Wissen in (Inter-)aktion

Vor mir liegt der von Ulrich Dausendschön-Gay, Christine Domke und Sören Ohlhus herausgegebene Sammelband »Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern«, Berlin 2010. Da läge er nicht, wenn ich nicht selbst einen Beitrag beigesteuert hätte. [1](Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht … Continue reading Der Band ist aus einer Tagung im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld (ZiF) im November 2006 hervorgegangen und teilt die Probleme aller Tagungsbände. Die Tagung war für die Teilnehmer interessant. Aber lesen wird ihre Beiträge wohl kaum jemand. Wer würde dort gar rechtssoziologisch einschlägige Beiträge suchen? Bevor ich den Band im Regal zur letzten Ruhe bringe, will ich drei solcher Beiträge erwähnen mit dem Hinweis, dass nicht viel versäumt, wer sie nicht liest.
Die »Fälle« der Juristen haben es Soziologen, Ethnologen und Linguisten angetan. Die Konstitution des Sachverhalts (oder Konstruktion des Rechtsfalls) ist auch Gegenstand empirischer Forschung gewesen. Insbesondere eine Projektgruppe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte hat sich auf diesem Gebiet betätigt. (Der arme Universitätsjurist fragt sich, ob den Historikern die Geschichte ausgegangen ist.) Daraus sind verschiedene Veröffentlichungen hervorgegangen, insbesondere ein Sammelband herausgegeben von Jeannette Schmid/Thomas Drosdeck/Detlef Koch: Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, Baden-Baden 1997. Der Beitrag von Kent D. Lerch zu dem eingangs genannten Sammelband (S. 225-247) fasst die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammen: Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter. Eigentlich ging es um ein interessantes und witziges Experiment, das mit einem fiktiven Arzthaftungsfall die vermutlich unterschiedliche Reaktion von 52 Richtern überprüfen sollte. Dazu wurde eine Prozess-Situation hergestellt, in der die Probanden den Fall von Anfang bis Ende durchspielen konnten. Sie konnten einen Verhandlungstermin bestimmen, Parteien, Zeugen und Sachverständige laden, Fragen stellen und Beweis erheben und sollten am Ende ihr Urteil fällen. Das Vorgehen der Richter war durchaus nicht einheitlich und auch ihr Urteil fiel nicht einheitlich aus, die Differenzen waren aber nicht dramatisch. Doch irgendwelche Determinanten, die das Verfahren in eine bestimmte Richtung gelenkt hätten, konnten nicht ausgemacht werden. Auffallend war nur eine Bevorzugung der Anspruchsgrundlage, die die arbeitsökonomisch den geringsten Aufwand verursachte. Da Verfahrens- und Urteilsvarianzen nicht auf systematische Einflüsse zurückgeführt werden konnten, konnte »nur noch der bloße Zufall als Erklärung herangezogen werden«. Im Grund eine schöne Bestätigung der richterlichen Arbeitsweise, insbesondere der sogenannten Relationstechnik.
S. 259-279 folgt ein zweiter Beitrag, der sich mit der Sachverhaltsrekonstruktion im Strafverfahren befasst: Ludger Hoffmann, Wissensgenerierung: der Fall der Strafverhandlung. Er bildet ein Beispiel dafür, wie Soziologen und Linguisten für ihre Mikroanalysen zunächst einen eindrucksvollen Begriffsapparat aufbauen und dann bei der Fallbearbeitung in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Man lernt, wenn man es nicht schon weiß, dass es im Strafverfahren nicht um schlichte Tatsachenfeststellung und glatte Subsumtion geht. Aber verallgemeinerungsfähige Aussagen habe ich der Arbeit von Hoffmann nicht entnehmen können.
