Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt.

Der Netzwerkbegriff, so Ino Augsberg [1]Ino Augsberg, The Relevance of Network Models within the Juridic Discourse, German Law Journal 10, 2009, 383-394, S. 383., hat auch in der Rechtstheorie einen »Bullenmarkt«. Dort handeln die Flachmänner. Erstens halten sie den Netzwerkbegriff flach, und zweitens verwenden sie die Netzwerkrhetorik, um Hierarchien flachzulegen.
Der Netzwerkbegriff der Rechtstheorie ist flach, denn ihm liegt kein gehaltvolles Konzept zugrunde. In Mathematik, in den Ingenieurswissenschaften und in der Soziologie gibt es handfeste Netzwerkkonzepte. [2]Vgl. pars pro toto die Darstellung einer Autorin, die auch als Rechtsoziologin ausgewiesen ist: Dorothea Jansen, Theoriekonzepte in der Analyse sozialer Netzwerke, 3. Aufl. 2006. In der Rechtstheorie ist davon wenig angekommen. Sie verwendet den Netzwerkbegriff als Ausdruck der Alltagssprache und profitiert von Konnotationen, die auf die Netzwerkforschung verweisen. Man kann soziale Netzwerke als Parasiten etablierter Strukturen ansehen. [3]Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der … Continue reading Die Rechtstheorie wird zum Parasiten der Netzwerkforschung, indem sie durch die Verwendung des Netzwerkbegriffs Interdisziplinarität simuliert.
Für den flachen Netzwerkbegriff der Rechtstheorie bieten sich zwei Erklärungen an. Zunächst handelt es sich um Erblast der Systemtheorie. [4]Tacke a. a. O.; Jan A. Fuhse, Der Netzwerkbegriff in der Systemtheorie, in: Johannes Weyer, Soziale Netzwerke, 2. Aufl. 2011, S. 301-324. In Luhmanns Welt fanden Netzwerke keinen Platz. Wichtiger noch, Luhmann verwendete den Begriff als Ausdruck der Alltagssprache, indem er die systeminternen Operationen der Sinnverarbeitung durch aneinander anschließende Kommunikationen als rekursive Vernetzung beschrieb. [5]Z. B. »Als operativ geschlossen sollen Systeme bezeichnet werden, die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen sind …« (Das Recht der Gesellschaft, … Continue reading Dieser Sprachgebrauch wirkt etwa bei Vesting nach, wenn er schreibt: »Wir haben dann ein rekursiv geknüpftes Netzwerk von Kommunikationen vor uns, und genau das ist ein ›soziales System‹ im Sinne der Systemtheorie.« [6]Thomas Vesting, Kein Anfang und kein Ende. Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik, JURA, 2001, 299-305; hier zitiert nach der ausführlicheren … Continue reading Die zweite Erklärung: Die Netzwerker unter den Rechtstheoretikern sind um zwei Hubs, um Gunther Teubner und Karl-Heinz Ladeur, verclustert. Teubner und Ladeur waren schneller als die Netzwerkforschung, und sie sind ihr nicht nachgelaufen.
Luhmann [7]Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 846 bei Fn. 444. lobt Ladeur für ein anregendes Netzwerk-Konzept, das »an die Stelle einer hierarchischen Konzeption des Verhältnisses von Funktionssystem und Organisationen« treten könnte. Gemeint waren die Seiten 176 ff in Ladeurs »Rechtstheorie« von 1992. Von Netzwerken war da allerdings noch kaum die Rede, umso mehr dafür vom Wandel zur »Informations-« oder »Wissensgesellschaft« (S. 185) und von den Modi der Wissenserzeugung unter der Bedingung ubiquitärer und permanenter Reflexivität oder Selbstreferenz. Dabei ging es zunächst um »die Eigentümlichkeit der Organisation als eines kollektive Lernfähigkeit institutionalisierenden Netzwerks von Handlungen« (S. 192). Aus der Gesellschaft der Individuen sei die Gesellschaft der Organisationen geworden. »Die Organisation kann mehr oder anderes Wissen speichern als das Netzwerk der Individuen, sie bildet eine neue Form des Gedächtnisses aus …« (S. 196). Sodann werden Markt und Organisation »als zwei unterschiedliche Weisen der Wissensgenerierung« (S. 200) einander gegenüber gestellt (und dabei auch auf Oliver Williamson verwiesen, dessen Arbeiten später zur Grundlage der Governance-Diskussion um Netzwerke als Typus der Koordination ökonomischer und politischer Prozesse [8]Dazu Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.): Handbuch Governance, 2007, 93-105. geworden sind). Aus der Gesellschaft der Organisationen wird bei Ladeur ohne klare Markierung [9]Vgl. etwa Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 296 ff. die Gesellschaft der Netzwerke. Der Bezug auf real vorhandene Netzwerke fehlt. Öfter ist von privaten Beziehungsnetzwerken die Rede [10]Z. B. Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 62. Meistens geht es aber um unbenannte »inter- und intraorganisationale Netzwerke«. [11]Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 4, 296 ff und öfter. Im »Umweltrecht der Wissensgesellschaft« (1995) lernen wir, dass »gemeinsames Wissen« durch »überlappende Netzwerke« generiert wird (S. 31 ff, 37), und zwar soll es sich um Netzwerke von »Relationen« oder »Beziehungen« handeln«. Wer oder was da relationiert wird, kann ich nicht erkennen. Auch ein Aufsatz, der die »Logik der Netzwerke« im Titel trägt [12]Karl-Heinz Ladeur, Die Regulierung der Selbstregulierung und die Herausbildung einer »Logik der Netzwerke«, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, 57-77., bringt darüber keinen Aufschluss. Über die Technik der Wissensproduktion, der Wissensspeicherung und des Wissensmanagements in Organisationen und/oder Netzwerken erfährt man wenig oder gar nichts außer dass es sich um laufende Prozesse der Selbst- und Fremdbeobachtung handelt, die auf Selbständerung angelegt sind. [13]Am deutlichsten vielleicht noch Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 296 ff. Es gilt, was Wald und Jansen über den Umgang mit Policy-Netzwerken gesagt haben. Die verwendeten Netzwerkkonzepte »sind schwer operationalisierbar. Die weitreichenden Implikationen werden in der Regel weder empirisch überprüft noch theoretisch konsistent hergeleitet. So trifft beispielsweise die Annahme, das Policy-Netzwerke notwendig mit einem ›schwachen Staat‹ einhergehen, so nicht zu.« [14]Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch Governance, 2007, S. 93-105, S. 93. Vornehm, aber noch deutlich wird solche Kritik von Poul J. Kjaer formuliert. [15]Poul F. Kjaer, Embeddedness through Networks: A Critical Appraisal of the Network Concept on the Oeuvre of Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 10 , 2009, 483-499. Kjaer bringt selbst einigen Grund in die Debatte ein, indem er am Beispiel real existierender Politiknetzwerke in der EU die »embeddedness«, die Einbettung formaler Organisationen in informale Beziehungen darstellt. Dabei bleibt er aber auf halber Strecke stehen, denn wiewohl embeddedness im Titel steht, macht er doch von dem durch Granovetter begründeten und hier einschlägigen Konzept der strukturellen Einbettung [16]Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91 , 1985, 481-510. keinen Gebrauch. [17]Anscheinend hat Kjaer einen anderen Begriff von embeddedness vor Augen, der einen Zustand vor der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft bezeichnet und den er auf karl Polanyi zurückführt … Continue reading
In den Texten Ladeurs bilden Netzwerke oder vielmehr das in ihnen verteilte Wissen den Gegenpol zur individuell-subjektiven Vernunft, die sich zutraut, auf einer Basis objektiven Wissens und mit Hilfe diskurserprobter Werturteile den politischen Prozess zu gestalten. Die Wissensgesellschaft, die von Ladeur immer wieder beschworen wird, ist eine Unwissensgesellschaft, weil Entscheidungen, die ja immer in die Zukunft gerichtet sind, notwendig auf unvollständigem Wissen und auf Wahrscheinlichkeitsannahmen gestützt werden müssen. [18]Rechtstheorie 1992, 22ff. Das immerhin vorhandene Entscheidungswissen, so jedenfalls Ladeur, lässt sich nicht objektivieren und zentralisieren. Das Wissen ist vielmehr über Netzwerke verteilt, wo es auch produziert wird. [19]Z. B. Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 31 ff, 37, 168 ff. Ladeur beruft sich auf Michael Polanyi (The Tacit Dimension, 1966), der, modern gesprochen, die Frage nach der Qualitätskontrolle … Continue reading Damit verliert der Anspruch des Staates auf eine hierarchische = staatliche Regulierung die Basis. Stattdessen sind »Selbstorganisation, Selbstkoordination und Selbstbeobachtung von produktiven Beziehungsnetzwerken zwischen Privaten« angesagt. So dient der Netzwerkbegriff Ladeur als Kontrast zur Hierarchie (des Staates), und zwar ohne eine Bezugnahme auf die von Williamson und Powell ausgelöste Governance-Diskussion. Für Ladeur leisten Netzwerke auf höherer Ebene (»Prozeduralität zweiter Ordnung« (Rechtstheorie S. 202) dasselbe, wie für v. Hayek der Markt. [20]Vgl. Ladeur, Rechtstheorie 1992, 194. Netzwerkteilnehmer wissen mehr als Drittbeobachter und können sich deshalb mit ihren Entscheidungen wechselnden Umweltbedingungen anpassen. Als Informationsträger, die auf Netzwerkebene an die Stelle des Marktpreises treten, dienen Eigentumsrechte und Kapital. [21]Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 300 f. Aus transaktionskostentheoretischer Sicht – Schande über diesen Ausdruck – wäre eigentlich Vertrauen die Koordinationsform, die im Netzwerk an … Continue reading Netzwerke setzen damit neue Formen der Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft aus sich heraus. Die internen Ordnungen der Netzwerke, die die Forschung beschrieben hat, interessieren da nicht. Als neues Ordnungsmuster wird ein »Netzwerk von Netzwerken« unterschiedlicher sozialer Beziehungen vorgestellt. [22]Vorbild ist das »Network of Networks«, das Noam als neue Organisationsform der Telekommunikation vorstellte, nachdem die zentralen Telefonnetze ihr Monopol verloren hatten (Eli M. Noam, … Continue reading Als Schnittstellen zwischen den Netzwerken sollen Kollisionsregeln nach dem Vorbild des Internationalen Privatrechts dienen. [23]Dazu mit Fundstellen Lars Viellechner, The Networks of Networks: Karl-Heinz Ladeur’s Theory of Law and Globalization, German Law Journal 2009, 515-536, S. 524.
Vieles von dem, was Ladeur als Netzwirkerei vorstellt, wird von anderen als regulierte Selbstregulierung behandelt. In einer neueren Monographie zum Thema kommen Netzwerke weder in der Gliederung noch im Sachverzeichnis vor. [24]Petra Buck-Heeb/Andreas Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010. Anscheinend ist der Netzwerkbegriff in diesem Zusammenhang überflüssig. Vielleicht ist er sogar schädlich. Eine typische Konnotation des Netzwerkbegriffs ist die spontane Ordnungsbildung. Spontan heißt dabei, dass Ordnung als nicht intendierte Nebenfolge intendierten Handelns entsteht. Darauf spielt Ladeur immer wieder an, etwa durch die häufige Bezugnahme auf v. Hayek oder die Betonung der »emergenten Effekte« von Selbstorganisation. [25]Z. B. Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft S. 37. In die gleiche Richtung deutet die Charakterisierung von Netzwerken als evolutionär. [26]Vgl. Teubner, The Diabolics of Network Failure, German Law Journal 2009, 409. Teubners Verweis auf Karl-Heinz Ladeur, Was leistet der Netzwerkbegriff für die Verwaltungswissenschaft? in Grundlagen … Continue reading Spontaneität, Emergenz und Evolution decken sich nicht, kommen aber mit derselben positiven Konnotation daher. In den intraorganisationalen Netzwerken, die Ladeur vornehmlich im Blick hat, etwa wenn er die Zukunft der Globalisierung bedenkt, sind jedoch Akteure am Werk, die strategisch planen und dazu Regelungen entwerfen und durchzusetzen versuchen. Lässt man ihre Anstrengungen als spontan durchgehen, werden sie als quasi natürlich aufgewertet.
Damit ist man bei der Legitimitätsfrage. [27]Zu dieser Tacke a. a. O. S. 16ff. Sie stellt sich, sobald soziale Netzwerke nicht bloß empirisch beschrieben und analysiert werden. »Dass Netzwerke einen mindestens latenten Schatten der Illegitimität hinter sich her ziehen« [28]Tacke a. a. O. S. 10., liegt wohl daran, dass die Transaktionen, um die es eigentlich geht, in unsachliche soziale Beziehungen eingebettet sind. Wenn man alle die positiven Prädikate zusammen nimmt [29]Z. B. Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft S. 37; Can Democracy Survive, S. 113 f. , mit denen Ladeur die Netzwerke ausstattet – sie sind Ordnungsbildner und Wissensträger, sie sind autonom und flexibel, produktiv und innovativ und nicht zuletzt kooperativ, pluralistisch und heterarchisch = egalitär und antiautoritär – dann steckt im Netzwerkbegriff doch ein ähnliches Ideologiepotential wie im Staatsbegriff. Ladeur begnügt sich mit der Berufung auf die Privatautonomie. [30] Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 257. Das ist gute alte soziologisch unaufgeklärte Jurisprudenz.
Ladeurs Anspruch, den Dialog mit den Forschungsergebnissen der Nachbarwissenschaften zu suchen [31]Ino Augsberg/Tobias Gostomzyk/Lars Viellechner, Denken in Netzwerken, Zur Rechts- und Gesellschaftstheorie Karl-Heinz Ladeurs, 2009, 66., bleibt hinsichtlich der Netzwerkforschung unerfüllt. Der darüber hinaus gehende Anspruch, mit dem »Denken in Netzwerken« eine neuartige Epistemologie zu begründen [32]Vgl. Ino Augsberg/Lars Viellechner/Peer Zumbansen, Introduction to the Special Issue: The Law of the Network Society. A Tribute to Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 2009, 305-309, S. 308., sei hier nur zur Kenntnis genommen. Ino Augsberg hat einen lustigen Versuch unternommen, das Netzwerkkonzept im Werk Ladeurs auch als soziologisches zu retten: Die Gesellschaft ändere sich rasant und die Welt sei äußerst komplex geworden. Da sei das Netzwerkkonzept adäquat, weil es praktisch keinen Inhalt habe. [33]The Relevance of Network Models within the Juridic Discourse, German Law Journal 10, 2009, 383-394, S. 387f.
