Der Material Turn verspricht mehr als er hält

»Wirklichkeit« als Begriff und Phänomen hat in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften einen eher schweren Stand. Wohl auch aus Angst, eines naiven Wirklichkeitsverständnisses überfuhrt zu werden, pluralisiert man Wirklichkeit zu beobachterabhängigen Wirklichkeiten, man verflüssigt sie in kulturellen Konstruktionen, oder man löst sie gleich ganz in einem Kosmos referenzloser Simulakren auf, bis man dann in einer Art überschießender Umkehr die Materialität der Dinge unter nicht minder umständlichen Vorkehrungen wieder zum Vorschein bringen möchte.«[1]

Bis ins 20. Jahrhundert hinein standen sich Kultur und Materie weitgehend unvermittelt gegenüber. Kultur wurde als geistiges Phänomen betrachtet, für das materielle Objekte allenfalls als Aufzeichnungs- und Transportmittel dienten. Nur in der Kunst war die Verbindung enger. Spätestens die Medientheorie zeigte dann aber unübersehbar, dass das Material und seine äußere Form sich von dem Inhalt nicht vollständig trennen lassen. »The medium is the message.« Seit den 1980er Jahren gibt es ein verstärktes Interesse an stofflichen Objekten, an Dingen und Artefakten aus Natur, Technik und Kultur, das als material turn[2] geläufig ist.[3] Entsteht daraus eine neue Formel für die Natur der Sache?

Die Phänomenologie entdeckt den Körper (und qua embodiment den Menschen als Artefakt). Überall entdeckt man die Medialität des Sozialen. Cornelia Vismann entdeckt die Akten in Gericht und Verwaltung, der französische Soziologie Bruno Latour Treppenhäuser und Büroklammern im Conseil d‘Etat. Latour verkündet eine Akteur-Netzwerk-Theorie, die Menschen und Gegenstände zu einer hybriden Einheit zusammenfasst (und gleich ihr Akronym ANT mitliefert).[4] Die Dinge beginnen zu vibrieren oder zu performen. Sie zeigen Eigenlogik und Handlungsmacht. Die neue Sichtweise mündet etwa in der Frage, ob Flüssen, Tieren oder Automaten Rechtspersönlichkeit zukommt.

Latour erklärt den Unterschied zwischen der herkömmlichen Sichtweise (»soziologische Version«) und seiner eigenen Theorie (»materialistische Version«) am Beispiel einer Schusswaffe. Nach der soziologischen Version gilt: »Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen«, und Latour erläutert:

»Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Träger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausgeführt. … die soziologische Version [macht] die Waffe zu einem neutralen Willensträger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos Fließen.«

Die »materialistische Version« sagt dagegen: »Schusswaffen töten Leute«, und wiederum erläutert Latour:

»Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug – und wer hätte nicht, mit einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter, sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.«[5]

Das hatte die klassische Phänomenologie schon besser im Griff, in dem sie den Aufforderungscharakter von Situationen unter Einschluss iher Dingwelt beschrieb. Nunmehr wird den Objekten selbst agency zugeschrieben, ein schwer übersetzbarer soziologischer Begriff für Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit, der zu neuen Wortschöpfungen führt: Materie wird zum Aktanten, sie ist wirkmächtig, eigensinnig oder gar agentativ. Es werden Studien über Naturjoghurt als Resonanz der industriellen Landwirtschaft[6] oder Biografien von Kunststofftüten verfasst, die im Feuilleton einen Ehrenplatz fänden.

Wenn man sich dem Recht zuwendet, geht es darum, wie belebte und unbelebte Körper, Akten, Gerichtsäle, Gebäude, Roben, Büroklammern und Stempel, im Konzert des Rechts mitspielen. Keine Frage, dass man Richter als Frauen oder Männer ansehen kann, die Roben und Unterwäsche tragen, die in Gerichtsgebäuden auf Bürostühlen vor Desktops oder Laptops sitzen, die Dateien und Akten produzieren und Toiletten benutzen. Keine Frage, dass Nichtjuristen beim Paragraphenzeichen oder im Kriminalmuseum Rothenburg an Recht denken. Keine Frage, dass Historiker aus Artefakten Rechtsgeschichte rekonstruieren können. Keine Frage, dass Material und Materialisierungen des Rechts auch ästhetisches Interesse wecken. [7] Doch die »Natur der Sache«, die für die juristische Argumentation von Interesse ist, findet sich hier nicht.