Der genannte Sammelband enthält – merkwürdigerweise an ganz anderer Stelle – noch einen weiteren Beitrag, der sich ethnographisch mit den Vorgängen im Strafverfahren befasst, und zwar mit »Konstruktion von Glaubwürdigkeit«: Stefan Wolff, Defensives Wissensmanagement im Strafverfahren (S. 71-90). Wir erfahren, dass die Glaubwürdigkeit eines Zeugen keine allgemeine Eigenschaft einer Person oder einer Aussage ist, sondern das Ergebnis voraussetzungsvoller Leistungen der Beteiligten, dass sich im Vollzug der Situation vor Ort ergibt. Auch hier erfährt man nichts aufregend Neues. Die als Frage formulierte These lautet: »Das deutsche Strafverfahren ist einerseits programmatisch auf die Ermittlung von Wahrheit ausgerichtet. Im Hinblick darauf könnte man erwarten, dass dem Gericht an einer möglichst breiten Wissensbasis für seine Entscheidungen gelegen ist. Andererseits fällt auf, dass die Beteiligten keineswegs jedes mögliche wissen in foro zur Kenntnis nehmen, dokumentieren oder berücksichtigen. Dem außen stehenden Beobachter drängt sich sogar gelegentlich der Eindruck auf, hier eine Form von strategischer Ignoranz beobachten zu können.« (S. 72) Was da konkret an Wissen ausgespart bleibt, sind Glaubwürdigkeitsgutachten, die von den Gerichten praktisch nur eingeholt werden, wenn es um Kinder oder Opferzeugen insbesondre bei Sexualdelikten geht. Dass solcher Verzicht kritisch sei, wird aber gar nicht behauptet. Zu unserer Überraschung erfahren wir nur dass »Gerichte die Vergangenheit grundsätzlich nur im Format des vorliegenden Falles [rekonstruieren]. Nur das, was zur Fallkonstruktion und Fallentscheidung nötig ist, wird in Betracht gezogen – mehr nicht.« Deshalb muss niemand diesen Beitrag lesen.
Der kritische Stachel, mit dem die Sozialwissenschaften einmal in der Rechtspraxis herumstocherten, ist anscheinend abgebrochen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 (Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht geglückten – Klausurenexperimente im Projekt »Visuelle Rechtskommunikation« zu berichten.

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Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen Rechts

Dieses Posting setzt den Beitrag vom 25. 11. 2010 fort. Man kann es als Kritik des Buches, »Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts« von Andreas Fischer-Lescano und Gunther Teubner (Frankfurt a.M. 2006) lesen.
Die systemtheoretische Analyse behauptet für das neue Weltrecht, verglichen mit den Rechten territorialer Rechtsordnungen, eine neue Qualität. Es ist eine gängige Argumentationsstrategie, die Gegenposition, von der man seine Entdeckung abheben will, kontrastreich darzustellen. Man darf deshalb kritisch fragen, ob die Unterschiede wirklich so groß sind. Der Antwort kommt man näher, wenn man den Vergleich zwischen den traditionellen territorial begrenzten Rechtssystemen und den neuartigen Rechtsphänomenen der Globalisierung konsequent in den systemtheoretischen Rahmen stellt. Dieser Rahmen wird leicht verlassen, wenn nicht zwischen dem Weltrecht im engeren Sinne und einem Weltrecht im weiteren Sinne unterschieden wird. Das Weltrecht i. e. S. besteht aus der Menge der neuartigen globalen Rechtsbildungen. Das Weltrecht i. w. S. ist alles Recht der Weltgesellschaft unter Einschluss auch der territorialen Rechte der Staaten. Das Weltrecht i. e. S. ist das neue Weltrecht. Das Weltrecht i. w. S. ist das ganze Weltrecht.
Systemtheoretisch geht es um die Frage nach der Reichweite des Weltrechts und nach seiner Binnenstruktur. Wenn wir von einem einzigen Weltrechtssystem ausgehen, dann umfasst es nicht bloß das neue, sondern das ganze Weltrecht. Die Binnenstruktur des Weltrechtssystems kann man unter dem Gesichtspunkt seiner Einheit oder unter dem Aspekt seiner Differenzierung betrachten. Die Einheit des Systems stützt sich auf seinen Recht/Unrecht-Code. Aber zum Systemcode gehören auch Programme, die die Zuteilung der Kommunikationen zu den Codewerten steuern. Und da scheint es an einem einheitlichen Programm für das ganze Weltrecht zu mangeln. »Die Einheit des Weltrechts [gründet sich] nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen«. [1]Regime Kollisionen S. 34. Das ist freilich keine Besonderheit des neuen Weltrechts. Auch für die nationalen Rechtssysteme gilt, dass sie ihre Einheit allein aus der Verknüpfung von Rechtsoperationen beziehen, die man prozessual nennen mag oder auch nicht. Die hierarchische Ordnung dagegen betrifft nur den Innenbereich der nationalen Systeme. Im Außenverhältnis, und damit auch im Verhältnis untereinander, gibt es keine Hierarchie. Der Zusammenhang zwischen den nationalen Rechtsordnungen ist also nicht stärker als derjenige zwischen den »thematisch-funktionalen« Rechtsregimes.
