Die Governance-Perspektive führt zur Verharmlosung von Gewalt

Die Praxis der politischen Herrschaft, die in vielen Entwicklungsländern zu beobachten ist, wird als neopatrimonial eingeordnet. Darunter versteht man die Aushöhlung formal-rationaler Herrschaft durch informale Herrschaft, die nicht über tradierte Normen, sondern über Personen und Netzwerke vermittelt wird. [1]Eine Bibliographie zum Thema und gehaltvolle Links bietet die Projektseite »Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« des Leibniz-Instituts für Globale … Continue reading Politische Ämter verschaffen den Zugang zu staatlichen Ressourcen und zu den umfangreichen Mitteln, die als Entwicklungshilfe ins Land kommen. Sie geben Gelegenheit zur Einkommensgenerierung durch Korruption bis hin zur »Besteuerung« krimineller Netzwerke, insbesondere des Transithandels mit Drogen. Eine partikularistische Verwendung staatlicher Ressourcen und die Pflege eines Netzwerks durch direkten oder indirekten Austausch führt zu einer Machtkonzentration in den Händen der so genannten Big Men [2]Begriff von Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia, Comparative Studies in Society and History 5, 1963, 285-303..
In Afrika hat die »Bigmanity« bisher regelmäßig auch eine Gewaltkomponente. [3]Vgl. dazu die Sammelbände von Jean Comaroff/John Lionel Comaroff (Hg.), Law and Disorder in the Postcolony, Chicago 2006; Georg Klute/Birgit Embaló (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict … Continue reading Traditionale Gesellschaften lösen das Problem der Kontrolle von Gewalt durch Einkommensgenerierung (rent-creation). Hier kontrolliert und nutzt das politische System die Wirtschaft als Einkommensquelle. Wer selbst über ein Gewaltpotential verfügt und dadurch Gewalt unter Kontrolle halten kann, kann sich vorhandene Einkommensquellen sichern, muss allerdings davon so viel verteilen, dass keine Gewalt ausbricht. Die Gesellschaften sind insofern geschlossen, als die Möglichkeiten, sich neu zu organisieren und in wirtschaftlichen Wettbewerb zu treten, begrenzt sind. Damit ist eine wirtschaftliche Expansion ausgeschlossen. Moderne Gesellschaften haben spezifische Institutionen zur Kontrolle von Gewalt. Die Gewaltkontrolle ist nicht an bestimmte Personen gebunden und als Kehrseite entfallen privilegierte Einkommensquellen und daraus entsteht wirtschaftlicher Wettbewerb mit der Folge wirtschaftlichen Wachstums. Das ist in Kürze die institutionenökonomische Erklärung für die Blockade des wirtschaftlichen Wachstums in vielen Entwicklungsländern. [4]Douglass C. North/John Joseph Wallis/Barry R. Weingast, A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History; Barry R. Weingast, Why Developing Countries Prove so Resistant to the Rule of … Continue reading Staatenbildung als solche genügt daher nicht, um die Modernisierung voranzubringen, solange der Staat nicht verhindern kann, dass Gewalt zur Einkommensgenerierung dient.