Teubner ist vergleichsweise besser, wenn auch nur selektiv, mit der Netzwerkforschung vernetzt. Teubner hatte seine Position schon 1992 und 1993 in zwei wichtigen Aufsätzen markiert: »Die vielköpfige Hydra: Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung« [34]In: Wolfgang Krohn und Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, 1992, 189-216, ferner und in: Peter Hejl und Heinz Stahl (Hg.), Management und … Continue reading und »Den Schleier des Vertrags zerreißen? Zur rechtlichen Verantwortung ökonomisch ›effizienter‹ Vertragsnetzwerke« [35]Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 76, 1993, 367-393. Sein Blick richtete sich dabei auf zwei sehr spezielle Netzwerkarten, nämlich auf »Organisationsnetzwerke« vom Typ dezentralisierter Konzern (Beispiel Daimler-Benz) und auf »Marktnetzwerke« vom Typ des Franchising (Beispiel MacDonalds). Beide Netzwerktypen subsumierte er zunächst unter den systemtheoretischen Hyperzyklus, um ihnen die Eigenschaft eines kollektiven Akteurs zuzusprechen. In dem Aufsatz »Das Recht hybrider Netzwerke« von 2001 [36]Gunther Teubner, Das Recht hybrider Netzwerke, Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht , Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht, 2001, 550-575. und vollends in der Monographie von 2004 (Netzwerk als Vertragsverbund) hat Teubner aber die ökonomische Netzwerkanalyse von Oliver Williamson und Walter W. Powells Aufsatz »Neither Market nor Hierarchy« [37]Walter W. Powell, Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Research in Organizational Behavior 12, 1990, 295-336. (in der deutschen Version von 1996) rezipiert, um für »das Recht eine autonome und zugleich ›netzwerkgerechte‹ Begrifflichkeit herauszubilden, die die eigentümliche Handlungslogik von Netzwerken sich anverwandelt.« (S. 10). Zu diesem Zweck soll »die institutionelle Eigenlogik der Netzwerke« herausdestilliert werden. Teubner findet sie darin, dass die »Vernetzung … über bloße lokale bilaterale Einzelkontakte zustande« kommt, dass dennoch aber jeder Netzteilnehmer im Hinblick auf einen Gesamtzweck des Netzwerks verbunden ist. Das Ergebnis sind dann »Widersprüche der Verhaltensanforderungen zwischen bilateralem Austausch und multilateralem Verbund, zwischen Kooperation und Konkurrenz, zwischen Hierarchie und Heterarchie und zwischen unterschiedlichen Rationalitäten innerhalb ein und derselben Institution«. Diesen »paradoxen Charakter der Netzwerke (S. 77) soll das Recht einfangen.
Teubner übersieht nicht, dass er mit den von ihm behandelten »Organisationsnetzwerke« und »Marktnetzwerken« zwei sehr spezielle Netzwerktypen behandelt. Sie zeichnen sich beide durch ihre Zentralisierung aus. Mir ist nicht klar geworden, wie in derart zentralisierten Netzwerken »generalisierte Reziprozität« über die bilateralen Vertragsbeziehungen hinaus zum »normativen Gehalt des Vertragsverbundes« (S. 10) wird. Teubner zitiert u. a. Powell für die Annahme, generalisierte Reziprozität sei das zentrale Kennzeichen von sozialen Netzwerken. (S. 11). Powell verweist eigentlich nur allgemein auf die Austauschtheorie und betont, dass im Netz nicht nach jeder Interaktion abgerechnet wird, sondern dass Kreditbeziehungen aufgebaut werden. Nach Teubners Vorstellung soll der Kredit nicht bloß konkreten Tauschknoten, sondern dem ganzen Netz zugutekommen soll, weil »Eigenleistungen an das Netz mit der unbestimmten Erwartung künftiger Netzvorteile« verbunden werden (S. 121). Das ist wohl ein guter aber zugleich ein kritischer Punkt. Die Annahme, dass »generalisierte Reziprozität der grundlegenden Mechanismus spontaner Ordnungsbildung im Netzwerk« sei (S. 125), ist zu pauschal. Solche Reziprozitätserwartungen sind, tragen wohl normalerweise die Expansion und den Fortbestand von Netzwerken. Aber sobald Netzwerke sich asymmetrisch entwickelt haben oder gar strategisch zentralisiert sind, wie es bei den von Teubner behandelten Netzwerken der Fall ist, treten dominierende Knoten als Ordnungsbildner auf den Plan. Diesem Problem nähert sich Teubner 2009 in einem » Essay on the Diabolics of Network Failure«. [38]Gunther Teubner, »And if I by Beelzebub cast out Devils, …«: An Essay on theDiabolics of Network Failure, German Law Journal 10 , 2009, 395-416. Dennoch lässt sich bezweifeln, ob Teubner der Einstieg in die soziologische Netzwerkanalyse gelungen ist, denn Williamson und Powell stufen Netzwerke lediglich als Typus der Koordination ökonomischer Prozesse ein, und selbst insofern sind die asymmetrisch und zentralistisch angelegten Vertragsverbünde, die Teubner behandelt, mindestens sehr speziell. Powell ordnet sie gar dem Hierarchiepol zu. [39]Walter Powell, Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, 213-271, S. 216.
Teubner und Ladeur (und die Cluster, die sich um sie herum gebildet haben) richten ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf transnationale oder gar globale Netzwerke, die sich im Prozess der Globalisierung entwickelt haben. [40]Karl-Heinz Ladeur, Globalization and the Conversion of Democracy to Polycentric Networks: Can Democracy Survive the End of the Nation- State?, in: Karl-Heinz Ladeur (Hg.), Public Governance in the … Continue reading Sie sparen jedoch in ihren Arbeiten nach wie vor die moderne Netzwerkforschung aus, natürlich nicht, weil sie sie nicht kennen, sondern weil sie dafür keine Verwendung haben. So entsteht der Eindruck, dass der Netzwerkbegriff in der Rechtstheorie nur als Metapher und zum Zwecke der Interdisziplinaritätsrhetorik verwendet wird. Kritisch und überspitzt könnte man formulieren, durch ihren Frühstart mit der Verwendung des Netzwerkbegriffs habe die Rechtstheorie den Anschluss an die (harte) Netzwerkforschung verpasst.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ino Augsberg, The Relevance of Network Models within the Juridic Discourse, German Law Journal 10, 2009, 383-394, S. 383.
2 Vgl. pars pro toto die Darstellung einer Autorin, die auch als Rechtsoziologin ausgewiesen ist: Dorothea Jansen, Theoriekonzepte in der Analyse sozialer Netzwerke, 3. Aufl. 2006.
3 Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der dgssa 2 , 2011, 6-24, S. 8, 16f. [http://www.uni-bielefeld.de/soz/forschung/orgsoz/pdf/Tacke-Veronika-2011-Systeme-und-Netzwerke-.pdf]
4 Tacke a. a. O.; Jan A. Fuhse, Der Netzwerkbegriff in der Systemtheorie, in: Johannes Weyer, Soziale Netzwerke, 2. Aufl. 2011, S. 301-324.
5 Z. B. »Als operativ geschlossen sollen Systeme bezeichnet werden, die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen sind …« (Das Recht der Gesellschaft, 1995, 44).
6 Thomas Vesting, Kein Anfang und kein Ende. Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik, JURA, 2001, 299-305; hier zitiert nach der ausführlicheren Internetfassung, S. 4.
7 Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 846 bei Fn. 444.
8 Dazu Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.): Handbuch Governance, 2007, 93-105.
9 Vgl. etwa Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 296 ff.
10 Z. B. Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 62
11 Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 4, 296 ff und öfter.
12 Karl-Heinz Ladeur, Die Regulierung der Selbstregulierung und die Herausbildung einer »Logik der Netzwerke«, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, 57-77.
13 Am deutlichsten vielleicht noch Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 296 ff.
14 Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch Governance, 2007, S. 93-105, S. 93.
15 Poul F. Kjaer, Embeddedness through Networks: A Critical Appraisal of the Network Concept on the Oeuvre of Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 10 , 2009, 483-499.
16 Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91 , 1985, 481-510.
17 Anscheinend hat Kjaer einen anderen Begriff von embeddedness vor Augen, der einen Zustand vor der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft bezeichnet und den er auf karl Polanyi zurückführt (vgl. Poul F. Kjaer, The Structural Transformation of Embeddedness, Manuscript, 2010, bei SSRN; http://ssrn.com/abstract=1716763).
18 Rechtstheorie 1992, 22ff.
19 Z. B. Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 31 ff, 37, 168 ff. Ladeur beruft sich auf Michael Polanyi (The Tacit Dimension, 1966), der, modern gesprochen, die Frage nach der Qualitätskontrolle von Beiträgen zur Wissenschaft stellt und die Antwort in einem Prinzip wechselseitiger Kontrolle findet: »It is clear that only fellow scientists working in closely related fieldsare competent to exercise direct authority over each other; but their personal fields will form chains of overlapping neighborhoods extending over the entire Range of science.« (S. 72) Aus den neighborhoods werden bei Ladeur (S. 33) Netzwerke. Dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch ist nur, dass die wissenschaftssoziologische Beobachtung auf inter- und intraorganisationale Netzwerke übertragen werden, die Wissensbestände produzieren und speichern, die nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit mit sich führen und für die daher keine vergleichbaren Qualitätsmaßstäbe zur Verfügung sehen, wie sie in Wissenschaftlernetzwerken etabliert sind.
20 Vgl. Ladeur, Rechtstheorie 1992, 194.
21 Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 300 f. Aus transaktionskostentheoretischer Sicht – Schande über diesen Ausdruck – wäre eigentlich Vertrauen die Koordinationsform, die im Netzwerk an die Stelle von Preis oder Weisung tritt.
22 Vorbild ist das »Network of Networks«, das Noam als neue Organisationsform der Telekommunikation vorstellte, nachdem die zentralen Telefonnetze ihr Monopol verloren hatten (Eli M. Noam, Interconnecting the Network of Networks, 2001). Dieses Vorbild passt aber gar nicht, denn die Vernetzung besteht dort in technischen Standards für Schnittstellen. Besser wäre die Berufung auf Neidhardt, berufen, der soziale Bewegungen als »Netzwerke von Netzwerken« charakterisiert hat: »Die Basis sozialer Bewegungen bilden … nicht einzelne Personen, sondern soziale Einheiten, Gruppen, Initiativen, Kollektive oder ähnliches (eben Netzwerke) mit unterschiedlichsten Verdichtungsgraden. Diese sozialen Gruppen werden durch eine komplexe Struktur unmittelbarer Interaktionen zu einer sozialen Bewegung vernetzt. Maßgeblich sind dabei unter anderem Freundschaften, Bekanntschaften und Mehrfachmitgliedschaften sowie Koordinationszentralen, Versammlungen, Arbeitskreise, Zeitschriften.« (Friedhelm Neidhardt, Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Stefan Hradil (Hg.), Sozialstruktur im Umbruch, 1985, 193-204, S. 197). Dazu als empirische Untersuchung Thomas Ohlemacher, Bridging People and Protest: Social Relays of Protest Groups against Low-Flying Military Jets in West Germany Social Problems 43 1996, 187-218 (Vorbericht »Soziale Relais und Protest« in WZB-Mitteilungen 58, 1992, 9-11).
23 Dazu mit Fundstellen Lars Viellechner, The Networks of Networks: Karl-Heinz Ladeur’s Theory of Law and Globalization, German Law Journal 2009, 515-536, S. 524.
24 Petra Buck-Heeb/Andreas Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010.
25 Z. B. Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft S. 37.
26 Vgl. Teubner, The Diabolics of Network Failure, German Law Journal 2009, 409. Teubners Verweis auf Karl-Heinz Ladeur, Was leistet der Netzwerkbegriff für die Verwaltungswissenschaft? in Grundlagen der Verwaltungslehre, hrsg. von Veit Mehde und Ulrich Ramsauer, 2009, habe ich nicht identifizieren können.
27 Zu dieser Tacke a. a. O. S. 16ff.
28 Tacke a. a. O. S. 10.
29 Z. B. Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft S. 37; Can Democracy Survive, S. 113 f.
30 Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 257.
31 Ino Augsberg/Tobias Gostomzyk/Lars Viellechner, Denken in Netzwerken, Zur Rechts- und Gesellschaftstheorie Karl-Heinz Ladeurs, 2009, 66.
32 Vgl. Ino Augsberg/Lars Viellechner/Peer Zumbansen, Introduction to the Special Issue: The Law of the Network Society. A Tribute to Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 2009, 305-309, S. 308.
33 The Relevance of Network Models within the Juridic Discourse, German Law Journal 10, 2009, 383-394, S. 387f.
34 In: Wolfgang Krohn und Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, 1992, 189-216, ferner und in: Peter Hejl und Heinz Stahl (Hg.), Management und Wirklichkeit: Das Konstruieren von Unternehmen, Märkten und Zukünften, 2000, 364-386, und in: Patrick Kenis und Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk: Institutionelle Steuerung in Wirtschaft und Politik, 1996, 535-561.
35 Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 76, 1993, 367-393.
36 Gunther Teubner, Das Recht hybrider Netzwerke, Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht , Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht, 2001, 550-575.
37 Walter W. Powell, Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Research in Organizational Behavior 12, 1990, 295-336.
38 Gunther Teubner, »And if I by Beelzebub cast out Devils, …«: An Essay on theDiabolics of Network Failure, German Law Journal 10 , 2009, 395-416.
39 Walter Powell, Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, 213-271, S. 216.
40 Karl-Heinz Ladeur, Globalization and the Conversion of Democracy to Polycentric Networks: Can Democracy Survive the End of the Nation- State?, in: Karl-Heinz Ladeur (Hg.), Public Governance in the Age of Globalization, Aldershot, Hants, England , Burlington, VT 2004, S. 89-118; Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007, S. 37-61.

