Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung II: Netzwerke als Sozialstruktur eigener Art

Die Netzwerkanalyse ist in erster Linie ein methodischer Ansatz, mit dem sich soziale Beziehungen aller Art untersuchen lassen. Sie dient der Operationalisierung beliebiger sozialer Beziehungen zum Zwecke der Messbarmachung und hat keinen selbständigen Erklärungswert. Jede Relation zwischen zwei und mehr Objekten lässt sich mit dem Netzwerkvokabular von Knoten und Kanten beschreiben. Daraus folgt die Gefahr, dass mit Hilfe des Netzwerkbegriffs diffuse Beziehungen zu Sozialstrukturen aufgewertet werden oder umgekehrt bekannte und bewährte Konfigurationen wie Rollen und Gruppen, Systeme und Organisationen nur eine neue modische Bezeichnung erhalten oder sogar eingeebnet werden.
Leopold von Wiese schwebte eine Beziehungssoziologie vor, die die Gesellschaft als die Menge der Relationen zwischen ihren Akteuren betrachten sollte. Dafür hätte die Netzwerkanalyse eine universelle Methode geboten. Doch seine Beziehungslehre hat sich nicht durchgesetzt, weil die Beziehungen zwischen sozialen Akteuren weitgehend in Strukturen verfestigt sind. Die Beziehungslehre müsste diese Strukturen ständig neu aus den sozialen Beziehungen rekonstruieren. Das wäre, als wenn man eine Straße jedes Mal neu baute, bevor man sie befährt.
Die Gesellschaft als Ganzes ist kein Netzwerk, oder genauer, man kann sie vielleicht als Netzwerk begreifen. Aber eine Totalanalyse würde alle Forschungskapazitäten hoffnungslos überfordern. Es ist auch kein Netzwerk erkennbar, das als Superstruktur der Gesellschaft in Betracht käme. Der Versuch des spanischen Soziologen Manuel Castells [1]Manuel Castells, Das Informationszeitalter. Teil I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Opladen 2001 [The Rise of the Network Society, 1996, 2. Aufl. 2011]. Dazu … Continue reading, die Gesellschaft als primär in Netzwerken organisiert zu beschreiben, hat sich aus gutem Grund nicht durchgesetzt.
Heute geht es eigentlich nur noch um die umgekehrte Frage, ob »das Netzwerk« eine Sozialstruktur sui generis ist. Aber auch diese Frage ist im Grunde genommen müßig. Es sind schon so viele Netzwerke benannt und beschrieben worden, dass man sagen kann: Es gibt Netzwerke. Deshalb kommt es darauf an, die Besonderheit von sozialen Netzwerken im Vergleich zu anderen sozialen Strukturen herauszustellen. Damit gelangt man zu einigen typischen Merkmalen von sozialen Netzwerken.
In Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft hat sich im Anschluss an Powell [2]Walter Powell, Research in Organizational Behavior 12, 1990, 295-336; nachfolgend zitiert aus der deutschen Übersetzung: Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick … Continue reading ein gewisser Konsens herausgebildet, dass es sinnvoll ist, Markt und Hierarchie nicht als die Enden eines Kontinuums zur Koordination von interdependenten Handlungen anzusehen, sondern Netzwerke als dritten Typus der Handlungskoordination zu begreifen. Netzwerken heißt, Tauschfähigkeit und Tauschbereitschaft zu kommunizieren. Was am Ende dabei herauskommt, ist »ein Tauschmodus, der mit einer eigenen Logik ausgestattet ist« [3]Powell 1996, 217 f., 220.
Der von der Transaktionskostentheorie angeleitete Vergleich von Netzwerken mit dem Markt einerseits und der »Firma« andererseits ist für die Rechtssoziologie zu schmal, denn er konzentriert sich auf ökonomische Institutionen, also auf Markt und Firma. Die Rechtssoziologie muss die sozialen Strukturen der öffentlichen Sphäre außerhalb der Ökonomie einbeziehen. Neben dem Markt ist die kollektive Willensbildung durch Abstimmungen zu bedenken. Als hierarchisches Gegenstück zum Netzwerk treten neben die »Firma« alle bürokratisch strukturierten öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, von der kleinen Fachbehörde bis zum großen Staat. Der Einfachheit halber spreche ich insoweit von Behörden. Organisation dient im Folgenden als Sammelbezeichnung für Behörden und Wirtschaftsunternehmen. Die Erweiterung des Typenvergleichs auf Behörden wird in der so genannten Governance Diskussion geleistet, die sich mit der Koordination von interdependenten Handlungen auch jenseits ökonomischer Transaktionen befasst. [4]Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.): Handbuch Governance, 2007, 93-105. Der Vergleich führt zu einer Vorstellung von dem, was typisch ein soziales Netzwerk auszeichnet.
Noch aus einem zweiten Grunde ist der von der Ökonomie inspirierte Vergleich von Netzwerk und Hierarchie zu schmal, und zwar weil er sich auf das Innenleben der betrachteten Institutionen beschränkt und die Externalitäten vernachlässigt. Entscheidungen im Unternehmen haben zunächst Folgen nur für das Unternehmen selbst. Durch ihre Entscheidungen bestimmt die Unternehmensleitung, wie die Ressourcen bereitgestellt werden, die als Produktionsfaktoren für ein Endprodukt notwendig sind, das letztlich am Markt angeboten werden soll. Der Entscheidungsbegriff kann hier leicht in die Irre führen, denn bei Behördenentscheidungen denkt man sogleich an Akte mit Außenwirkung. Die Entscheidungen sind sozusagen selbst das Endprodukt. Der Netzwerk-Hierarchie-Vergleich erstreckt sich aber nicht auf das Endprodukt, also nicht auf Entscheidungen mit Außenwirkung, sondern betrifft nur behördeninterne Entscheidungen (Weisungen), mit denen die Behörde die Produktion außenwirksamer Entscheidungen steuert. Beispiele für Weisungen wären etwa der Geschäftsverteilungsplan eines Gerichts oder die sog. Verwaltungsanordnungen. Wenn man den Vergleich zwischen Netzwerk und Hierarchie zu Ende führen will, muss man daher fragen, was bei Netzwerken dem Endprodukt der Unternehmung oder der Behördenentscheidung mit Außenwirkung entspricht. Eigentlich kann das nur die einzelne Transaktion im Netzwerk sein. Die Antwort ist nicht befriedigend, denn anders als beim Unternehmen, dessen Produkte für einen unternehmensexternen Markt bestimmt sind, und anders als bei Behörden, deren Entscheidungen mit dem Anspruch auf Außenwirkung gefällt werden, ist nicht zu erkennen, wie Transaktionen im Netzwerk extern relevant werden könnten. Man könnte stattdessen auf die Gesamtleistung des Netzwerks abstellen. Aber auf welche? Auf die Tatsache der Selbstorganisation? Auf die aus der Umgebung bezogenen oder auf die an die Umgebung abgegebenen Ressourcen? Alle diese Vergleiche hinken kräftig. Und dennoch lässt sich die Frage nach der Beziehung von Netzwerken zu ihrer Umgebung nicht von der Hand weisen. Eine verallgemeinerungsfähige Antwort habe ich nicht gefunden. Daher bleibt diese Frage in dem folgenden Typenvergleich unberücksichtigt. Am Ende ist jedoch darauf zurückzukommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Manuel Castells, Das Informationszeitalter. Teil I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Opladen 2001 [The Rise of the Network Society, 1996, 2. Aufl. 2011]. Dazu etwa Steffen Horstmannshoff (30.3.2010): Netzwerkgesellschaft (Castells). In: MedienKulturWiki.
2 Walter Powell, Research in Organizational Behavior 12, 1990, 295-336; nachfolgend zitiert aus der deutschen Übersetzung: Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, S. 213-271.
3 Powell 1996, 217 f., 220
4 Andreas Wald/Dorothea Jansen, Netzwerke, in: Arthur Benz u. a. (Hg.): Handbuch Governance, 2007, 93-105.

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung I

Die Netzwerkforschung nimmt für sich in Anspruch, mehr oder weniger allen Disziplinen, ganz gleich ob Naturwissenschaften, Technik oder Sozialwissenschaften, Hilfe anbieten zu können. Daher ist es völlig legitim, dass auch die Rechtswissenschaft auf dieses Angebot zurückgreift. Es wäre aber auch nichts dagegen einzuwenden, wenn sie den Netzwerkbegriff nur metaphorisch verwendete. Die Rede von Netzwerken ist so verbreitet, dass sich das kaum vermeiden lässt. Problematisch ist nur, wenn sich Juristen mit dem Anspruch auf Interdisziplinarität auf den Netzwerkbegriff berufen, dann aber schreiben, was sie schon im Kopf haben, ohne die harte Netzwerkforschung zu rezipieren. Was dabei herauskommt, ist Reticulomanie. [1]Streitig ist, ob der Name dieser Psychose mit c oder mit k zu schreiben ist.
Wer das Netzwerk als Beschreibungskategorie [2]Ino Augsberg meint, wollte man Netzwerke bloß derart als empirisches Phänomen verstehen, so sei der Netzwerkbegriff nur ein Ersatz für anderweit längst bekannte und substantiierte Probleme. Der … Continue reading verwendet, sollte die Grenzen des Beziehungsgeflechts bezeichnen, von dem er spricht. Soweit sie sich nicht ohne weiteres aus dem Kontext ergeben, sind die Entitäten zu benennen, die als Netzknoten in Betracht gezogen werden, und die Relationen zu spezifizieren, die als Kanten bedacht werden sollen.
Als Knoten oder Elemente eines sozialen Netzwerks kommen in erster Linie Akteure in Betracht, also Individuen und korporative Akteure aller Art (Staaten und Gebietskörperschaften, Behörden und Gerichte, Unternehmen und deren Filialen). Auch Ereignisnetzwerke können indirekt als soziale relevant sind, in juristischem Zusammenhang etwa Zitationsnetzwerke. Bei der Anwendung des Netzwerksbegriffs in rechtlichem Zusammenhang bleibt oft unklar, ob ein Akteursnetzwerk gemeint ist, also die Vernetzung von Gerichten oder Verwaltungsbehörden, von Wirtschaftsteilnehmern oder Wissenschaftlern, oder ob es um die inhaltliche Verknüpfung von Informationen und Argumenten geht, also um ein semantisches Netzwerk. Der Umgang mit semantischen Netzwerken wird problematisch, wenn man sich nicht auf die Beobachtung äußerlicher Beziehungen zwischen Bedeutungsträgern – Worte, Phrasen, Texte – beschränkt, sondern Bedeutung selbst beobachten will. Das ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, führt aber doch in all die Schwierigkeiten hinein, die mit der Erfassung von verbunden sind. Es bleibt verführerisch, juristische Kohärenzvorstellungen mit dem Netzwerk begriff in Verbindung zu bringen (»Law as a Seamless Web«). [3]Die Metapher stammt wohl von Frederic Maitland; dazu der Artikel » The Law Is A Seamless Web« aus dem Legal Theory-Lexicon von Lawrence B. Solum. Die Empirie dazu steuert bei: Thomas A. Smith, The … Continue reading
Keine sozialen Netzwerke sind Objektnetzwerke wie Stromnetze oder Verkehrsnetze. Immerhin kann es manchmal interessant sein, »objektive« Beziehungen zwischen Elementen, die in ihrer Eigenschaft als Organisation auch soziale Akteure in Betracht kommen, zu betrachten, etwa die räumliche Distanz zwischen Schulen, Gerichte oder Gefängnissen. Schließlich kann man auch die Relationen zwischen Akteuren und Ereignissen oder Objekten in so genannten bipartiten Netzwerken darstellen z.B. eingehende Klagen für verschiedene Kammern, Prüfungserfolg bei Kandidaten, Zitationsranking von Autoren).
Nicht alle Elemente passen als Knoten in ein- und dasselbe Netzwerk. Die Stadt z. B. hat im Netzwerk der Nachbarschaft keinen Platz, denn hier geht es nur um persönliche Beziehungen. Andererseits kann eine bestimmte Menge von Knoten in verschiedenen Netzwerken verbunden sein. Dieselbe Gruppe von Richtern kann einerseits dem Kantinennetzwerk angehören, das regelmäßig in der Kaffeepause zusammentrifft. Sie kann zugleich einen standespolitisch aktiven Zirkel bilden. Das Netzwerk ist also immer erst durch eine abgrenzbare Menge von Knoten und die Art der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen definiert. [4]Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 3. Aufl., 2006, S. 58.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Streitig ist, ob der Name dieser Psychose mit c oder mit k zu schreiben ist.
2 Ino Augsberg meint, wollte man Netzwerke bloß derart als empirisches Phänomen verstehen, so sei der Netzwerkbegriff nur ein Ersatz für anderweit längst bekannte und substantiierte Probleme. Der Begriff sei dann vielleicht nicht völlig sinnlos, ab er doch weitgehend überflüssig (The Relevance of Network Models within the Juridic Discourse, German Law Journal 10, 2009, 383-394, S. 385).
3 Die Metapher stammt wohl von Frederic Maitland; dazu der Artikel » The Law Is A Seamless Web« aus dem Legal Theory-Lexicon von Lawrence B. Solum. Die Empirie dazu steuert bei: Thomas A. Smith, The Web of Law, 2005 (SSRN).
4 Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 3. Aufl., 2006, S. 58.

