Wahlrecht für Tiere?

Zoom machts möglich. Eben habe ich den Vortrag angehört, den der Philosoph Bernd Ladwig im Berliner Seminar Recht im Kontext über die Politische Philosophie der Tierrechte gehalten hat. Der Vortrag hat mich nicht einmal neugierig gemacht. Nun weiß ich jedenfalls, dass ich Ladwigs Buch[1] nicht lesen muss. Aber es ist so dick, dass ich es in meine Literaurhinweise aufnehme.

Ein zentrales Argument Ladwigs: Tiere haben schützenswerte Interessen, denn auch Menschen können kreatürlich, also wie Tiere, leiden. Tiere müssen unter der Zwangsordnung des Rechts leben. Der Rechtsphilosoph Dworkin habe erklärt, eine Zwangsordnung könne nur gerechtfertigt werden, wenn alle ihr Unterworfenen gleich behandelt würden. Also müssten Tiere, wenn es nicht gerade um Fragen der Religionsfreiheit gehe, wie Menschen geschützt werden. Ausbeuterische Nutztierhaltung ist damit passé. Tiere hätten Anspruch auf freie Entfaltung ihrer Tierpersönlichkeit und müssten auch politisch einbezogen werden. Ich ziehe daraus die Konsequenz: Wahlrecht für Tiere!

Der Vortrag gibt mir keinen Anlass, meinen Entwurf des Lehrbuchkapitels über Eigenrechte der Natur zu überarbeiten. Ich stelle den Entwurf nachfolgend ein. Einige Passagen werden den Lesern von Rsozblog bekannt vorkommen.

Eigene Rechte für die Natur?

Literatur: Heike Baranzke, Natur als Subjekt von Eigenrechten – eine sinnvolle Rede?, in: Gerald Hartung/Thomas Kirchhoff (Hg.), Welche Natur brauchen wir?, 2014, 439-460; Klaus Bosselmann, Wendezeit im Umweltrecht. Von der Verrechtlichung der Ökologie zur Ökologisierung  des Rechts, Kritische Justiz 1958, 345-361; ders., Eigene Rechte für die Natur?, Kritische Justiz 1986, 1-22; Sue Donaldson/Will Kymlicka, Zoopolis, A Political Theory of Animal Rights, 2011; William K. Frankena, Ethik und die Umwelt, in: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik, 1997, 271-295; Malte-Christian Gruber, Rechtsschutz für nichtmenschliches Leben, 2006; Günter Hager, Das Tier in Ethik und Recht, 2015; Jens Kersten, Das Anthropozän-Konzept, Kontrakt, Komposition oder Konflikt, 2014; Christian Kummer, Pflanzenwürde: Zu einem Scheinargument in der Gentechnikdebatte, Stimmen der Zeit 138, 2013, 21-30; Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, 2020; Jörg Luy, Welche Rechte haben Tiere?, Spektrum der Wissenschaft Heft 12/2010, 80-84;Tom Regan, The Case for Animal Rights, 1988; Michael Schlitt, Haben Tiere Rechte? ARSP 78, 1992, 225; Peter Singer, Animal Liberation, 1975; Tom Sparks, Protection of Animals through Human Rights. The Case-Law of the European Court of Human Rights, SSRN Journal, 2018 Katy Sowery, Sentient Beings and Tradable Products: The Curious Constitutional Status of Animals Under Union Law, Common Market Law Review 55, 2018, 55-99; Christopher D. Stone, Umwelt vor Gericht. Die Eigenrechte der Natur, 1987; Holger Zaborowski/Christof A. Stumpf, Menschenwürde versus Würde der Kreatur, RTh 36, 2005, 91-115; Wikipedia, Great Ape Project.

Heft 3/2016 der Zeitschrift »Rechtwissenschaft« ist als Themenheft »Tier und Recht« erschienen. Aus den Beiträgen lässt sich die ältere Literatur rückverfolgen.

Anfang 1988 kam es in der Nordsee zu einem massenhaften Robbensterben. Bilder von angeschwemmten Kadavern beunruhigten Zeitungsleser und Fernsehzuschauer. Umweltschutzverbände machten mit verschiedenen Aktionen auf die zunehmende Verschmutzung der Nordsee aufmerksam. Einige Verbände klagten »im Namen der Robben« – erfolglos – gegen die Einleitung von Schadstoffen in die Nordsee (VG Hamburg, JuS 1989, 240). Als Kuriosität berichtete die JuS auf der Umschlagseite XIII von Heft 6/1992 über einen unveröffentlichten Beschluss des OVG Hamburg, in dem das Gericht übereinstimmend mit der Vorinstanz die erstaunliche Feststellung getroffen hatte, dass die im Rubrum der Entscheidung als »Antragsteller zu I.« aufgeführten »Seehunde der Nordsee« nach dem für die Gerichte maßgeblichen geltenden Recht für ein verwaltungsgerichtliches Verfahren nach § 61 VwGO nicht beteiligungsfähig seien.

So kurios ist die Sache nicht mehr, seitdem die Tierschutzorganisation Peta – vergeblich – Urheberrechte für einen Affen geltend gemacht hat, indem sie in San Franzisko eine Klage im Namen des Affen Naruto von der indonesischen Insel Sulawesi einreichte, mit der für Naruto das Urheberrecht an einem Selfie geltend gemacht wurde. Der britische Fotograf David Slater hatte 2011 eine Serie von Tierbildern aufgenommen. In einem später veröffentlichten Buch fügte er zwei von Naruto aufgenommene Selbstporträts hinzu – die Bilder des grinsenden Affen gingen um die Welt. Slater argumentierte damals, er habe das Urheberrecht an den Fotos, weil er das Stativ aufgebaut habe und dann nur für wenige Minuten weggegangen sei. In dieser Zeit habe der Affe seine Kamera an sich gerissen. Nach Pressemeldungen vom Januar 2016 ist die Klage abgewiesen worden.

Mitte März 2017 meldete die Presse, das Parlament in Wellington/Neuseeland habe dem Whanganui River auf Wunsch der Maori Rechtspersönlichkeit verliehen und ihm einen Vertreter der Maori und einen Vertreter der Regierung als Treuhänder bestellt. Im gleichen Monat entschied der High Court des indischen Bundesstaates Uttarakhand, dass der Ganges und sein wichtigster Nebenfluss, der Yamuna, Rechtspersönlichkeit hätten. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Kolumbien und Ekuador. Sie sind inspiriert und legitimiert durch Naturvorstellungen indigener Bevölkerungen, die unter Raubbau und Umweltzerstörung leiden. (Vgl. auchdie engl. Wikipedia-Seite Environmental Personhood.)

Nach geltendem Recht haben Tiere und Pflanzen und Flüsse in Deutschland keine Rechtspersönlichkeit und damit keine eigenen subjektiven Rechte. Sie sind aber durch das objektive Recht geschützt.

Nach § 90a BGB sind Tiere keine Sachen. Doch finden auf Tiere grundsätzlich weiterhin die für Sachen geltenden Vorschriften Anwendung. Nach Art. 141 der bayerischen Verfassung werden Tiere als »Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet und geschützt«. Ähnliche Bestimmungen finden sich auch in den Verfassungen von Berlin, Niedersachsen, Thüringen und des Saarlandes. Im Jahre 2002 wurde der Tierschutz in Art. 20a GG verankert. Bisher hält die Rechtstradition, die die Rechtspersönlichkeit für den Menschen und die von ihm geschaffenen Organisationen reserviert.

Eine breite Tierrechtsbewegung marschiert, um die normative Differenz zwischen Mensch und Tier einzuebnen. Sie erhielt Anschub durch das 1993 erschienene Buch »Menschenrechte für die Großen Menschenaffen – Das Great Ape Projekt« (Originaltitel: The Great Ape Project: Equality Beyond Humanity), das von den Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer herausgegeben wurde. Seither wird in der Diskussion um ein ökologisches Recht nachdrücklich, teilweise sogar militant, die Anerkennung der Rechtsfähigkeit für die Natur oder gar für einzelne Tiere und Pflanzen gefordert. Das wohl jüngste Argument beruft sich auf das Anthropozän-Konzept, das besagt, wir seien in ein Zeitalter eingetreten, in dem nicht länger die Natur, sondern die Menschen die Gestalt der Erde und das Leben auf ihr formten. Als Gegengewicht sollten Teilen der Natur, Tieren und Landschaften, eigene Rechte zugestanden werden.

