden?« [2]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 9.
Gemeint ist wohl nicht, dass eine schon vorhandene Verfassungsordnung Druck erzeugen soll, sondern dass externer Druck den Prozess der Konstitutionalisierung vorantreibt. Nun endlich ist man bei Fragen angelangt, die sich empirisch beantworten lassen: Woher kommt »externer Druck« auf die Teilsysteme? Wo reagiert das neue Weltrecht »responsiv« durch den Einbau gemeinwohlorientierter Normen?
Vor der Empirie liegt aber noch eine Hürde, nämlich die Frage, wie der Druck »theoretisch« Eingang in die Systeme finden kann, denn die Systeme haben mit ihrer Umwelt keinen Kontakt. Sie können nur – bevorzugt – die eigenen und – eigentlich nur als Irritationen – die Kommunikationen anderer Systeme, etwa von Wissenschaft oder Medien – zu Kenntnis nehmen. Die ökologische Umwelt, also Mensch und Natur, und ihre Probleme spiegeln sich in den Kommunikationen der Wissenschaft und der Massenmedien. Als Filter und Verstärker spielt die Zivilgesellschaft eine so große Rolle, dass man sich fragt, welchen Platz sie im Gebäude der Systemtheorie einnimmt.
Bei Fischer-Lescano/Teubner [3]Regime-Kollisionen, 2006, 55; ähnlich S. 56. ist von einer »zivilgesellschaftlichen Konstitutionalisierung von autonomen Regimes« die Rede. Sollten die privaten Rechts-Regimes selbst Teil der Zivilgesellschaft sein? Das entspricht kaum der üblichen Verwendung des Begriffs, denn die verlangt eine primäre Gemeinwohlorientierung. Auch wenn »Politik, Recht und Zivilgesellschaft« gelegentlich [4]Teubner, Verfassungen ohne Staat, 2010, Internetfassung S. 11. in einem Atemzug genannt werden oder gar von den »vielen Autonomien der Zivilgesellschaft« die Rede ist [5]Teubner, Vertragswelten, 1998, Internetfassung S. 35., so kämen doch nur Laien auf die Idee, die Zivilgesellschaft ihrerseits als Funktionssystem der Gesamtgesellschaft einzuordnen. In einer Fußnote [6]Teubner, Nach der Privatisierung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36, Fußnote 12 auf S. 11. präzisiert Teubner den »vielgebrauchten, aber äußerst unscharf verwendeten Begriff … im systemtheoretischen Sinne«. Dieser deckt »alle die gesellschaftlichen Kommunikationen …, die nicht zum Politiksystem oder zum Wirtschaftssystem gehören. Insoweit wie bei Habermas … soll er also gesellschaftlich diffuse (›lebensweltliche‹) Kommunikation, aber auch – insoweit anders als bei Habermas – alle anderen (und nicht nur die menschen-nahen) Funktionssysteme umfassen.« Das ist so scharf nun auch wieder nicht.
Hier soll es genügen, auf die kognitive Offenheit der Systeme zu verweisen. Die Wirtschaft ist »Lernpressionen« ausgesetzt. Dabei handelt es sich um kognitive Änderungen verbunden mit darauf gerichtetem Zwang. [7]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 19 Teubner bezieht sich dazu auf Luhmanns These vom Primat kognitiver Strukturen in der Weltgesellschaft. Eigentlich braucht es diesen Umweg gar nicht, denn das operativ geschlossene Wirtschaftssystem ist per definitionem kognitiv offen, auch für das Soft Law der Codes des offiziellen Weltrechts. Interessanter sind daher die Pressionen.