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Volker Boehme-Neßlers unscharfes Netzwerkkonzept

Volker Boehme-Neßler widmet in seiner 2008 erschienenen Habilitationsschrift »Unscharfes Recht« dem Netzwerkkonzept ein großes Kapitel (Vernetzung und Recht, S. 500-632). Er findet in der Netzwerkforschung ein neues »Paradigma«, das er dem ganzen Rechtssystem überstülpt. Er stellt die Netztheorie neben die Systemtheorie und findet in ihr eine alternative Beschreibungsmöglichkeit. Boehme-Neßler bietet ein Beispiel dafür, dass auch eine eingehende Rezeption der Netzwerkforschung nicht unbedingt rechtstheoretischen Fortschritt bedeutet.
Das ausführliche Referat der Netzwerkforschung ist selektiv. So heißt es gleich zu Anfang: »Netze sind dezentral« (S. 501) Das ist nur zutreffend, wenn man sie allein wegen der Mehrzahl von Knoten als dezentral qualifiziert. Tatsächlich gibt es sowohl strategisch zentralisierte Netze als auch in skalenfreien Netzen spontane Zentralisierungsphänomene. Auf S. 516 erfährt man dann zwar, dass es nicht nur egalitäre, sondern auch hierarchisch strukturierte, aristokratische Netzwerke gibt. Doch wird die Feststellung im nächsten Satz wieder relativiert mit der Feststellung, auch in hierarchischen Netzwerken verfügten die einzelnen Elemente über relative Autonomie. Aus der Theorie der skalenfreien Netze wird ein Modell von »geordneten Beziehungs-Clustern« übernommen (510), und damit der Witz verpasst, der doch gerade im unmäßigen Größenwachstum einzelner Knoten besteht. Zwar werden später (S. 514f.) noch die Hubs als »Superknoten« eingeführt. Aber die sind einfach nur super.
Wenn dann S. 517 ff die »Charakteristika von Netzwerken« besprochen werden, kommen alle die Prädikate zum Vorschein, die den Netzwerkbegriff ideologisch machen. [1]Zur Ideologieanfälligkeit des Netzwerkbegriffs bereits die im Einträge vom 28. April 2012 (Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt.) und vom 9. Mai 2012 (Wo bleibt »Die dunkle Seite der … Continue reading Netzwerke sind »dynamisch«, sie befinden sich im »Fließgleichgewicht«. Sie lassen sich als »grundlegendes Muster des Lebens« verstehen (S. 518). Auch politische und wirtschaftliche Netze dienen eigentlich dem Informationsfluss (S. 518). Netze sind »interaktiv«, und das heißt im Kern, sie sind »responsiv« und »reziprok« (S. 518f.). Die in Netzen realisierte Rückkopplung stellt eine Art von »checks and balances« dar (S. 520). Netzwerke befördern über Grenzen hinweg »Konvergenz und Konnektivität« (S. 520f.). Netzwerke sorgen für »inneres Gleichgewicht«. Zwar können komplexe Systeme instabile Zustände entwickeln. Aber das Chos bleibt aus. Aus der Instabilität folgt vielmehr lawinenartig großer Erfolg, sei es im Bereich der Wirtschaft, sei es bei kulturellen Ideen und Trends. Aus instabilen Gleichgewichten entwickelt sich neue Ordnung (S. 522). Netzwerke sind »innovativ« und »robust«, und sie tragen das Qualitätssiegel des Evolutionären (S. 534). Reziprozität und Kooperation (wie sie in Netzwerken realisiert werden) sind »ein übergreifendes Muster des Lebens« (S. 523). S. 527 lernen einen neuen homunculus kennen, den homo reciprocus. Es ist natürlich richtig, dass soziale Netzwerke durch Austausch und Austauschmöglichkeiten in Gang gehalten werden. Das Problem liegt aber darin, dass »der Ausgleichs- und Entwicklungsmechanismus des Tausches … anders als in offenen Marktstrukturen, nur bis zu den jeweiligen Netzwerkgrenzen« reicht. Wer dem Netz angehört, erfährt eine Vorzugsbehandlung. [2]Volker von Prittwitz, Die dunkle Seite der Netzwerke, Strategien gegen Vermachtung und Korruption, Online-Veröffentlichung 2001: http://www.volkervonprittwitz.de/die_dunkle_seite_der_netzwerke.htm.
Nach über dreißig Seiten Lobgesang gibt es dann aber doch einen mahnenden Absatz (S. 534 f.). »Knoten sind eben nicht nur Ansatzpunkte für Interaktion und Kommunikation, sondern gleichzeitig auch Reibungspunkte und potenzielle Konfliktherde.« Der Absatz steht unter der Überschrift »Vernetzungsparadox«, und so kommt, was kommen muss. Das Paradox wird aufgelöst. »Gleichzeitig – das lässt sich als Paradox der Vernetzung bezeichnen – führen dieselben Eigenschaften aber dazu, dass die Komplexität dann doch bewältigt wird.«
Das eigentliche Problem der Netzwerktheorie von Boehme-Neßler liegt jedoch nicht in ihrer Ideologielastigkeit, sondern in der Proliferation des Netzwerkkonzepts. Mehr oder weniger alle Rechtsphänomene werden mit Begriffen aus der Netzwerktheorie überzogen. Natürliche und juristische Personen, Verwaltungen und Gerichte werden zu Knoten. Sie sind durch »Fäden« verbunden, über die Interaktionen stattfinden. Auch Rechtsbegriffe, Normen und dogmatische Konstruktionen werden zu Knoten. Einzelne Knoten, etwa die Europäische Union oder die internationale Handelsschiedsgerichtbarkeit (S. 546ff), werden als Superknoten identifiziert. Art. 25 GG wird zum Superknoten, der Völkerrecht und innerstaatliches Rechts miteinander verbindet, ebenso Art. 24 I GG für die Verbindung zu supranationalen Institutionen (S. 550f.). Normen und die europäische Union gehören kaum demselben Netz an. Überhaupt, Superknoten gibt es reichlich unter den europarechtlichen Normen, unter den so genannten Querschnittsbegriffen, unter den dogmatischen Konstruktionen wie dem Konzept der Drittwirkung von Grundrechten (S. 556) und weiter unter Rechtsinstituten (transnationale Verwaltungsakte, internationale Handelsbräuche (S. 558).
Nach den Knoten kommen die Fäden (S. 560ff). Die Fäden bestehen aus Kommunikation. Auf 30 Seiten ist daher von verschiedenen Aspekten der Rechtskommunikation die Rede. Darüber geht die Beziehung zum Netzwerk des Rechts verloren. Sie wird S. 592 mühsam wiederhergestellt mit der Aussage, die unterschiedlichen Fäden im Netzwerk des Rechts hätten einen strukturellen und einen prozesshaft dynamischen Aspekt. Als Zwischenfazit wird festgehalten. »Die Bestandteile eines Netzes lassen sich im Recht tatsächlich identifizieren. Das Recht hat Knoten, Superknoten und Fäden. Das deutet darauf hin, dass das Recht tatsächlich ein Netz ist.« Damit aus diesen Bauteilen ein Netz werde, müssten nur noch die typischen Netzeigenschaften festgestellt werden, nämlich Interaktivität, Reziprozität und Nonlinearität. Unter Nonlinearität versteht Boehme-Neßler die in Netzen gegebene Erreichbarkeit von Knoten nicht bloß auf direktem Wege von A zu B, sondern auf Umwegen und über Querverbindungen (S. 533f.). Die genannten drei Eigenschaften werden auf den nächsten 30 Seiten (bis S. 624) natürlich auch gefunden. Und so hat die Untersuchung gezeigt: »Das Netz insgesamt lässt sich als ausdifferenziertes Netzwerk begreifen. Damit ist keine bloße Analogie, sondern eine Homologie gemeint. Das Recht ist nicht wie ein Netz. Das Recht ist ein Netz«. (S. 625) Es folgt die normative Konsequenz: Das Recht soll sich benehmen wie ein Netzwerk, also interaktiv, reziprok und nichtlinear, kurz, wie im Buchtitel versprochen, unscharf.
Die inhaltlichen Konsequenzen Boehme-Neßlers aus dem Netzwerkkonzept (S. 626-632) entsprechen mehr oder weniger dem, was man heute in Rechtssoziologie und Rechtstheorie über das Recht zu sagen pflegt: Das Recht muss sich von seinem Selbstverständnis als hierarchisch, linear und konditional strukturiert verabschieden. Recht ist ein Produkt der Evolution und deshalb nicht systematisch durchgeplant. Als Instrument zweckrationaler Steuerung ist das Recht ungeeignet. Die Einheit des Rechts ist Illusion, denn Rechtspluralismus ist Realität. Widerspruchsfreiheit ist nicht erreichbar. Mit diesen Thesen steht Boehme-Neßler nicht allein, und sie sollen als solche hier auch gar nicht kritisiert werden. Die Kritik gilt allein ihrer Ableitung aus dem »Netzwerkparadigma«. Wenn mehr dahinter stecken soll als eine überbeanspruchte Metapher, dann möchte man genauer wissen, an welche Netze der Verfasser gedacht hat. Geht es um ein Netz? Geht es um viele Netze? Geht es um Akteursnetzwerke oder um Ereignisnetzwerke oder um semantische Netze? Wenn es um semantische Netze geht, sind dann deskriptive, normative oder logische Beziehungen zwischen den Knoten gemeint? Dass Widerspruchsfreiheit »kein relevanter Topos für Netze« ist (S. 630), mag für Ereignisnetze und semantische Netze gelten, wenn die Beziehungen deskriptiv analysiert werden. Aber es gilt sicher nicht für semantische Netze von normativen oder logischen Beziehungen. Und wenn es schließlich heißt, »Widersprüche« seien nicht zuletzt die Treiber der Kommunikation in Netzen und der Weiterentwicklung von Netzen« (S. 633), sind dann logische Widersprüche gemeint oder Konflikte vom Format »ich widerspreche dir«? Die »Interventions- und Steuerungsgesetzgebung« mag ein »Auslaufmodell« sein« (S. 627). Doch wem gilt die Steuerung, dem »Netzwerk Recht« (so S. 626) oder der Gesellschaft? Unter »netzgeprägtem Denken« (S. 631) kann ich mir gut ein Nachdenken über Netzwerke vorstellen. Aber dass Kausalität und Linearität als Denkkategorien obsolet werden (S. 630), wenn man die »Nonlinearität« von Netzwerken, das heißt also die vielfach indirekte und vermittelte Kommunikation zwischen seinen Knoten, zur Kenntnis nimmt, will nicht einleuchten.
Es lässt sich gar nicht vermeiden, immer wieder von Netzen, Netzwerken, Vernetzung oder Verflechtung zu reden. Doch wenn man mit solcher Rede einen interdisziplinären Anspruch erhebt, dann muss man sehr viel genauer werden.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zur Ideologieanfälligkeit des Netzwerkbegriffs bereits die im Einträge vom 28. April 2012 (Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt.) und vom 9. Mai 2012 (Wo bleibt »Die dunkle Seite der Netzwerke«?).
2 Volker von Prittwitz, Die dunkle Seite der Netzwerke, Strategien gegen Vermachtung und Korruption, Online-Veröffentlichung 2001: http://www.volkervonprittwitz.de/die_dunkle_seite_der_netzwerke.htm.