Die ontologisch-deontologischen Argumentationen lassen sich auf die Frage nach Eigenwert, Würde oder moralischer Qualität, auf die kantische Frage nach dem »Zweck an sich selbst« zuspitzen. Frankena unterscheidet in diesem Zusammenhang acht Ethik-Typen mit weiteren Unterteilungen. Hier genügt es, die üblichen Antworten als »Zentrismen« zu sortieren:

Theozentrismus: Alle Lebewesen zählen kraft ihrer Beziehung zu Gott. Der Theozentrismus ist offen für eine Privilegierung des Menschen, indem er auf die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott abstellt. Er kann aber auch die Geschöpflichkeit alles Lebendigen und damit die Ehrfurcht vor allem Lebenden betonen. In diesem Sinne ist in Art. 120 II der Schweizerischen Bundesverfassung von der »Würde der Kreatur« die Rede.

Ratiozentrismus und Logozentrismus machen die Frage, ob Wesen um ihrer selbst zählen, von ihrer (potentiellen) Vernunftfähigkeit und ihrem Sprachvermögen abhängig.

Pathozentrismus stellt auf die Empfindungsfähigkeit von Lebewesen ab. Sie zählen moralisch um ihrer selbst willen, wenn sie empfindungsfähig sind und etwas in irgendeiner Form als gut oder schlecht erfahren können.

Biozentrismus: Lebewesen sind moralisch um ihrer selbst zu berücksichtigen, weil sie leben.

Anthropozentrismus: Die Privilegierung des Menschen ist als Anthropozentrismus geläufig. Sie hat eine religiöse und eine ratiozentrische Begründungstradition, die im Begriff der Menschenwürde zusammenfinden.

Die Rechtsprechung nimmt bislang einen anthropozentrischen Standpunkt ein, so auch der EGMR (Spark).

Die Tierschutzorganisation PETA stellte für eine Werbeaktion gegen die Massentierhaltung Bilder aus Tierställen neben Bilder von toten oder lebenden Häftlingen in Konzentrationslagern. Nachdem Berliner Zivilgerichte die Werbeaktion untersagt hatten und Verfassungsbeschwerden erfolglos blieben, entschied auch der EGMR (43481/09) gegen PETA und ließ damit erkennen, dass Tierschutz letztlich ein menschliches Interesse ist.

Die Diskussion um Rechte für die Natur ist zu einem Machtdiskurs im Sinne Foucaults geworden, in dem nicht mehr Argumente, sondern Fußnoten zählen. An die Stelle von Argumenten tritt der Kampfbegriff des Speziezismus, der den Anthropozentrismus in die Nähe von Rassismus und Sexismus rückt. Wer sich äußert, äußert sich in der Regel im Sinne der Tierrechtsbewegung. Die Mehrheit bleibt stumm, bis sie eines Tages nicht mehr reden darf. Es ist daher an der Zeit, Farbe zu bekennen.

Es ist müßig, weiter über ontologische Differenzen zwischen Mensch und Tier zu streiten. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Mensch ein höheres Tier. Es lohnt sich auch kaum, darüber zu diskutieren, ob die traditionelle Auffassung, der Mensch unterscheide sich vom Tier durch seinen Vernunftgebrauch, haltbar ist. Dadurch verlagert sich der Streit nur auf den ohnehin problematischen Vernunftbegriff. Man kann Tieren weder Kognitionen noch Emotionen absprechen.

Kaum eine empirische Grenze ist so scharf, wie diejenige zwischen Mensch und Nichtmensch. Bisher ist jedenfalls kein Fall bekannt, indem die Eigenschaft eines Lebewesens als Mensch oder Nichtmensch zweifelhaft gewesen wäre. Die Artgrenze zwischen Mensch und Tier hat seit unvordenklicher Zeit gehalten. Aber auch sie ist grundsätzlich nicht evolutionsfest. Ganz gleich ob es eine fundamentale Grenze zwischen Mensch und Tier gibt, so kann man doch eine solche Grenze ziehen, wenn man der Ansicht ist, dass die Menschenwürde der oberste Wert bleiben soll. Die große Errungenschaft der Grund- und Menschenrechte verliert durch die Proliferation ins Tier- oder gar ins Pflanzenreich an Kraft. Solange Milliarden Menschen nicht in Frieden und Freiheit leben, solange sie hungern, leiden und Ungleichheit ertragen müssen, gilt es, die Grund- und Menschenrechte auf diese Menschen zu konzentrieren. Naturschutz und Tierschutz sind diesem Ziel untergeordnet.

Juristen könnten – besser noch als Theologen – wissen, dass sich nicht das dominium terrae der biblischen Schöpfungsgeschichte, sondern allenfalls eine bestimmte Auslegungstradition für die ökologische Krise der Welt verantwortlich machen lässt. Die Einordnung des gegenwärtigen Erdzeitalters als Anthropozän bestätigt das dominium terrae nicht als Imperativ, sondern als Faktum. Wenn darauf überhaupt noch eine Reaktion möglich, dann nur als solche von Menschen, die den Schaden, den sie sie angerichtet haben, zu begrenzen und vielleicht ein wenig zu reparieren suchen. Hier sind allein Menschen als Pflichtsubjekte gefordert. Deshalb sollten sie auch als Rechtsubjekte privilegiert bleiben. Das ist das Argument von der Rechte-Pflichten-Symmetrie (Baranzke S. 452).

Da hilft es nicht – etwa mit Hilfe des Ethnologen Philippe Descola (Jenseits von Natur und Kultur, 2011) – an animistische Stammesgesellschaften zu erinnern, für die Tiere und Pflanzen beseelt sind und über ein soziales Leben verfügen. Man kann dann die Weltsicht der von Descola beobachteten Jívora-Indianer mit dem Programm des Postmodernismus zu einer der modernen Weltsicht gleichberechtigten Wahrheit erklären. Das ändert den Lauf der Welt nicht mehr.

Solche Privilegierung des Menschen muss nicht deontologisch begründet werden. Wir ziehen einen bescheidenen Utilitarismus vor; bescheiden, weil es nicht um das größte Glück, sondern nur um die Ausräumung großen Unglücks geht. Allerdings ist der klassische Utilitarismus anthropozentrisch; Ausgangspunkt für die Beurteilung jeder Entscheidung ist das Wohl und Wehe der betroffenen Menschen. Deshalb müssen Naturschutz und Tierschutz nicht zurückstehen. Ein menschenzentrierter Utilitarismus bedenkt auch das Wohl der nachfolgenden Generationen und inkorporiert damit das Prinzip der Nachhaltigkeit, das ohne intensiven Tier- und Naturschutz nicht zu halten ist. Damit wird die Frage, welche Schmerzen, Leiden oder Schäden Tieren zugefügt werden und wann sie getötet werden dürfen, zu einer Frage der Verhältnismäßigkeit, bei deren Beantwortung das Wohl von Menschen ein deutliches Übergewicht erhält. Es wiegt so schwer, dass im Interesse menschlichen Wohlergehens selbst die Tötung von Tieren zulässig ist. Alles andere wäre Heuchelei.

Wollte man der Natur Würde im Rechtssinne zuerkennen, so wären die materiell-rechtlichen Konsequenzen begrenzt. Jede gewollte oder auch nur vermeidbare Schädigung von Tieren und Pflanzen wäre danach unmoralisch und müsste wohl auch rechtlich verboten sein. Die (indische) Religion des Jainismus verwirft jede Tötung von Tieren. So weit gehen nicht einmal westliche Vegetarier. Die Idee, dass man nicht bloß Tiere, sondern auch Pflanzen nicht mehr essen und aus ihnen keine Rohstoffe mehr gewinnen dürfe, bedeutete das Ende der Menschheit. Tierwürde und Pflanzenwürde könnten nie in dem Sinne absolut geschützt werden wie die Menschenwürde.

Die Allgemeine Rechtslehre kann zu dieser Auseinandersetzung dadurch beitragen, dass sie feststellt: Rechtstechnisch ist es überhaupt kein Problem, bestimmten Teilen der belebten oder unbelebten Natur Rechtsfähigkeit zu verleihen und ihnen in der Folge auch subjektive Rechte zuzuerkennen. Natürlich muss dann durch eine Vertretungsregelung die Handlungsfähigkeit der zur Rechtsperson erhobenen Gebilde hergestellt werden. Deshalb wären es im Ergebnis doch Menschen, die die »Rechte der Natur« wahrnehmen müssten. Auf Dauer schließt diese Sichtweise nicht aus, dass auch Tieren Rechte zugestanden werden. Es handelt sich, wie gesagt, um ein rechtstechnisches Problem. Wenn dem Menschen durch Tierrechte besser gedient wäre als ohne, sollte man sie einrichten. Aber es wären Rechte zweiter Klasse.

Ohnehin werden Tierrechte bald nur noch einen Nebenschauplatz bilden. Die neuen Möglichkeiten zu einer Genveränderung mittels CRISPR/Cas9 und die heraufziehende künstliche Intelligenz bilden die Zukunftsfront, an der es die Menschlichkeit zu verteidigen gilt und die erst recht einen anthropozentrischen Standpunkt fordert.