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Der Kriminalisierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, die Drogen konsumieren, aber anderen keinen Schaden zufügen, ein Ende setzen. Die verbreiteten falschen Vorstellungen über Drogenmärkte, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit in Frage stellen, statt sie zu bekräftigen.

Wer die Kommission eingesetzt hat, ist mir weder aus dem Bericht noch aus ihrer Webseite richtig klar geworden. Aber die Mitglieder sind so prominent, dass ihr Wort Gewicht hat. Irgendwann sind zu einem Thema mehr oder weniger alle Argumente ausgetauscht. Dann können nur noch soziale Bewegungen oder Autoritäten die Dinge im politischen Raum vorantreiben. Die Mitglieder der Kommission verfügen über so viel Autorität, dass die Dinge in Bewegung kommen könnten, nicht zuletzt, weil viele von ihnen aus dem konservativen Lager kommen, das den von Präsident Nixon vor 40 Jahren ausgerufenen War on Drugs als moralischen Kreuzzug versteht. Mitglieder der Kommission sind u. a. die früheren Präsidenten von Brasilien und Mexico, Fernando Henrique Cardoso und Ernesto Zedillo, aus der Ära Ronald Reagans der Außenminister George Shultz und der Chairman des Federal Reserve System Paul Volcker, der frühere Generalsekretär der UN, Kofi Annan, und der Schriftsteller Mario Vargas Llosa.
Anlass zu diesem Posting ist ein kurzer Artikel in der »Time« vom 2. April 2012 [1]Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail., der darauf aufmerksam macht, dass die extreme Zahl der verhängten und vollstreckten Haftstrafen in erster Linie auf Drogendelikte (und die dafür verhängten Mindeststrafen) zurückgeht. In den USA beträgt die Quote der Strafgefangenen 760 auf 100.000 Einwohner. In Deutschland sind es 90. [2]Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010). Inzwischen entwickelt die teilweise privatisierte Gefängnisindustrie in den USA insofern eine Eigendynamik, als sie zur Methode der Wirtschaftsförderung in unterentwickelten Landstrichen geworden ist. Vielleicht kommt aus dieser Ecke jetzt ein hartnäckigerer Widerstand gegen die Liberalisierung des Drogenkonsums als von der Front der Moralapostel. Diesen Punkt hat schon vor vielen Jahren Nils Christie in »Crime Control as Industry« (3. Aufl. 2000) aufgespießt.
Natürlich ist die Problematik der Masseninhaftierung in den USA längst zum Thema geworden. Aber darüber kann ich nicht kompetent berichten. Hier nur einige Literaturhinweise, die ich noch nicht alle ausgewertet habe:
Loïc Wacquant, Von der Sklaverei zur Masseneinkerkerung. Zur »Rassenfrage« in den Vereinigten Staaten, Das Argument Nr. 294 vom 20. 1. 2004, teilweise unter http://www.linksnet.de/de/artikel/18600.
Marie Gottschalk, The Prison and the Gallows: The Politics of Mass Incarceration in America, Cambridge University Press 2006 (Rez. von Joseph F. Spillane, Law & Society Review 41, 2007, 936-937);
Mary Bosworth, Explaining U. S. Imprisonment, Sage Publications, 2010;
Jonathan Simon, Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford Univ. Press, 2009;
Bernard E. Harcourt, On the American Paradox of Laissez Faire and Mass Incarceration; University of Chicago Institute for Law & Economics Olin Research Paper No. 590; U of Chicago, Public Law Working Paper No. 376 (2012), verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=2020659. Es handelt sich um die Ewiderung auf eine Rezension eines eigenen Buches, das an sich mit dem Thema nicht direkt etwas zu tun hat. Harcourt wendet sich u. a. gegen den Vorwurf der »Foucaultphilie«. Den Ausdruck kannte ich noch nicht.
Nachtrag Juni 2012:
Nachzutragen ist ein Hinweis auf Gary S. Becker/Kevin M. Murphy/Michael Grossman, The Economic Theory of Illegal Goods: The Case of Drugs, 2004 (NBER Working Paper 10976: http://www.nber.org/papers/w10976). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Legalisierung weicher Drogen verbunden mit einer hohen Besteuerung wirksamer ist als die strafrechtliche Verfolgung, auch wenn es natürlich Versuche geben werde, die Steuer zu vermeiden. Langsam schwenken auch die Medien auf den Legalisierungskurs ein, so ein großer Artikel von Claudius Seidl und Harald Staun in der FamS vom 29. 4. 2012 (»Machen wir Frieden mit den Drogen«).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail.
2 Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010).

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Schattenwirtschaft in Griechenland

In einem Artikel in der Heimlichen Juristenzeitung vom 27. 2. 2012 äußert sich Dominik H. Enste vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln zum Umfang der Schattenwirtschaft in Griechenland. Sie soll in den PIGS Staaten mit 19 bis 25 % doppelt so hoch liegen wie in den angelsächsischen Ländern. Eine Quelle wird nicht angegeben.
Definition und Ermittlung der Schattenwirtschaft sind notorisch ungenau. Das OECD-Handbuch »Measuring the Non-Observed Economy« (2002) unterscheidet vier Formen der Schattenwirtschaft:
(1) Underground Economy. Sie umfasst alle an sich rechtlich erlaubten wirtschaftlichen Betätigungen, die vor den Behörden verborgen werden, um Steuern und Abgaben zu sparen, um rechtliche Standards für die Bezahlung von Arbeitnehmern, Arbeitszeitregelungen sowie Sicherheit- und Gesundheitsvorkehrungen zu vermeiden. Der wichtigste Einzelposten ist wohl die gewöhnlich so genannte Schwarzarbeit.
(2) Illegal Production: Hierher zählen vor allem strafbare Formen der Prostitution und die Produktion von und der Handel mit kriminalisierten Drogen, ferner die marktorientierte organisierte Kriminalität. Auf diesen Bereich bezieht sich das Paper von Frank Wehinger, Illegale Märkte, auf das ich am 1. 11. 2011 hingewiesen habe.
(3) Informal Sector: Zur Schattenwirtschaft gehört ferner der so genannte informelle Sektor. Er umfasst die marktorientierten wirtschaftlichen Tätigkeiten, die sich staatlichen Regelungs- und Abgabenansprüchen entziehen. Viele Beispiele dafür gibt es in Deutschland nicht. Zu denken ist wohl in erster Linie an den Wohltätigkeitsbereich, etwa die »Tafeln«, die Lebensmittel an Bedürftige ausgeben, oder an den Verkauf selbstgemachter Marmelade auf dem Weihnachtsbazar.
(4) Household production for own final use: Zur Schattenwirtschaft im weiteren Sinne gehört schließlich die Subsistenzwirtschaft. Sie umfasst alle wirtschaftlichen Tätigkeiten für den Eigenkonsum, also insbesondere die Betätigung in Haus und Garten. Dieser Bereich ist weitgehend rechtsfrei. Es scheint so, dass dieser Bereich eine Tendenz zur Schrumpfung aufweist.
Bei den angebotenen Schätzungen weiß man nicht immer so genau, welchen Bereich sie einschließen. Außerdem färbt die eindeutige Verurteilung der illegalen Märkte auf die nicht ganz so eindeutig negativ besetzte Schattenwirtschaft ab.
Als Schattenwirtschaft im engeren Sinne interessiert die underground economy. Nur im Hinblick auf diesen Sektor stellt sich ernsthaft die Frage, ob die Schattenwirtschaft bei der Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes positiv berücksichtigt werden soll. Sie wird durchgehend negativ beantwortet, aber so ganz selbstverständlich ist das nicht. Dazu müsste man schon genaueres über Charakter und Umfang der Schattenwirtschaft wissen. Die zweite Frage ist, ob die Schattenwirtschaft die offizielle stört oder ob sie ihr sogar hilft. Auch hier ist die Antwort nicht selbstverständlich.
Der Umsatz der Schattenwirtschaft in Deutschland betrug nach Angaben des Bundesfinanzministeriums im Jahre 2004 356 Milliarden EUR und lag damit bei 16,4 % des Bruttosozialprodukts. Enste nannte in einem Fernsehinterview aus dem Jahre 2009 für Schwarzarbeit im engeren Sinne einen Betrag von 150 Milliarden Euro. Es besteht ein gewisser Verdacht, dass der Umfang der Schattenwirtschaft von Wirtschaft und Politik systematisch überschätzt wird, um eine verstärkte Regulierung und Kontrolle zu rechtfertigen.

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Omri Ben-Shahar und Carl E. Schneider über den Unsinn gesetzlicher Informationspflichten

Auf diese Arbeit hat mich schon vor einiger Zeit mein Bochumer Kollege [1]Darf man eigentlich als Emeritus die aktiven Fakultätsmitglieder noch als Kollegen ansprechen? Karl Riesenhuber aufmerksam gemacht:
Omri Ben-Shahar/Carl E. Schneider, The Failure of Mandated Disclosure, University of Pennsylvania Law Review 159 , 2011, 647-750.
Die Arbeit passt jetzt gut zu dem Eintrag über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus vom 3. 1. 2012. Das folgende Zitat kann vielleicht besser noch als das Abstract einen Eindruck vermitteln, worum es geht:

Not only does mandated disclosure address a real problem, it also rests on a plausible assumption: that when it comes to decisionmaking, more information is better than less. More information helps people make better decisions, thus bolstering their autonomy. Since people can no longer customize most transactions, disclosure helps restore some individual control. It may also induce enterprises to behave more efficiently.
Although mandated disclosure addresses a real problem and rests on a plausible assumption, it chronically fails to accomplish its purpose. Even where it seems to succeed, its costs in money, effort, and time generally swamp its benefits. And mandated disclosure has unintended and undesirable consequences, like driving out better regulation and hurting the people it purports to help. Not only does the empirical evidence show that mandated disclosure regularly fails in practice, but its failure is inevitable. First, mandated disclosure rests on false assumptions about how people live, think, and make decisions. Second, it rests on false assumptions about the decisions it intends to improve. Third, its success requires an impossibly long series of unlikely achievements by lawmakers, disclosers, and disclosees. That is, the prerequisites of successful mandated disclosure are so numerous and so onerous that they are rarely met.

Die Autoren meinen einleitend, wenn man über Informationspflichten schreiben wolle, habe man dasselbe Problem, dass von diesen Pflichten aufgeworfen werde. Die Masse der Informationen übersteige die Fähigkeit des Informanten, sie angemessen darzustellen, und ebenso die Kapazität der Informierten, sie sinnvoll aufzunehmen. Deshalb möge man aus ihrem (104 Seiten langen) Artikel nur lesen, was einen interessiere. Insbesondere den ersten Teil, der die zahllosen Informationspflichten aufzähle, könne man getrost überschlagen, wenn man ohnehin von ihrer Allgegenwart überzeugt sei.
Ich habe zwar in der Tat einiges überschlagen, aber nicht weil ich den Artikel langweilig oder schwer zu lesen fand. Im Gegenteil: Die Amerikaner können einfach gut schreiben, so dass die Lektüre ein Vergnügen ist. Aber ich habe im Moment andere Themen im Kopf. Doch im Kopf habe ich jetzt auch, dass die Allgegenwart in Verbindung mit dem Umfang und der Komplexität der kraft Gesetzes angebotenen Informationen die weitgehende Wirkungslosigkeit dieses Angebots zur Folge hat. Die Autoren halten Informationsangebote zwar nicht für völlig unwirksam, meinen aber, nur ganz simple Informationen (etwa nach dem in Deutschland zurzeit diskutierten Ampelmodell für Nahrungsmittel) könnten effektiv sein. Gesetzgeber und Gerichte erfinden aber immer neue Informationspflichten, denn diese scheinen eine liberale, billige und wirksame Lösung vieler Probleme zu bieten.
Ben-Shahar und Schneider haben mit ihrer Arbeit ein Prachtexemplar symbolischer Gesetzgebung vorgestellt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Darf man eigentlich als Emeritus die aktiven Fakultätsmitglieder noch als Kollegen ansprechen?