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Postmoderne Methodenlehre II: Methodenkritik

Im Eintrag vom 14. 10 2008 hatte ich angekündigt, demnächst ein Vortragsmanuskript über Kripkoquinose und andere Krankheiten ins Netz zu stellen. Ich bin immer noch nicht dazu gekommen, obwohl ich jetzt gerne auf diese Vorarbeit für meine Auseinandersetzung mit der Postmodernen Methodenlehre verweisen würde. Auch heute langt es nur für einige Stichworte.
Postmoderne Rechtstheorie [1]Einen Überblick bietet Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006 (2. Aufl. 2010). baut auf einen fundamentalen Antifundamentalismus und auf radikalen Konstruktivismus, die beide aus der Wissenschaftstheorie in die Methodenlehre importiert werden. Sie knüpft bei Wittgenstein und Kripke, bei Quine und Davidson, bei Sellars und Brandom an. Sie tauscht Kant gegen Nietzsche und sucht sich ihre Kronzeugen in Frankreich: Foucault und Deleuze, Derrida und Lyotard. Oder sie übernimmt von Luhmann die autopoietische Version der Systemtheorie.
Postmoderne Rechtstheorie verabschiedet die Cartesianische Bewusstseinsphilosophie und mit ihr die klassischen Wahrheitstheorien, die Subjekt-Objekt-Trennung und den Dualismus von Sein und Sollen. Bei der Beobachtung der Welt stößt sie auf blinde Flecken, irritierende Paradoxien und Iterativität im Sinne transformierender Wiederholung. Bei der Beobachtung des Rechts findet sie den Verlust etatistischer Einheit, Pluralisierung des Rechts, Fragmentierung der Gesellschaft und konfligierende Binnenrationalitäten oder Eigenlogiken in den Fragmenten.
Die Methodenlehre wird zunächst mit der Paradoxie oder gar Unmöglichkeit des Entscheidens konfrontiert, wie sie von Luhmann formuliert und von seinen Anhängern vielfach übernommen worden [2]Z. B. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36, 2005, 143-184; Vesting, Rechtstheorie, 2007 Rn. 224ff. ist.

»Die Entscheidung muß über sich selbst, aber dann auch noch über die Alternative informieren, also über das Paradox, daß die Alternative eine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung).« [3]Zitat nach Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, 142; ferner ders., Die Paradoxie des Entscheidens, VerwArch 84, 1993, 287-310; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 308; ders., Die … Continue reading

Damit spielt Luhmann auf die Vorstellung an, dass juristische Entscheidung Rechtserkenntnis sei. Wenn die Lösung jedoch schon vorgezeichnet ist und bloß erkannt zu werden braucht, gibt es nichts zu entscheiden. Ist sie dagegen nicht aus Regeln ableitbar, kann man nicht entscheiden. Darin liegt also das Paradox. Auch wenn juristische Entscheidungen in der Methodenlehre noch immer gern als Rechtserkenntnis dargestellt werden, hat sich doch die Jurisprudenz längst von der Vorstellung verabschiedet, dass ihre Urteile kognitiver Natur sind. Luhmann beutet nur den Doppelsinn der Begriffe aus; einmal verwendet er Entscheidung für den kognitiven Vorgang der Deduktion, das andere Mal gleichbedeutend mit Dezision. Auch der Zirkel, »der sich ergeben würde, wenn man zugeben müsste, dass das Gericht das Recht erst ›schafft‹, das es ›anwendet‹ « Luhmann 1993:306) ist keiner. Ein Zirkel ergibt sich nur, wenn man sich über den Doppelsinn des Wortes »Recht« als vorgegebene Regel und als Fortbildung der Regel täuschen lässt. Man kann auch sagen: Was uns höchst kunstvoll als Paradoxie des Entscheidens oder als Auslegungsparadox vorgeführt wird, ist nichts anderes, als das alte Werturteilsproblem in neuer, nicht gerade nutzerfreundlicher Verpackung.
Die postmoderne Rechtstheorie versteht sich als externe Beobachterin der Rechtspraxis. Wegen des rechtsexternen Beobachterstandpunkts sind ihre Beschreibungen aber zu einer Kritik der juristischen Methodenlehre prinzipiell ungeeignet sind. Aus dem von Luhmann entwickelten Gedanken der Autonomie des Rechtssystems müssten sie der juristischen Methode ihre Eigenständigkeit belassen. Doch wiewohl immer wieder betont wird, dass alle wissenschaftlichen Aussagen relativ zum Standpunkt des Beobachters seien, wird die vom Selbstverständnis der Methodenlehre abweichende Fremdwahrnehmung in Kritik umgemünzt.
Systemtheoretisch orientierte Autoren beschreiben die Rechtsgewinnung als evolutionäres Geschehen. Als Folge des technologischen Wandels und der unaufhaltsamen Globalisierung, der sich beschleunigenden Selbsttransformation der Gesellschaft und deren wachsender Komplexität werden der Verlust der Einheit, zunehmende Fragmentierung und Pluralisierung des Gegebenen und der Zerfall von hierarchischen oder vertikalen Systemen festgestellt. Die methodische Einsicht lautet, nur die ständige Revision des Rechts im Zuge seiner Anwendung könne der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Die Dynamitätsrhetorik, von der diese Einsicht getragen wird, wird nahezu widerspruchslos hingenommen, verliert aber im Rückblick an Plausibilität. Spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts hat wohl jede Zeit von sich selbst den Eindruck, sie entwickle sich besonders schnell und radikal. Die gesellschaftliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war aus der Sicht der Zeitgenossen nicht weniger aufregend als in der zweiten oder nach der Jahrtausendwende.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Einen Überblick bietet Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006 (2. Aufl. 2010).
2 Z. B. Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36, 2005, 143-184; Vesting, Rechtstheorie, 2007 Rn. 224ff.
3 Zitat nach Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, 142; ferner ders., Die Paradoxie des Entscheidens, VerwArch 84, 1993, 287-310; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 308; ders., Die Rückgabe des zwölften Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 , 2000, 3-60, 6. Dazu kritisch Klaus F. Röhl/Hans C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 105f.