Es geht auch gar nicht um die innere Ordnung der nationalen Rechtssysteme, sondern um die Frage, wie sich diese in die Weltgesellschaft einfügen. Wenn insoweit Hierarchie als Differenzierungsmodus ausscheidet, bleiben vor allem die segmentäre Differenzierung. Sie bedeutet die Gliederung in prinzipiell gleiche Teilsysteme. Die Gliederung der Welt nach dem Prinzip der Territorialität ist daher eine segmentäre. Offen bleibt, ob es sich dabei um eine primäre Differenzierung oder um eine Zweitdifferenzierung handelt.
Die Antwort gibt Luhmann: »Die Weltgesellschaft ist, soweit es um Systemdifferenzierung geht, durch einen Primat funktionaler Differenzierung gekennzeichnet.« [2]RdG 572. Daneben besteht »die segmentäre Zweitdifferenzierung des weltpolitischen Systems in »Staaten«. [3]RdG 582. Das bedeutet, dass die Gliederung in nationale Rechte nicht länger eine primäre segmentäre Differenzierung bildet. Nach der Entstehung der funktional differenzierten Weltgesellschaft hat die territoriale Gliederung nur noch die Bedeutung einer segmentären Zweitdifferenzierung. Die nationalen Rechtssysteme sind nur noch Subsysteme des Weltrechts.
Quer dazu liegt eine andere Zweitdifferenzierung des Weltrechtssystems, die nur das neue Weltrecht erfasst, nämlich eine sektorielle Differenzierung nach Regelungskomplexen.
»Die Gesellschaftsfragmentierung schlägt in der Weise auf das Recht durch, dass eine erfolgsorientierte politische Regulierung unterschiedlich strukturierter Gesellschaftsbereiche eine Parzellierung von issue-spezifischen Policy-Arenen erfordert, die sich ihrerseits stark juridifizieren. Damit wird die traditionelle Binnendifferenzierung nach dem Prinzip der Territorialität in relativ autonome nationale Rechtsordnungen überlagert von einem sektoriellen Differenzierungsprinzip: der Differenzierung des Weltrechts nach transnational einheitlichen Rechtsregimes, die ihre Außengrenzen nicht territorial, sondern issue-spezifisch definieren und einen globalen Geltungsanspruch erheben. Dabei ist zu betonen, dass es nicht darum geht, die alte Differenzierung in nationale Rechtsordnungen abzulösen. Niemand behauptet, dass der Nationalstaat in Prozessen der Globalisierung abgeschafft wird, auch wenn dies von Sympathisanten des Nationalstaates immer wieder unterstellt wird. Es geht nicht um Ersetzung einer Binnendifferenzierung durch die andere, sondern um die Überlagerung zweier unterschiedlicher Prinzipien: territorial-segmentäre und thematisch-funktionale Differenzierung.« [4]Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, 2007, Internetfassung S. 10; ähnlich dies., Regime-Kollisionen, 2006, 36.
Ein »sektorielles Differenzierungsprinzip« gehört nicht zum vertrauten Katalog der Differenzierungsformen der Systemtheorie. [5]Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 613) nennt vier solcher Formen: (1) Segmentäre Differenzierung; (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) Stratifikatorische … Continue reading Das sehen natürlich auch Fischer-Lescano und Teubner:
»Die Trias segmentärer, hierarchischer und funktionaler Differenzierung scheint hier nicht zu funktionieren. Weder sind die globalen Rechtsregimes als gleichartige Segmente anzusehen, noch sind sie untereinander hierarchisch aufgebaut, noch folgen sie den Kategorien der gesellschaftsweiten Funktionssysteme.« [6]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 37.