[1] Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, 2020 (Suhrkamp).

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Neue Zeitschrift: American Journal of Law and Equality

Inflation überall. Es gibt einmal wieder eine neue Zeitschrift, und zwar mit dem Titel American Journal of Law and Equality. Sie erscheint in Open Access bei MIT Press. Jedenfalls zwei von den drei Herausgebern sind so prominent, dass man den Neuling wohl beobachten muss: Martha Minow und Cass Sunstein. Der dritte im Bunde, Randall Kennedy (Harvard Law School), war mir bisher nicht bekannt.

Das erste Heft berichtet über ein »Symposium on Michael Sandel’s The Tyranny of Merit«. Sandels Buch nimmt zum Ausgang den Skandal um William Singer, der wohlhabenden Eltern gegen hohe Schmiergelder für ihre Sprösslinge den Zugang zu Eliteuniversitäten verschaffte, und verallgemeinert diesen Skandal dahin, dass das Leistungsprinzip im Erziehungssystem der USA von den reicheren Familien unterlaufen werde. Sandel stellt die Frage, ob es hier nur um eine Korrumpierung des Prinzips gehe oder ob das Prinzip als solche problematisch sei. Das eigentliche Problem findet er darin, dass das Leistungsprinzip die Reichen verführe, ihren Reichtum, wie auch immer sie ihn erworben haben, für moralisch gerechtfertigt zu halten. Das bedeutet umgekehrt, dass man denen, die es nicht geschafft haben, sagen kann: selbst schuld. Die Selbstgerechtigkeit der Reichen spiegele sich wiederum in dem populistischen Aufstand gegen die Eliten. Tatsächlich sei unter der Rhetorik der Chancengleichheit die Ungleichheit geradezu explodiert. Der amerikanische Traum, dass Talent und harte Arbeit zum Erfolg führten, sei an der Realität gescheitert. Es sei moralisch keineswegs selbstverständlich, dass Talent belohnt werden müsse. Die Meritokratie verschütte das Gefühl für Schicksal und Zufall. Demut sei angezeigt.

»A perfect meritocracy banishes all sense of gift or grace. It diminishes our capacity to see ourselves as sharing a common fate. It leaves little room for the solidarity that can arise when we reflect on the contingency of our talents and fortunes. This is what makes merit a kind of tyranny, or unjust rule.«

Vielleicht hatte Macron Sandels  Buch gelesen, bevor er im April die Schließung der ENA ankündigte. Das Buch[1] gibt jedenfalls reichlich Stoff zur Diskussion, insbesondere seine These, Bildung sei nicht das Allheilmittel gegen soziale Ungleichheit. Aber deshalb muss man nicht alles lesen, was dazu in der neuen Zeitschrift steht. Hilfreich ist schon die Rezension von Günther Nonnenmacher in der FAZ. Eine kurze Kritik der Kritik der Meritokratie (ohne Bezug auf Sandel) bietet der auch sonst bemerkenswerte Aufsatz von Philipp Kowalski, Geschlechterquoten im Kapitalgesellschaftsrecht Eine interdisziplinäre Analyse, Rechtswissenschaft 12, 2021, 148-183.


[1] Deutsch als Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, 2021.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen I

Aus der Skizze einer Anthropologie aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform ist 1977 eine komplette Sozialanthropologie geworden: Die gesellige Natur des Menschen. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe nicht zuletzt den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungsverwahrten galt.

Manche Stellen dem Buch von 1977 werden dem Leser von heute anstößig erscheinen. Zumal Leserinnen werden sich empören so, wenn es S. 39 heißt:

»Der einzige Zwang, der die Handlungsfreiheit der Frau wirklich einengt, ist der Zwang der Natur, nicht die angeblich patriarchalische Gewalt des Mannes. In diese Verhältnisse greift die moderne Emanzipation der Frau ein. … Die Emanzipationsbewegung übersieht aber, daß der Mann ebenso in den Familienzusammenhang eingebunden ist wie die Frau. Die emanzipatorischen Postulate sind darum ein Protest gegen die Natur.«

Diese und andere Passagen zur Frauenemanzipation sind in der Tat problematisch. Sie vernachlässigen die Wechselwirkung von Biologie und Sozialgeschichte in Gestalt der Folgen der industriellen Revolution für die familiäre Arbeitsteilung. Darauf werde ich vielleicht in einem besonderen Abschnitt über Mayers Ausführungen zur Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern eingehen. Mayers Pointe liegt in der anthropologischen These, dass Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist sich überhaupt gegen die Natur stellen können und dass das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher auch für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Es ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt.
Ich werde nun kein Inhaltsreferat des Buches[1] liefern, sondern beschränke mich darauf, in diesem einige Fundstücke zu zitieren, die mir bemerkenswert, bedenkenswert oder gar behaltenswert erscheinen.
Heute beginne ich mit Zitaten zur vergleichenden Verhaltenslehre. Die bisherige Annahme der vergleichenden Verhaltenslehre, »der Mensch sei das nicht festgestellte Tier, ein Instinktmangelwesen, eine allen Inhalten offene Struktur« wird relativiert:

»Die neuere Verhaltensforschung legt großen Wert darauf, daß man im vitalen menschlichen Bereich ziemlich fest ausgeformte Instinkte finden kann wie etwa den Suchreflex der Säuglinge, etwa auch die Äußerungsformen, z. B. das Lächeln. Für uns ist wichtiger, daß auch im höheren Verhaltensbereich vieles dem Menschen von Natur nahegelegt erscheint, andere Wege ihm erschwert oder geradezu versperrt sind. Eine völlig offene Struktur ist der Mensch keinesfalls, er besitzt vielmehr eine halbfertige Instinktstruktur, welche zwar große, aber doch nicht jede Freiheit zuläßt.« (S. 6)

»Als Naturwesen ist der Mensch ein Säugetier. Die menschliche Verhaltenslehre muß im Rahmen der vergleichenden Verhaltenslehre gesehen werden. Allerdings hat der Mensch die grundlegende Besonderheit, daß sein soziales Verhalten ohne introspektive Betrachtung nicht einmal zu beschreiben geschweige denn zu erklären ist. Der Mensch ist ein bewußtes Wesen. Sozial-relevante Verhaltensweisen kommen nur zustande, wenn die Antriebe im Bewußtsein verarbeitet wurden … .« (S. 7)

»Wir gehen von der Doppelnatur des Menschen aus, der zugleich als Tier und »als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß. …
1. Als Tier der Mensch durch seine Leiblichkeit ausgewiesen. Auch sein neurales System erweist ihn trotz aller seiner Sonderheiten als Glied in der Säugetierreihe. Wir gehen daher von der Arbeitshypothese aus, daß die vitale Grundstruktur des Menschen zunächst mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu untersuchen ist.

2. Persönlichkeit ist der Mensch als subjektiver Geist, welcher durch die Leiblichkeit bedingt ist, diese aber zugleich in seinen Dienst stellt. Die Äußerungen des subjektiven Geistes reichen von den Anfängen halbbewußten Erlebens, also von den Empfindungen bis zu den höchsten geistigen Leistungen der Phantasie, des begrifflichen und produktiven Denkens, des bewußten verantwortlichen Willens, bis zum Gewissen und zur Selbstgestaltung der Persönlichkeit. … Die empirische Wirklichkeit des subjektiven Geistes, das Spiel der Gefühle und Empfindungen, der erlebten Antriebe und Handlungstendenzen läßt sich schlechterdings nicht von außen, sondern nur von innen, also introspektiv und analogisch verstehend erfahren.« (S. 8f)

»Nach uralter Vorstellung ist das Tier ganz, der Mensch wenigstens teilweise von Instinkten gelenkt. Der Begründer der allgemeinen vergleichenden Verhaltenslehre, Tinbergen, bezeichnet das Forschungsgebiet noch als ›Instinktlehre‹. Diese Bezeichnung ist aber insofern ungenau, als mindestens beim höheren Tier zu fragen ist, ob sein Verhalten nicht teilweise in Lernen und Nachahmung, ja sogar in einsichtigem Tun besteht. Außerdem ist die Bezeichnung Instinkt mit vitalistischen Vorstellungen belastet. Allerdings ist die Bezeichnung Verhalten auch nicht ideal und erinnert an den Irrtum des Behaviourismus, daß nur das bloß äußere Verhalten wissenschaftlich erforschbar sei. Nun sind aber beim Tier seelische Regungen zu vermuten, beim Menschen zum Verständnis seines äußeren Verhaltens unentbehrlich.« (S.19)

»Triebe sind erlebte Instinke.« (S. 23)