Als potentiell gewalttätig galten die akephalen Stammesgesellschaften Afrikas. Potentiell gewalttätig war es auch immer an den vielen Stammes- und Sprachgrenzen. Über die Jahrhunderte hatte sich ein ausbalanciertes System von Kooperation, aber auch von Wettbewerb um Ressourcen ausgebildet, das zwar Gewalt nicht ausschloss, aber insgesamt gesehen doch stabil war. Dieser Gleichgewichtszustand geriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch viele bürgerkriegsähnliche Konflikte ins Wanken, als Teile der Bevölkerung bewaffnet wurden, um andere zu vernichten. [5]Für den Sudan Richard Rottenburg/Guma Kunda Komey/Enrico Ille, The Genesis of Recurring Wars in Sudan: Rethinking the Violent Conflicts in the Nuba Mountains/South Kordofan, 2001, S. 26. Dennoch herrscht kein absolutes Chaos. Offiziell installierte Politiker nutzen ihre Rolle als Big Man. Familienclans und Stammeszugehörigkeit verhelfen zu relativem Schutz. Auch NGOs greifen immer wieder ein. Koalitionen und Netzwerke schaffen laufend veränderte Fronten, zwischen denen auch noch ein »normales« Leben möglich bleibt. Aber der Frieden ist immer fragil, eigentlich nur ein Waffenstillstand. Doch auch ohne bürgerkriegsähnliche Zustände ist politische Gewalt in Afrika fast überall noch präsent. [6]Beispiele in Diehards and Democracy: Elites, Inequality and Institutions in African Elections, Briefing Note des Africa Research Institute, London, von April 2012. Je nach Standpunkt des Beobachters wird dieser Zustand als das Ergebnis von Staatsversagen oder als ein alternativer Zustand beschrieben, wie Länder dennoch fortexistieren können. [7]Mats Utas, Introduction: Bigmanity and Network Governance in African Conflicts, in: Mats Utas (Hg.), African Conflicts and Informal Power, Big Men and Networks, London 2012, S. 1-31, S. 4. Klute und Embaló sowie von Throta teilen den letzteren Blick. Sie meinen, es greife zu kurz, die zu beobachtenden Strukturen nur als notdürftigen Ersatz für staatliche Ordnung anzusehen. Neue und wiederbelebte traditionale Formen des Umgangs mit Macht zeigten eine bemerkenswerte Vitalität. Sie sprechen von einer parastaatlichen Heterarchie, die man sich auch als dauerhafte Alternative zu staatlicher Herrschaft vorstellen könne. Nur der sicherheitsvernarrten Nordhälfte des Globus erscheine das Fehlen institutioneller Verlässlichkeit mit Streit und Gewalt als dauernder Begleiterscheinung suspekt. [8]Georg Klute/Birgit Embaló, Introduction: Violence and Local Modes of Conflict Resiolution in Heterarchical Figurations, in: dies. (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in … Continue reading Hier, wie auch sonst in der Governance-Literatur, die stolz darauf ist, vielfältige Ordnungsfaktoren »in Räumen begrenzter Staatlichkeit« [9]»Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« ist der Titel eines Sonderforschungsbereichs an der FU Berlin. Ich beziehe mich auf Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance Without a State: Can … Continue reading entdeckt zu haben, wird das Gewaltproblem verharmlost. Doch damit nicht genug. Eine heterarchische Ordnung blockiert, jedenfalls nach der institutionenökonomischen Erklärung, die Modernisierung oder, wenn man Modernisierung nicht mag, die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Mindestens Klute und Embaló haben eine merkwürdige Vorstellung von dem Unterschied zwischen Heterarchie und Hierarchie, wenn sie (S. 7) schreiben:

»The assets of the heterarchy concept besome particularly evident when compared to hierarchical representations. … Wheras hierarchies canalise power and privilege to the top, heterarchies distribute privileges and decision-making variably and fluidly. While in hierarchies ranked positions, i. e. domination or subordination, are fixed, ranking in heterarchies can be reversed and hence privileges ever newly distributed. This, we believe, is what the current state of politics in Africa is about.«