Für die Beziehungen zwischen der materiellen und der sozialen Welt wird eine Fülle von Umschreibungen angeboten: Der Mensch als Teil eines sozio-materiellen Arrangements; Zusammenspiel von sozialem und materialem Raum, von biologischen und psychischen Phänomenen mit sozialem Handeln; Mitwirkung des Materiellen in sozialen Praktiken; Eigengesetzlichkeit von Materialität, soziale Vorgängigkeit der Objekte;  Widerständigkeit von Dingen und von Körpern; usw. usw. Daran schließen sich Forderungen wie die, die Blindheit für die materiale Dimension des Sozialen zu überwinden, hegemoniale Konzeptionen des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zu irritieren, Sozialität und Materialität zu resymmetrieren; materialitätssensibel zu verfahren; Körper, Dinge, Objekte und sogar Materie selbst als prozesshaft und relational zu verstehen, Materie in ihrer Unverfügbarkeit als immer schon grundlegend medial zu erfassen, die interaktive Verschränkung von Sozialem und Materie in den Blick zu nehmen, Akteure als leiblich zu begreifen, sie in ihrer Leiblichkeit ernst zu nehmen; die Relevanz von Materialität und Leiblichkeit für die soziologische Analyse anzuerkennen; die Technik und Medien weder als distinktive Bereiche der sozialen Wirklichkeit zu verhandeln noch diese essentiell in eins zu setzen, usw. Das alles soll zu einer radikalen Neuverhandlung der Frage der Materialität führen mit dem Ergebnis einer Neurahmung von Dinghaftigkeit als Relationalität und Materie als Materialisierung, die in relationalen Konzepten von Körper, Natur und Materie; in pluralen und offenen Ontologien oder postessentialistische Theorien des Materiellen mündet. Eine konsolidierte Theorie ist nicht in Sicht.

Als Neuer Materialismus ist der material turn ein feministisches Unternehmen geworden.[8] Es wendet sich, anders als der Neorealismus, nicht grundsätzlich gegen den kulturalistischen Konstruktivismus, sondern reagiert auf ein selbstgeschaffenes Problem der Queer-Theorie, die Umdeutung des biologisch-anatomischen Geschlechts zu einer sozialen Konstruktion. Der Neue Materialismus kommt mit einer epistemologischen und mit einer normativen Botschaft. Epistemologisch richtet sich er gegen einen positivistischen Tatsachenbegriff und damit gegen die Dualismen von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Natur und Kultur. Normativ fordert er einen sorgsameren Umgang mit materiellen Objekten, zu denen auch der menschliche Körper zählt.

Der Neue Materialismus widmet sich kaum der Materie an sich, sondern wissensgenerierenden Prozessen und kehrt so zu einem Konstruktivismus der Kontingenz und Unbestimmtheit der Materie zurück. Erneut steht dahinter das Anliegen des queertheoretischen Feminismus, auf epistemologischer Ebene die empirische Differenz der Geschlechter auszuhebeln. Das Startzeichen setzte Donna Haraway. Sie verlangte von einem

»feminist empiricism … simultaneously an account of radical historical contingency for all knowledge claims and knowing subjects, … and a no-nonsense commitment to faithful accounts of a ›real‹ world, one that can be partially shared and that is friendly to earthwide projects of finite freedom, adequate material abundance, modest meaning in suffering, and limited happiness«[9].