Die TNC und transnationalen Rechtsregimes, insbesondere wenn sie privater Genese sind, werden ihre systemdienlichen Regelungen kaum aus Menschenfreundlichkeit oder sozialer Verantwortung am Gemeinwohl ausrichten, sondern sie reagieren nur auf äußeren Druck. (Das ist keine Besonderheit der globalen Rechtsbildung. Auch dem staatlichen Recht geht es regelmäßig so, dass die Adressaten ihm nicht immer aus Überzeugung folgen.) Der Druck stammt nur zum kleineren Teil von den Nationalstaaten und den internationalen Organisationen, viel stärker von Protestbewegungen, NGOs, Gewerkschaften und der öffentlichen Meinung. Den Ausschlag gäben oft »ökonomische Sanktionen« wie das Kaufverhalten des Verbraucherpublikums und das Investitionsverhalten bestimmter Anlegergruppen. [8]Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 20 f.
Die Wirtschaft qua »Eigenrationalität« reagiert auf externen Druck, wenn der ihre internen Operationen stört, wenn er die Absatzmöglichkeiten einschränkt oder die Wettbewerbssituation verändert. Voraussetzungen sind breitenwirksame Kampagnen, die die ökologische Qualität bestimmter Produkte anprangern, sei es, dass Herstellung oder Konsum umweltschädlich sind, sei es, dass Produktion, etwa wegen Kinderarbeit, als sozial unverträglich dargestellt werden kann. Die Wettbewerbssituation verändert sich, wenn es gelingt, Produkte als umweltfreundlich und sozialverträglich auszuzeichnen. Dazu dienen Umwelt- und Ökolabel oder neue Vertriebswege (»Fair Trade«). Das geht so weit, dass die Wirtschaft bei der Vermarktung ihrer Produkte auf einen neuen Lebensstil setzen kann. Die Wirtschaft spricht von Lhas (Lifestyle of Health and Sustainability). Das alles gehört inzwischen zum Zeitungsleserwissen. Vor allem aber, es ereignet sich ohne direkte Hilfe des Rechtssystems.
»Die Wirtschaft dagegen benötigt zur ihrer Selbstkonstituierung massiver Subventionierung durch das Recht, wenn auch nicht in dem umfassenden Maße wie die Politik.« [9]Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
Rechtlicher Druck auf die globalen Funktionssysteme kommt in erster Linie nicht aus dem neuen Weltrecht, sondern aus den territorialen Rechtssystemen. Da die transnationalen Akteure immer noch eine territoriale Basis haben müssen, können sie von den territorialen Rechtssystemen etwa auf dem Umweg über Strafverfahren oder Menschenrechtsklagen zur Verantwortung gezogen werden. Organisationen der Zivilgesellschaft sorgen dafür, dass dabei auch Weltgemeinwohlgesichtspunkte zum Tragen kommen. Eine Reihe von NGOs hat sich auf den Bereich Legal Advice spezialisiert [10]Über die Legal Resources Foundation in Zambia Beatrix Waldenhof, Die Rolle der NGOs als Teil der Zivilgesellschaft im demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozess Zambias, Bochum … Continue reading und benutzt die nationalen Gerichte als Hebel. Einen globalen Charakter erhalten die Fälle (nur) durch die internationale Vernetzung der NGOs, durch ausländische Finanzierung, durch die Berufung auf internationales Recht, vor allem auf Menschenrechtskonventionen, und natürlich dann, wenn sie sich gegen transnational tätige Akteure richten.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Niklas Luhmann, Steuerung durch Recht?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 11, 1990, 137-160/144.
2 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 9.
3 Regime-Kollisionen, 2006, 55; ähnlich S. 56.
4 Teubner, Verfassungen ohne Staat, 2010, Internetfassung S. 11.
5 Teubner, Vertragswelten, 1998, Internetfassung S. 35.
6 Teubner, Nach der Privatisierung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36, Fußnote 12 auf S. 11.
7 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 19
8 Selbst-Konstitutionalisierung, 2010, 20 f.
9 Teubner, Verfassungen ohne Staat?, 2010, Internetfassung S. 24.
10 Über die Legal Resources Foundation in Zambia Beatrix Waldenhof, Die Rolle der NGOs als Teil der Zivilgesellschaft im demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozess Zambias, Bochum sozialwissenschaftliche Dissertation, 2003. 271ff.