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Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismanns Tribunalisierungsthese II

Dieser Eintrag beendet die am 14. 11. begonnene und am 17. 11. sowie am 21. 11. im Blog »Recht anschaulich« fortgesetzte Besprechung des Buches »Medien der Rechtsprechung« von Cornelia Vismann.
Der Abschnitt mit der Überschrift »Courtroom-Drama« steht noch im Kapitel über das »Cine-Gericht«. Unter einem courtroom-drama versteht Vismann aber hier nicht, wie üblich, bloß fiktive Darstellungen von Gerichtsszenen, sondern Filme, die die Judenvernichtung thematisieren. Dazu rechnet sie auch die Filmdokumentationen, die im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu Beweiszwecken vorgeführt wurden und die Filme, mit denen dieses und andere reale Gerichtsverfahren dokumentiert wurden. Die Parallelisierung von Fiktion, Dokumentation und auch Realität findet sich an vielen Stellen des Buches. Literarisch wird sie durch die Berufung auf die Theatergruppe Rimini gestützt.
In der Sache konzentriert sich der Abschnitt über das »Courtroom-Drama« auf die höchst aufwendigen technischen und personellen Vorkehrungen für das Simultan-Dolmetschen in Nürnberg. Er konstatiert zunächst, dass die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse in bis dahin unvorstellbarer Weise für akustische und visuelle Medien geöffnet wurden, um sich dann darauf zu zeigen, wie die seinerzeit neuartige Technik des Simultandolmetschens dem Verfahren ihren Stempel aufdrückte. Soweit das deskriptiv geschieht, liest es sich spannend. Mit der Interpretation kann ich aber wenig anfangen: »Damit hätte die Stimme einen eigentümlich raumlosen Raum gefunden, in dem der Nachhall der Stimme als das Nicht-Identische des Subjekts vernehmbar wird.« (S. 235) Am Ende S. 240 gibt es immerhin eine These: Die Technik des Simultandolmetschens gehört inzwischen bei internationalen Tribunalen selbstverständlich dazu, nicht aber bei Verfahren der normalen Gerichten mit Beteiligten, für die in mehrere Sprachen übersetzt werden muss. Vismann sieht darin einen Unterschied zwischen Tribunal und Gericht. Die normalen Gerichte duldeten keine simultanen Reden, weil sie um ihre »Prozesshegemonie« oder »Diskursmacht« fürchteten. (S. 240) Mir scheint wichtiger, dass das Gerichtsverfahren durch das Simultandolmetschen sozusagen zur Telefonkonferenz unter Anwesenden wird. Interessant wäre vor allem, was Psychologen dazu zu sagen haben. Ich weiß allerdings nicht, ob es dazu überhaupt aktuelle Untersuchungen gibt.
Der folgende Abschnitt über »Nürnberg«, immer noch im Kapitel »Cine-Gericht«, befasst sich damit, wie einerseits der (erste) Nürnberger Kriegsverbrecherprozess von vornherein als Medienereignis für die Weltöffentlichkeit und als Instrument für die Umerziehung der Deutschen organisiert wurde und wie andererseits innerhalb des Verfahrens die nicht zuletzt zu diesem Zweck gedrehten Filme über die Befreiung der Konzentrationslager als Beweismittel dienten. Der Chefankläger der Amerikaner, Justice Jackson, stützte die Anklage im Wesentlichen auf Dokumente, Fotos und eben auf Filme, die »für sich selbst sprechen sollten«. Die Absicht dahinter war einerseits, das Verfahren möglichst frei von Störungen durch die Emotionen der Opferzeugen zu halten (S. 246 f.). Es sollte aber wohl auch verhindert werden, »dass die Angeklagten das Tribunal als Plattform für nationalsozialistische Propaganda nutzen würden«. [1]Susanne Karstedt, Die doppelte Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, Zeitschrift für Rechtssoziologie 17, 1996, 58-104, 68. Der Gerichtssaal, so Vismann, wurde zum Kino umgebaut. Acht Filme, darunter ein Zusammenschnitt mit dem Titel »The Nazi Concentration Camp«, wurden quasi zu Hauptbelastungszeugen. Das Verfahren seinerseits wurde abgefilmt, und zwar bei der Vorführung der Beweisfilme mit Blick auf die Gesichter der Angeklagten. Vismann geht der Frage nach, ob die in Nürnberg gezeigten Filmbilder »einen emblematischen Charakter annehmen, und das heißt: einer von allen geteilten Interpretation zugänglich sind« (S. 253). Sie meint, dass die wiederum abgefilmte Szene der Vorführung der Filme das Potential zur Emblematisierung enthalte, und spricht von einer Authentifizierungslogik. Das ist, wie sie selbst nicht verkennt, wohl etwas zu stark. Aber interessant ist es doch, wie Vismann der Verwendung der Schreckensfilme in jüngeren Spiel- und Dokumentarfilmen – insbesondere Alan Resnais, »Nuit et brouillard« (Nacht und Nebel), 1955; Orson Welles, »The Stranger« (Die Spur des Fremden), 1946, und Stanley Kramer, »Judgment at Nuremberg«, 1961 – nachgeht. Der Eichmann-Prozess, wiewohl vollständig aufgezeichnet, hatte anscheinend zunächst im Kino kaum ein Echo, bis 1999 Eyal Sivans und Rony Braumans Material aus dem Eichmann-Prozess für ihren Film »Un spécialiste, portrait d’un criminel moderne« verwendeten. Der Film veranlasst Vismann zu dem Resümee: »Die Bilder, die nach Nürnberg zum Emblem oder doch zumindest zur Chiffre für den Holocaust geworden sind, haben sich abgenutzt.« (S. 270). Das erinnert an Susan Sontag, die 1977 in demselben Essay, in dem sie eindrucksvoll ihre persönliche Begegnung mit den Schreckensbildern aus den Konzentrationslagern schilderte, nicht weniger deutlich formulierte, was heute als Gemeinplatz der Medienkritik gilt. »In den letzten Jahrzehnten hat die ›anteilnehmende Fotografie‹ mindestens ebenso viel dazu getan, unser Gewissen abzutöten, wie dazu, es aufzurütteln.« [2]Susan Sontag, Über Fotografie [Original 1977], 12. Aufl. 2000, S. 22. Was mag es bedeuten, dass längst viele Filmteile aus dem Nürnberger Prozess und aus dem Eichmann-Verfahren neben Millionen von Trivialclips bei YouTube zu finden sind? Aber das war nicht Vismanns Thema. Ihr ging es in erster Linie darum zu zeigen, wie selbst im Gerichtsfilm die Szene zum Tribunal wird.
Das Abschnitt »Fernsehübertragungen aus dem Gerichtssaal« (S. 297-317) beginnt: »Die Geschichte des Fernsehens ist die Geschichte einer Aneignung von Gerichtsstoffen und –formaten.« Das ist arg übertrieben. Aber es gibt eine solche Geschichte. Vismann referiert andeutungsweise die juristische Diskussion, um dann den Widerstand der Juristen gegen Live-Übertragungen aus dem Gerichtssaal aus der eigentümlichen Performanzleistung der Justiz zu erklären. Was im Gericht geschehe, müsse als unwiederholbarer Vorgang erscheinen und dürfe deshalb erst nach einem Medienwechsel – als schriftlicher Prozessbericht oder als Gerichtszeichnung – nach außen dringen. (S. 311) Aber: Bedeutet nicht auch die Filmaufzeichnung einen Medienwechsel? Sind nicht auch schriftliche Prozessberichte und Gerichtszeichnungen wiederholt abrufbar?
Das gilt viel stärker noch für das Fernsehen als für den Film. »Fernsehen und Gericht sind vielmehr deswegen miteinander verwandt, weil sie nach denselben Regeln ablaufen. So wie in einem Dolmetschverfahren aus Worten Sätze werden, fügen sich die Fernsehsignale zu einem Bild, da sie ›wie in buchstabierter Satz richtige syntaktische Regeln und unterschiedliche Glieder bis hin zum Interpunktionszeichen haben‹ « (S. 271) Diese Reverenz an Kittler muss man überlesen, um zum springenden Punkt zu gelangen: »Ob Fußball oder Gericht, das Fernsehen ist begierig auf Verfahren in Echtzeit mit ungewissem Ausgang. Alles, was dem agonalen Dispositiv unterliegt, ist willkommen.« (S. 272) Die Fernsehzuschauer bilden die Masse, vor deren Augen die Entscheidung fällt. Als Beispiel dient die Live-Übertragung eines Tribunals aus der Frühzeit des amerikanischen Fernsehens, des Army-Hearing McCarthys im Frühjahr 1954. Es folgt eine spannende Schilderung der Entstehungsgeschichte und eine wunderbare Interpretation von Otto Premingers Anatomy of a Murder (1959) als »ultimativem Gerichtsfilm«. Die Verbindung zwischen Fernsehen und Film wird durch die Figur des Anwalts Joseph N. Welch hergestellt, der als Vertreter der US-Army McCarthy mit der Frage »Have you no sense of decency, sir?« vom Ankläger zum Angeklagten machte, nachdem McCarthy vor der Fernsehöffentlichkeit einen jungen Offizier unvorbereitet und unbegründet angegriffen hatte. Eben dieser Welch spielte dann den Richter in Premingers Film. Im Hintergrund die medientheoretische These: Im Gerichtsfilm zeige sich noch die klassische Einheit von Theater und Gericht. Dagegen habe das Fernsehen neben seiner Komplizenschaft zum Tribunal das Gerichtsformat nur als Vorwand für indezente Themen entdeckt und ausgeschöpft.
Der Abschnitt »Videosphären« betont einleitend den Charakter von Videos als Speichermedium – im Gegensatz zum Fernsehen, dass jedenfalls im Prinzip auf eine Liveübertragung angelegt ist. Der Abschnitt konzentriert auf den Vorhalt von Videoaufnahmen im Strafprozess und verliert sich – aus meiner Sicht – in einer Paraphrase zu Legendres Abhandlung und Film zum Fall Lortie. [3]Über die Rolle des Videofilms bei Legrande/Lortie vgl. : http://www.nachdemfilm.de/content/zum-status-der-videoaufzeichnung-pierre-legendres.
Unter der Überschrift »Fern-Justiz/Remote Judging« könnte man eine Auseinandersetzung mit Versuchen erwarten, Personen außerhalb des Gerichtssaals durch Videokameras in die Präsenzverhandlung vor Gericht zu integrieren. Doch die Überschrift entpuppt sich als Wortspiel, denn Fern-Justiz ist nicht Fernjustiz im Sinne von Remote Judging, sondern eine »überörtliche, ortlose« (S. 368) Justiz fern des Tatorts. S. 369 f. bedenkt Vismann den Cyber Court, dem die Beteiligten elektronisch zugeschaltet sind, nur als »Extremfall«. Ihr Thema ist das International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY), das exemplarisch geworden ist, Vorbild für den seit 2003 tätigen Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wurde. Aber, das ist wichtig: Mit seiner »state-of-the-art-courtroom-technology« gibt der ICTY auch für die Normaljustiz die Richtung vor (S. 360 f.) Damit ist dieses Schlusskapitel (für mich) das interessanteste und wichtigste.
Sechs Kameras und die Netzöffentlichkeit der Aufnahmen sorgen beim ICTY dafür, dass der Tribunalauftrag der Politik erfüllt wird. Allerdings kann das Gericht verhindern, dass bestimmte Aufnahmen öffentlich werden. So erklärt Vismann den Control-Screen des Vorsitzenden zum »Vorhang«, der der Szene Gerichtscharakter verleiht. Aber es geht nicht nur um eine Videoaufnahme der Verhandlung zur Dokumentation nach außen. Darum ging es ja auch 1965 im Fall Estes v. Texas, als der US Supreme Court Fernsehaufnahmen der Gerichtsverhandlung untersagte. Und darum ging es, als dasselbe Gericht 20 Jahre später das Gerichtsfernsehen zuließ mit der von Chief Justice Warren Burger verfassten Begründung, damals, in dem Estes-Verfahren, sei es zugegangen wie in einem römischen Zirkus, der Gerichtssaal voller Kameras, Kabel, Scheinwerfer, Techniker usw. Aber nun, 1985, sei das alles anders. Von der Kamera sei im Gerichtssaal gar nichts mehr zu bemerken. Und deshalb dürfe das Fernsehen zugelassen werden. Vismann dagegen meint: »Wenn das, was in camera (bei aller Öffentlichkeit) geschieht, zugleich in einem kleinen, Kamera genannten Kasten noch einmal wiederholbar gespeichert wird, sprengt das die unwiederbringliche Einzigartigkeit der Gerichtsaufführung, die unter dem Stichwort Unmittelbarkeit ins Prozessrecht eingegangen ist.« (S. 373) Erneut ein Wortspiel, das man goutieren mag, dass aber wenig beweiskräftig ist. Da werden Mündlichkeit des Verfahrens und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wohl doch etwas hochstilisiert. Doch damit erschöpft sich Vismanns Medienkritik nicht. Selbst die bloße Dokumentation nach außen stört das Verfahren. Als Beleg zitiert Vismann dazu eine Untersuchung von Lanzara und Patriotto [4]Giovan Francesco Lanzara/Gerardo Patriotta, Technology and The Courtroom: An Inquiry into Knowledge Making in Organizations, Journal of Management Studies 38, 2001, 943–971 aus Italien. Und Vismann hat noch einen wichtigeren Punkt, der die inzwischen alte Problematik des Gerichtsfernsehens verblassen lässt. Der römische Zirkus aus dem Este-Verfahren ist mit den vielen Monitoren zurückgekehrt, die nunmehr alle Prozessbeteiligen vor sich haben und auf denen sie sich teilweise auch gegenseitig in Nahaufnahme beobachten können. Erst das Zusammenwirken der medienvermittelten Kommunikation im Prozess (»Verschaltung aller Prozessbeteiligten«, S. 369) und der medialen Vermittlung des Prozessgeschehens nach außen macht die Musik.
Es ist ein schöner Gag, wie Vismann – zunächst inkognito – ausführlich den Milosevic-Sympathisanten Peter Handke als Prozessbeobachter zitiert. Ihr Ergebnis ist eher überraschend. Das ICTY sei kein Gericht; dazu sei das theatrale Dispositiv zu schwach ausgeprägt, aber auch kein echtes Tribunal, weil ohne agonales Dispositiv, denn ein Kampf um die Wahrheit werde hier gerade nicht ausgefochten. »Mit den Richtern ist die Position des neutralen Dritten etabliert, der eine bereits vorliegende Wahrheit zutage fördert. Die medientechnischen Einrichtungen, Vorhänge aller Art, gehorchen der separierenden Logik des Gerichts als einer Macht, die entscheidet, weil sie unterscheidet.« (S. 354) Die »Streichung des agonalen Dispositivs« findet Vismann darin, dass die Vorwürfe gegen die Angeklagten wie Mord und Diebstahl als Verbrechen nach positivem Recht entpolitisiert und im Muster herkömmlicher Gerichtsverfahren verhandelt werden, und nicht als Übergang von einem Unrechtsregime zu einer neuen Rechtsordnung. Dass und warum es Milosevic (auch mit Hilfe seines Verteidigers Vergès) nicht gelang, das Verfahren tribunaltypisch zu einer politischen Anklage gegen die Veranstalter des Verfahrens oder Beteiligte des Balkankonflikts umzufunktionieren, wird nicht klar. [5]Dazu deutlicher der von Vismann nur für mangelndes Zuschauerinteresse zitierte Martti Koskenniemi, Between Impunity and Show Trials, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2 , 2002, 1-35. Dagegen könne das ICTY als Gerichtsverfahren nicht gelingen, weil ihm durch die Medien das »Ding« abhandengekommen sei. Hier wird wieder mit Worten gespielt. Aus Fernjustiz und Gerichtsfernsehen wird Fernsehjustiz und dann werden dem ICTY Charakteristika des Fernsehgerichts imputiert. Das Haager Gericht sei Ferngericht und Fernsehgericht. Es sei auf Fortsetzungen angelegt und gehorche so wie die populären Gerichtssendungen des Fernsehens dem Gesetz der Serie. Es habe damit die gerichtstypische Performanz (»Medialität«) verloren, denn »Serien enden nicht und sie haben, sie brauchen keine Lösung.« (S. 362). Die Bindung an die Fernsehserie erzeuge die »Gesamtheit des Erzählflusses und nicht eine einzelne Sendung«. [6]Vismann beruft sich dafür auf Nicole Labitzke (Ordnungsfiktionen. Das Tagesprogramm von RTL, Sat. 1 und ProSieben, 2009, dort S. 288. Das Argument überzeugt mich nicht. Was die Gerichtssendungen des Fernsehens betrifft, so hat jede einzelne Episode durchaus eine Lösung. Im Übrigen lässt sich die Internetöffentlichkeit des ICTY nicht mit dem kommerziellen Fernsehen vergleichen. Das kommerzielle Fernsehen wird für die Quote veranstaltet, die wiederum die Werbeeinnahmen generiert. Wer verfolgt denn überhaupt die Verhandlungen des ICTY im Netz? Vor allem aber ist die Netzöffentlichkeit des ICTY nicht auf eine Quote angelegt. Die Serialität ist nicht Absicht, sondern Folge der Langwierigkeit des Verfahrens. Deshalb bedarf die Annahme, dass der mediale Output auf das Verfahren rückwirkt, einer besonderen Begründung. Das schöne Wortspiel vom »denkbar dichtesten Zusammenschluss von Justizmedien und Medienjustiz in der Serie« (S. 367) ersetzt solche Begründung nicht. Aber richtig ist sicher, dass die technischen Medien nicht zuletzt wegen ihres Effizienzversprechens geschätzt und eingesetzt werden, und plausibel ist auch, dass die verfahrentstechnische Ökonomisierung zu einer Entformalisierung des Verfahrens führt. (S. 369) Die Frage ist allerdings, ob nicht um den Medieneinsatz herum ganz neue Rituale enstehen, die wir als solche bisher gar nicht wahrnehmen.
So fasst Vismann selbst am Ende (S. 374 f.) ihr Buch zusammen: »Die Geschichte der Medien der Rechtsprechung ist eine Geschichte der Informalisierung des Verfahrens. Wer Medien im Prozess zulässt, bringt die Justiz um ihre eigene Medialität. Technische Medien entziehen sich der theatralen Logik der Justiz und versetzen die Prozessbeteiligten an einen Ort, der alles andere als ein Schauplatz ist – inmitten von Kabeln und Monitoren. Sie diktieren das Verfahren, mit ihrem eigenen Takt, ihren eigenen Anforderungen und Öffentlichkeiten. Die Medien der Rechtsprechung prägen das 21. Jahrhundert, das nach Jacques Derrida ein Jahrhundert der Vergebung ist und das sich doch vor allem als ein Jahrhundert der Tribunale präsentiert.«
Das Buch ist in vielerlei Hinsicht bewundernswert. Bewundernswert ist der Umgang mit der Komplexität, mit der Fülle und Masse dessen, was andere bereits an einschlägigen Texten produziert haben. Man kann nicht mehr alles lesen, was zu den wichtigeren Stichworten des Buches geschrieben wurde und schon gar nicht mehr alles verarbeiten. Viele geben sich dennoch Mühe, möglichst viel zu schlucken und zu verdauen. Vismann dagegen blickt nicht links und blickt nicht rechts (jedenfalls tut sie so als ob). Sie macht gar nicht den Versuch, auch nur anzudeuten, was alles schon etwa über das Gericht als Theater, über Verfahrensgerechtigkeit, über Tribunalisierung, über Bilder im Recht, über den Gerichtsfilm, über den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, über Court TV, über Anwalts- und Gerichtsserien im Fernsehen oder über den Medieneinsatz im Gerichtsverfahren geschrieben wurde. Souverän zieht sie ihr Ding durch. Ihre Grundthese, dass Gerichtverfahren durch die publikumsorientierten Medien zunehmend vom Theater zum Tribunal würden, scheint mir plausibel und relevant zu sein. Aber sie wird doch nur essayistisch belegt und ausgeführt. Und für die von vornherein von der großen Politik mit Tribunal-Auftrag versehenen Verfahren ist die These beinahe trivial. Triftig wird sie mit der Frage, wieweit die Tribunalisierung auch in das »normale« Gerichtsverfahren hineinreicht. Auch hier begegnen immer wieder Tribunale in dem von Vismann beschriebenen Sinne, zuletzt etwa das Kachelmann-Verfahren. Diese Frage bleibt offen. Aber das ist immer so bei anregenden Büchern, dass man am Ende noch mehr wissen möchte.