»Jedenfalls besitzen alle höheren Tiere die Disposition zu Nachahmungs-Lernhandlungen. Es finden sich sogar Beispiele angelernter Handlungen, wenn auch von verstandener Tradition kaum die Rede sein kann. Endlich kommen auch einsichtige, insbesondere einsichtige Lernhandlungen vor. Allerdings ist der Radius, in welchem sich die Tiere außerhalb des vorprogrammierten Regelsystems bewegen können, doch recht klein. … Aber daß diese Möglichkeit beim Tier überhaupt besteht, zeigt, daß es außer dem vorprogrammierten Verhaltenssystem auch Dispositionen zu Nachahmungs- und Lernhandlungen gibt und daß einsichtige Handlungen vorkommen. Die Existenz eines solchen Oberbaues zeigt grundsätzlich, daß es dem Prinzip eines Regelsystems nicht widerspricht, daß es von übergeordneten Zentren aus gelenkt werden kann. Anders ausgedrückt, ein Regelsystem kann darauf eingerichtet sein, gelenkt zu werden. Durch lenkende Eingriffe werden dann die vorgegebenen Instinkte nicht etwa ›frustriert‹. Diese Erkenntnis ist für den Vergleich von Tier- und Menschenverhalten wichtig.« (S. 29)

»Die entscheidende Besonderheit des Menschen besteht endlich darin, daß er Träger des subjektiven Geistes und damit Schöpfer des objektiven Geistes ist. … Wir betrachten die Phänomene des Geistes als empirische Gegebenheiten … . (S. 48)

»Grundstufe ist das menschliche Bewußtsein. Man darf auch beim höheren Tier Bewußtsein vermuten. Das menschliche Bewußtsein ist aber sehr viel reicher entwickelt als das tierische und befähigt zu bewußtem Willensentschluß, welcher beim Tier kaum vorkommt.« (S. 49)
[gegen Freud geerichtet]: »In Wahrheit stoßen wir nur an den neuralen Apparat, wo die Arbeit unseres Bewußtseins aufhört.« (S. 50)

[Fortsetzung folgt]


[1] Das Referat von Willsch liest sich wie eine buchhalterische Pflichtübung (Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980), S. 335-342).

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Widerruf: Jetzt gegen die Legalisierung von Cannabis

Mit der Aussicht auf eine Ampelkoalition rückt die auch von mir in einem Eintrag vom 4. 4. 2012 befürwortete Legalisierung des Cannabiskonsum näher. Die Nachträge zu dem alten Blogpost zeigen, dass sich meine Einstellung langsam geändert hat. Großen Anteil daran hatte meine Tochter, die mir über ihre Erfahrungen als Notärztin in einer Großstadt berichtet und mich mit medizinischer Literatur versorgt hat.

Das Thema ist ausdiskutiert. Ich wäre auch gar nicht in der Lage, noch einen ausgewogenen Bericht über die einschlägigen Erfahrungen und Argumente zu geben. Die Zukunft entwickelt sich ohnehin immer wieder anders als vorhergesehen[1]. Man muss sich entscheiden. Kurzum: Ich widerrufe. Ich will nicht länger für die Legalisierung von Cannabis eintreten.

Ich nutze diesen Eintrag als willkommene Gelegenheit zu einem Zitat aus dem Buch von Hellmuth Mayer »Die gesellige Natur des Menschen« (1977), das ich in anderem Zusammenhang gerade herangezogen habe. Der Abschnitt steht unter der Überschrift »Rauschtrank und Rauschgift-Ekstase« (S. 247f).

»1. Im europäischen Kulturkreis ist seit der Antike der Alkohol das vorrangige Mittel zunächst zur Beruhigung und Steigerung, dann aber auch zur Entrückung im Rausch. Die abendländischen Völker sind seit Jahrtausenden daran gewöhnt, mit dem Alkoholrausch zu leben, die sozialen Sitten sind auf Beherrschung und Steuerung des Rausches eingerichtet. Fremdländische Drogen, sog. Rauschgifte, sind in Europa vielleicht nur deshalb so gefährlich, weil keine hinreichenden Sitten zu ihrer Beherrschung ausgebildet sind. Allerdings sind harte Rauschgifte wie die konzentrierten Derivate des Morphium von vornherein gesundheitlich hoch gefährlich und führen bei dauerndem Genuß schnell zur Süchtigkeit und zum gesundheitlichen und geistigen Verfall. Dieses ist zwar beim Alkohol auch möglich, aber schädliche Wirkungen treten doch so langsam ein, daß die kulturellen Hemmungen meist noch zum Greifen kommen.

2. Wir befassen uns daher in erster Linie mit dem Alkoholrausch. Die Wirkung des Alkohols empfindet der Mensch zunächst als wohltätig. Individuation bedeutet den Zusammenschluß der menschlichen Gefühle und Strebungen in der Einheit der Person. Dieses Ziel erreicht der Mensch niemals völlig und leidet daher an seiner Widersprüchlichkeit. Namentlich junge Menschen kommen über ihre Hemmungen nicht so leicht hinweg. Die innere Freiheit wird getrübt durch Affekte, durch Schwäche und Abspannung. In allen diesen Fällen gilt der Alkohol als ›der Trank der Labe‹ (Schiller). Im Alkoholrausch wird aber auch die völlige Enthemmung gesucht, welche die Verbrüderung mit den Zechgenossen ermöglicht, also die verbindende Ekstase.

Kant schreibt: ›Alle stumme Berauschung, welche die Geselligkeit und Gedanken mitteilen, hat etwas Schädliches an sich.‹ Der individuelle mäßige Gebrauch kann aber wohltätige Arznei sein.

Bei allen Kriegervölkern wurde die Ekstase durch Genuß gemeinsamen Rauschtrankes bei Opfermählern gepflegt. Der Brauch wurde später in den Bierdörfern der studentischen Renommisten fortgesetzt, die kommentmäßigen Studentenkneipen waren und sind die letzten Ausläufer. Die Gefahren des Alkohols haben um 1900 eine Antialkoholbewegung ausgelöst, welche zeitweise sehr große Erfolge hatte. Die freiwillige Enthaltung ist auf jeden Fall sehr nützlich, das zwangsweise Verbot ist aber sehr gefährlich, weil das Verlangen nach Alkohol doch zu stark ist. Als in den USA eine Mehrheit von Frauen zusammen mit einer Minderheit von Männern den Männern das Trinken verbot (Prohibition), erwuchs aus dem Alkoholschmuggel eine Gangsterkriminalität, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Prohibition machte die harmlosen Alkoholika unerreichbar, so daß namentlich junge Menschen auf harte Spirituosen oder auch auf Drogen umstiegen.

Während der Alkoholgenuß bei mäßigem Verhalten die Persönlichkeit nicht verändert, kommt es bei anderen Drogen nicht nur zur Berauschung, sondern auch zur Einschläferung und zur Bewußtseinsveränderung. Opium mag in manchen Regionen, wo das Opium einheimisch ist und unter der Kontrolle gesellschaftlicher Bräuche steht, noch nicht sehr gefährlich sein. Die Meinungen gehen hier sehr auseinander. Gegenüber der Verharmlosung der Haschischprodukte sei aber doch an das historische Beispiel der Assassins erinnert. Assassin heißt an sich nur Haschischesser, in Erinnerung und Sprache der Franzosen wurde der Assassin zum Mörder schlechthin. Es kommt auch heute noch eine dauernde Abhängigkeit von Anführern in Betracht, welche Morde befehlen können, die der Haschischesser kaltblütig ausführt.

Alkoholkriminalität und Suchtkriminalität sind jedenfalls auch heute überaus groß. Man darf aber eben nicht vergessen, daß die Ekstase und damit auch die künstliche Ekstase ein Urbedürfnis der Menschheit befriedigt.«

Nachtrag — einige Literaturhinweise:

Cannabis Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V.

Celia Morgan u. a., Individual and combined effects of acute delta-9-tetrahydrocannabinol and cannabidiol on psychotomimetic symptoms and memory function.


[1] Dazu heute in der heimlichen Juristenzeitung der Bericht von Thomas Gutschker »Vom Coffeeshop zum Drogenkrieg«.

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Eine Anthropologie für den Natural Turn

Der Natural Turn muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Meine Wahl fällt, wie bereits angekündigt, auf die Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer. Sie findet sich ausführlich in seiner letzten Veröffentlichung, einem Buch mit dem Titel »Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«, 1977. Kompakter und eindrucksvoller hatte Mayer seine Vorstellungen schon 1962 in dem Band »Strafrechtsreform für heute und morgen« formuliert als »anthropologische Grundlage« für das »Programm einer neuen Kriminologie« formuliert (dort S. 6-18). Nach dem Datum scheint Mayers Anthropologie hoffnungslos veraltet zu sein. In ihren Sachaussagen war sie umsichtiger und moderner die Soziologie ihrer Zeit und in ihrem Kern bleibt sie als eine geglückte Überwindung des Gegensatzes von Naturalismus und Sozialkonstruktivismus[1] aktuell. In den Literaturlisten etwa von Andrea Behrends oder Ulrich Bröckling finde ich nichts Besseres.