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Das Frühstück der Richter und seine Folgen

Jerome Frank (1889-1957), einem prominenten Legal Realist, wird – wohl zu Unrecht [1]Frederick F. Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, 129, Fn. 15. – das Bonmot nachgesagt, richterliche Urteile seien davon abhängig, wie der Richter gefrühstückt habe. Daran erinnert eine Meldung, die man vor einer Woche in den Zeitungen lesen konnte. [2]Richter mit Bauchgefühl, Süddeutsche.de. Es geht um eine Untersuchung von Shai Danziger, Jonathan Levav und Liora Avnaim-Pesso, die in einer von keinem geringeren als Daniel Kahnemann editierten Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienen ist. [3]Der Artikel wurde wohl am 11. April vorab veröffentlicht. Dies ist die gewünschte Zitierweise: Shai Danziger, Jonathan Levav, and Liora Avnaim-Pesso, Extraneous factors in judicial decisions. PNAS … Continue reading Hier ist das Abstract:
»Are judicial rulings based solely on laws and facts? Legal formalism holds that judges apply legal reasons to the facts of a case in a rational, mechanical, and deliberative manner. In contrast, legal realists argue that the rational application of legal reasons does not sufficiently explain the decisions of judges and that psychological, political, and social factors influence judicial rulings. We test the common caricature of realism that justice is “what the judge ate for breakfast” in sequential parole decisions made by experienced judges. We record the judges’ two daily food breaks, which result in segmenting the deliberations of the day into three distinct “decision sessions.” We find that the percentage of favorable rulings drops gradually from ≈65% to nearly zero within each decision session and returns abruptly to ≈65% after a break. Our findings suggest that judicial rulings can be swayed by extraneous variables that should have no bearing on legal decisions.«
An 50 Sitzungstagen hatten die Psychologen Daten aus 1.112 Fällen gesammelt, die von acht verschiedenen Richtern behandelt wurden. Zu entscheiden war über die Entlassung von Strafgefangenen auf Bewährung oder über eine Änderung der Bewährungsauflagen. An einem Sitzungstag behandelten die Richter zwischen 14 und 35 Fällen. Etwa um zehn Uhr, nachdem sie sieben bis acht Fälle erledigt hatte, machten die Richter die erste Frühstückspause von etwa einer halben Stunde Dauer. Nach weiteren elf bis zwölf Fällen folgte gegen 13 Uhr die Mittagspause, die etwa eine Stunde dauerte. Festgehalten wurde, ob den Anträgen der Gefangenen stattgegeben oder ob sie zurückgewiesen wurden, was in 64,2 % der Fälle geschah. Das Ergebnis ist frappierend. Günstige Entscheidungen erhalten die Antragsteller fast nur unmittelbar nach Sitzungsbeginn und im Anschluss an die Unterbrechung der Sitzung durch die Frühstücks- oder Mittagspause. Wie dramatisch die Abhängigkeit der Entscheidung von dem Platz auf der Terminsrolle ist, zeigt die Abbildung 1 der Autoren:

Die Skala zeigt den Anteil der dem Antragsteller günstigen Entscheidungen. Die kleinen Kreise markieren jeweils die erste Entscheidung zu Beginn der Sitzung, die punktierten Linien die Frühstücks- bzw. die Mittagspause. Die Suche nach anderen Variablen, die dieses Entscheidungsmuster erklären könnten, blieb ziemlich erfolglos. Insbesondere eine Erschöpfungshypothese, nach der allein die Dauer der Sitzung den Effekt verursacht, ließ sich nicht bestätigen. Getestet wurde auch die Vermutung, Richter könnten eine Vorstellung darüber haben, wie hoch der Anteil positiver Entscheidungen sein solle; die Ablehnungen häuften sich, wenn diese »Quote« erfüllt sei. Aber auch diese Vermutung erwies sich nicht als haltbar, denn es zeigte sich, dass ein Richter, der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt viele günstige Entscheidungen getroffen hatte, auch bei nachfolgenden Entscheidungen auf der positiven Spur blieb.