Dass die Sektorenbildung für transnationale Rechtsregimes nicht der Einteilung der gesellschaftsweiten Funktionssysteme folgen soll, liegt nicht auf der Hand. Immerhin sprechen Fischer-Lescano/Teubner von einer »thematisch-funktionalen Differenzierung« [7]Regime-Kollisionen, S. 37., und die Nähe etwa der lex mercatoria zum Wirtschaftssystem oder der lex sportiva zum System des Sports ist auffällig. Die Zuordnung ist nicht immer so klar. Aber es nicht zu übersehen, dass viele Rechtsregimes enge Bindungen zu einem Funktionssystem haben. Das gilt nicht nur für die Privatregimes, sondern auch für die meisten völkerrechtlich gestützten Regelungskomplexe. Nur so lässt es sich erklären, dass sich die »Bereichslogiken« in die Rechtsregimes hinein verlängern und zu Regime-Kollisionen führen.
Warum die globalen Rechtsregimes, anders als die nationalen Rechtssysteme, nicht als gleichartige Segmente angesehen werden könnten, wird von Fischer-Lescano und Teubner nicht begründet. Es handelt sich um prinzipiell gleichartige Strukturen, und das genau ist das Kriterium für segmentäre Differenzierung. Mit der Erfindung einer neuen Differenzierungsform ist nichts gewonnen. Die sektoriell genannte Differenzierung der Rechtsregimes kann man ohne weiteres als eine segmentäre einordnen. Und zwar handelt es sich auch insoweit um eine segmentäre Zweitdifferenzierung. Denn die Regimes sind ihrerseits Subsysteme des Weltrechts: Die Regimes werden als Systeme behandelt: Sie verfügen intern über die Autonomie begründende Reflexivität ihrer Rechtsbildungsprozesse. Ihnen wird eine Eigenlogik zugeschrieben und sie gehen strukturelle Kopplungen ein. Man könnte allenfalls fragen, welchem Code die Rechtsregimes gehorchen, dem allgemeinen Rechtscode oder einem regimespezifischen? Zieht man hier wieder die Parallele zu den nationalen Rechtssystemen, ist die Antwort klar. So wie die territorial begrenzten Rechtssysteme nicht über einen territorial geprägten, sondern nur über den allgemeinen Rechtscode verfügen, beziehen die transnationalen Rechtsregimes ihre Systemidentität nicht aus einem themenspezifischen, sondern nur aus dem allgemeinen Rechtscode. Wie sich daneben die Bindung zwischen den Rechtsregimes und ihren Muttersystemen systemtheoretisch konstruieren lässt, steht auf einem anderen Blatt.
Es ist offensichtlich, dass die globalen Rechtsregimes untereinander nicht hierarchisch verknüpft sind. Daraus folgt indessen nicht, dass sie nicht intern hierarchisch strukturiert wären. Zum politikwissenschaftlichen Regimebegriff gehört die proliferation of tribunals: Ein Regime geht typisch mit ausformulierten Regeln und Verfahren einher. Oft gehört zu den Verfahren auch eine gerichtsähnliche Instanz. Tatsächlich ergibt auch die systemtheoretische Detailanalyse der diversen Rechtsregimes, dass diese intern hierarchisch aufgebaut sind. [8]Teubner beschreibt etwa die innere Struktur der Codes of Conduct transnationaler Unternehmen als hierarchisch (Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen?, 2010, 14). Daraus wird sogar ein besonderes Thema, nämlich die Selbstkonstitutionalisierung der Rechtsregimes. Ein hierarchischer Aufbau im engeren Sinne wäre nicht einmal notwendig, wenn nur eine einzige Letztentscheidungsinstanz besteht, wie es bei den privaten Regimes der Fall ist, wenn die Normierungen nur eine Schiedsgerichtsklausel enthalten Daher spricht die Existenz von 125 gerichtsähnlichen Entscheidungsinstanzen für das neue Weltrecht ebenso wenig gegen die Einheit des Weltrechtssystems wie die Existenz von 196 Staaten mit eigenen Rechtssystemen.