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»Postmoderne Methodenlehre«, so überschreibt Thomas Vesting einen Abschnitt in seiner »Rechtstheorie« (2007, S. 119-127). Die Postmoderne ist längst aus dem Schneider. [1]Ich bin nicht sicher, dass dieser Ausdruck heute noch allen Lesern geläufig ist, nachdem ich bei meinen Enkelkindern habe feststellen müssen, dass Schüler heute nicht mehr Skat spielen. »Aus dem … Continue reading Aber sie ist immer noch nicht erwachsen geworden.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts teilt die Methodenlehre sich weiter in zwei große Lager. Das eine wird oft als das traditionelle oder positivistische bezeichnet. Neutraler kann man von der semantischen Schule der Methodenlehre sprechen. Tragender Pfeiler dieser Schule ist die Vorstellung vom Wortlaut des Gesetzes als Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung, allerdings in unterschiedlichen Schattierungen. Sie wird durch die großen Lehrbücher von Larenz/Canaris, Bydlinski und Pawlowski oder die kompakteren Darstellungen von Wank und Zippelius repräsentiert. Ihr führender Theoretiker ist wohl Ulfried Neumann. Ihr folgt der Mainstream der juristischen Dogmatik, und ihr folgen weitgehend die Gerichte. Sie stützt sich vor allem auf die klassische Hermeneutik und hat in der von Alexy entwickelten Argumentationstheorie eine kräftige Stütze gefunden. Sie investiert relativ wenig in epistemologische Debatten und vertraut auf die Standardmethoden der Auslegung. Das andere Lager, das die Rolle, aber nicht unbedingt das Erbe, der Freirechtsschule übernommen hat, sieht sich selbst als das neuere oder modernere. Es wird von Regelskeptizismus geprägt, der sich aus den wissenschaftstheoretischen Positionen postmoderner Rechtstheorie speist. Auch dieses Lager, das sich als das konstruktivistische kennzeichnen lässt, ist in sich wenig homogen. Eine relativ geschlossene Gruppe bildet die Müller-Schule (Friedrich Müller, Ralph Christensen, Hans Kudlich u. a.), die sich dadurch auszeichnet, dass sie mit großem Aufwand moderne Linguistik und Sprachphilosophie rezipiert und am Ende zu erstaunlich konventionellen Lösungen findet. [2]»Wir wollen nicht, dass die Gerichte etwas grundlegend anders machen. Sie sollen lediglich das, was sie bisher getan haben, mit klarerem Bewußtsein tun.« (Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie … Continue reading Eine andere Gruppe besteht aus systemtheoretisch orientierten Autoren (Teubner, Amstutz, Ladeur, Vesting u. a.). Der Gegensatz der beiden Lager zeigt sich darin, dass die semantische Schule am Begriff der Rechtsanwendung festhält, während die Konstruktivisten regelskeptisch jeder Entscheidung prinzipiell den Charakter einer Neuschöpfung zusprechen.
Esser [3]Vorverständnis und Methodenwahl 1970,71ff. hatte darauf hingewiesen, dass das Konzept einer bloßen Anwendung von Rechtsnormen durch die Rede von der Konkretisierung verdrängt worden sei. Sie besagt in ihrer schlichten Gestalt, dass eine für die unmittelbare Anwendung noch zu allgemeine Norm spezifiziert werden muss, damit eine Subsumtion möglich wird. Das Ergebnis ist die nunmehr genauer formulierte, anwendungsgeeignete Regel. Elaborierter sind die (von Fikentscher [4]Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI; Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff. Fikentscher unterschied drei Rechtsanwendungslehren, die klassische Lehre, die die Rechtsanwendung … Continue reading so genannten) Gleichsetzungslehren, die durch wechselseitige Zurichtung von Recht und Sachverhalt die Subsumtion überflüssig machen. Als Vertreter nannte Fikentscher Engisch‘ Lehre von der Konkretisierung [5]Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968. Dazu Fikentscher S. 750 f. Das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und … Continue reading, die von Esser in »Grundsatz und Norm« ausgeführte Idee, nach der die Entscheidung zugleich Interpretation und die Interpretation zugleich Entscheidung sei [6]Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. Dazu Fikentscher S. 688., und Arthur Kaufmanns Konzept einer hermeneutischen Verdichtung, die Recht und Sachverhalt assimiliert [7]Arthur Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 22. April 1964, Karlsruhe 1965. … Continue reading. Fikentscher steuerte noch seine Lehre von der »Fallnorm« bei. [8]»Hermeneutische Verdichtung« führt zur Fallnorm, »wenn der hermeneutische Zirkel nur noch einmal zwischen Norm und Sachverhalt ›aufsteigt und absteigt‹ und keine weitere positiv zu … Continue reading Solche Konkretisierung erschöpft sich zwar nicht in nackter Subsumtion, bleibt aber als Zurichtung eines nicht substanzlosen Textes doch Rechtsanwendung.
Erst mit der postmodernen Rechtstheorie wird die Konkretisierung zur Konstruktion. [9]So ausdrücklich Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 14. Nach dem Vorbild der Literaturwissenschaftler, die den Tod des Autors ausgerufen haben, verkünden Konstruktivisten den Tod des Gesetzgebers. Sie sprechen seinen Texten einen semantischen Gehalt ab und erklären die Gesetzesbindung zur Fiktion. [10]Ralph Christensen, Sprache und Normativität, S. 138. Die Konstruktion ist eine doppelte. Zunächst werde der prinzipiell für unbestimmt gehaltene Normtext in der Anwendungssituation zur konkreten Entscheidung gestaltet. Darüber hinaus verändere jede Heranziehung einer Norm als Entscheidungsgrundlage die Norm selbst und lasse damit die Vorstellung einer bloßen Anwendung von Rechtsnormen obsolet werden. Die »Verschleifung von Regel und Anwendung« (Ladeur) und damit die »Erschütterung der Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung« führe dazu, die »Vorstellung eines steuernden Subjekts in Form des Gesetzesautors« zu verabschieden [11]Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 , 2007, 479-493, 491..
Hinter der These von der Verschleifung von Regel und Entscheidung steckt ein theoretisch wohl begründeter, aber für die Praxis unangemessener Regelskeptizismus. Es ist an sich richtig, dass jede Anwendung einer (sozialen) Norm auf die Norm selbst zurückwirkt. Es ist auch gar nicht selten, dass eine Norm im Zuge ihrer Verwendung eine inhaltliche Veränderung erfährt. Aber der Normalfall der Anwendung führt eher zu einer Befestigung der Norm. Durch jede Heranziehung wird die Regel bestätigt. Durch jede Konkretisierung wird die Summe der erinnerten oder vorgestellten Anwendungsfälle konsolidiert. In der großen Mehrzahl der Anwendungsfälle ist die Veränderung so marginal [12]Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 53, spricht von einer »kaum sichtbaren Mikrovariation einer an sich stabil gedachten Regel«, verwirft aber dennoch das Anwendungsmodell, das er mit dem … Continue reading, dass das Anwendungskonzept Bestand haben kann.
Wenn man das Anwendungskonzept verwirft, hat das Folgen. Wer der Ansicht ist, eine Rechtsanwendung sei gar nicht möglich, versteht sich bei der Herstellung juristischer Entscheidungen als Gestalter und fühlt sich im Umgang mit Gesetz und Präjudizien freier. Vesting [13]Rechtstheorie 2007, Rn. 225. sieht die Aufgabe einer modernen Methodenlehre darin, »das Bewusstsein für die Eigenleistung der rechtsprechenden Gewalt« zu schärfen – dagegen wäre nichts einzuwenden – und will dazu »die Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter … aufgeben« – damit hintergeht er die verfassungsmäßig vorgesehene Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter. Praktisch folgt daraus eine größere Nähe zu der so genannten objektiven Auslegungstheorie mit der Konsequenz etwa, dass »Normbildung« oder »Rechtsfortbildung« zum Prozesszweck erhoben werden. Die semantische Schule dagegen müsste eigentlich eher der subjektiven Auslegungstheorie zuneigen. Sie ist insoweit jedoch gespalten. Während für die einen die Anwendung des Rechts die Anwendung von Gesetzen und die Bezugnahme auf Regeln aus Präjudizien bedeutet, verstehen andere, für die stellvertretend Alexy genannt sei, Rechtsanwendung nicht bloß als Anwendung vorfindlicher Regeln, sondern als Anwendung des Rechts einschließlich seiner Prinzipien und Werte. Auch die Erwartung, dass die semantische Schule eher dem von Sunstein so genannten Rechtsprechungsminimalismus [14]Solcher Minimalismus zeigt sich in einer doppelten Selbstbeschränkung. Er vermeidet, bei der Entscheidung eines Falles darüber hinaus weitere Fälle lösen zu wollen. Und er vermeidet, die … Continue reading zuneigt, lässt sich nicht bestätigen. Schließlich ist auch die betonte Einzelfallabwägung, die eher bei Konstruktivisten naheliegt, in beiden Lagern anzutreffen.
(Fortsetzung folgt.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ich bin nicht sicher, dass dieser Ausdruck heute noch allen Lesern geläufig ist, nachdem ich bei meinen Enkelkindern habe feststellen müssen, dass Schüler heute nicht mehr Skat spielen. »Aus dem Schneider« ist beim Skat, wer mehr als 30 Punkte (und damit mehr als die Hälfte der zum Gewinn notwendigen Punktzahl) erreicht. Im übertragenen Sinne bedeutet das natürlich, dass jemand über 30 Jahre alt ist.
2 »Wir wollen nicht, dass die Gerichte etwas grundlegend anders machen. Sie sollen lediglich das, was sie bisher getan haben, mit klarerem Bewußtsein tun.« (Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 24). »Absicht des Positivismus war es, die Jurisprudenz möglichst weit zu verwissenschaftlichen und eine rationale Dogmatik zu liefern. … Die Strukturierende Methodik fällt nicht hinter den dogmatischen Standard an Technizität zurück, den der Positivismus anstrebte.« (Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl., S. 292 Rn. 299).
3 Vorverständnis und Methodenwahl 1970,71ff.
4 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI; Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff. Fikentscher unterschied drei Rechtsanwendungslehren, die klassische Lehre, die die Rechtsanwendung als Subsumtion des konkreten Falles unter eine allgemeine Norm versteht, die Theorie normfreien Entscheidens (die er der Freirechtsschule zuschrieb) und die Gleichsetzungslehren (Bd. III, 1976, 736 ff.).
5 Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968. Dazu Fikentscher S. 750 f. Das »Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« wird in der Regel nur zitiert um zu zeigen, dass der Sachverhalt, der Ausgangspunkt einer Forderung ist, sich im Lichte einer Rechtsnorm verändern kann, weil bisher unbeachtete Umstände relevant werden, während andere ihre Bedeutung verlieren. Engisch’ berühmte Formel war aber auch schon von ihrem Erfinder zweiseitig gemeint. Es verändert sich aus dem Blickwinkel einer Norm nicht bloß der relevante Sachverhalt, sondern umgekehrt kann der Sachverhalt auch inhaltlich auf die Norm zurückwirken.
6 Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. Dazu Fikentscher S. 688.
7 Arthur Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 22. April 1964, Karlsruhe 1965. Dazu Fikentscher Bd. III, S. 751 f.
8 »Hermeneutische Verdichtung« führt zur Fallnorm, »wenn der hermeneutische Zirkel nur noch einmal zwischen Norm und Sachverhalt ›aufsteigt und absteigt‹ und keine weitere positiv zu beantwortende Rückfrage mehr erfolgt, ob der Sachverhalt auch die richtige Norm zu seiner Beurteilung gewährt. Das Kriterium der Fallnorm ist, mit anderen Worten, die letztmögliche Konkretion des Normativen angesichts der Sachverhaltsbestandteile.« (Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III Kap. 29 VI = S. 736ff, Bd. IV Kap. 31 VII. 3) = S. 180 ff., 199ff., Zitat S. 201.) Fikentscher definiert: »Fallnorm ist diejenige Regel des objektiven Rechts, die einem lösungsbedürftigen Sachverhalt eine ihn regelnde Rechtsfolge zuordnet. Die Fallnorm ist der Rechtssatz im technischen Sinne.« (Bd. IV S. 202), oder S. 382: »Da fast jeder Fall vom anderen abweicht, sind Fallnormen sehr weit in den faktischen Bereich, in den zu subsumierenden Sachverhalt vorgeschoben. Trotzdem sind Norm und Sachverhalt nicht das gleiche. Die Fallnorm, so fallzugeschnitten wie auch immer, ist doch Norm und daher allgemein, und somit vom Fall zu unterscheiden.«
9 So ausdrücklich Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, Rn. 14.
10 Ralph Christensen, Sprache und Normativität, S. 138.
11 Ino Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 , 2007, 479-493, 491.
12 Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 53, spricht von einer »kaum sichtbaren Mikrovariation einer an sich stabil gedachten Regel«, verwirft aber dennoch das Anwendungsmodell, das er mit dem Subsumtionsmodell gleichsetzt. Er vernachlässigt, dass »Mikrovariationen« zur Befestigung der Regel führen.
13 Rechtstheorie 2007, Rn. 225.
14 Solcher Minimalismus zeigt sich in einer doppelten Selbstbeschränkung. Er vermeidet, bei der Entscheidung eines Falles darüber hinaus weitere Fälle lösen zu wollen. Und er vermeidet, die Begründung der Entscheidung auf allgemeine Theorien und Prinzipien zu stützen (Cass R. Sunstein, One Case at a Time: Judicial Minimalism at the Supreme Court, 1999). Dazu auch schon der Eintrag »Anti-Court-Movement« vom 10. 12. 2008.