Es ist mir nicht klar geworden, welche Hierarchie sie meinen. Nach dem Kontext, in dem es um Länder geht, in denen der Staat abwesend ist und daher nach »non-state legal orders and institutions« gesucht wird, müsste als Hierarchie eigentlich ein funktionierender Staat mit Gewaltmonopol gemeint sein. Diesen Staat kann man in zweierlei Hinsicht als hierarchisch beschreiben, nämlich hinsichtlich des Stufenbaus seiner Rechtsordnung und hinsichtlich der Organisation seiner Bürokratie. Aber wenn es sich um einen demokratischen Rechtsstaat handelt, kann keine Rede davon sein, dass in einem solchen Staat Macht und Privilegien auf eine Spitze hin kanalisiert und die Rangunterschiede festgeschrieben wären, sondern sie sind offen für einen gewaltfreien Wettbewerb. Vor allem aber ist Gewalt kein Mittel der Einkommensgenerierung, so dass ein wirtschaftlicher Leistungswettbewerb möglich wird. Aus der Modernisierungsperspektive bleibt das diffuse, aber permanente Gewaltpotential deshalb ein Problem, von der Perspektive der betroffenen Menschen gar nicht zu reden. Es wäre zynisch, internationale Interventionen, die die Reduzierung der Gewalt zum Ziel haben, für überflüssig zu halten. Die Institutionen, die die nachholende Modernisierung betreiben, haben dieses Ziel nicht aufgegeben. [10]Weiterführende Beiträge zum Thema im Sonderheft »Security Sector Reform and Rule of Law« des Hague Journal on the Rule of Law 4, 2012. Die multilateralen Einrichtungen zur kollektiven Friedenssicherung haben sich seit der Jahrtausendwende in Afrika schneller entwickelt als in anderen Regionen der Welt, und sie sind mit ihren diplomatischen und militärischen Interventionen nicht erfolglos. [11]Briefing Note des Africa Research Institute, London, von May 2010 (No, Mr. President. Mediation and Military Intervention in the African Union.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine Bibliographie zum Thema und gehaltvolle Links bietet die Projektseite »Persistenz und Wandel von Neopatrimonialismus in verschiedenen Nicht-OECD-Regionen« des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA).
2 Begriff von Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia, Comparative Studies in Society and History 5, 1963, 285-303.
3 Vgl. dazu die Sammelbände von Jean Comaroff/John Lionel Comaroff (Hg.), Law and Disorder in the Postcolony, Chicago 2006; Georg Klute/Birgit Embaló (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in Contemporary Africa, 2011; Mats Utas (Hg.), African Conflicts and Informal Power, Big Men and Networks, London 2012; ferner Richard Rottenburg/Guma Kunda Komey/Enrico Ille, The Genesis of Recurring Wars in Sudan: Rethinking the Violent Conflicts in the Nuba Mountains/South Kordofan, 2001 .
4 Douglass C. North/John Joseph Wallis/Barry R. Weingast, A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History; Barry R. Weingast, Why Developing Countries Prove so Resistant to the Rule of Law, in: James J. Heckman u. a. (Hg.), Global Perspectives on the Rule of Law, London u. a. 2010, S. 28-51.
5 Für den Sudan Richard Rottenburg/Guma Kunda Komey/Enrico Ille, The Genesis of Recurring Wars in Sudan: Rethinking the Violent Conflicts in the Nuba Mountains/South Kordofan, 2001, S. 26.
6 Beispiele in Diehards and Democracy: Elites, Inequality and Institutions in African Elections, Briefing Note des Africa Research Institute, London, von April 2012.
7 Mats Utas, Introduction: Bigmanity and Network Governance in African Conflicts, in: Mats Utas (Hg.), African Conflicts and Informal Power, Big Men and Networks, London 2012, S. 1-31, S. 4.
8 Georg Klute/Birgit Embaló, Introduction: Violence and Local Modes of Conflict Resiolution in Heterarchical Figurations, in: dies. (Hg.), The Problem of Violence. Local Conflict Settlement in Contemporary Africa, Köln 2011, 1-27, S. 4; Trutz von Throta, The Problem of Violence: Some Theoretical Remarks about ‘Regulative Orders of Violence’, Political Heterarchy, and Dispute Regulation beyond the State, ebd. S. 31-47, S. 34 ff, 44.
9 »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« ist der Titel eines Sonderforschungsbereichs an der FU Berlin. Ich beziehe mich auf Tanja A. Börzel/Thomas Risse, Governance Without a State: Can it Work?, Regulation & Governance 4, 2010, 113-134.
10 Weiterführende Beiträge zum Thema im Sonderheft »Security Sector Reform and Rule of Law« des Hague Journal on the Rule of Law 4, 2012.
11 Briefing Note des Africa Research Institute, London, von May 2010 (No, Mr. President. Mediation and Military Intervention in the African Union.