Bei der Diskussion ihrer Ergebnisse meinen die Autoren, sie hätten einen Beleg dafür erbracht, dass Richter, die nacheinander mehrere gleichartige Fälle zu entscheiden hätten, eine Tendenz zur Bestätigung des status quo entwickelten, eine Tendenz, die durch eine Erfrischungspause unterbrochen wird. Im Übrigen ordnen sie ihre Untersuchung in die psychologische Literatur über den Einfluss externer Faktoren, insbesondere des so genannten anchoring, auf Expertenentscheidungen ein. Auf einschlägige Arbeiten habe ich in einem früheren Artikel über »Rechtsrelevante Sozialpsychologie« schon einmal hingewiesen.
Ich kann diese Untersuchung nicht fundiert diskutieren. Ich meine jedoch, dass man eine Erklärung des Phänomens mit Hilfe der Equity-Theorie [4]Röhl, Rechtssoziologie, § 19. noch nicht von der Hand weisen kann. Vielleicht war die Quotenhypothese dazu zu grob.
Es trifft sich, dass gestern in der heimlichen Juristenzeitung [5]Strafausgleich, FAZ vom 20. 4. 2011, S. N3. eine Notiz über eine Untersuchung des Potsdamer Psychologen Wolf Schwarz über Elfmeterentscheidungen von Schiedsrichtern [6]Compensating Tendencies in Penalty Kick Decisions of Referees in Professional Football: Evidence From the German Bundesliga 1963-2006, Journal of Sports Sciences 29, 2011, 441 – 447. Auch … Continue reading zu finden war, die den Eindruck erweckt, dass die Schiris nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit verfahren, denn die Wahrscheinlichkeit, einen Elfmeter zugesprochen zu bekommen, steigt, wenn die Mannschaft zuvor selbst einen Strafstoß hinnehmen musste. Hier das
Abstract:
»Using a large representative database (12,902 matches from the top professional football league in Germany), I show that the number (441) of two-penalty matches is larger than expected by chance, and that among these 441 matches there are considerably more matches in which each team is awarded one penalty than would be expected on the basis of independent penalty kick decisions (odds ratio = 11.2, relative risk = 6.34). Additional analyses based on the score in the match before a penalty is awarded and on the timing of penalties, suggest that awarding a first penalty to one team raises the referee’s penalty evidence criterion for the same team, and lowers the corresponding criterion for the other team.«

Nachtrag vom 3. Mai 2011: Ein freundlicher Leser fragt: … haben die Leute auch die Hypothese getestet, dass die Richter die Fälle abhängig von dem erwarteten Ausgang terminieren: Die einfachen, schnell zu entscheidenden zunächst, die schwierigeren vor der Pause, um ggfs. genug Zeit zu haben? Das haben sie nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Frederick F. Schauer, Thinking Like a Lawyer, 2009, 129, Fn. 15.
2 Richter mit Bauchgefühl, Süddeutsche.de.
3 Der Artikel wurde wohl am 11. April vorab veröffentlicht. Dies ist die gewünschte Zitierweise: Shai Danziger, Jonathan Levav, and Liora Avnaim-Pesso, Extraneous factors in judicial decisions. PNAS 2011 : 1018033108v1-201018033. (Der Artikel ist online nur gegen Bezahlung zugänglich.)
4 Röhl, Rechtssoziologie, § 19.
5 Strafausgleich, FAZ vom 20. 4. 2011, S. N3.
6 Compensating Tendencies in Penalty Kick Decisions of Referees in Professional Football: Evidence From the German Bundesliga 1963-2006, Journal of Sports Sciences 29, 2011, 441 – 447. Auch dieser Artikel ist nicht frei zugänglich. Ich habe ihn nicht gelesen.

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