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Susanne Karstedt, Die doppelte Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, Zeitschrift für Rechtssoziologie 17, 1996, 58-104, 68.
2 Susan Sontag, Über Fotografie [Original 1977], 12. Aufl. 2000, S. 22.
3 Über die Rolle des Videofilms bei Legrande/Lortie vgl. : http://www.nachdemfilm.de/content/zum-status-der-videoaufzeichnung-pierre-legendres.
4 Giovan Francesco Lanzara/Gerardo Patriotta, Technology and The Courtroom: An Inquiry into Knowledge Making in Organizations, Journal of Management Studies 38, 2001, 943–971
5 Dazu deutlicher der von Vismann nur für mangelndes Zuschauerinteresse zitierte Martti Koskenniemi, Between Impunity and Show Trials, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2 , 2002, 1-35.
6 Vismann beruft sich dafür auf Nicole Labitzke (Ordnungsfiktionen. Das Tagesprogramm von RTL, Sat. 1 und ProSieben, 2009, dort S. 288.

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Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismanns Tribunalisierungsthese

Dieser Eintrag setzt die am 14. 11. begonnene Besprechung des Buches »Medien der Rechtsprechung« von Cornelia Vismann fort.
S. 97 beginnt der Hauptteil des Buches mit den Sätzen: »Die Techniken des Rechtsprechens folgen rechtlichen Vorgaben. In Prozessordnungen ist die Abfolge des Verfahrens vorgeschrieben. Was darin nicht gesagt wird, betrifft die Medien der Rechtsprechung. Zwar gibt es Bestimmungen und sogar Debatten über die Zulässigkeit einzelner Medien.« Nun erwarte ich ein aber, das erklärt, wieso die Medien der Rechtsprechung nicht geregelt sind. Ich finde es nicht.
Die kurzen Kapitel über »Akten« und »Die Stimme vor Gericht« (Schriftlichkeit und Mündlichkeit) paraphrasieren Bekanntes. Das gilt auch für das Kapitel »Öffentlichkeit« (die ja als solche wohl kein Medium ist). Hier findet sich jedoch der wichtige Abschnitt, in dem die Unterscheidung zwischen »Gericht« und »Tribunal« erläutert wird (S. 146-183), den »beiden antagonistischen Großformen der Rechtsprechung«, die sich im alten Rom formiert haben (S. 149).
Vismann zeigt hier Gespür für die Aktualität des Themas. Fast gleichzeitig mit ihrem Buch sind zwei Sammelbände erschienen, die das Tribunal im Titel tragen, die sie aber natürlich noch nicht kennen konnte. [1]Heinz-Dieter Assmann u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011; Georg Wamhof (Hg.), Das Gericht als Tribunal, oder, Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, … Continue reading Ganz allgemein versteht man unter Tribunalisierung heute wohl die öffentliche Erörterung individueller Schuld, die aber nicht unbedingt juristische Formen annehmen muss. [2]So war in einem Zeitungsartikel von der »Tribunalisierung der eher harmlosen Eva Herman wegen ihrer familienpolitischen Ansichten« die Rede. Dagegen unterscheidet Habermas in einem oft zitierten Artikel von 1992 [3]Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet »Aufarbeitung der Vergangenheit« heute?, Die Zeit vom 3 April 1992, S. 82–85. Der maßgebliche Absatz lautet: … Continue reading Personalisierung und (rechtsförmige) Tribunalisierung. Wenn man nach »Tribunalisierung« gugelt, ist der erste Treffer jedoch ein Vortrag von Odo Marquard über »Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit« von 1993, der dem Zeitgeist »Tribunalsucht« attestiert, die »Menschen die Menschen« anklagen lässt »wegen der Übel in der Welt, zu denen es durch ihre kulturschöpferischen Übeltaten komme«. Der Jurist versteht »unter einem Tribunal ein inszeniertes Gericht: etwas, das sich vom klassischen geordneten Gerichtsverfahren unterscheidet und mehr dem Theater ähnelt, etwas, was in Richtung Schauprozess geht.« [4]Heinz-Dieter Assmann, Die Tribunalisierung des Weltverständnisses, in: ders. u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011, S. 11-22, 12.
Vismann stützt sich für die Anbindung des Tribunals an das alte Rom auf die Seiten 359-363 aus Mommsens Römischem Strafrecht [5]Im Internet verfügbar unter http://www.archive.org/details/rmischesstrafre00mommgoog.. Bei Mommsen kann man lesen, dass bis in die Kaiserzeit die öffentliche Verhandlung wohl die Regel, dass aber die Verhandlung im geschlossenen Raum zu allen Zeiten häufig gewesen sei (S. 359); ferner, dass die eigentliche Gerichtsstätte ursprünglich »der grosse Markt war und späterhin, als dieser nicht ausreichte, die Kaiserforen und die jedermann zugänglichen Markt- und Gerichtshallen (Basiliken). »Auf diesen Märkten oder in diesen Hallen wurden die Tribunale aufgeschlagen, erhöhte Estraden, auf welchen für den rechtsprechenden Imperienträger der Sessel aufgestellt ward, wo aber auch seine Berather und andere Beisitzer so wie das Hülfspersonal Platz fanden.« Für Parteien, Zeugen und Zuschauer gab es Bänke zu ebener Erde. Weiter bei Mommsen S. 362 f.: »Die nicht öffentliche Rechtsprechung findet, wenn vom Senat abgesehen wird, regelmässig statt im Hause oder in dem Amtslocal des Beamten. Der Saal, in welchem derselbe den Parteien Gehör giebt, heisst auditorium, späterhin secretarium, weil er durch einen Vorhang abgeschlossen ist und der freie Eintritt in denselben nur den Officialen und bestimmten Rangpersonen zusteht; in der Spätzeit darf die Urtheilsfällung nur in diesem Saal … stattfinden. Es kann indess auch in diesem Amtslocal durch Oeffnung des Vorhangs und Zulassung des Publikums öffentlich Gericht gehalten werden und diese Form der Oeffentlichkeit hat am Ende der Kaiserzeit die Rechtsprechung vom Tribunal verdrängt.« Der Unterschied besteht also darin, dass ein Gericht eigentlich gar nicht auf Publikum angewiesen ist (also doch kein Theater?) oder sich mit der Saalöffentlichkeit zufrieden gibt, während ein Tribunal auf unbegrenzte Öffentlichkeit angelegt ist. Später kommt noch hinzu, dass die Gerichte sich in Gebäude zurückziehen, die nur ihren Zwecken dienen. Das Tribunal kann an jedem Ort abgehalten werden. (S. 149).
Aber es geht nicht bloß um die Frage einer kleineren oder größeren Öffentlichkeit. Tribunale sind eminent politisch und haben jedenfalls die Tendenz zu einem bloßen Schauprozess, in dem der Veranstalter ein vorab feststehendes Ergebnis durchsetzt. »Die Ankläger in einem Tribunal setzen ihre Wahrheit durch, zumindest versuchen sie es. Ihre Position ist mit der des Richters deckungsgleich, und darin wird allgemein das Kennzeichen gesehen, das ein Tribunal ausmacht.« (S. 160). [6]Dazu beruft sich Vismann auf Koskenniemi (Between Impunity and Show Trials, in: Max Planck Yearbook of United Nation Law 6, 202, 1-35, 18.) Ich lese die Belegstelle etwas anders. Koskenniemi weist … Continue reading Aber in einem Tribunal kann der Ankläger auch zum Angeklagten werden. So kann auch das Gerichtsverfahren in dem Sinne tribunalisiert werden, dass die Justiz selbst zum Angeklagten wird. Das zeigt Vismann am Beispiel des französischen Anwalts Jacques Vergès (S. 181 ff.).
»Tribunale sind Ad-Hoc-Veranstaltungen.« Sie folgen keinem vorab geregelten Verfahren und sie ignorieren den Grundsatz nulla poena sine lege. Ihnen fehlt im Vergleich zum Gerichtsverfahren »die Neutralität des Richters (1), die unvoreingenommene Entscheidung nach Anhörung der Parteien und in Gemäßheit einer bestimmten Wahrheitsnorm (2) sowie die Verbindlichkeit der richterlichen Entscheidung (3)« (S. 165). Vismann denkt dabei auf die Gegenwart bezogen an so »verschiedene Dinge wie Russel-Tribunale, stalinistische Schauprozesse und internationale Verfahren« (S. 149), aber durchaus auch an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess oder an die justizielle Aufarbeitung der Vergangenheit in den so genannten Transformationsländern.
Viele werden die von S. 164-180 eingeschobene Reflexion über den Tisch goutieren, aus dem sie mit Hilfe Foucaults das Dispositiv des Gerichtsverfahrens ableitet. Für mich ist das ein Fall von kulturwissenschaftlichem Fetischismus. Ich begnüge mich daher mit einem Zitat »Der Tisch trifft die fundamentale Unterscheidung in das Personal des Gerichts und die Personen vor Gericht.« (S. 164) und wundere mich, wie aus dem Rechteck des Tisches eine »trianguläre Aufteilung« wird.
Gericht und Tribunal, wie sie von Vismann charakterisiert werden, lassen sich als Idealtypen im Weberschen Sinne einordnen. Dann ist »das Tribunal im Gericht latent vorhanden … Umgekehrt ist kein Tribunal in seiner Reinform zu haben« (S. 183).
Wie wird aus der Unterscheidung von Gericht und Tribunal eine medientheoretische These? »Die technischen Medien beerben hier die Versammlung im Freien. Fernsehzuschauer übernehmen die Rolle der Umstehenden. Sie sind das Medium, das einem Tribunalanspruch seine Geltungskraft jenseits aller Rechtsmacht verleiht. So kommt es, dass Tribunale sämtliche sich bietenden Medien begierig zur Amplifizierung ihres Wirkungsradius‘ ergreifen, während die ordentliche Gerichtsbarkeit bei jedem neu aufkommenden Medium jeweils erneut die Frage der Zulässigkeit erörtert …« (S. 151). »Nur die technischen Medien werden in einem Gericht zugelassen, die sich nach Art des Vorhangs der römischen Antike bedienen lassen und die Öffentlichkeit nach Belieben ein- und ausschalten.« (S. 152) Die Bildmedien, so die unausgesprochene, aber in den folgenden Kapiteln illustrierte These, drängen das Justizverfahren tendenziell in die Richtung des Tribunals. Das ist eine handfeste und plausible Aussage. In einem späteren Eintrag werde ich darüber berichten, wie sie gestützt wird. In dem Buch folgt zunächst ein Kapitel über das »Cine-Gericht«, dessen erste Abschnitte für die Tribunalisierungsthese nicht relevant sind. Darüber schreibe ich in den nächsten Tagen einen Eintrag in »Recht anschaulich«, wo schon mehrfach von »Recht im Film« die Rede war.