Mayer sah in einer hinreichenden Klärung der anthropologischen Voraussetzungen die Basis der Kriminologie. Die anthropologische Frage sei »zuerst von Lombroso aufgeworfen worden. Die Forschung hat mit Recht die von Lombroso angebotene Lösung verworfen, leider aber das Sachproblem liegen lassen. Weder die gründlichste Negation noch die bequeme Auskunft der üblichen Anlage-Umwelt-Theorie geben eine positive Antwort … .«. Mayer suchte die Antwort in einer »vergleichenden Verhaltenslehre«, welche »die naturwissenschaftlich erfaßbare Basis des Menschen als kausalmechanische Regelstruktur« begreift. Biologische und psychologische Verhaltensbeobachtung reiche indessen nicht aus. Ein »Gesamtbild menschlichen Verhaltens« lasse sich erst mit Hilfe der »Sozialhistorie [zeichnen], welche sechs Jahrtausende mit hinreichender Sicherheit überschauen kann. … Beide Betrachtungsweisen, sowohl die der naturwissenschaftlichen Verhaltensforschung als auch die der geisteswissenschaftlich-historischen Empirie, sind klar zu unterscheiden und dann zu verbinden.«

Mayers Texte lesen sich wie die Vorwegnahme einer Auseinandersetzung mit Steven Pinkers »Blank Slate«[2]. Zwar wendet sich auch Mayer gegen die Vorstellung des Menschen als tabula rasa. Allerdings fehlt Pinkers Polemik. Vor allem aber ist Mayer weit entfernt von dessen mechanistischen Vorstellungen über die Rolle der Gene bei der Bestimmung menschlichen Verhaltens. Von biologischem Determinismus kann bei ihm keine Rede sein. Stattdessen öffnet er eine langfristige sozialhistorische Perspektive auf die Pfadabhängigkeit des Verhaltens in den Lebensbereichen, für die Soziobiologie und evolutionäre Psychologie Natürlichkeit in Anspruch nehmen, also für Geschlechterbeziehungen und Sexualität, Verwandtschaft, Gruppenbildung, Territorialverhalten, Aggression, Gewalt und Kriminalität.

Auf das Buch von 1977 werde ich später eingehen. Einen Eindruck von Mayers Sozialanthropologie sollen zunächst Zitate aus »Strafrechtsreform für heute und morgen« verschaffen:

»[S. 6] Die Anthropologie ist in diesem Sinn ebensowohl eine naturwissenschaftliche wie geisteswissenschaftliche Disziplin. …

Der Mensch muß … zuerst einmal als bloßes Naturwesen, [S. 7]d. h. als Tier innerhalb der Tierreihe … gedacht werden. … Diese – in ihrem Bereich – wohlberechtigte zoologische Betrachtung des Menschen erbringt einen äußerst wichtigen negativen Ertrag, indem sie den Begriff des [schöpferisch gedachten] Instinktes entthront. … Es gibt in Wahrheit nur eine große Anzahl relativ stereotyper Automatismen oder Triebreaktionen, die im Effekt ganz bestimmte Zwecke bzw. Teilzwecke erreichen, ohne sie jedoch final anzustreben. Diese Automatismen werden ihrerseits bereitgestellt innerhalb eines bestimmten Appetenzverhaltens, in das sie eingeordnet sind, das aber selber keine bestimmten Handlungen vorschreibt. Diese Automatismen, d. h. dem Appetenzverhalten zugeordneten Endinstinkte sind festgelegte Schemata, die durch bestimmte Signalreize ausgelöst werden, so daß bestimmt festgelegte Handlungen oder Handlungsketten ausgeführt werden. … Dieser Handlungsplan ist starr und von sich aus keiner anpassenden Wahl fähig, er schreibt in bestimmten Reizsituationen auf bestimmte äußere Signale hin ein inhaltlich bestimmtes Verhalten vor.

… Mit dieser Instinktstruktur ist ein vielfaches Fehlverhalten unvermeidlich verbunden. Die Signalsituation garantiert nämlich im Einzelfall nicht, daß die gemeinte reale Situation vorliegt. …[S. 8] Die Art überlebt nur deshalb, weil die Instinktstruktur auf die gewöhnliche ökologische Umwelt eingestellt ist, in welcher die Signalsituationen hinreichend häufig mit der real intendierten Situation übereinstimmen. In diese ökologische Umwelt ist das Tier gewissermaßen eingesperrt. Ist die Diskrepanz zwischen der Instinktstruktur und der Variabilität der Umwelt groß, so kann die Art nur durch eine sehr große Fortpflanzungsrate erhalten werden.

Im Sinn der vergleichenden Verhaltenslehre besteht die besondere biologische Situation des Menschen darin, daß Triebe und Schemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, daß er also ohne einen festgelegten biologischen Handlungsplan zur Welt kommt.

… Der Mensch ist damit offen für jede denkbare Umwelt, soweit er sie physiologisch meistern kann. Er ist befreit von der Starrheit der Triebe und Schemata. Garantieren bereits beim Tier die Auslösesignale der Schemata nur in einer hinreichenden Zahl von Fällen, daß die real gemeinte Situation auch wirklich vorhanden ist, so würde der Mechanismus der Triebe und Schemata den heutigen Menschen unfähig machen, seine ständig wechselnden und höchst komplizierten Lebensaufgaben zu erfüllen. Diesen Aufgaben vermag er nur durch Lern- und Wahlhandlungen zu genügen.

… In bezug auf das abnorme Verhalten ist für die Situation des Menschen wesentlich, daß er aus seinem phylogenetischen Instinktgefüge, aus seiner Natur, [S. 9] herausgetreten ist, indem er sich durch die Erfindung künstlicher Waffen aus einem Pflanzenfresser zu einem Raubtier umgeschaffen hat. Es fehlt ihm also nach seiner Herkunft das für das Sozialverhalten der Raubtiere wichtigste Schema, nämlich das zwingende Demutschema, welches die Raubtiere nötigt, die Tötung des Artgenossen zu vermeiden. Nur die Raubtiere nämlich unterlassen die Tötung der Artgenossen mit Sicherheit, aber nicht etwa vermöge eines wählenden Instinktes, sondern kraft eines angeborenen Handlungsschemas, welches durch das Signal der Demuthaltung ausgelöst wird. Nimmt der unterlegene Wolf diese Haltung an, bietet er wehrlos den Hals dem tödlichen Biß dar, so kann der Sieger nicht zubeißen, sondern reagiert seine Wut durch Schüttelbewegungen in die Luft ab. Verläßt aber das unterlegene Tier die Schutzhaltung zu früh, so wird es totgebissen. Übrigens verhalten sich die Pflanzenfresser in der Frage der Tötung der Artgenossen nicht völlig einheitlich. Stärker bewaffnete Säugetiere führen untereinander im allgemeinen nur Kommentkämpfe durch, bei manchen Pflanzenfressern ist aber die wechselseitige Tötung der männlichen Tiere untereinander im Plan der Natur vorgesehen, wobei denn nur das überlebende stärkste Tier zur Fortpflanzung gelangt. … Die in der ganzen zivilisierten Menschheit heute anerkannte Moral der allgemeinen Humanität reicht weit über alle natürlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens einer Tierart hinaus.

Es beruht also gerade die Möglichkeit des höheren menschlichen Lebens darauf, daß der Abbau der Instinkte und Triebe ihn von einem biologisch festgelegten sozialen Handlungsplan befreit. Mit dieser Erkenntnis ist die rein naturwissenschaftliche Anthropologie am Ende ihres Weges angelangt.

Erst das eigentlich Menschliche des Menschen, seine geistig-psychische Struktur befähigt ihn zur Lösung der sozialen Aufgaben, [S. 10] die außer dem Menschen kein anderes Lebewesen sich stellt. Sicherlich wurzelt dieses Humanum in biologischen Tiefenschichten, ohne daß es aber aus diesen abgeleitet werden könnte, da es etwas schlechthin Neues darstellt. Dieses Neue ist das »Ich«, die sich selbst gestaltende bewußte Persönlichkeit, die ihre geistigen Inhalte entnimmt aus den im sozialen Leben vorhandenen objektiven geistigen Gehalten, oder doch in Verbindung mit diesen schafft oder umgestaltet. Subjektiver und objektiver Geist sind nur der »geschichtlichen« Betrachtung, nicht dem naturwissenschaftlichen Denken erreichbar, sind aber nicht minder real als die Gegenstände der Naturwissenschaft.