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Zur interdisziplinären Verwendung der Netzwerkforschung III: Netzwerke im Typenvergleich

Am Anfang des Typenvergleichs steht die Frage nach dem Zugang zu sozialen Netzwerken. Netzwerke gelten hinsichtlich der Zugangsmöglichkeit für neue Mitglieder als offen. Der Markt fordert keine Mitgliedschaft. Mitglied – oder besser, Funktionär – einer Organisation wird man durch Beitritt oder Aufnahme, jedenfalls durch eine Entscheidung [1]Luhmann, GdG S. 829. Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk erwirbt man, indem man sich daran beteiligt. Zwar gibt es für Netzwerke, anders als für Organisationen, keine förmlichen Zugangsregelungen. Aber nicht jeder kann beliebige Beziehungen aufnehmen, sei es, um sich einem bestehenden Netzwerk anzuschließen, sei es, um ein neues aufzubauen. Richter des Bundesverfassungsgerichts können sich ohne weiteres an Richterkollegen der Verfassungsgerichte anderer Staaten wenden, um sich mit ihnen über ihre Praxis auszutauschen. Wenn dagegen ein Jurastudent an einen Richter des US Supreme Court mailte, etwa um nach Problemen im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik zu fragen, bliebe er ohne Antwort. Um Mitglied in einem Netzwerk zu werden, braucht man eine vorstrukturierte Kommunikationschance.
Kommunikationschancen ergeben sich aus einer vorgefundenen Sozialstruktur, insbesondere aus der Zugehörigkeit zu Gruppen oder Organisationen und den damit verbundenen Rollenerwartungen. Insofern sind soziale Netzwerke sekundäre Strukturbildungen [2]Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der … Continue reading. Nach einem Vorschlag von Granovetter spricht man auch von struktureller Einbettung. [3]Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91, 1985, 481-510. Der soziale Hintergrund wirkt als Kommunikationsplattform, die es ermöglicht, sich anzubieten und andere anzusprechen.
Prinzipiell kann jede soziale Formation, die Kommunikationen ermöglicht, zur Basis eines Netzwerks werden. Enge Plattformen dieser Art waren und sind Familie und Nachbarschaft. Kommunikationschancen ergeben sich aus der gleichen Lebenslage von Minderheiten, seien sie Eliten oder Diskriminierte. Viele Zusammenschlüsse haben von vornherein den Haupt- oder Nebenzweck, Netzwerkplattform zu sein. Das gilt für viele Vereine, Industrie-, Lions- und Rotary-Clubs oder studentische Verbindungen. Zur Netzwerkplattform schlechthin ist jedoch das Internet geworden. Wer über die Kompetenz verfügt, mit dem Internet umzugehen, darf Kommunikationsangebote machen und sich als »Knoten« präsentieren, wie es Blogger tun.
Im Internet haben sich speziellere Plattformen entwickelt, die sich zur Netzwerkbildung empfehlen, insbesondere natürlich die »sozialen Netzwerke« wie Facebook und Twitter. Aber Facebook und Twitter sind als solche keine sozialen Netzwerke, sondern bloß Kommunikationsplattformen, die zum Netzwerken einladen, weil sie qua Mitgliedschaft Rollen schaffen, aus denen heraus man die Kommunikation mit unbestimmten und unbekannten Anderen aufnehmen kann.
Wer netzwerken will, muss etwas zum Tausch anbieten. Als Minimum kann ein jeder seine Stimme abgeben. Mit ihr kann er anderen zu Anerkennung = Reputation verhelfen. Er kann den Gefällt-mir-Button drücken. Viele versuchen, darüber hinaus Informationen zu liefern, und seien es auch nur solche über die eigenen Interessen und Bedürfnisse. Oft wird nur Hilfe erfragt. Aber helfen macht glücklich, und so kann auch mit einem Hilferuf der Sprung in ein Netzwerk gelingen. In der Regel muss ein Akteur jedoch mehr an Ressourcen vorzeigen, damit andere zugreifen.