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Heinz-Dieter Assmann u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011; Georg Wamhof (Hg.), Das Gericht als Tribunal, oder, Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, 2009. In diesem spielt der Begriff des Tribunals allerdings keine Rolle. Ich habe ihn nur einmal beiläufig auf S. 70 gefunden. Immerhin geht es auch in diesem Band um den performativen Charakter der Gerichtskultur, um den Gerichtssaal als Kommunikationsraum und um die beteiligten Medien.
2 So war in einem Zeitungsartikel von der »Tribunalisierung der eher harmlosen Eva Herman wegen ihrer familienpolitischen Ansichten« die Rede.
3 Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet »Aufarbeitung der Vergangenheit« heute?, Die Zeit vom 3 April 1992, S. 82–85. Der maßgebliche Absatz lautet: »Personalisierung und Tribunalisierung lassen den Fokus von öffentlichen Selbstverständigungsdebatten unscharf werden. Beides signalisiert eine Überlastung mit Fragen, die der privaten Rechenschaft oder dem juristischen Urteil vorbehalten bleiben sollten. Damit die ethisch politische Aufarbeitung der Vergangenheit eine mentalitätsbildende Kraft erlangen und für eine freiheitliche politische Kultur Anstöße geben kann, muß sie allerdings durch juristische Verfahren und die Unterstellung einer gewissen Bereitschaft zur existentiellen Selbstprüfung ergänzt werden. So ist die Aufarbeitung der Vergangenheit ein mehrdimensionales und arbeitsteiliges Unternehmen.«
4 Heinz-Dieter Assmann, Die Tribunalisierung des Weltverständnisses, in: ders. u. a. (Hg.), Szene & Tribunal – Orte der »Wertschöpfung«?, 2011, S. 11-22, 12.
5 Im Internet verfügbar unter http://www.archive.org/details/rmischesstrafre00mommgoog.
6 Dazu beruft sich Vismann auf Koskenniemi (Between Impunity and Show Trials, in: Max Planck Yearbook of United Nation Law 6, 202, 1-35, 18.) Ich lese die Belegstelle etwas anders. Koskenniemi weist darauf hin, dass das International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) zwar von politischen Absichten des Westens getragen sei, betont aber den Unterschied zu den stalinistischen Schauprozessen und auch zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, denn Milosevic habe hier die Gelegenheit erhalten und wahrgenommen, seinerseits den Westen anzuklagen.

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Ein starkes Stück Kulturwissenschaft: Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung

Von vielen erwartet ist in diesem Jahr postum Cornelia Vismanns Buch über die »Medien der Rechtsprechung« veröffentlicht worden. [1]Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 456 S., 22,95 EUR. Jetzt habe ich es endlich gelesen. Wer nach einer Würdigung sucht, die der Autorin und ihrem Text gerecht wird, sei auf das Vorwort der Herausgeber, auf einen Nachruf von Fabian Steinhauer [2]Beobachterin zweiter Ordnung, Ancilla Juris 2010, 43-46. und auf die Rezensionen von Susanne Baer in der TAZ vom 16. 6. 2011, von Andreas Bernard in der Süddeutschen Zeitung vom 27. 6. 2011 und von Winfried Hassemer, Das große Theater des Rechts, FAZ vom 8. 11. 2011 S. L38 (anscheinend nicht im Netz) verwiesen. Ich lese das Buch als schnöder Konsument, immer auf der Suche nach nützlichen Brocken, die ich als Legal McLuhanite für die Rechtssoziologie oder als Jurist für »Recht anschaulich« verwenden kann. Wenn meine Lesefrüchte oft kritisch konnotiert sind, so liegt das an dem kulturwissenschaftlichen Gestus des Buches. Allein die Tatsache, dass ich mich so ausführlich mit dem Buch befasst habe, sollte meine Wertschätzung beweisen.
Die Grundthese des Buches geht davon aus, dass »Gericht« zwei Grundmodalitäten (»Dispositive« [3]Gerhard Struck (»Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum – Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?«, Ancilla Juris 2009, 99-117; S. 108) zitiert ausführlich die Definition des Dispositivs … Continue reading ) miteinander verbindet, nämlich seine Rahmung als Theater und seinen Ablauf als Kampf, und sie besagt, dass die Dispositive unterschiedliche Medien anziehen und andere ausschließen (S. 17). Im weiteren Verlauf wird aus dem Kampf das Tribunal. Der Kampf braucht die Öffentlichkeit und deshalb zieht er die modernen Massenmedien an.
Nachdem auf den ersten 80 Seiten »Theater« und »Kampf« als »Dispositive« für das Gerichtsverfahren vorgestellt worden sind, folgen sieben Kapitel mit fast 300 Seiten über einzelne Medien. Nämlich I: Akten, II. Die Stimme vor Gericht, III. Öffentlichkeit, IV. Fotografien im Gericht, V. Cine-Gericht, VI. Fernsehen und VII. Fern-Justiz/Remote Judging.
Gleich das erste Kapitel nutzt die wichtigsten kulturwissenschaftlichen Zutaten: Etymologische Ableitungen, lösliche Paradoxien, schöne Literatur statt schnöder Empirie, französische Kronzeugen, Fetischismus und eine Prise Psychoanalyse. Später werden allerhand Wortspiele nachgereicht. [4]Hier eine kleine Auswahl: S. 222 ff., 242 ff.: »Courtroom Drama« ist einmal das Genre fiktiver Darstellungen von Gerichtsszenen, dann aber auch das Gerichtsverfahren selbst und seine filmische … Continue reading
Das »theatrale Dispositiv«, das zunächst ausgemalt wird, hat nicht eigentlich etwas mit dem Theater zu tun, sondern mit Legendre, und erschöpft sich in dem verfahrensmäßigen »Nachspielen« des Prozessthemas. Die »performative, ›dinghegende‹ Seite des Gerichts« scheint dem zu entsprechen, was gewöhnlich unter Verfahrensgerechtigkeit thematisiert. Luhmann gehöre zu den wenigen, die diesen Aspekt des Gerichtsverfahrens betont hätten (S. 22). Dem kulturwissenschaftlichen Tunnelblick fallen die Heerscharen der Amerikaner und der Epigonen zum Opfer, die sich mit procedural justice befasst haben. Das ist umso bedauerlicher, als die spezifische Performanz des auf Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in einer gewissen Abgeschlossenheit stattfindenden Gerichtsverfahrens das zentrale Thema des Buches bildet. Jedenfalls: »Im Nachspielen oder Verhandeln wird das Ding zur Sache.« (S. 34) Und weiter S. 37: »Das Nachspielen verspricht demnach die fundamentale Befriedung des Dings.« Ist das nicht wunderbar tiefsinnig?
Vismann stützt ihre Thesen durch eine Interpretation von Kleists zerbrochenem Krug. Das ist funkelndes Feuilleton, wie Kleist, Sophokles, Aischylos und Dante, wie der Dorfrichter mit seinem Namensvetter aus der Schöpfungsgeschichte und mit König Ödipus, wie der Zerbrochene Krug mit der Klepsydra und später noch (S. 89) mit Klytaimnestras Gebärmutter assoziiert werden und wie wir schließlich mit Hilfe von Legendre erfahren, dass es sich um eine Interdiktion handelt, wenn Marthe Rull zuerst vom Richter Adam und dann auch noch vom Gerichtsrat Walther aufgefordert wird, »zur Sache« zu sprechen. Da fällt es schon nicht mehr ins Gewicht, wenn Ödipus (Orest tritt erst S. 90 auf) zum »Mutter-Mörder der griechischen Tragödie« wird (S. 65). Immerhin war er ja mittelbarer Täter bei deren Selbstmord. »Die radikale Kappung jedes Außen, die Umwandlung von Ding in Sache und das Erfordernis der Rede zur Sache (Interdiktion) sind danach die drei elementaren Operationsbedingungen der Justiz im theatralen Dispositiv.« (S. 56). Alles klar.
Das Justiztheater endet mit einem Urteil und damit endet auch die Beschreibbarkeit des Gerichts als Theater (S. 72). Zum Urteil muss ein Richter her. Das Gerichtstheater ist auch ein Kampf. Potentiell sind alle Zuschauer Entscheider. »Sobald Agierende von Zuschauenden unterscheidbar sind, ist die Position des Entscheidens eingeführt.« (S. 75) Vielleicht. Weiter S. 79: »Die amphitheatrale Sitzordnung ermächtigt die Zuschauer zum Entscheiden. Wer hat am besten gespielt, wer schrieb das beste Stück?« Und S. 80: »Die Amphitheater in Athen … öffneten sich auf das Meer … Diese Öffnung auf die Umwelt unterscheidet das agonale Dispositiv von der theatralen Entscheidungssituation, die in einer Kammer stattfindet, die gar nicht geschlossen genug sein kann.« Das verstehe ich nicht. Ist das Theater nicht auf Zuschauer angewiesen? Deshalb will ich einfach das Ergebnis zitieren: »Das agonale Dispositiv ist mithin durch drei Kennzeichen vom theatralen unterschieden: Zum einen durch den binären Entscheidungsmodus, der allen Wettkämpfen eigen ist (es geht um … Obsiegen oder Unterliegen), zum zweiten durch die konstitutive Funktion der Zuschauer für die Entscheidungsfindung und schließlich durch das Amphitheatralische, dass Offene der Entscheidungssituation …« (S. 81).
Bevor es nun an die Medien der Rechtsprechung geht, führt noch ein Umweg durch Literatur, nämlich durch »Die Eumeniden« des Aischylos. Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, was die Autorin mit der Vorstellung dieses Stückes erreichen will. »Aischylos‘ letztes Drama führt das Theaterelement der Analysis mit dem Gerichtselement der Tatnacherzählung zusammen.« (S. 87) Die Verwandlung der Erinnyen zu Eumeniden, der Rachegöttinnen zu Wohlmeinenden wird als »Stunde Null des Rechts« gedeutet. (S. 92) Zugleich soll das Drama als »Gründungsstück des Vaterrechts« [5]Zur Orestie als Gründungsmythos des Rechts vgl. den Eintrag vom 3. Nov. 2009.verstanden werden, freilich mit der schäbigen Begründung, die Mutter sei »nur des frisch gesäten Keimes Nährerin«. (S. 88) Davor, dazwischen und danach steht noch allerhand (für mich) Dunkles. (Fortsetzung folgt)