[Der Mensch] ist zwar keiner Wachstafel zu vergleichen, in welche man alles eintragen könnte, wie das 18. Jahrhundert gelegentlich wähnte. … Aber keine Persönlichkeitsstruktur weist an sich auf bestimmte soziale Inhalte hin. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß das Verbrechen aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zustande komme, ist deshalb schief, weil sie den Irrtum nahelegt, als sei der Mensch vermöge seiner Anlage überhaupt auf irgendeinen bestimmten sozialen Weg gewiesen, der dann nachträglich und von außen her von der Umwelt irgendwie beeinflußt oder abgelenkt werden könnte. In Wahrheit empfängt der Mensch alle seine sozialen Handlungsantriebe, sozialen Handlungsvorstellungen und sozialen Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben mit anderen. …

[S. 12] Grundsätzlich muß zuletzt betont werden, daß beim Menschen alle Triebe und Schemata, alle geistig-seelischen Strebungen den Weg durch das bildende Bewußtsein nehmen. Dieses bildende Bewußtsein ist eingebettet in den objektiven Geist, d. h. in die verstehende Gemeinschaft der Menschen. Die Frage, wie das Wunder des normalen sozialen Zusammenlebens zustande kommt, ist daher erst von der Soziologie zu beantworten.

Die Antwort auf die so gestellte Frage lautet: Der Mensch kommt zu planvollem Handeln dadurch, daß er als geistiges Sozialwesen dazu veranlagt ist, das in einer historischen Gemeinschaft herrschende Gemeinschaftsurteil sich anzueignen, welches in der normalen Reizsituation für den Einzelnen denkt und durch den Einzelnen hindurch handelt. Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Handlungsinhalte selbst, kein Einzelner vermöchte jemals den Weg von der Einzelerfahrung bis zum sinnvollen Handeln für sich allein zurückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur die Sozialvorstellungen der Allgemeinheit auf den Einzelfall an.«

Soweit die Zitate (kursiv wie im Original). Es lohnt sich, die S. 6- 18  in Mayers »Strafrechtsreform für  heute und morgen« vollständig nachzulesen. So gewinnt man nicht zuletzt auch einen Eindruck von dem lebendigen Schreibstil des Autors.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Wer eine aktuellere Darstellung dieses Ggensatzes und der Möglichkeiten einer Überbrückung sucht, sei auf den schönen Aufsatz von Sebastian Schüler, Zwischen Naturalismus und Sozialkonstruktivismus: Kognitive, körperliche, emotionale und soziale Dimensionen von Religion, Zeitschrift für Religionswissenschaft. 2014. S. 5-36, verwiesen.

[2] Steven Pinker, The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York, NY 2002/2016 (Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur, 2003/2017); Kurzfassung: Pinker, The Blank Slate, The General Psychologist 41, 2006, 1-8.

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Mangolds Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments

Als ich die Reihe zum Natural Turn begann, war die Habilitationsschrift von Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht[1], noch nicht verfügbar. Ihre Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments will ich hier nachtragen:

»Rechtliche Regelungen und Praktiken wirken in erheblichem Maße an der Etablierung und Aufrechterhaltung von Kategorisierungen mit, was freilich invisibilisiert wird, indem die Natürlichkeit und Vorgängigkeit der kategorisierenden Unterscheidungen behauptet wird. In einem argumentativen Dreischritt werden diese kategorisierenden Unterscheidungen zwischen Menschen als ›natürlich‹ und ›normal‹ zugrunde gelegt, zu denen sich das Recht ganz ›neutral‹ verhalte. Das Argument der Natürlichkeit einer Unterscheidung zwischen Personengruppen besagt, dass diese vorfindlich sei, unbeeinflussbar von der Natur vorgegeben werde – etwa jene zwischen Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung. Diese Natürlichkeitsbehauptung wird flankiert von einer Normalitätsbehauptung, dass die Unterscheidung schon immer allgemein akzeptiert und praktiziert worden sei, sie mithin ganz ›normal‹ sei. … Das Recht schließlich, so der letzte Schritt des Argumentationsgangs, sei völlig neutral in der Frage der Kategorisierung, es setze die ›natürliche‹ und ›normale‹ Unterscheidung und unterschiedliche Behandlung also selbst lediglich voraus und reagiere bloß auf diese.«[2]

Es ist vollkommen richtig, dass Natürlichkeits- und Normalitätsargumente über lange Zeit diskriminierend gewirkt haben und noch wirken. Richtig ist auch, dass das Recht darauf hereingefallen ist und die Diskriminierung als Neutralität legitimiert hat. Damit sind diese Argumente zwar »belastet«, aber als solche noch nicht obsolet. Meine Kritik der Kritik gilt dem konstruktivistischen Kulturalismus, dem auch Mangold huldigt, wenn sie schlechthin eine ontologische Basis von Kategorien verneint und diese zu sozialen Konstruktionen erklärt (S. 313ff). So wie Texte als gedruckte oder digitalisierte eine ontologische Qualität haben, haben auch Menschen als Kinder und Erwachsene, als Frauen und Männer, als Schwarze und Weiße, als Behinderte und Nicht-Behinderte objektive Eigenschaften. Aktuell diskutiert man etwa die unterschiedliche Krankheitsanfälligkeit von Männern und Frauen und ihre Reaktion auf Medikamente. Nur wenige natürliche Eigenschaften sind als solche sozial unmittelbar relevant wie das Alter oder die Gebärfähigkeit von Frauen. Es kommt alles darauf an, wie diese Eigenschaften im sozialen Umgang bewertet werden. Wer ihre ontologische Qualität verneint, wird nie zu den psychischen Mechanismen vordringen, die eine primäre Ursache von Diskriminierungen bilden und die es sozial zu beherrschen gilt. Dazu gehören nicht zuletzt die Fehldeutungen, die mit der Augenfälligkeit einiger natürlicher Eigenschaften verbunden sind.

Analoges gilt vom Normalitätsargument, wenn man sich Normalität mit Mangold (S. 314) von vornherein nur als normatives Phänomen vorstellen kann. Dann verkennt man die »normative Kraft des Faktischen«, der es beizukommen gilt, um die fraglos gegebene Diskriminierungswirkung von Normalität zu bekämpfen. Dann verkennt man ferner, dass Diskriminierung »normalerweise« Minderheiten trifft, die als solche keine politischen Mehrheiten bilden können.[3] Damit verkennt man auch, dass die Diskriminierung von Frauen auf einem anderen Blatt steht als etwa die Diskriminierung von Behinderten. Was sich seit einigen Jahrzehnten auf dem Gebiet der Frauengleichstellung ereignet, lässt sich nur mit dem Kampf und den Erfolgen der Arbeiterbewegung vergleichen.

Die aktuelle Literatur, die sich dem Kampf gegen soziale Diskriminierung widmet, erweckt gelegentlich den Eindruck, als führe der Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft zurück zur Natur ins Paradies der Gleichheit. Genau das Umgekehrte ist richtig. Die Menschen sind ungleich. Die Natur ist es, die, sich selbst überlassen, diskriminiert. Die Abwesenheit (bestimmter) Diskriminierungen ist ein unnatürlicher = zivilisatorischer Fortschritt. Die Schwelle zum Fortschritt ist der Entschluss, alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre natürliche Ungleichheit in möglichst allen Dimensionen sozialen Lebens als gleich zu behandeln. Die Ironie der Geschichte: Der Fortschritt kam mit einem Natürlichkeitsargument, beginnt doch die Virginia Declaration of Rights von 1776:

That all men are by nature equally free and independent ….


[1] Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen, Tübingen 2021. Mangold bietet eine profunde und gut lesbare dogmatische Aufarbeitung des Antidiskriminierungsrechts, die eine ausführliche Besprechung verdient. Dazu sind andere berufen.

[2] S. 6f.

[3] Mangold nimmt (S. 79ff) den völkerechtlichen Minderheitenschutz in den Blick. Sie weist darauf hin, dass der Minderheitenbegriff insofern ungeklärt sei, als persönliche Merkmale betroffen sind. Dass Diskriminierung generell als Minderheitenproblem betrachtet werden könnte, kommt dabei nicht in den Blick.

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Bandwagon oder Underdog?

Die Wahlumfragen zur anstehenden Bundestagswahl erinnern mich daran, dass ich mich vor vielen Jahren einmal mit der Eigendynamik soziologischer Aussagen befasst habe. Von daher hatte ich den Bandwagon-Effekt, also den Mitläufer-Effekt, und den Underdog-Effekt, also den Mitleidseffekt, in Erinnerung. Anscheinend ist die Wirkung von Umfragen auf die Wahlentscheidung nicht leicht zu erforschen. Das Beste und Aktuellste, was ich dazu gefunden habe, ist eine Abhandlung von Ursula Alexandra Ohliger und Veronika Ohliger, Der gläserne Wähler? Die Ambivalenz politischer Meinungsforschung in der Mediendemokratie, in: Ursula Münch/Andreas Kalina, Demokratie im 21. Jahrhundert, 2020, S. 202-228. Danach vermutet man wohl allgemein bei anderen eine stärkere Wirkung von Wahlumfragen als bei sich selbst. Aber wenn die Wirkung auch nur im einstelligen Prozentbereich liegt, könnte sie doch wahlentscheidend sein. Mein Wahltipp: der Underdog-Effekt wird der CDU etwas aus dem Umfragetief helfen.