Die möglichen Tauschgüter bestimmen das Thema oder den Zweck des Netzwerks. Als netzwerktypisch lässt sich wohl nur angeben, dass immaterielle oder nicht marktgängige Güter im Vordergrund stehen.
Anders als in Organisationen entspricht die Mitgliedermotivation in Netzwerken dessen Zweck.
Netzwerke sind nicht unbedingt in dem Sinne locker, dass laufend alte Knoten aufgelöst und neue gebildet werden. Im Gegenteil, es gibt sehr stabile Netzwerke. Selbst das Internet als Prototyp eines Netzwerks ist erstaunlich stabil. (Und Google sitzt als Spinne im Netz.) Netzwerke sind auch nicht typisch expansiv. Sie sind zwar insofern auf Expansion angelegt, als sie keinen numerus clausus kennen und der Wert der Netzwerkmitgliedschaft mit der Größe des Netzwerks steigen kann. Ob sie aber expandieren oder schrumpfen, steht auf einem anderen Blatt. Für technische Netze (Telefon, Twitter) gilt, dass sie ein sich selbst verstärkendes Wachstum zeigen können, wenn sie eine kritische Menge von Teilnehmern auf sich vereinigt haben, denn mit der Größe des Netzes steigt ihr Wert für die Teilnehmer. Netzwerke dagegen, die auf sozialen Beziehungen aufbauen, können nur begrenzt wachsen, denn mit der Zahl der steigt die Anzahl der Kontaktmöglichkeiten exponentiell [4]Und zwar nach der Formel f (n) = n2 – n., so dass sich die Beziehungen ausdünnen.
Auch Dauerhaftigkeit ist keine typische Netzwerkeigenschaft. Netzwerke können einfach erlöschen.
Oft ist von der Dynamik der Netzwerke die Rede. Der Darm ist nicht deshalb dynamisch, weil sein Inhalt sich laufend bewegt. Ebenso wenig sind Netzwerke dynamisch, weil in ihnen laufend alles Mögliche prozessiert wird. Unter der Dynamik von Netzwerken muss man daher zunächst wohl die Veränderungen ihrer Topologie verstehen. Bei der Vermessung realer Netzwerke haben sich Regelmäßigkeiten herausgestellt, die bei der Erklärung solcher Dynamik helfen können. Eigentlich handelt es sich um regelmäßig auftretende Unregelmäßigkeiten, nämlich um Abweichungen von einer gedachten Zufallsverteilung (Cliquenbildung, Nabenbildung, Verteilung der Kontakte nach dem Potenzgesetz). Solche Phänomene sind nicht bei allen Netzwerken zu beobachten, können aber doch als typisch gelten. Als Netzwerkdynamik wird aber auch die Verbreitung ungewöhnlicher Ereignisse im Netz verstanden, also etwa die Verbreitung von Nachrichten oder Krankheiten, und manchmal wohl auch die Reaktion des Netzes auf den Ausfall einzelner Knoten oder ganzer Cluster.
Der Kommunikationsweg des Marktes ist die Öffentlichkeit. Dasselbe gilt für die Demokratie. In Organisationen verläuft die Kommunikation entlang der Hierarchie über einen »Verteiler«. In Netzwerken sucht die Kommunikation ihren Weg entlang vorstrukturierter Beziehungen. Zur typischen Vorstellung von sozialen Netzwerken gehört hohe Konnektivität. Jeder Knoten verfügt über multiple Kanten und kann direkt oder indirekt mit anderen kommunizieren.