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Hypos oder Was wäre wenn?

Juristen wussten das schon immer. Die Argumentation mit hypothetischen Vergleichsfällen oder Lösungen ist eine Standardfigur der juristischen Rhetorik. Sie ist im amerikanischen Fallrecht wohl noch stärker verbreitet als bei uns. Deshalb ist es kein Zufall, dass Lawrence B. Solum ihr kürzlich einen Eintrag in seinem Legal Theory Lexicon gewidmet hat: »Hypotheticals«. Der Artikel ist kurz und dabei so lebendig und anschaulich geschrieben, dass es sinnlos wäre, hier noch eine Zusammenfassung zu geben. Jetzt kommen auch andere auf den Trichter. Eine neue DFG-Forschergruppe der Universitäten Konstanz und Berlin befasst sich unter dem Titel »Was wäre wenn?« mit »Bedeutung, Epistemologie und wissenschaftlichen Relevanz von kontrafaktischen Aussagen und Gedankenexperimenten.« Etwas nähere Information bietet der Projektantrag. 1,9 Millionen EUR lässt die DFG sich den Spaß kosten. Da hätte man doch mal Juristen fragen sollen. Die können bekanntlich alles und das auch noch billiger. Nachdem das Thema solche Prominenz erhalten hat, können darüber (mit Hilfe der im Projektantrag zusammengestellten Literatur) sicher mindestens zwei Juristen promovieren und sich dabei mit Interdisziplinarität zieren.

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Zu Friedrich Müllers Normbereichslehre

»Wie halten Sie es mit den Sozialwissenschaften« war 1975 noch die »Gretchenfrage« der Jurisprudenz. [1] Klaus J. Hopt, Was ist von den Sozialwissenschaften für die Rechtsanwendung zu erwarten?, Juristenzeitung 1975, 341-349. Heute besteht in der Rechtstheorie weitgehend Übereinstimmung, dass die Jurisprudenz sich anderen Disziplinen gegenüber öffnen muss. Mit »Law in Context« gibt es eine neue Formel für Interdisziplinarität, für die politischen, sozialen, wirtschaftlichen, technischen oder internationalen Bezüge des Rechts. Aber in der Sache sind die Fortschritte gering. Immerhin, Müller/Christensen können darauf verweisen, dass das Bundesverfassungsgericht häufig das von einem Gesetz in den Blick genommene Wirklichkeitsmodell erörtert, und meinen, das Gericht habe damit die von ihnen so genannte Normbereichsanalyse in den Kanon seiner Methoden aufgenommen (Rn. 67e). [2]Dazu haben sie eine lange Reihe von Beispielen zusammengestellt. Prominentes Beispiel war das Verfahren im Lebach-Fall, in dem sozialwissenschaftliche Sachverständige bemüht wurden, um die … Continue reading
Mich interessiert heute nur der Begriff der Normbereichsanalyse. Bietet er mehr als einen handlichen Namen für die Aufhellung des sozialen Kontextes der Entscheidung? Ja, jedenfalls nach dem Anspruch seines Erfinders. Friedrich Müller hat den Begriff des Normbereichs bereits 1966 in dem Band »Normstruktur und Normativität« eingeführt. Ich habe das Buch früher einmal gelesen. Seine Thesen sind mir nicht nachdrücklich in Erinnerung geblieben. Aber der Begriff des Normbereichs ist aus dem juristischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Hat er es verdient?
»Normbereich« und Normbereichsanalyse« gehörten von Anfang an zu den Grundbegriffen von Müllers »Juristischer Methodik«, die 1971 erstmals erschienen ist und an der wohl seit der 7. Aufl. von 1997 Ralph Christensen mitwirkt. 2009 ist Band I, der sozusagen den Allgemeinen Teil der Methodenlehre behandelt, in 10. Auflage erschienen. Das soll erst einmal jemand nachmachen. Nun hat das große Werk eine Reife erlangt, dass man sich darin über Normbereich und Normbereichsanalyse auch ohne Rückgriff auf den Erstling von 1966 müsste informieren können. Jedenfalls habe ich das alte Buch nicht wieder hervorgeholt. Ich will hier wiedergeben, was ich bei der Lektüre der »Juristischen Methodik« verstanden habe.
Mit der Wortschöpfung vom Normbereich verbindet sich der Anspruch, das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in einer Weise auf den Begriff zu bringen, die die böse Dichotomie von Sein und Sollen verschwinden lässt. Um ihn einzulösen, wird eine neue Begrifflichkeit entwickelt. Sie stellt den »Sprachdaten« der Rechtsquellen einen »Sachbereich« mit so genannten Realdaten gegenüber. Ein Teil des Sachbereichs ist der engere »Fallbereich«. Die Interpretation der Sprachdaten ergibt das »Normprogramm«. »Mit dessen Hilfe wählt der entscheidende Jurist aus dem Sach- bzw. dem Fallbereich die Teilmenge der für das Fallergebnis mit-normativen Tatsachen aus, den ›Normbereich‹; dieser umschreibt also die Menge derjenigen Realdaten, die zu Recht mit zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden.« (Rn. 16). »Sachbereich« ist der »Sachbereich des Normtexts«; »Normbereich« der »Sachbereich der Rechtsnorm« (Rn. 338 a. E.). Der Normbereich kann rechtssoziologisch untersucht werden. Psychologische Effekte dagegen gehören nur dem Sachbereich an (Fn. 217 auf S. 248 f.). Wieso Soziologie und Psychologie unterschiedlich behandelt werden, verstehe ich nicht. Jedenfalls: Durch »Rechtsarbeit«, die durch einen Rechtsfall ausgelöst wird, entsteht aus dem Normprogramm unter Einbeziehung des Normbereichs die verbindliche Rechtsnorm.
Der »Normbereich« liegt, so scheint mir, in doppelter Weise quer zu der sonst verbreiteten Unterscheidung zwischen Falltatsachen und Normtatsachen.
Erstens erfasst er, ebenso wie der Sachbereich, nicht bloß die Normtatsachen, sondern auch die Falltatsachen. Zum Normbereich gehören also der Fall selbst und außerdem sein Kontext. Dieser Unterschied scheint mir klar zu sein, und es bleibt nur die Frage, ob ein Falltatsachen und Normtatsachen zusammenfassender Begriff hilfreich ist. Das glaube ich nicht, denn das Kontextproblem ergibt sich gerade daraus, dass die Prozessordnungen nur auf den »Fallbereich« zugeschnitten sind und dass auch die Methodenlehre über keine Fenster für den Blick auf die Realdaten jenseits des »Fallbereichs« verfügt, so dass sie meist nur als »Schmuggelware« Eingang in die Entscheidung finden. [3]Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, 2007, 174.
Zweitens meint »Normbereich« nicht bloß einen Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit, sondern er trägt selbst schon, und zwar gleich mehrfach, Normativität in sich. »Die am Normprogramm ausgerichtete und begrenzte Ermittlung der Realdaten ergibt den Normbereich der Rechtsnorm.« (Rn. 235a) Der Normbereich ist also zunächst insoweit normativ vorstrukturiert, als er die Grenzen absteckt, innerhalb derer die Realdaten relevant werden. Das ist einleuchtend. Wenn es etwa darum geht, ob eine Wahlkreiseinteilung dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit entspricht, wird man sich nicht über die Bedeutung religiöser Symbole oder den Unterhaltsbedarf von Kindern informieren. Innerhalb dieser eigentlich selbstverständlichen Relevanzgrenze bleibt jedoch offen, in welchem Umfang und mit welchen Mitteln die Normbereichsanalyse durchgeführt werden soll.
Einige Formulierungen (»rechtserzeugte Daten«, Rn. 84; »rechtserzeugter Normbereich«, Rn. 85) deuten darauf hin, dass die Normativität des Normbereichs sich auch aus dem ergibt, was als institutionelle Tatsachen geläufig ist. Wenn es also etwa um den angemessenen Mindestunterhalt für Kinder ginge, dann wären das Sorgerecht der Eltern, die Schulpflicht und auch die Sport- und Bildungsangebote von Kommunen und freien Trägern institutionelle Tatsachen. Doch das alles reicht nicht. Der »Normbereich« enthält so viel an Normativität, dass keine Überwindung einer Seins-Sollens-Differenz mehr notwendig ist, um am Ende der Rechtsarbeit die verbindliche Rechtsnorm zu finden. Sein und Sollen sind in der Normativität von Normprogramm und Normbereich »verschränkt«. Wirklich greifbar ist die Verschränkung trotz aller Beteuerungen für mich nicht. Ich sehe ist nicht, wie anders als durch ein Werturteil die »Konkretisierungselemente« zur Entscheidung zusammengefügt werden. »Die Verschränkung von Sein und Sollen in der Normativität« (Rn. 423) zeigt sich immer erst ex post. Ex ante, wenn dem Entscheider aufgeben ist, aus den Tatsachen der Vergangenheit eine Norm für die Zukunft zu schaffen, bleibt es bei dem Gegensatz von Sein und Sollen. Darüber wölbt sich nur eine neue, eher verwirrende Begrifflichkeit. [4]Eine freundlichere Interpretation, die mir aber auch nicht weiter geholfen hat, bei Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 222. Die Folge, die längst eingetreten ist, besteht in einer Trivialisierung der gelungenen Wortschöpfung. Für mehr oder weniger alle, die den Begriff aufgenommen haben, ist die Normbereichsanalyse eben doch nicht mehr als ein handlicher Name für die Aufhellung des sozialen Kontextes juristischer Entscheidungen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Klaus J. Hopt, Was ist von den Sozialwissenschaften für die Rechtsanwendung zu erwarten?, Juristenzeitung 1975, 341-349.
2 Dazu haben sie eine lange Reihe von Beispielen zusammengestellt. Prominentes Beispiel war das Verfahren im Lebach-Fall, in dem sozialwissenschaftliche Sachverständige bemüht wurden, um die Möglichkeit der Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten eines Mittäters durch eine Fernsehsendung über den Tathergang zu untersuchen (BVerfGE 35, 202 ff). Allgemeiner zum Thema Klaus Jürgen Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971; Karl Korinek, Die Tatsachenermittlung im verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: Klaus Stern, Hrsg., 40 Jahre Grundgesetz, 1990, 107-118; Brun- Otto Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht. In: Peter Badura und Horst Dreier (Hg.): Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, 533–561. Für die USA vgl. Oliver Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, Juristenzeitung 2005, 1-13.
3 Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, 2007, 174.
4 Eine freundlichere Interpretation, die mir aber auch nicht weiter geholfen hat, bei Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 222.