Meinen alten Text zur Eigendynamik soziologischer Aussagen stelle ich hier schon einmal ins Netz, denn ich werden mich darauf in einer Stellungnahme zur Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft wohl bald noch einmal darauf beziehen.

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Zurück zum Natural Turn, heute mit Patrick Bernau, Die Macht der Gene

Nach einer Sommerpause ist Rsozblog noch nicht wieder in Schwung. Daher verweise ich auf einen Artikel von Patrick Bernau in der FamS von heute (29. 8. 2021), den ich gerne selbst geschrieben hätte, nachdem ich schon vor vier Jahren auf einen Genetic Turn hingewiesen hatte: Die Macht der Gene. Das Erbgut beeinflusst Bildung und Vermögen. Was heißt das für die soziale Gerechtigkeit? Ich hoffe, dass der Artikel im Netz frei zugänglich ist. Ich nehme mir heraus, hier jedenfalls seine Literaturhinweise zu kopieren:

Kathryn Paige Harden: The Genetic Lottery. Why DNA Matters for Social Equality. Princeton University Press, erscheint im September 2021.
Robert Plomin: Blueprint. How DNA Makes Us Who We Are. MIT Press, November 2018
Armin Falk, Fabian Kosse, Pia Pinger, Hannah Schildberg-Hörisch und Thomas Deckers: Socio-Economic Status and Inequalities in Children’s IQ and Economic Preferences. Journal of Political Economy, September 2021, DOI 10.1086/714992.

Heute nur noch folgende Anmerkung: Wenn man Gene und die soziale Gerechtigkeit zusammenbringen will, wird man früher oder später von Gengerechtigkeit reden. Dazu drängen sich zwei Stichworte auf, die bereits Thema auf Rsozblog waren: Körperkapital und Lookismus.

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Klimaskepsis 3.0: Vor uns oder nach uns die Sintflut?

Unmittelbar auf den Eintrag vom 14. 7. zur Klimaskepsis 3.0 ereigneten sich die Überflutungen in verschiedenen Bundesländern. War das schon die Sintflut? In der FAZ fand sich gestern ein Artikel über »Vergessenes Extremwetter«, der eine umwelthistorische Perspektive einforderte. Die Perspektive reichte allerdings nur bis in Mittelalter zurück. Man sollte wieder die Bibel lesen (1. Mose 7,18-23):

Und der HERR sprach zu Noah: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus; denn dich habe ich gerecht erfunden vor mir zu dieser Zeit.

Von allen reinen Tieren nimm zu dir je sieben, das Männchen und sein Weibchen, von den unreinen Tieren aber je ein Paar, das Männchen und sein Weibchen.

Desgleichen von den Vögeln unter dem Himmel je sieben, das Männchen und sein Weibchen, um das Leben zu erhalten auf dem ganzen Erdboden.

Denn von heute an in sieben Tagen will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles Lebendige, das ich gemacht habe.

Und Noah tat alles, was ihm der HERR gebot.

Er war aber sechshundert Jahre alt, als die Sintflut auf Erden kam.

Und er ging in die Arche mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Sintflut.

Von den reinen Tieren und von den unreinen, von den Vögeln und von allem Gewürm auf Erden gingen sie zu ihm in die Arche paarweise, je ein Männchen und Weibchen, wie ihm Gott geboten hatte.

Und als die sieben Tage vergangen waren, kamen die Wasser der Sintflut auf Erden.

In dem sechshundertsten Lebensjahr Noahs am siebzehnten Tag des zweiten Monats, an diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf und taten sich die Fenster des Himmels auf, und ein Regen kam auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte.

An eben diesem Tage ging Noah in die Arche mit Sem, Ham und Jafet, seinen Söhnen, und mit seiner Frau und den drei Frauen seiner Söhne;

dazu alles wilde Getier nach seiner Art, alles Vieh nach seiner Art, alles Gewürm, das auf Erden kriecht, nach seiner Art und alle Vögel nach ihrer Art, alles, was fliegen konnte, alles, was Fittiche hatte;

das ging alles zu Noah in die Arche paarweise, von allem Fleisch, darin Odem des Lebens war.

Und das waren Männchen und Weibchen von allem Fleisch, und sie gingen hinein, wie denn Gott ihm geboten hatte. Und der HERR schloss hinter ihm zu.

Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde.

Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen sehr auf Erden, und die Arche fuhr auf den Wassern.

Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden.

Fünfzehn Ellen hoch gingen die Wasser über die Berge, sodass sie ganz bedeckt wurden.

Da ging alles Fleisch unter, das sich auf Erden regte, an Vögeln, an Vieh, an wildem Getier und an allem, was da wimmelte auf Erden, und alle Menschen.

Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb.

So wurde vertilgt alles, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel; das wurde alles von der Erde vertilgt. Allein Noah blieb übrig und was mit ihm in der Arche war.

Man kann den alttestamentliche Sintflutbericht nicht als mythologisches Narrativ abtun. Es gibt eine ganze Reihe altorientalischer Fluterzählungen, so dass die Sintflut einen historischen Kern haben dürfte.[1] Man wird die Flutkatastrophen der Gegenwart allerdings nicht mehr als göttliche Strafe für die Boshaftigkeit der Menschen interpretieren. Nunmehr schreiben wir uns selbst die Schuld für den Klimawandel zu. Rettung erwarten wir nicht von göttlicher Gnade, sondern von eigener Anstrengung.

Zu der Frage, ob das Kohlendioxidregime eine Chance hat, lese man Gabor Steingarts Morning Briefing 21. 7. 2021. Dort werden plakativ »fünf Irrtümer der Klimapolitik« benannt. Der wichtigste Irrtum lautet wohl: Nicht die Verbraucher und andere Emittenten entscheiden über die Klimafreundlichkeit der Welt. Die Angebotsseite wird ignoriert:

»Öl-Multis wie Saudi Aramco und National Iranian Oil Co., Gasimperien wie Gazprom und die hinter diesen Konzernen stehenden Staaten Saudi-Arabien, die Islamische Republik Iran und Putins Russland denken nicht daran, die ihnen gehörenden fossilen Bodenschätze zu versiegeln und ihre Geschäftsmodelle einzustampfen.«

(Nachtrag:) Am 23. 7. ergänzt Steingart mit folgender Meldung:

In den fünf Jahren zwischen 2015 und 2020 addieren sich allein die Zahlungen der G20-Regierungen, wozu Deutschland, die USA, China, und Russland gehören, für die direkte und indirekte Unterstützung von Kohle, Gas und Öl auf 3,3 Billionen US-Dollar.

Die Größenordnungen und die Akteure, um die es geht, sind so gewaltig, dass jede individuelle Anstrengung lächerlich wirkt. Zwar liest man bei Steingart am Ende, man dürfe bei aller Skepsis nicht den Schluss ziehen, auf einen aktiven Klimaschutz zu verzichten. Aber so richtig überzeugt das nicht mehr.

Trotzdem: Es kann nun nicht heißen: Nach uns die Sintflut. Die Flut – als pars pro toto für alle Extremwetterereignisse – ist schon da, und wir müssen mit ihr leben.

Die Politik hat inzwischen auf Sintflut umgestellt. Sie verkündet jetzt ein Programm zum Bau von Archen, das heißt, für Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel mit seinen Wetterextremen. Der Bürger ist sich selbst der Nächste, d. h., er wird versuchen, sich und sein Hab und Gut möglichst vor den Unbilden des Klimawandels zu schützen. Er wird sein Haus wasser- und sturmfest herrichten und eine Klimaanlage einbauen. Das Solardach dient nicht mehr dem Klimaschutz, sondern – im Verein mit einer Batterie – der Autarkie im Falle des Zusammenbruchs der Stromversorgung. Zur Abrundung kommt dann noch eine Elementarschadenversicherung.

Ist es damit getan? Wohl kaum! Wenn Klimaskepsis 3.0 die individuellen Anstrengungen für das Kohlendioxidregime untergräbt, so bleibt und verstärkt sie doch den Imperativ eines nachhaltigen Umwelt- und Naturschutzes. So führt Klimaskepsis 3.0 zurück zum Natural Turn.


[1] Wikipedia-Artikel Sintflut.