Ökonomische Transaktionen lassen sich in drei Phasen zerlegen, eine Informationsphase, eine Transaktionsphase und eine Exekutionsphase. [5]Nicola Jentsch, Euphorien, Turbulenzen, Paniken: Die Ökonomie des Risikos, Vortragsmanuskript, o. J. Zur Information der Akteure bietet der Markt Preise an. Vielleicht wird verhandelt. Die Abwicklung ist schnell geschehen. Organisationen informieren ihre Funktionäre durch Weisung. Zu verhandeln gibt es nichts. In Netzwerken dagegen spielt die Informationsphase eine größere Rolle. Angebot oder Nachfrage von Leistungen bleiben eher unspezifiziert, werden aber von »vertraulichen« Informationen begleitet, die so nur im Netzwerk zu haben sind. Die Informationen gelten als qualitativ besser als die Preissignale des Marktes und die Weisungen der Organisation. [6]Powell 1996, 225. Verhandlungen sind stets auch um die Erhaltung der Netzwerkbeziehung bemüht. Ein Abschluss ist gar nicht immer das Ziel. Wenn es zu einem Austausch kommt, sind Leistung und Gegenleistung nicht direkt miteinander verknüpft. Eine mögliche Gegenleistung bleibt unbestimmt. Die dadurch entstehende Lücke wird durch Vertrauen überbrückt. Das Vertrauen stammt aus den Beziehungen, in die das Netzwerk eingebettet ist und wird durch positive Erfahrungen innerhalb des Netzes verstärkt.
Marktteilnehmer und Wähler bilden ihre Präferenzen und treffen ihre Entscheidungen je für sich (dezentral und unabhängig). Funktionäre folgen mit ihren Aktionen Weisungen. Netzwerkangehörige entscheiden sich mit dem Blick auf mögliche Reaktionen anderer (dezentral, aber interdependent).
Vollzugsformen der Aktionen sind am Markt der Vertrag, in der Demokratie die Stimmabgabe und in der Organisation die Weisung. Im Netzwerk läuft der Vollzug eher formlos nach dem aus dem Schuldrecht bekannten Muster der Realobligation ab.
Netzwerke als solche haben, anders als Organisationen, grundsätzlich nicht den Charakter eines sozialen Akteurs. Sie bestehen zwar unabhängig von individuellen Mitgliedern, können sich aber im Normalfall doch nicht als Ganzes artikulieren. Die Mitglieder bleiben in der Lage, eigenständig zu handeln, solange sie dabei auf andere Mitglieder Rücksicht nehmen.
Für Netzwerke gilt die Grundregel, dass Mitglieder beim Tausch bevorzugt werden. Darin unterscheiden sie sich vom Markt. Die Zugehörigkeit zum Netz wird dadurch selbst zum Wert. Offen bleiben die Netze nur, solange die Tauschgüter relativ belanglos sind. Steigt der Einsatz, so verfestigt sich das Netz. Mit zunehmendem Gewicht der Tauschangebote steigen die Zugangsbarrieren zum Netzwerk.
Starke Tauschpartner netzwerken bevorzugt mit ihresgleichen. Stark sind solche Akteure, die die Ressourcen, die sie ins Netzwerk einbringen, aus Organisationen beziehen, denen sie primär angehören. So entstehen persönliche Netzwerke unter Mitgliedern verschiedener Organisationen. In einer Stadt wie Bochum treffen sich z. B. mit einiger Regelmäßigkeit die Behördenchefs (Oberbürgermeisterin, Landgerichtspräsident, Polizeipräsident, Universitätsrektor und einige mehr) zu einem Austausch. Solche informellen Netzwerke bilden eine extraorganisationale Parallele zu den informalen Beziehungen innerhalb der Organisation (intraorganisationale Netzwerke).
Die Entdeckung der informalen Organisation durch Roethlisberger und Dickson in den 1930er Jahren war der Sache nach die Entdeckung intraorganisationaler Netzwerke, ohne dass der Begriff schon eine Rolle gespielt hätte. Der Netzwerkbegriff kam erst bei den interorganisationalen Netzwerken ins Spiel. Auf solche Netzwerke wurde man zunächst bei der Entdeckung kooperativen Verwaltungshandelns und dann vor allem bei der Beobachtung der Globalisierung aufmerksam. Dabei wurde und wird allerdings meistens wenig Wert darauf gelegt, ob die interorganisationalen Beziehungen zwischen den Organisationen als solchen bestehen, oder ob sie an Personen gebunden sind. Transnationale Netzwerke mit Organisationen als Knoten hat man etwa in der Verwaltung beobachtet. Persönliche Netzwerke gibt es zwischen Parlamentariern, Richtern, Wissenschaftlern Gewerkschaftsmitgliedern oder Orchestermitgliedern [7]Über transnationale persönliche Netzwerke der Eintrag vom 18. Mai 2012. Es macht vermutlich einen Unterschied, ob die interorganisationalen Netzwerke Personen oder die Organisationen selbst als Knoten haben, und sei es auch nur, weil die Versuchung besteht, dass Personen die Ressourcen der Organisation nicht in deren, sondern im eigenen Interesse nutzen. Dann handelt es sich je nachdem um Korruption oder Veruntreuung.