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Rechtstheorie, Methoden und Methodenlehre

In meinem Bericht über die Celler Tagung der Volkswagen Stiftung zur Juristenausbildung hatte ich die Klage über den Verlust der Methodenlehre durch Vesting und Gräfin von Schlieffen erwähnt. Mein lapidarer Kommentar, »so viel Methode war noch nie«, verlangt nach einer Erläuterung. Die unterschiedliche Wahrnehmung hat oberflächlich ihre Ursache darin, dass ich schärfer zwischen Rechtstheorie und Methoden der Rechtswissenschaft sowie zwischen den Methoden der einzelnen rechtswissenschaftlichen Disziplinen und der Methodenlehre als der Methode zur Beantwortung konkreter Rechtsfragen unterscheide.
Methoden bilden die Umsetzung wissenschaftlicher Theorie in Handlungsanweisungen für die Beantwortung von Forschungsfragen. Eine als solche benannte Methodendiskussion wird vor allem im öffentlichen Recht geführt. [1]Vgl. etwa Michael Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, 2001; Christoph Möllers, Braucht das öffentliche Recht … Continue reading Dabei wird in der Regel [2]Anders etwa Fikentscher, der die Methode der Rechtsanwendung ausdrücklich der Rechtstheorie zuordnet und sie dort neben die Rechtsphilosophie stellt (Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. … Continue reading nicht zwischen Theorie und Methode unterschieden. Damit entfernt sich die Rechtwissenschaft von dem in anderen Disziplinen üblichen Methodenbegriff, der unterhalb der Theorie angesiedelt ist. Mit Podlech kann man sagen, eine Methode ist »nur eine geordnete Klasse von Verhaltensanordnungen (Operationen) zum Zwecke von Problemlösungen. Methoden sind nicht wahr oder falsch, sondern fruchtbar oder unfruchtbar« [3]Adalbert Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 , 1972, 491-502 S. 492.. Das entspricht dem engeren Methodenbegriff, wie er in der empirischen Sozialforschung üblich ist. Danach ist eine Methode das planmäßige (und insofern theoriegeleitete) Vorgehen zur Lösung von bestimmten Aufgaben oder Problemen. Der engere Methodenbegriff entspricht der Aufgabenstellung der juristischen Methodenlehre. Sie versteht sich als Anleitung zur Beantwortung konkreter Rechtsfragen oder zur Entscheidung einzelner Rechtsfälle. Die nicht selten zu hörende Kritik, die juristische Methodenlehre sei zu eng, weil sie sich auf die Anleitung zur Fallentscheidungspraxis konzentriere [4]Z. B. Matthias Jestaedt, Braucht die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht eine fachspezifische Wissenschaftstheorie?, in: Andreas Funke/Jörn Lüdemann (Hg.), Öffentliches Recht und … Continue reading, geht deshalb fehl.
Im Mittelpunkt der Methodenlehre stehen Anleitungen zur Textauslegung, der so genannte Kanon der Auslegungsmethoden. Es wäre allerdings zu eng, die Methodenlehre auf die Textinterpretation einzuschränken, denn ein Grundproblem der Methodenlehre besteht gerade darin, dass nicht selten die Interpretation von Texten zu keinem Ergebnis führt. Auch solche Fälle muss die Methodenlehre bedenken. Daher ist es zweckmäßig, die juristische Methodenlehre nach dem Titel eines Buches von Kriele als »Theorie der Rechtsgewinnung« de lege lata zu verstehen. [5]Für eine gewisse Verwirrung sorgen Müller/Christensen, Juristische Methodik, durch den Begriff »Methodik«, den sie als „Oberbegriff für ›Hermeneutik‹, ›Interpretation‹, … Continue reading Mit der Methodenlehre gibt sich die Rechtwissenschaft selbst eine Anleitung zur Rechtsgewinnung. Die Methodenlehre ist aber gleichzeitig eine Brücke zur Praxis. Im Streitfall haben die Gerichte das letzte Wort. Die Methodenlehre ist daher in letzter Konsequenz eine Anleitung zur Rechtsgewinnung für die Gerichte.
Bemerkenswert ist die lange Reihe von Lehr- und Lernbüchern zur Methodenlehre. [6]Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Guy Beaucamp/Lutz Treder, Methoden und Technik der Rechtsanwendung, 2. Aufl., 2011; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien … Continue reading Zusammen mit selbständigen Kapiteln zur Methodenlehre in vielen anderen Büchern, die vornehmlich für die juristische Ausbildung bestimmt sind [7]Z. B. Heiko Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, 2011, S. 168-186., zeigen sie das große Bedürfnis nach Reflexion und Vergewisserung für einen zentralen praxiszugewandten Bereich der juristischen Arbeit und zugleich Vertrauen in die Lehr- und Lernbarkeit der juristischen Methode. Insofern kann man wohl sagen: So viel Methode gab es nie. Aus dieser Sicht verbergen sich hinter der Klage über den Verlust oder das Fehlen der Methode tatsächlich rechtstheoretische Kontroversen, sozusagen ein »Methodenstreit« der Rechtstheorie. Die Rechtstheorie befindet sich, vorsichtig gesprochen, in einem pluralistischen Zustand. Ihre Methodenkritik adressiert sie meistens an die Methodenlehre. Betroffen sind aber viel mehr die Methoden der Rechtswissenschaft in ihren verschiedenen Fächern: dogmatische Fächer, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtssoziologie, ökonomische Analyse des Rechts. Rechtstheoretische Kontroversen können nicht in der Methodenlehre ausgetragen werden, wenn die Praxis handlungsunfähig bleiben soll. Die notwendige Verknüpfung zwischen Theorie und Methode muss außerhalb der Methodenlehre stattfinden. Die Methodenlehre darf sich zwar gegenüber neuen rechtstheoretischen Entwicklungen nicht unempfindlich zeigen, muss aber nicht jeder Wendung der Rechtstheorie folgen, sondern kann aus einer gewissen Distanz abwarten, bis sich neue methodische Standards entwickeln.
Die Forderung nach einer »Neuorientierung der Methodenlehre über die bloße Rechtsanwendung hinaus auch auf Rechtsgestaltung und Rechtskritik« ist ein zentrales Anliegen der von der Volkswagen Stiftung veranstalteten Doppeltagung [8]Tagungsprogramm hier.. Das mag per se sinnvoll sein, verlangt aber nicht, dass der auf Entscheidungsfindung ausgerichtete Begriff der Methodenlehre erweitert wird. Es ist geradezu schädlich, sie als Kritik an der Methodenlehre zu thematisieren. [9]Tagungskonzeption S. 1. Ihr Platz ist die Diskussion um das Curriculum des Jurastudiums.
Das gilt auch dann, wenn diese Kritik mit der Forderung verbunden wird, die Methodenlehre um eine »Ausbildung in der Erfassung von Sachverhalten« anzureichern [10]Tagungskonzeption S. 4 unter f).. Und das gilt erst recht, wenn weiter die Ergänzung der Methodenlehre um eine »Instrumentenlehre, die das verfügbare Arsenal rechtlicher Regelungsinstrumente systematisch sichtet«, um eine »Institutionenlehre, die die Bildung organisatorischer Einheiten für bestimmte Zwecksetzungen« behandelt und schließlich um eine »Verfahrenslehre« gefordert wird, »die die Anforderungen unterschiedlicher Verfahren vergleichend sichtet, ihre Durchführung begleitet und ihre Leistungsgrenzen kalkulierbar macht« [11]Ebenda.. Hinter diesen Forderungen steckt die alte These vom so genannten Theorie-Praxis-Bruch. Sie hat sie ist ebenso zählebig wie zahnlos. Vielleicht finde ich noch vor der Fortsetzung der Tagung in Berlin am 23. Februar die Zeit zu ein paar Bemerkungen zum Theorie-Praxis-Bruch.
(Zuletzt bearbeitet am 19. 2. 2012.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. etwa Michael Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, 2001; Christoph Möllers, Braucht das öffentliche Recht einen neuen Methoden- und Richtungsstreit?, Verwaltungsarchiv 90, 1999, 187-207; ders., Der Methodenstreit als politischer Generationenkonflikt: ein Angebot zur Deutung der Weimarer Staatsrechtslehre, Der Staat 43, 2004, 399-423; Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann-Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004; ohne Begrenzung auf das öffentliche Recht Karl-Heinz Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 64, 2000, 60-103.
2 Anders etwa Fikentscher, der die Methode der Rechtsanwendung ausdrücklich der Rechtstheorie zuordnet und sie dort neben die Rechtsphilosophie stellt (Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. IV, 1977, S. 121 ff., 125, 664 ff.); deutlich ferner Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann u. a. (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 9-72, S. 14 ff. Noch deutlicher neuerdings Martin Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011, S. 18 ff. Schulte selbst will »die Begriffe juristische Methode und Rechtsdogmatik weitgehend synonym verwenden, weil beide einander bedingen und ineinander übergehen.«
3 Adalbert Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 , 1972, 491-502 S. 492.
4 Z. B. Matthias Jestaedt, Braucht die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht eine fachspezifische Wissenschaftstheorie?, in: Andreas Funke/Jörn Lüdemann (Hg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, 18-43, S. 23 ff; Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 244.
5 Für eine gewisse Verwirrung sorgen Müller/Christensen, Juristische Methodik, durch den Begriff »Methodik«, den sie als „Oberbegriff für ›Hermeneutik‹, ›Interpretation‹, ›Auslegungsmethoden‹ und ›Methodenlehre‹« verstanden wissen wollen (Juristische Methodik, Rn 7, in der 10. Aufl. S. 37). Ganz und gar überflüssig ist die Rede von einer Methodologie.
6 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Guy Beaucamp/Lutz Treder, Methoden und Technik der Rechtsanwendung, 2. Aufl., 2011; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien 1991; ders., Grundzüge der juristischen Methodenlehre, Wien 2005; Claus-Wilhelm Canaris/Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtwissenschaft, 4. Aufl., 2006; Helmut Coing, Juristische Methodenlehre, 1972; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991; Hans Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl., Bern 2010; Dirk Looschelders/Wolfgang Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 10. Aufl., 2009; Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., 1999; Jan Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983; ders., Methodenlehre des Zivilrechts, 1998; Dieter Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium, 4. Aufl., 1998; Joachim Vogel, Juristische Methodik, 1998; Rolf Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 4. Aufl., 2008; Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl., 2006.
7 Z. B. Heiko Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, 2011, S. 168-186.
8 Tagungsprogramm hier.
9 Tagungskonzeption S. 1.
10 Tagungskonzeption S. 4 unter f).
11 Ebenda.