Karan Barad entwickelt einen agential realism, der Realität nicht vorfindet, sondern erst aus der Begegnung von Menschen und Dingen entstehen lässt.[10] Barad hatte sich als Physikerin dem Feminismus zugewandt. Da lag es nahe, an den Welle-Teilchen-Dualismus und die damit verbundene Unschärferelation anzuknüpfen. Das berühmte Diktum von Nils Bohr, es gebe keine Realität jenseits der Beobachtung, stützte sich auf das Phänomen, dass subatomare Teilchen nicht unabhängig von ihrer Beobachtung zu lokalisieren sind. Barad schließt daraus, dass Materie und menschliche Erkenntnistätigkeit erst in aktivem Zusammenwirken zum Wissenserwerb führen. Die Analogie zur Teilchenphysik überzeugt nicht. Die Analogiebasis taugt nichts, hängt doch die Lokalisierbarkeit subatomarer Teilchen keineswegs von menschlicher Beobachtung ab, sondern von der Nachbarschaft anderer Teilchen. Albert Einstein soll Bohr gefragt haben: Glaubst Du wirklich, dass der Mond nicht da ist, wenn niemand hinsieht? Die Antwort Bohrs war nicht weniger spitzfindig als die Frage: Beweise mir das Gegenteil! Es kommt nicht darauf an, ob Menschen hinsehen. Entscheidend ist, dass in der Masse des Mondes subatomare Teilchen kein Eigenleben führen und als solche nicht beobachtbar sind. Man kann schwerlich von fehlender Realität sprechen, wenn sich das Verhalten der Teilchen so berechnen und steuern lässt, dass man damit funktionierende Quantencomputer bauen kann.

Plausibel wäre dagegen die Wissenschaftstheorie des Biologen Hans Mohr, welche die Leistungsfähigkeit und Grenzen der menschlichen Denk- und Erkenntnisstrukturen durch die Evolution bestimmt sieht.[11] Damit wären letztlich auch die apriorisch gedachten Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität sowie die klassische Logik nur das Ergebnis evolutionär verfestigter Erfahrung. Die Erfahrung ist durch die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane begrenzt mit der Folge, dass unsere kognitiven Strukturen nur dem Bereich der »mittleren Dimensionen«, dem so genannten Mesokosmos angepasst sind. Insoweit entsprechen sie den Realstrukturen der Welt.

»Die Auflösungskraft unseres Sehvermögens z. B. ist etwa 1/10 mm im Raum und 1/16 s in der Zeit. Der Grund für die Begrenzung unseres sensorischen Systems und damit unserer Anschauungsformen und kognitiven Strukturen ist darin zu suchen, daß die genetische Evolution des Menschen abhing von der Struktur und Auflösungskraft jener Sinnesorgane, die ihrer prinzipiellen Konstruktion nach viel früher in der tierischen Evolution angelegt waren und kaum noch verbessert werden konnten. Demgemäß war die genetische Evolution der Hominiden in den letzten zwei Millionen Jahren in erster Linie eine Evolution des Gehirns, eine Evolution der Datenverarbeitung.«[12]

Die Folge ist, dass unser Vorstellungsvermögen für Mikrokosmos und Makrokosmos nicht ausreicht, wiewohl auch dort die Realstrukturen mehr oder weniger denen des Mesokosmos entsprechen dürften, so dass indirekte Methoden der Beobachtung und die Mathematik nicht versagen. Die Quantenphysik hat jedenfalls die Suche nach einer Realität mit Ursache und Wirkung nicht aufgegeben.[13]

Es sind Menschen, die über das Verhältnis von Materie und Mensch theoretisieren. Sie können nicht aus ihrer Haut, schreiben aber über etwas außerhalb ihrer selbst, bestätigen damit den Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, den sie doch überwinden wollen. Das ist der performative Widerspruch der Beobachtung. Der Beobachter ist Teil der Welt, die er beobachtet, und hat doch keine Wahl als die Welt wie etwas Fremdes anzusehen, also als Subjekt über Objekte zu denken und zu reden.

Normativ wendet der Neue Materialismus sich gegen den mit den beklagten Dualismen verbundenen Anthropozentrismus und fordert einen sorgsameren Umgang mit Natur und Umwelt. Barad spricht von verantwortungsvoller Objektivität. Solche Forderungen sind gerne akzeptiert. Dazu braucht es keinen Umweg über die Epistemologie. Mit Epistemologie lässt sich keine Ethik begründen. Der Begriff des Anthropozentrismus entwickelt insoweit eine Eigendynamik, weil er einerseits für die epistemologische Position des Repräsentationalismus und andererseits für ein normatives Konzept steht. Beides hängt allenfalls historisch zusammen. Anthropozentrismus als normatives Konzept hat auch keineswegs zwangsläufig eine Geringschätzung von Natur und Umwelt zum Inhalt. Im Gegenteil: Allein der Mensch kann und muss Verantwortung gegenüber Umwelt und Natur übernehmen.