Das Interesse der Rechtstheorie an sozialen Netzwerken hat viel mit deren Informalität zu tun. Das moderne Recht ist jedenfalls grundsätzlich formal. Formalität entsteht aus verordneten Kommunikationshindernissen oder -verboten. Was nicht rechtlich relevant ist, soll nicht zur Sprache kommen. An einem Rechtsverfahren darf nicht jeder teilnehmen. Die Teilnehmer dürfen nicht jedes Thema aufgreifen, und sie müssen ihre Kommunikationsbeiträge an Formen und Fristen ausrichten. Sich informell zu vernetzen, bedeutet die Umgehung solcher Kommunikationshindernisse. Netzwerke unterlaufen das Recht. Deshalb stehen sie, besonders im Publikum, im Geruch der Illegitimität. Tatsächlich arbeiten Netzwerke nicht unbedingt gegen das Recht. Viele Policy-Netzwerke werden von der Absicht der Beteiligten getragen, dem Recht auf die Sprünge zu helfen. Sie bilden partikulare Querverbindungen zwischen den primären Sozialstrukturen. [8]Tacke a.a.O. passim.
Als typische Eigenschaft von Netzwerken gilt deren Selbstorganisationsfähigkeit. Dem Markt fehlt diese Qualität. Verträge hätten ohne außervertragliche Grundlage keinen Bestand. Monopolbildung zerstört den Preismechanismus. Der Markt kann eine selbstzerstörerische Eigendynamik entwickeln. Ähnlich liegt es mit der Demokratie, wenn sie zur Diktatur der Mehrheit wird. Deshalb brauchen Markt und Demokratie zu ihrer Funktion eine externe Verfassung. Eine hierarchische Organisation ist für ihren Fortbestand auf die Zufuhr von Ressourcen von außen angewiesen. Auch hier gibt es, wenn auch schwächer, eine selbstzerstörerische Eigendynamik, wenn die Organisation erstarrt und den Kontakt zu ihrer Umwelt verliert, in der sie funktionieren soll. Einzig Netzwerke scheinen ohne Korsett auszukommen und allein aus gelebter Reziprozität, aufgewertet durch die Vorzugsbehandlung der Netzangehörigen, zu funktionieren. Bemerkenswert ist dabei, dass die in Netzwerken zu beobachtende Bildung von typischen Konnektivitätsmustern und die damit verbundene Ungleichheit der Knoten die Funktionsfähigkeit des Netzes eher zu fördern als zu stören scheint. Ganz ohne Stütze kommen aber auch Netzwerke nicht aus. Ihre Währung ist das Vertrauen, und das scheint zu schwinden, wenn ein Netzwerk größer wird und wenn es sich gegenüber den sozialen Strukturen, in die es ursprünglich eingebettet war, zu lösen beginnt. Jedenfalls behaupten Powell [9]1996, 213. und Ostrom [10]Kurz und deutlich in Elinor Ostrom, A General Framework for Analyzing Sustainability of Social-Ecological Systems, Science 2009, 325, 419-422., dass Netzwerke nur unter bestimmten, spezifizierbaren Bedingungen lebensfähig sind.