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Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus

Die (negative) Freiheit [1]Zum Freiheitsbegriff vgl. den Exkurs »Der Begriff der Freiheit« aus der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 146-150), der als Preprint im Internet abrufbar ist. des Bürgers äußert sich in seinem Selbstbestimmungsrecht. Grenzen dieser Freiheit bilden nach Art 2 Abs. 1 GG die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Der Verweis auf die verfassungsmäßige Ordnung bedeutet einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Die Rechtsordnung ist jedoch so dicht, dass auch die Rechte anderer und das Sittengesetz praktisch immer nur in ihrer Ausgestaltung durch positives Recht zum Tragen kommen. Wenn es aber um die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder um die Verfassungsmäßigkeit positivrechtlicher Freiheitsbeschränkungen geht, kommt indirekt doch wieder das Sittengesetz ins Spiel. Der Ausdruck wirkt heute etwas verstaubt. Der liberale (negative) Freiheitsbegriff kann damit nicht viel anfangen. Das positive Freiheitsverständnis füllt das Sittengesetz dagegen mit Vorstellungen, die man zeitgemäß als kommunitaristisch kennzeichnet. Schulbeispiel ist der so genannte Zwergenweitwurf, der es sogar zu Wikipedia-Ehren gebracht hat. Das Verwaltungsgericht Neustadt (NVwZ 1993, 98) hielt diese im Schaustellergewerbe verbreitete Übung für sittenwidrig, so dass sie nach § 33a Abs. 2 S. 2 GewO nicht genehmigungsfähig. Auch sei sie nicht nach § 33a Abs. 1 S. 2 GewO genehmigungsfrei, denn das sportliche oder akrobatische Element stehe nicht im Vordergrund. Diese Entscheidung hat weitgehend Zustimmung gefunden. Die betroffenen kleinwüchsigen Menschen sind jedoch teilweise anderer Ansicht, nicht nur, weil sie einige damit eine Erwerbsmöglichkeit verlieren, sondern auch, weil sie gerade durch solche Bevormundung ihre Menschenwürde tangiert sehen.
»Jeder soll nach seiner Façon selig werden.« Diesen Satz hatte Friedrich II. 1740 zwar nur auf die Religionsfreiheit der Juden gemünzt. In erweitertem Sinne enthält er jedoch das Credo des Liberalismus. In der Rechtsphilosophie beruft man sich natürlich auf Kant, der diesen Gedanken 1793 so formuliert hat:

»Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des andern) nicht Abbruch tut.«

Und Kant hat auch gleich das Gegenstück zu solcher Freiheit beim Namen genannt:

»Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale ), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.« [2]Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II.

Von Paternalismus als von einer Einstellung, nach welcher der Staat berechtigt und verpflichtet ist, für das Glück der Menschen zu sorgen, war in der deutschen Rechtsphilosophie bisher wenig die Rede. In der amerikanischen Rechtsphilosophie ist Paternalismus dagegen ein geläufiger Kampfbegriff des Liberalismus. Als solcher wurde er auch in Deutschland durch das Buch »Nudge« von Richard H. Thaler und Cass B. Sunstein bekannt. [3]Dazu der Eintrag »Nudge« vom 21. 7. 2009. 2011 hat die Juristenzeitung nun in demselben Heft gleich zwei Aufsätze veröffentlicht, die den Paternalismus im Titel tragen, nämlich »Harter und weicher Rechtspaternalismus« von Stephan Kirste (JZ 2011, 805-814) und »Liberaler Paternalismus« von Horst Eidenmüller (JZ 2011, 814-821). Die Aufsätze sind anscheinend ohne Bezug aufeinander verfasst worden, ergänzen sich aber gut. Nur die Begriffe passen nicht zueinander. Immer geht es beim (rechtlichen) Paternalismus um die Frage, ob die Rechtsordnung Menschen ohne oder gar gegen ihren Willen zu einem Verhalten veranlassen soll, das sie selbst nicht wählen würden, das aber von der höheren Warte des Rechts letztlich in ihrem eigenen Interesse zu liegen scheint. Mit anderen Worten, es geht darum, ob das Recht den Menschen zu ihrem Glück verhelfen oder verhindern soll, dass sie sich willentlich in ihr Unglück stürzen. Harter Paternalismus erreicht dieses Ziel durch Gebote oder Verbote. Autofahrern wird geboten, den Sicherheitsgurt anzulegen. Weicher Paternalismus begnügt sich mit Warnhinweisen oder Informationsangeboten, überlässt aber den Handlungsentschluss den Betroffenen. Kirste befasst sich mit einer langen Liste einschlägiger Fälle insbesondere aus dem Bereich der Medizinethik, die er unter dem Aspekt des Paternalismus mit einer liberalen Grundtendenz durchdekliniert. Den weichen Paternalismus hält Kirste schon als begriffliche Kategorie für überflüssig, weil er das Selbstbestimmungsrecht unberührt lasse.
Eidenmüller befasst sich hauptsächlich mit der von Kirste für überflüssig gehaltenen Kategorie des weichen Paternalismus. Er fragt, ob es einen rechtlichen Paternalismus gebe, der ohne erhebliche Freiheitsbeschränkungen auskomme. Dazu unterscheidet er unterscheidet zwischen Wertepaternalismus und Defizitpaternalismus [4]Dieser Ausdruck ist von mir(KFR).. Der Wertepaternalismus will die vorgefundenen Präferenzen der Menschen von der höheren Warte einer objektiven Wertordnung korrigieren. Der Defizitpaternalismus dagegen soll Rationalitätsdefizite ausgleichen, unter denen jeder Handlungsentschluss mehr oder weniger leidet. Wertepaternalismus, so Eidenmüller, sei immer mit Freiheitsbeschränkungen verbunden. Das heißt wohl, er läuft immer auf ein Gebot oder Verbot hinaus. Wertepaternalismus wäre danach im Sinne Kirstes harter Paternalismus. Defizitpaternalismus hat dagegen eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die den Handlungsentschluss letztlich dem Betroffenen überlassen. Das beginnt bei bloßen Warnhinweisen (»Rauchen kann tödlich sein.«), Informationsangeboten und Pflichtberatungen und reicht über die Bereitstellung dispositiven Rechts bis hin zu Opt-Out-Lösungen (wie sie für die Einwilligung zur Organspende erörtert werden). Mit der Begriffsarbeit ist nicht alles, aber doch schon eine ganze Menge gewonnen. Eidenmüller versteht den liberalen Paternalismus als ein rechtspolitisches Begründungskonzept, dem allerdings ein normatives Fundament fehle, wenn es nicht das Effizienzprinzip der ökonomischen Analyse des Rechts übernehme. Er hält es für einen naiven und unbegründeten Trugschluss vom Sein auf ein Sollen, wenn man die Legitimation eines rechtlichen Paternalismus aus der Tatsache der von der Psychologie beschriebenen Rationalitätsdefizite ableite. Das ist m. E. ein falscher Akzent. Natürlich, als logischer wäre der Schluss von den Rationalitätsdefiziten menschlicher Entscheidungen auf die Zulässigkeit oder Notwendigkeit rechtlicher Schutzvorkehrungen verfehlt. Aber als bewusste Wertung ist er mindestens plausibel und liegt als solcher dem gesamten Verbraucherschutzrecht zugrunde. Das Problem ist die »Erheblichkeit« der Freiheitsbeschränkungen, die auch mit einem liberalen (Defizit-)Paternalismus verbunden sind. Die Belästigungen, die die Betroffenen dabei hinnehmen müssen, sind durch den möglichen Rationalitätsgewinn ihrer Entscheidungen leicht zu rechtfertigen. In aller Regel verlangen die paternalistischen Maßnahmen aber heftige Freiheitsbeschränkungen bei Dritten, insbesondere bei den Anbietern von Waren und Dienstleistungen, denen aufgegeben wird, Information und Beratung bereit zu stellen. Auch das lässt sich bis zu einem gewissen Grade rechtfertigen, muss aber doch bedacht werden.
Eidenmüller kritisiert außerdem, dass der liberale Paternalismus »sich auf die Mikroebene der Präferenzbeeinflussung konzentrier[e] und Einflussfaktoren auf der Makroebene ausblende[e]«. Die Überlegung ist als solche sicher zutreffend. Die individuellen Präferenzen werden weitgehend »auf einer Makroebene von dem sozialen, politischen und rechtlichen Umfeld beeinflusst« (S. 820). Aber eine Präferenzbeeinflussung auf der Makroebene läuft doch wohl auf einen Wertepaternalismus hinaus und fällt damit von vornherein aus dem Spektrum des liberalen Paternalismus heraus.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Der so genannte liberale Paternalismus ist inzwischen zu einem allgemeinen Diskussionsthema geworden; vgl. z. B.
Corinna Budras, Der Vormund, FamS vom 10. 2. 2015
Werner Mussler, Ausgeschubst. Die Probleme mit dem liberalen Paternalismus, FAZ Wirtschaftsblog vom 11. 4. 2012
Cass Sunstein, einer der beiden Patentinhaber, war im Januar persönlich zu einer Konferenz in Berlin. Daher war Nudging ausführlich Thema auf verfassungsblog.de.
Unter den deutschen Ökonomen hat sich besonders Jan Schnellenbach um das Thema bemüht.
Näheres dazu auf seiner Webseite, wo die folgenden Titel heruntergeladen werden können:
Neuer Paternalismus und individuelle Rationalität: eine ordnungsökonomische Perspektive, List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 40, 2014, 239-257
Nudges and Norms: The Political Economy of Soft Paternalism, European Journal of Political Economy 28, 2012, 266-277 []
Wohlwollendes Anschubsen: Liberaler Paternalismus und seine Nebenwirkungen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 12, 2011, 445-459
Some Notes on the Nudge: The Political Economy of Libertarian Paternalism in Democratic Societies (May 27, 2011). Verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1854670.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum Freiheitsbegriff vgl. den Exkurs »Der Begriff der Freiheit« aus der »Allgemeinen Rechtslehre« (S. 146-150), der als Preprint im Internet abrufbar ist.
2 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II.
3 Dazu der Eintrag »Nudge« vom 21. 7. 2009.
4 Dieser Ausdruck ist von mir(KFR).

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Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen