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Zwischenruf: Erfolgsaussicht prägt die Bereitschaft zum Klimaschutz

Am Wochenende konnte man in vielen Zeitungen den gleichen oder ähnliche Artikel lesen: So kann jeder 600 Kilo CO2 sparen. (Ich hätte da noch einige Ratschläge, mit denen man wohl auch 1000 kg Einsparung erreichen könne, z. B. auf Mineralwasser und Hunde verzichten, Diesel-PKW fahren, solange an den Ladestationen Kohlestrom verzapft wird, usw.). Aber wie bewegt man die Menschen zu tun, was sinnvoll und vernünftig wäre (und vielleicht eines nahen Tages vorgeschrieben wird)?

»Soziale Normen prägen Bereitschaft zum Klimaschutz.«

Mit dieser Schlagzeile wird eine Studie Bonner Verhaltensökonomen[1] vorgestellt. In der Zusammenfassung liest man:

»Menschen tragen wenig zum Klimaschutz bei, weil sie die Bereitschaft anderer unterschätzen, ebenfalls ihren Beitrag zu leisten.«

In einem Befragungsexperiment will man herausgefunden haben, dass Informationen über die tatsächlichen gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen die Spendenbereitschaft für Klimamaßnahmen erhöhen. Das glaube ich gerne. Man tut lieber und leichter, was auch andere tun. Darin zeigt sich die normative Kraft des Faktischen. (So hat selbst dieser Zwischenruf einen Bezug zum Normalitätsthema.) Viel interessanter ist die Frage, was die Menschen von persönlichen Anstrengungen zum Klimaschutz abhält. Darauf antworte ich mit einer These, die auch ohne große Befragungsexperimente plausibel ist:

Die Bereitschaft zu persönlichen Anstrengungen für den Klimaschutz hängt von den Vorstellungen über die Erfolgsaussicht des CO2-Regimes ab.

»Klimaleugner«, also Menschen, die das Phänomen des Klimawandels und seinen anthropogenen Ursprung bestreiten, sind auf dem Rückzug. Es wächst jedoch die Zahl der Skeptiker, die bezweifeln, dass ein weltweites CO2-Regime den Klimawandel begrenzen wird. Das ist Klimaskepsis 3.0.

Zu solchen Zweifeln gibt es in der Tat allerhand Anlass. Die Zweifel beginnen schon, wenn die Emissionsquellen quantifiziert und die Umweltkosten der verschiedenen Aktivitäten geschätzt werden, z. B. wenn das Umweltbundesamt und die von ihm bestellten Wissenschaftler die Umweltkosten der Kernkraft »mit den höchsten Umweltkosten, in diesem Fall also Braunkohle« bewerten.[2] Sie wachsen mit der Frage, an welcher Stelle sich die Reduzierung der klimaschädlichen Emissionen am effizientesten bewirken ließe. Sie kumulieren bei der Frage, wie mit rechtlichen Mitteln Staaten, Organisationen und Individuen veranlasst werden können, die notwendigen Maßnahmen zu befolgen.

Noch wächst weltweit der Verbrauch von Kohle, Erdöl und Erdgas. Einsparungen bei der für Heizung notwendigen Energie werden durch den Aufwand für Klimatisierung aufgezehrt. Der Wirtschaftsminister muss einräumen, dass der Strombedarf unterschätzt worden ist. Die erneuerbaren Energien reichen noch nicht annähernd aus. Das Speicherproblem ist nicht gelöst. Die Kippmomente in Arktis, Antarktis und den Permafrostgebieten Sibiriens sind anscheinend nicht mehr aufzuhalten. Die Politik setzt Ziele und Termine und hofft auf viele kleine technologische Lösungen oder den großen Durchbruch. Die von der Klimaforschung für 2020 markierten Meilensteine[3] wurden verfehlt.

Wenn überhaupt, werden sich die Ziele der Klimapolitik nicht ohne fühlbare Einschränkungen in mehr oder weniger allen Bereichen des Lebens erreichen lassen. Die Bürger müssen solche Einschränkungen nicht nur akzeptieren, sondern aktiv mitwirken. Die dafür erforderliche Motivation hängt davon ab, dass man von der Erfolgsaussicht des CO2-Regimes überzeugt ist.

Wenn sich die Zweifel am Kohlendioxidregime im Publikum verbreiten, dürften sie Fatalismus zur Folge haben: Es hilft doch alles nichts; der Klimawandel kommt, auch wenn ich mein Auto stehenlasse und Uniper die Braunkohlenkraftwerke abschaltet. Warum soll ich mich dann einschränken? Wenn der Verzicht rechtlich eingefordert wird, kann sich gar massiver Widerstand regen, so wie bei der an sich sinnvollen Erhöhung des Dieselpreises in Frankreich.

Die Energiewende ist das ehrgeizigste und teuerste Projekt deutscher und internationaler Politik. Die Gesamtkosten allein für Deutschland werden 1 Billion EUR erreichen. Die deutsche Politik ist dabei in einen europäischen Rechtsrahmen eingebunden. Der besteht in der Hauptsache aus dem europäischen Emissionshandel (ETS), der EU-Lastenteilungsentscheidung (Effort Sharing Decision, ESD) sowie den Richtlinien über CO2-Grenzwerte für PKW und Endtermine für die Zulassung von Verbrenner*innen, über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden oder die Ökodesign-Richtlinie für energieeffiziente Produkte.

Heute will die EU neue Klimapläne verkünden. Der CO2-Ausstoß soll bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 55 % sinken.[4] Der zentrale Bausteine im nationalen deutschen Recht sind das Energieeinsparungsgesetz, das Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (EEG), das auf das Stromeinspeisungsgesetz von 1991 zurückgeht und jetzt als EEG 2017 gilt, sowie das Gesetz zur Förderung Erneuerbarer Energien im Wärmebereich (EEWärmeG). Deutsche und europäische Gesetze sind wiederum in einschlägiges Völkerrecht eingebettet. Es ergibt sich aus den Beschlüssen der Welt-Klimakonferenzen, die nach der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen stattgefunden haben, zuletzt in Paris 2015, in Marrakesch 2016 und in Kattowitz. Dieser Rechtskomplex hat nicht weniger Evaluationsaufwand verdient als seinerzeit die Hartz-Gesetze. Wo bleibt die Rechtswirksamkeitsforschung zum Klimaschutz? Mit der Beobachtung von Klimaklagen ist es nicht getan.

Die Rechtssoziologie verkümmert, weil sie auf die falschen Themen setzt. Das zentrale Thema der Rechtssoziologie ist Ungleichheit und Diskriminierung. Das zentrale Thema der Welt ist die Bewahrung einer lebenswerten Umwelt, die aktuell wohl am stärksten durch Klimawandel, Plastikverseuchung und durch bewaffnete Konflikte gefährdet ist. Zum zentralen Thema der Gesellschaft werden künstliche Intelligenz und der digitalisierte Datenraum. Sind die großen Themen zu groß für die Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie hat die Forschung zur Wirksamkeit (nicht nur) der Regelung der Energiewende und damit des Klimaschutzes den Ökonomen überlassen, die die bisherigen Maßnahmen der Politik als ineffektiv und ineffizient eingestuft.[5]

Vielleicht ist die Sache für die Rechtssoziologie wirklich zu groß. Auf eine Diskussion über die Erfolgsaussicht des CO2-Regimes können Rechtssoziologen sich kaum einlassen. Sie könnten sich aber vielleicht mit der Erwartungsbildung des Publikums über diese Aussichten befassen. Die Erwartungen des Publikums bestimmen die Wirksamkeit von Rechtsvorschriften zum Klimaschutz und prägen darüber hinaus die überobligationsmäßigen Anstrengungen zur Stützung des CO2-Regimes. Mindestens könnten Rechtssoziologen unter dem Titel der Rechtswirkungsforschung relevante Fragen stellen. Oder sind solche Frage nicht opportun, weil Rechtswirkungsforschung die Unwirksamkeit des Kohlendioxidregimes als Möglichkeit in Betracht ziehen müsste?


[1] Peter Andre/Teodora Boneva/Felix Chopra/Armin Falk, Fighting Climate Change: the Role of Norms, Preferences, and Moral Values.

[2] Umweltbundesamt, Methodenkonvention 3.0 zur Ermittlung von Umweltkosten: Kostensätze, 2018, S. 18 mit Verweis auf Umweltbundesamt, Methodenkonvention 3.0 zur Ermittlung von Umweltkosten: Methodische Grundlagen, 2018, S. 26.

[3] Christiana Figueres u. a., Three Years to Safeguard our Climate, 2017

[4] Dazu der Bericht von Hendrik Kafsack in der FAZ vom 13. 7. 2021.

[5] Manuel Frondel, Ineffektiv und ineffizient. Eine Bilanz der deutschen Klimapolitik, 2017.

 

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