Nachtrag: Eine ausführliches Echo auf meine Vismann-Rezension gibt Dieter Simon, Die Leser der Cornelia Vismann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 456 S., 22,95 EUR.
2 Beobachterin zweiter Ordnung, Ancilla Juris 2010, 43-46.
3 Gerhard Struck (»Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum – Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?«, Ancilla Juris 2009, 99-117; S. 108) zitiert ausführlich die Definition des Dispositivs bei Foucault, Dispositive der Macht, und kommentiert sie mit erfreulicher Distanz. In der Tat, mit diesem Unbegriff lässt sich nichts anfangen, es sei denn, man lässt sich von Foucault bloß anregen und definiert das »Dispositiv« für eigene Zwecke neu. In diesem Sinne habe ich – mehr aus Versehen als mit Absicht – einmal vom »kognitiven Dispositiv der Schrift« gesprochen (Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, 2005, S. 272). Gemeint war damit die Schrift als eine Möglichkeitsbedingung für eine gerichtete Entwicklung des Rechts.[ http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/daten/pdf/Roehl-Bilder%20in%20gedruckten%20Rechtsbuechern.pdf]
4 Hier eine kleine Auswahl:
S. 222 ff., 242 ff.: »Courtroom Drama« ist einmal das Genre fiktiver Darstellungen von Gerichtsszenen, dann aber auch das Gerichtsverfahren selbst und seine filmische Dokumentation.
S. 337: Aus courtroom wird Gerichtsraum (als Gegensatz zu einem geräumigen Gerichtssaal).
S. 356: »Transitional Justice ist … eine Justiz im Übergang und eine übergangsweise Gerechtigkeit«
S. 333 f.: Fern-Justiz« ist nicht bloß medienvermittelte Justiz, sondern Justiz fern des Tatorts.
S. 369: Als »Naturalparteien« werden eigentlich nur natürliche im Gegensatz zu juristischen Personen bezeichnet. Dieser Gegensatz ist Vismann selbstverständlich geläufig. Daher ist die »Naturalpartei« hier doppelsinnig gemeint als (natürliche) Person, die leibhaftig vor Gericht erscheint.
5 Zur Orestie als Gründungsmythos des Rechts vgl. den Eintrag vom 3. Nov. 2009.

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Rechtssoziologie unter fremdem Namen: Frank Wehinger über Illegale Märkte

Frank Wehinger hat als MPIfG Working Paper 11/6 eine umfangreiche Darstellung des Standes sozialwissenschaftlicher Forschung veröffentlicht, die sich selbst als wirtschaftssoziologisch einordnet, die man aber auch als rechtssoziologisch lesen kann. Wehinger füllt damit eine Lücke in den bisher vorhandenen Lehrbüchern und Gesamtdarstellungen der Rechtssoziologie. In der Gliederung ist formal von »Typ-I-Märkten« bis »Typ-V-Märkten« die Rede. Diese Typisierung knüpft daran an, an welcher Stelle der Transaktion das Recht zugreift. Ich zitiere aus dem Überblick:
»So kann der Markt, so denn ein solcher vorliegt und dieser abgegrenzt werden kann, aus verschiedenen Gründen illegal sein. Aus dem Blickwinkel der Rechtslehre kann das Verbot der Vermarktung bestimmter Produkte und Dienstleistungen an folgenden Stellen ansetzen: bei der Herstellung, Vorbereitung, Durchführung des Produktes beziehungsweise der Dienstleistung, beim Kauf sowie beim Verkauf. Auch die Verletzung von Regulierungsvorschriften hat ein Verkaufsverbot oder zumindest einen rechtlichen Makel (ohne ein sich daraus zwingend ergebendes Verkaufsverbot) zur Folge. Insgesamt ergeben sich die folgenden Unterscheidungen illegaler Märkte:
I. Das gehandelte Gut selbst ist verboten, also bereits seine Herstellung: Drogen, Menschenhandel, Kinderpornografie, Kinderprostitution.
II. Das Gut wurde gestohlen: Diebesgut (auch Autos, Kunst).
III. Das Gut wurde gefälscht: Fälschungen (auch Medikamente).
IV. Der Handel mit dem Gut ist verboten, also der Verkauf und meist auch der Kauf: Adoptionen, Organe, Ersatzmutterschaft, personenbezogene Daten (ohne Einwilligung).
V. Es wird gegen eine bestimmte Vorschrift, die die Herstellung des oder den Handel mit dem betreffenden Gut einschränken, verstoßen (Regulierungsverstoß; zum Beispiel Waffen, Zigaretten, Diamanten, Holz, Glücksspiel, Sicherheit).«
Es ist bemerkenswert, was Wehinger dazu an Material zusammenträgt, wie er es übersichtlich ordnet und gelegentlich mit Ökonomenblick für Juristen angenehm verfremdet.
Zum Download empfohlen.

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Recht, Kunst und Gewalt in Florenz. Zu Horst Bredekamp, Die Kunst des perfekten Verbrechens