Die Realität ist natürlich viel komplizierter als solche schematische Gegenüberstellung. Sie wird von Mischformen und Übergängen bestimmt. Der Zugang zu einem Markt wird oft erst über ein Netzwerk vermittelt. Aus wiederholtem Vertragsschluss entstehen vertragsübergreifende Beziehungen [11]Powell verweist dazu auf Clifford Geertz, The Bazaar Economy: Information and Search in Peasant Marketing, The American Economic Review 68, 1978, 28-32. Für die Rechtssoziologie wird man sich eher … Continue reading, und schon der einzelne Vertrag kann relationalen Charakter annehmen. Auf der anderen Seite ist der Typus der hierarchischen Organisation am besten wohl in mittleren Unternehmen und auf der öffentlichen Seite in Fachbehörden anzutreffen. Größere Unternehmen sind weitgehend in Profitcenter aufgegliedert, und sogar öffentliche Organisationen haben im Zuge des New Public Management interne Märkte geschaffen und Verrechnungspreise eingeführt. Hierarchisch durchorganisierte Staaten gab es zeitweise eigentlich nur in Europa, Nord Amerika und Japan. [12]Poul F. Kjaer, Embeddedness through Networks: A Critical Appraisal of the Network Concept on the Oeuvre of Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 10, 2009, 483-499, S. 485f.. Moderne Staaten sind als Ganze nicht mehr durchgehend hierarchisch geordnet, sondern bilden ein vielfach gegliedertes Gefüge aus Regierungen, Parlamenten, Verwaltungen, Gebietskörperschaften mit beweglichen Grenzen und Durchlässen zu korporatistischen Elementen. [13]In Analogie zu Powells Relativierung hierarchischer Unternehmen (Walter Powell, Weder Markt noch Hierarchie, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, 213-271, S. … Continue reading Was schließlich die Netzwerke betrifft, so kann man die netzwerktypische Konzentration von Aktivitäten um bestimmte Hubs durchaus als Hierarchien interpretieren. In der Realität trifft man auf sternförmig oder hierarchisch zentralisierte Netzwerke. Auch explizite Regeln für die Netzwerkkontakte kommen vor. Besonders interorganisationale Netzwerke, in denen die Organisationen selbst als Netzknoten fungieren, sind oft formalisiert. Das gilt besonders für die Beziehungen zwischen Organisationen, die als transnationale Netzwerke unter Beobachtung stehen. Durch Verdichtung und Formalisierung der Beziehungen verbunden mit einer gewissen Zentralisierung kann ein Netzwerk schließlich auch zum kollektiven Akteur werden, so dass sich die Frage aufdrängt, ob damit nicht aus dem Netzwerk eine Organisation geworden ist. Der Übergang ist hier, wie so oft, flüssig.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Luhmann, GdG S. 829
2 Veronika Tacke, Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt, Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit. Journal der dgssa 2, 2011, 6-24, S. 13.
3 Mark S. Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, American Journal of Sociology 91, 1985, 481-510.
4 Und zwar nach der Formel f (n) = n2 – n.
5 Nicola Jentsch, Euphorien, Turbulenzen, Paniken: Die Ökonomie des Risikos, Vortragsmanuskript, o. J.
6 Powell 1996, 225.
7 Über transnationale persönliche Netzwerke der Eintrag vom 18. Mai 2012.
8 Tacke a.a.O. passim.
9 1996, 213.
10 Kurz und deutlich in Elinor Ostrom, A General Framework for Analyzing Sustainability of Social-Ecological Systems, Science 2009, 325, 419-422.
11 Powell verweist dazu auf Clifford Geertz, The Bazaar Economy: Information and Search in Peasant Marketing, The American Economic Review 68, 1978, 28-32. Für die Rechtssoziologie wird man sich eher auf (ältere) Arbeiten von Stewart Macaulay und Ian Macneil beziehen, die so bekannt sind, dass sie hier gar nicht genauer angeführt werden müssen.
12 Poul F. Kjaer, Embeddedness through Networks: A Critical Appraisal of the Network Concept on the Oeuvre of Karl-Heinz Ladeur, German Law Journal 10, 2009, 483-499, S. 485f.
13 In Analogie zu Powells Relativierung hierarchischer Unternehmen (Walter Powell, Weder Markt noch Hierarchie, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.), Organisation und Netzwerk, 1996, 213-271, S. 217).

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