Es ist keine Frage, dass Raum, Zeit und Materialitäten aller Art menschliches Handeln bestimmen. Aber solche Bestimmung findet ihren Weg immer nur über das menschliche Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen, oft auf vielen Umwegen, so dass es an aktuellem Bewusstsein fehlen mag. Materie wirkt, aber sie handelt nicht. Sie liefert Dispositive, nicht mehr und nicht weniger. In letzter Instanz bleibt es der Mensch, der handelt.

Eine Antwort, wie man aus dem Materiellen im weitesten Sinne – und damit aus der »Natur der Sache« – normative Konsequenzen ableiten kann, bleibt der material turn schuldig. Nur wenn man ihn oberflächlich beim Namen nimmt, kann man daraus einigen Nutzen ziehen, sei es, dass man öfter ins Museum geht, um die Materialisierungen der Kultur zu bewundern, sei es, dass man sich ermutigt fühlt, um mit der »Natur der Sache« zu argumentieren.


[1] Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky, 2015, Einleitung S. 9.

[2] Dazu allgemein Tony Bennett/Patrick Joyce (Hg.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, 2010 (Einleitung der Hg. S. 1-19); Peter J. Bräunlein, Material Turn, in: Georg-August-Universität Göttingen (Hg.), Dinge des Wissens 2012, 30-44; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Neue Materialismen zur Einführung, 2021 (Rezension von Martin Küpper, Zeitschrift für philosophische Literatur 9, 2021, 52-57; Martin Küpper, Materialismus, 2017; Hyo Yoon Kang/Sara Kendall, Introduction, Law Text Culture 23, 2019, 1-15; Chandra Mukerji, The Material Turn, in: Robert A. Scott/Stephan M. Kosslyn (Hg.), Emerging Trends in the Social and Behavioral Sciences 2015, S. 1-13. Seit 1996 erscheint bei SAGE ein Journal of Material Culture.

[3] uf der gleichen Ebene liegen temporal turn und spatial turn, die aber selten mit mit dem material turn zusammen gebracht werden.

[4] Bruno Latour, Das Parlament der Dinge: für eine politische Ökologie, 2001 [La fabrique du droit, Une ethnologie du Conseil d‘Etat, 2002], Rezension von Fabian Steinhauer, Der Staat, 56, 2017, 293-304.

[5] Über technische Vermittlung, in: Belliger/Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.

[6] Gianna Behrendt, Soziologie der Resonanz Der Naturjoghurt, in: Anna Henkel (Hg.), 10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 29-39.

[7] Hyo Yoon Kang, Law‘s Materiality: Between Concrete Matters and Abstract Forms. How Matter Becomes Material, in: Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos (Hg.), Routledge Handbook of Law and Theory, 2019, 453-474, S. 454 u. 458.

[8] Martin Kallmeyer, New Materialism: neue Materialitätskonzepte für die Gender Studies, in: Beate Kortendiek u. a. (Hg.), HB Interdisziplinäre Geschlechterforschung, 2017, 1-10; Nina Lykke, Feministische Postkonstruktionismus, in: Tobias Goll u. a. (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, 2013, S. 36-48.

[9] Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies 14, 1988, 575-599, S. 579.

[10] Karen Barad, Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, Signs: Journal of Women in Culture and Society 28, 2003, 801-831; dies., Agentieller Realismus, Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, 4. Aufl. 2020; dazu; Katharina Hoppe/Thomas Lemke, Die Macht der Materie: Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad, Soziale Welt 66, 2015, 261-279; Sigrid Schmitz, Karen Barad: Agentieller Realismus als Rahmenwerk für die Science & Technology Studies, in: Diana Lengersdorf/Matthias Wieser (Hg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, 2014, 279-291. .

[11] Hans Mohr, Natur und Moral, 1987.

[12] Mohr S. 26f.

[13] Das lässt sich der Nobelpreisrede von Anton Zeilinger entnehmen: https://www.youtube.com/embed/fW4SwcMQYdA.

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