2003 gab es im ZiF in Bielefeld eine von Ulrich Haltern und Christoph Möllers veranstaltete Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«. Ich sollte das Korreferat zu einem Vortrag von Horst Bredekamp halten. Unter dem Titel »Die Kunst des Verbrechens« trug Bredekamp Gedanken vor, die er aus Anlass der Neuübersetzung von Benvenuto Cellinis »Vita« in der »Zeit« veröffentlicht hatte (und die auch heute noch dort abgerufen werden können).
Aus aktuellem Anlass habe ich meine Vortragsnotizen herausgesucht, die ich hiermit unverändert zum Besten gebe. Nachträglich eingefügt sind nur die Bilder. Sie stammen aus den Wikimedia Commons. Da der Text für einen Blogeintrag zu lang (und damit unbequem zu lesen ist), stelle ich ihn gleichzeitig hier als PDF ins Netz.
Einleitung
B. hat uns eine prägnante These geliefert: Die Rechtsfreiheit der Kunst ist das Modell für den absolutistischen Souverän. Der Souverän schafft das Recht wie der Künstler die Kunst. Deshalb muss der Souverän der Kunst Freiheit geben, um sich in dieser Freiheit zu spiegeln.
Ich will meine Bemerkungen zu dem Vortrag auf vier Punkte verteilen:
1. Zunächst mache ich einige allgemeine Bemerkungen über das Verhältnis von Recht und Kunst.
2. Dann werde ich einige Verständnisfragen stellen.
3. Drittens werde ich die Extralegalität Cellinis etwas relativieren.
4. Und schließlich werde ich einige alternative Erklärungen versuchen.
Ob ich dann am Ende zu einem Ergebnis komme, ist noch offen.
Zu 1.: Recht und Kunst:
Herr B hatte mir einen Vortrag über Recht und Kunst angekündigt. Da ich den Vortrag nicht zur Verfügung hatte, habe ich mir einmal angesehen, was B früher zu Recht und Kunst geschrieben hat. Dabei bin ich auf das 1975 erschienene Buch »Kunst als Medium sozialer Konflikte« gestoßen. (Und im Netz habe ich dann auch seinen Artikel in der »Zeit« gefunden.) In diesem Buch wird einleitend die Geschichte der Kaiserbilder und Herrschaftszeichen beschrieben. Es wird beschrieben, wie zunächst die vorchristliche Kaiserverehrung das christliche Bilderverbot zersetzte und wie dann Kaiserbildpraxis und christliche Bildverehrung zusammenwuchsen. Wir erfahren viele Details über den schwierigen Siegeszug des Bildes im Christentum. Ich habe darüber hinaus gelernt, dass es schon vor Gregor V. in der Kirche auch Ansätze zur Bildpädagogik gab.
Diese Beschreibung kombiniere ich nun mit der Interpretation Luhmanns. Luhmann nennt diese vormoderne Kunst bekanntlich symbolisch. Diese Kunst lässt Unzugängliches (Unvertrautes, Unbeobachtbares) im Zugänglichen gegenwärtig sein: Das symbolische Bild aktiviert das Unsichtbare im Sichtbaren. Es ist nicht, aber es repräsentiert das Überirdische. Damit ist ziemlich deutlich auch das Verhältnis der Kunst zum Recht charakterisiert, denn das Recht stammt letztlich aus der gleichen empirisch nicht zugänglichen Quelle wie die Religion. So finden wir bis in das 16. Jahrhundert hinein in den Rechtsbüchern Kaiserbilder und in den Rathäusern und Gerichtssälen die bekannten Weltgerichtsbilder.
Nun überspringe ich zunächst das 16. Jahrhundert. 1651 erschien der Leviathan mit seinem berühmten Titelbild. Ich weiß nicht, ob die Formulierung auch von Herrn Bredekamp stammt – jedenfalls stammt sie nicht von mir: Der moderne Staat beginnt mit einer Ikone. Aber das erste Bild ist dann zugleich auch das letzte. Jedenfalls gibt es heute eine Diskussion über die Ikonophobie oder Symbolangst des Rechtstaats. Diese Diskussion kann ich jetzt hier nicht ausbreiten. Ich will nur die Hauptthese nennen, die etwa lautet: Das Ideenreservoir des liberalen Rechtstaats ist zu abstrakt, um in Bilder gefasst zu werden.
Was lässt sich weiter über das Verhältnis von Recht und Kunst heute sagen. Zunächst haben wir den Art. 5 GG, der die Freiheit der Kunst garantiert, und diese Garantie steht nicht nur auf dem Papier. Dann kann man feststellen, dass es an einer affirmativen Rechts- und Staatskunst weitgehend fehlt. Allenfalls in der Architektur könnte man vielleicht fündig werden, und dann natürlich in totalitären Staaten, die die Funktionsdifferenzierung zwischen Kunst und Recht wieder zurückzudrehen versuchen. Der große Geleitzug der Kunst interessiert sich überhaupt nicht mehr für Staat und Recht. Nur am Rande schwirren ein paar Schnellboote herum, die ihre kritischen Torpedos auf Recht und Staat abschießen. Das beginnt schon im 16. Jahrhundert mit Sebastian Brants Narrenschiff und mit Emblemen auf den Judex Corruptus im 17. Jahrhundert, erlebt im 19. Jahrhundert bei Daumier einen Höhepunkt und zieht immer wieder Epigonen an wie Philipp Heinisch oder Klaus Staeck.
Eine kurze Bemerkung auch zur theoretischen Auseinandersetzung der Jurisprudenz mit der bildenden Kunst. Seit immerhin etwa 100 Jahren, gibt es, motiviert durch die Codices Picturati des Sachsenspiegels und begründet durch Karl von Amira, unter den Rechtshistorikern eine starke Fraktion, die sich der Rechtsikonografie widmet. Aber die historische Rechtsikonografie interessiert sich für Bilder nicht als Kunst, sondern als historische Quellen. Ferner gibt es gibt mindestens ein halbes Dutzend einschlägiger Bücher zum Thema Recht und Kunst. Den Anfang macht 1927 Fehr. Heute sind vor allem Bücher von Schild und Pleister, Köbler und Kocher und von Wolfgang Sellert im Umlauf. Diese Bücher findet man aber weniger in juristischen Fachbibliotheken als unter dem Weihnachtsbaum.
Und dann gibt es noch eine Sonderkonjunktur für Bücher und Aufsätze zur Justitia-Figur. Zur Interpretation darf ich wieder Luhmann bemühen. Luhmann beschreibt, wie sich im 16. Jahrhundert die Symbolik der Kunst durch das Bewusstsein der Äußerlichkeit der Bilder, der Distanz von Zeichen und Bezeichnetem und durch Verzicht auf die operativ bewirkbare Einheit verwandelt und dadurch u. a. die neue Kunstgattung von Emblemen und Allegorien entsteht. Allegorien bieten eine Personifizierung des Abstrakten. Prototyp der Allegorie ist die Frauenfigur der Justitia. Meine These lautet nun, dass das das Verhältnis von Juristen zur Kunst auf dem Niveau der Allegorie stehen geblieben ist. Der Kunst muten auch moderne Juristen die Veranschaulichung ihrer Aporien zu.
Ad 2: Nun zu der Lücke im 16. Jahrhundert, in die B heute seinen Stein gesetzt hat. Ich muss zunächst mit drei Verständnisfragen beginnen.
a) Der Absolutismus Florentiner Prägung ist mir nicht vertraut. In Deutschland hat es den absoluten Fürsten in Reinkultur nie gegeben. In Florenz gab es eine republikanische Tradition. Die Medici waren eher Handelsfürsten. Erst Cosimo I. hat durch seine Heirat und die spätere Ernennung zum Herzog der Toskana eine dynastische Legitimation herzustellen versucht. Immerhin wird Cosimo Machiavelli gekannt haben, nicht dagegen die Souveränitätslehre Bodins, denn die Sechs Bücher sind erst 1577 erschienen. Insgesamt: Sein Selbstverständnis als Fürst kann ich mir nicht vorstellen. Florenz bot jedenfalls keinen idealtypischen Absolutismus.
b) Mir ist nicht klar, wie viel die Thesen von B. mit dem Inhalt der Kunst Cellinis zu tun haben. Wir sehen ja meistens nur auf die Skulpturen. Da gibt es wohl nur zwei Arbeiten, die sozusagen thematisch einschlägig sind, nämlich den Perseus und die Büste Cosimos I. Beide Arbeiten sind relativ spät entstanden, die Büste war 1548 fertig, der Perseus wurde wohl erst 1554 aufgestellt. Die Büste war ja wohl auch gar nicht für Florenz selbst, sondern für den Hafen in Portoferraio bestimmt.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Büste Cosimos auf die Zeitgenossen gewirkt hat. Sicher nicht klassisch-römisch. Michelangelos David wurde dagegen von den Bürgern vermutlich als Symbol für Entschlossenheit und Stärke verstanden und deshalb von ihnen auf dem Platz vor dem Palazzo Vecchio aufgestellt, obwohl die Statue eigentlich für den Dom bestimmt war. Vielleicht waren aus zeitgenössischer Sicht die Münzen und Medaillen viel wichtiger als die Plastik.
c) Die Episode der Ermordung Allessandro de Medicis durch Lorenzino de Medici kann ich schlicht nicht einordnen, weil mir die historischen Details fehlen. Alessandro war ein Sohn von Clemens VII. und wurde 1532 durch Karl V. zum Erbherzog von Florenz installiert. Lorenzino hat ihn dann tatsächlich 1537 ermordet, aber wohl nicht eigenhändig, sondern durch einen gedungenen Mörder, und wohl aus politischen Gründen, nämlich weil er eingefleischter Republikaner war. Was Herr B. über diesen Vorfall berichtet stammt aus der Selbstbiographie Cellinis und ist wohl doch eine sehr subjektive Interpretation.
Ad 3: Alternative Interpretationen
a) Cellini war in der Tat ein außergewöhnlicher Mensch. Aber man darf seine Straftaten nicht mit modernen Maßstäben messen. Seine Rechtsbrüche in Rom waren in Florenz nicht interessant und umgekehrt. Erst recht interessierte man sich in Italien nicht für die Probleme Cellinis am französischen Hof. Es gab noch nicht wie heute die Vorstellung von einem universalen Strafrecht, wie sie im Internationalen Gerichtshof in Den Haag institutionalisiert ist.
b) Es war im Übrigen ja auch keineswegs so, dass Cellini Narrenfreiheit genoss. Als es ihm 1523 in Florenz zu heiß wurde, floh er nach Rom. Als er sich in Rom der Gunst des Papstes nicht mehr sicher war, floh er weiter nach Neapel. Bei seiner Rückkehr nach Rom wurde er sogar unter falschen Beschuldigungen verhaftet und verurteilt. Er saß im Gefängnis, bis er auf Fürsprache Franz I. freikam und auf Umwegen nach Fontainebleau ziehen konnte. Und als er mit König Franz I. in Streit geriet, kam er wieder nach Florenz, wo das Regime gewechselt hatte.
c) Näher an den Kern dringt aber wohl die Frage, ob, immer aus der Sicht zunächst Clemens‘ VII. und dann Cosimos I., Cellini wirklich im rechtsfreien Raum handeln durfte. Das Florenz des 16. Jahrhunderts war eine vormoderne Form des Staates. Wenn wir einmal annehmen, dass sich die Fürsten in dieser Zeit wirklich als legibus soluti verstanden, dass sie also nicht einmal eine Art ethisches Minimum im Sinne des Dekalogs für unverfügbar hielten, dann kann man doch kaum annehmen, dass sie einem Künstler, und sei es auch Cellini, eine originäre Verfügungsgewalt über das immerhin vorhandene Recht konzedierten. Dann blieb doch alle Freiheit des Künstlers eine vom Patron abgeleitete Freiheit. Dann stellt sich die Frage, wem der Patron solche außerordentlichen Freiheiten konzedierte. Vielleicht auch seinem Meisterkoch. Steht damit die Kochkunst über dem Recht? Oder seiner Mätresse. Steht dann die Liebeskunst über dem Recht? Ich meine also, die Freiheit des Künstlers war vielleicht doch nur eine geliehene und keine originäre.
Damit komme ich schon zu meinem Punkt 4, nämlich zu möglichen alternativen Deutungen des Geschehens.
a) Ich würde der Story Celllinis, wie wir sie von Herrn B. gehört haben, nicht die Überschrift »Kunst vor Recht« oder »Kunst über Recht« geben, sondern vielleicht »Künstler sicher vor Strafverfolgung«. Nicht das Recht wurde suspendiert, sondern nur die Strafverfolgung, und zwar aus Opportunitätsgründen, nämlich nur solange, wie der Künstler nützlich erschien. Der Künstler bekommt keineswegs einen Freiraum zum Morden. So wie es heute Kronzeugen gibt, gab es damals Kronkünstler.
b) Was brachte die Patrone dazu, dem Künstler Cellini immer wieder die Freiheit zu schenken? War es Prunksucht?

Wenn man an die Goldschmiedearbeiten, insbesondere an das berühmte Salzfass, denkt, so war diese Kunst doch eine extrem elitäre Angelegenheit, die man kaum nach außen vorzeigen konnte, ohne die Bruciamenti in Erinnerung zu rufen, die uns Herr B. in einem früheren Aufsatz vorgestellt hat.

Auf der anderen Seite waren Statuen und Münzen im Florenz der Medicis wohl das wichtigste Massenmedium. Für Künstler als Public-Relations-Manager gab es keinen Ersatz. War das der Grund, warum Allessandro eine ebenso prachtvolle Porträtmedaille wollte wie Cellini sie für Clemens VII. geschaffen hatte? Dann wurde der Künstler also als Propagandahelfer gebraucht. Und dafür wurde ihm manches nachgesehen.
c) Nur auf den ersten Blick ist die These von der Rechtsfreiheit der Kunst als Vorbild für die Rechtsfreiheit des Souveräns plausibel. Es geht um eine Analogie zwischen Künstler und Regenten. Aber die Analogie hinkt. Für eine Analogie muss man doch fragen: Was hat für den Künstler eine ähnliche Bedeutung wie für den Souverän das Recht? Für die Antwort würde man kaum in der privaten Lebensführung des Künstlers suchen, sondern auf werkbezogene Qualitäten schauen. Die Analogie wäre nur plausibel, wenn die Künstlerfreiheit hinreichenden Werkbezug hätte. Der nächstliegende Werkbezug im Falle Cellinis wäre der Regelkanon der Kunst in Verbindung mit dem Ziel der Mimesis. Cellini hätte sich von diesem Kanon befreien müssen. Oder er hätte ungewöhnliche, nicht regelkonforme Motive wählen können. Auch das hat er nicht getan. Der Gipfel schließlich wäre die künstlerische Darstellung des Bösen gewesen, sei es in der Form der Blasphemie, bürgerlicher Unmoral oder in Gestalt der Auflehnung gegen das Recht oder seinen Repräsentanten. Von alledem kann keine Rede sein. Die Künstlerfreiheit hat im Werk selbst keinen Ausdruck gefunden. Cellini ist ein Beispiel für die Freiheit des Künstlers, nicht für die Freiheit der Kunst.
d) Von Immanuel Kant stammt bekanntlich die Vorstellung, dass ich etwas ästhetisch rühmen kann, obwohl ich es moralisch verwerfe. Das passt nicht genau. Hier geht es nicht um ein amoralisches Werk, sondern um einen amoralischen Künstler. Aber sicher ist auch irgendwo schon einmal behauptet worden, dass die ästhetische Qualität eines Werkes nicht von der Moral des Künstlers abhängt. Sollte der Künstler Cellini insofern Vorbild für den Regenten Cosimo I. sein, als dieser die Überzeugung hatte, dass es für seine Stellung als Fürst nicht auf persönliche Moralität, sondern auf erfolgreiches politisches Handeln ankam? Auch der amoralische Regent kann ein guter Fürst sein. Das wäre gut machiavellistisch gedacht. Aber ich glaube, das war nicht die These von B.
e) Am meisten beunruhigt mich der Gedanke vom Recht zum Blutvergießen als Stimulans der künstlerischen Gestaltung. In abgeschwächter Form haben Künstler immer wieder das Recht zu unzivilem Verhalten als Stimulans in Anspruch genommen, etwa zu Alkoholexzessen und Rauschgiftgenuss. Doch wie soll man sich die Übertragung dieser Vorstellung auf den Fürsten, den Staat und sein Recht vorstellen. Der Staat als Kunstwerk, das ist gut nachzuvollziehen. Mord als Mittel zum Zweck; das ist immerhin noch vorstellbar. Aber Mord als Stimulans der Staatskunst geht über mein Fassungsvermögen.
f) Unter diesen Umständen erscheint mir die Aufwertung Cellinis über seine Biografie wie eine Projektion der spätromantischen Genieästhetik in das 16. Jahrhundert. Das Genie setzt sich über den Regelkanon der Kunst und über die Idee der Mimesis hinweg und wohl auch über die Regeln der Gesellschaft. Die Genieästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts verlagerte die Kunst soweit in die Individualität des Künstlers, dass sich Kunst eigentlich gar nicht mehr in Werken ausdrücken lässt, jedenfalls nicht in Werken die verstanden werden. Das Geniekonzept bietet die Handhabe, Autonomie zu denken, versperrt aber die Möglichkeit, über Kunst zu kommunizieren. Die Konsequenz ist dann der Künstler ohne Werk. Die letzte Konsequenz wäre der Mord als schöne Kunst. Aber auch das hat B. wohl nicht gemeint.
Wie komme ich nun zu einem Schluss? Ich habe nur einen recht gewaltsamen Schluss. Wir haben eine mit Kennerschaft vorgetragene Einzelfallstudie gehört. Man könnte geneigt sein, sie als Gourmetwissenschaft abzutun. Aber da täte man Herrn B Unrecht. Wir wissen, dass gerade Herr B in der Kunstwissenschaft das Stadium des Gourmethaften weit hinter sich gelassen hat. Wir müssen diesen Vortrag deshalb als eine ebenso farbige und spannende wie ernsthafte Anregung akzeptieren. Normalwissenschaft muss nun aber weiter nach Anschlusskommunikationen suchen. Die Frage ist also, ob die Interpretation, mit der Herr B die Geschichte Cellinis versehen hat, von Zeitgenossen und Nachfolgern aufgegriffen wird. Das sehe ich bisher nicht.

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