Die Kritik der juristischen Methodenlehre behauptet immer wieder, die juristische Methode sei insofern unehrlich, als sie nicht im Stande sei, außerjuristische Einflüsse bei der Entscheidungsbildung sichtbar und kontrollierbar zu machen. In der Regel wird diese Kritik unter der Überschrift »Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen« vorgebracht. Es lohnt sich, dieser Kritik noch einmal nachzugehen.
Hermann Isay (1873-1938), der noch zur Freirechtsschule gezählt wird, hatte 1929 die These begründet, dass juristische Entscheidungen zunächst »durch konstruktive Phantasie und nachfolgendes Wertfühlen oder durch Intuition« gefunden und erst nachträglich an einer Rechtsnorm kontrolliert und dadurch rationalisiert würden. [1]Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929. Heute knüpft man meistens bei Niklas Luhmann an, der, freilich in anderem Zusammenhang [2]Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, 51., die Unterscheidung zwischen der Herstellung und der Darstellung einer Entscheidung eingeführt hat. Sie wird vielfach benutzt, um die Leistungsfähigkeit der juristischen Methode in Zweifel zu ziehen: Die Argumente, mit denen eine Entscheidung begründet werde, seien regelmäßig gar nicht die wahren Gründe, sondern nachträgliche Rechtfertigung oder, schlimmer noch, Verdeckung der wahren Motive. Doch das war weder die Aussage Isays noch diejenige Luhmanns.
Isay hatte allerdings den Vorgang der Entscheidungsfindung als irrational bezeichnet, wollte ihn damit aber keineswegs psychologisch erklären und schon gar nicht in den Bereich der Willkür oder Unredlichkeit abdrängen. »Die Aufgabe, die hier vorliegt, darf nicht … der Psychologie zugewiesen werden, die es mit empirischen, der Beobachtung und dem Experiment zugänglichen Erlebnissen und Erlebniszuständlichkeiten des Bewußtseins zu tun hat, aber nicht ermitteln kann, was im Fühlen, im Wollen sich an Ideengehalten, an Wertgehalten usw. uns erschließt; der Bereich der Psychologie wird durch die Grenzen des vital gebundenen Seelenlebens bestimmt, außerhalb deren das Reich des geistig-noetischen Seins liegt. Neben dem Reich des Psychischen gibt es noch ein drittes Reich, das Reich der Bedeutungen, der Werte« (S. 42 f.) Dazu verwies Isay auf Rickert, Lask und Reinach und fuhr fort: »Für die Erschließung dieses Reiches ist die Methode der Erkenntnis des Psychischen nicht ausreichend. Hier kann nur die Forschungsmethode der Phänomenologie wirklich fruchtbare Ergebnisse liefern.« Gemeint war die Phänomenologie Edmund Husserls.
Psychologisch gemeint war dagegen die gleichfalls 1929 von Hutcheson geäußerte Ansicht, wonach die im Einzelfall getroffene Entscheidung des Richters aus der Intuition (hunch) zu erklären sei Die Bezugnahme auf Normen oder Präjudizien sei nur eine nachträgliche Rationalisierung, die für die Entstehung der Entscheidung ohne Bedeutung sei. [3]Joseph C. Hutcheson, The Judgment Intuitive: The Function of the ‘Hunch’ in Judicial Decision, Cornell Law Quarterly 14, 1929, 274-288 Dickinson hat ihm alsbald widersprochen mit der These, dass Richter während ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit die im Recht angelegten Konzepte verinnerlichten, so dass sie sich selbst an diese Normen gebunden fühlten. Er zweifelte nicht, dass Gesetze und Präjudizen für die Herstellung der richterlichen Entscheidung beträchtliche Wirkung entfalteten. Allerdings ließ er die Frage offen, in welchem Verhältnis dieses rule-element zu dem Beitrag steht, der aus der Richterpersönlichkeit in die Entscheidung einfließt. [4]John Dickinson, Legal Rules: Their Function in the Process of Decision, University of Pennsylvania Law Review 79, 1931, 833-868, 839 f. [http://www.jstor.org/pss/3308003]. Auch der als Regelskeptiker bekannte Llewellyn war der Überzeugung, dass die Gemeinsamkeiten im Handeln und Denken der Juristen weit wichtiger seien als die jeweilige Richterpersönlichkeit. Und H. L. A. Hart meinte, man dürfe die Frage nach der Wirksamkeit einer Regel nicht mit dem psychologischen Prozess verwechseln, den die Person, bevor sie handelte, durchlief. »Der wichtigste Faktor aber, der uns anzeigt, daß wir beim Handeln eine Regel angewandt haben, ist der, daß, wenn unser Verhalten angezweifelt wird, wir es durch Rückbeziehung auf die Regel rechtfertigen können.« [5]Der Begriff des Rechts, 1973, 195.
Unter dem Einfluss der Hermeneutik wurde aus dem Rechtsgefühl bei Josef Esser das Vorverständnis. [6]Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Kronberg/Ts. 1972. Der Jurist, der ein bestimmtes praktisches Problem, insbesondere einen Fall, zu lösen habe, so meinte Esser, bringe immer schon eine Vorstellung von der »gerechten« Lösung mit, bevor er eine Interpretation des Gesetzes mit den herkömmlichen Methoden versuche. Diese Vorstellung gründe sich auf vorpositive Richtigkeitsüberzeugungen des Interpreten, die sich im Laufe seiner Lebensgeschichte herausgebildet hätten. Danach werde geprüft, ob die gefundene Lösung »konsensfähig« und »plausibel« sei (Richtigkeitskontrolle). Auf dieser Stufe steuere eine Vorauswahl »einsichtiger Gerechtigkeitskriterien und sachlich überzeugender Lösungsgesichtspunkte« die Suche nach der Entscheidung. Die so gefundene Vorstellung einer gerechten Lösung bestimme dann die Wahl der Auslegungsmethode und damit das Ergebnis der Interpretation. Der Interpret halte sich also nicht offen für die Frage, welche Lösung des Falles sich aus dem Gesetz ergebe, sondern ziehe die gängigen Auslegungsmethoden und anerkannte Autoritätsquellen (Präjudizien, eine herrschende Meinung) nur heran, um zu zeigen, dass sich die schon gefundene Lösung des Falles mit dem positiven Recht vereinbaren lässt (»Stimmigkeitskontrolle«). Esser sah in dem Vorverständnis mit der ontologischen Hermeneutik ein Strukturelement des Verstehens (S 133 ff.), nicht aber ein psychisches Phänomen im Sinne eines Vorurteils oder einer Attitüde. Er verteidigte daher gegen Isay die Rationalität richterlichen Entscheidens. Die Richtigkeitskontrolle des Ergebnisses werde »mit der ersten Anpeilung von potentiell hilfreichen Normen … eingeleitet und … nicht mehr außer Acht gelassen« (S. 139f.). Später beklagte Esser, sein Buch sei nicht immer richtig verstanden worden; er sei kein Freirechtler. Die herkömmliche Methodenlehre gehöre nicht abgeschafft, sondern müsse gerade umgekehrt ernst genommen werden, weil sie einen Teil jener argumentativen Figuren liefere, in denen die Plausibilität von Begründungszusammenhängen zumindest für Juristenkreise konsensfähig werde [7]Josef Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, Juristenzeitung 1975, 555-558.
Luhmann schließlich betont, es bestehe von vornherein gar nicht der Anspruch, dass die realpsychischen Vorgänge nach den Vorschriften der Methodenlehre abliefen. »Der Schluß vom Tatbestand auf eine Rechtsfolge ist für den Juristen die Endgestalt, in der einer sein Arbeitsergebnis präsentiert, nicht aber ein Abbild oder Modell seiner faktischen Entscheidungstätigkeit. Die logische Form hat eine Darstellungsfunktion. Die juristische Entscheidung wird mithin durch bestimmte Darstellungserfordernisse, nicht aber im Prozeß ihrer Herstellung gesteuert.« (S. 51)
Das alles bedeutet nicht, dass die Methodenlehre für die Herstellung von Entscheidungen irrelevant wäre, denn die darin vorgezeichneten Darstellungsnotwendigkeiten sind immer auch bei der Herstellung psychisch präsent. Isay verwies auf Rechtsgefühl und Intuition. Luhmann meinte, der gute Einfall komme nur dem geschulten Kopf. Das Vorverständnis kann man auch als sedimentiertes Wissen betrachten. Heute würde man wohl von implizitem Wissen oder tacit knowledge (Michael Polanyi) sprechen. [8]Man könnte hier das von Glöckner herausgearbeitete Parallel-Constraint-Satisfaction-Modell der Entscheidung heranziehen. Allerdings befasst es sich nur mit der Sachverhaltsfeststellung. (Andreas … Continue reading Unergiebig sind Bemühungen, den von Peirce eingeführten Gedanken der Abduktion nutzbar zu machen. [9]Positiver Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion u. Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozess. 1972; Arthur Kaufmann, Die Rolle der Abduktion … Continue reading Sie laufen auf die Aufwertung des aus der Psychologie bekannten Association-Bias zu einer Theorie hinaus. Das alles sind aber nur Andeutungen. Aus sich heraus ist die Methodenlehre nicht in der Lage, ihre determinierende Kraft zu belegen oder externe Einflüsse zu beweisen oder auszuschließen. Dazu bedarf es deskriptiv-empirischer Untersuchungen. Makrosoziologische Untersuchungen bekommen die Methode jedoch nicht in den Griff. Die meisten mikrosoziologischen Studien befassen sich nicht mit der Methode der Rechtsgewinnung, sondern mit der Sachverhaltsermittlung. Dazu sei zunächst auf Ingo Schulz-Schaeffer, Rechtsdogmatik als Gegenstand der Rechtssoziologie, Für eine Rechtssoziologie »mit noch mehr Recht«, Zeitschrift für Rechtssoziologie, Zeitschrift für Rechtssoziologie 25, 2004, 141-174, verwiesen.
Nachtrag vom 5. April 2012: Als Beiheft 44 der Zeitschrift für Historische Forschung, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer, ist 2010 ein Tagungsband »Herstellung und Darstellung von Entscheidungen, Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne« erschienen. Auf HSozKult gibt es einen Tagungsbericht von Andreas Pecar und eine Rezension von Hanna Sonkajärvi. Ich habe den Band noch nicht in der Hand gehabt. Nach den Berichten zu urteilen, handelt es sich um das übliche Wiederkäuen etablierter rechtssoziologischer Themen und dem kulturwissenschaftlichen Label. Die Differenz von Herstellung und Darstellung, die mein Thema war, wird in dem Band anscheinend nicht behandelt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929.
2 Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, 51.
3 Joseph C. Hutcheson, The Judgment Intuitive: The Function of the ‘Hunch’ in Judicial Decision, Cornell Law Quarterly 14, 1929, 274-288
4 John Dickinson, Legal Rules: Their Function in the Process of Decision, University of Pennsylvania Law Review 79, 1931, 833-868, 839 f. [http://www.jstor.org/pss/3308003].
5 Der Begriff des Rechts, 1973, 195.
6 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Kronberg/Ts. 1972.
7 Josef Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, Juristenzeitung 1975, 555-558
8 Man könnte hier das von Glöckner herausgearbeitete Parallel-Constraint-Satisfaction-Modell der Entscheidung heranziehen. Allerdings befasst es sich nur mit der Sachverhaltsfeststellung. (Andreas Glöckner, Zur Rolle intuitiver und bewusster Prozesse bei rechtlichen Entscheidungen, 2008, http://www.mpg.de/317987/forschungsSchwerpunkt.) Auch ein Ausflug in die Wissenssoziologie von Pierre Bourdieu bietet sich an (Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 1984). Von Bourdieu kann man erfahren, dass eine gleichförmige Praxis nicht unbedingt aus der gehorsamen Erfüllung von Regeln hervorgeht. Bourdieu findet eine Ursache für Regelmäßigkeiten und abgestimmtes Verhalten vielmehr in einem gruppen- oder klassenspezifischen »Habitus«. In diese Richtung gehen Martin Morlok/Ralf Kölbel, Rechtspraxis und Habitus, Rechtstheorie 32, 2001, 289-304.
9 Positiver Klaus Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle. Abduktion u. Falsifikation von Hypothesen im juristischen Entscheidungsprozess. 1972; Arthur Kaufmann, Die Rolle der Abduktion Rechtsgewinnungsverfahren, in: Guido Britz/Heinz Müller-Dietz (Hg.), Grundfragen staatlichen Strafens, Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, 2001, S. 349-360; Ralf Kölbel/Thorsten Berndt/Peter Stegmaier, Abduktion in der justiziellen Entscheidungspraxis, Rechtstheorie 37, 2006, 85-108. Zurückhaltend Robert Alexy, Arthur Kaufmanns Theorie der Rechtsgewinnung, ARSP Beiheft 100, 2005, 47-66.

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