Es bleibt die Frage, wie diese Rechtsregimes koordiniert sind, wenn nicht hierarchisch. Die Antwort von Fischer-Lescano und Teubner heißt: Heterarchisch durch Interlegalität. Aber im Grunde ist die Frage falsch gestellt, jedenfalls wenn man die territoriale und die sektorielle Differenzierung parallel betrachtet. Dann wäre die Analogie zur nationalstaatlichen Hierarchie innerhalb der einzelnen Regimes zu suchen. Die Koordination zwischen den transnationalen Rechtsregimes liegt dann auf der gleichen Ebene wie diejenige zwischen den nationalen Rechtssystemen. Daher passt die Antwort »heterarchisch durch Interlegalität« auf beide.
Die Parallelisierung von transnationalen Rechtsregimes und territorialen Rechtssystemen lässt sich weiter führen. Der sachliche Beitrag der Systemtheorie zur Beobachtung der Globalisierung des Rechts liegt darin, dass die Fragmentierung des Rechts aus dem Gegeneinander der gesellschaftlichen Funktionssysteme erklärt wird. Aber das ist im Vergleich mit den territorialen Rechtssystemen keine Besonderheit. Die Funktionssysteme nehmen auf territoriale Grenzen keine Rücksicht, und so leiden die nationalen oder territorialen Rechte unter deren »Expansionsdrang« und ihren konkurrierenden »Eigenrationalitäten« nicht weniger als die transnationalen Rechtsregimes. Tatsächlich hatte Teubner auch innerhalb der nationalen Rechtssysteme eine der Fragmentierung des globalen Rechts entsprechende »Polykontexturalität« ausgemacht.
»Der Ultrazyklus zwischen dem Recht und den gesellschaftlichen Teilsystemen »führt dazu, daß das Recht sich immer stärker pluralisiert und fragmentiert, weil es sich in gesellschaftliche Abhängigkeiten begibt, seine dogmatische und konzeptuelle Einheit zugunsten einer ›postmodernen‹ Vielheit der Rechtsdiskurse aufgibt.« [9]Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; 25.
Wenn die nationalen Rechte die Folgeprobleme besser im Griff haben, so liegt das weniger an ihrer hierarchischen Binnenstruktur, sondern eher an ihrer Allzuständigkeit, daran, dass sie, anders als die transnationalen Rechtsregimes, nicht thematisch begrenzt sind.
Das Auftauchen autonomer Privatregimes, so erfahren wir, führe zum »Zusammenbruch der klassischen Rechtsnormenhierarchien« [10]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48.. Das ist eine rhetorische Dramatisierung. Im Weltrecht hat es bisher keine »klassische Rechtsnormenhierarchie« gegeben, die zusammenbrechen könnte, und die Hierarchien der nationalen Rechte werden durch das neue Weltrecht nicht unmittelbar tangiert. Aber natürlich kann man fragen, wie die Funktion der Hierarchie im Weltrecht ausgefüllt wird.
»Was aber tritt an die Stelle einer Rechtsnormenhierarchie? – die Differenz Zentrum /Peripherie. Während im Zentrum des Rechts die Gerichte stehen, setzt sich die Peripherie autonomer Rechtsregimes aus politischen, ökonomischen, organisationalen religiösen Normierungskomplexen zusammen, die an der Grenze des Rechts zu autonomen Gesellschaftssektoren stehen, dennoch aber integraler Bestandteil des Rechtssystems selbst sind. Wieder ist es die Fragmentierung der Weltgesellschaft, die neue Bruchlinien, nun zwischen dem Rechtszentrum, der Rechtsperipherie und den gesellschaftlichen Umwelten des Rechts erzeugt. An den Kontaktstellen der Rechtsperipherie zu den autonomen Gesellschaftssektoren formieren sich plurale Rechtsbildungsmechanismen: standardisierte Verträge, Vereinbarungen professioneller Verbände, Routinen formaler Organisation, technische und wissenschaftliche Standardisierungen, habituelle Normalisierungen, informelle Konsense von NGOs, Medien und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten.« [11]Ebenda S. 48.
Die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht auf die Beziehung von Elementen eines Systems untereinander, sondern auf deren Stellung im System. Gerichte haben eine zentrale Stellung im Rechtssystem ähnlich wie Krankenhäuser im Gesundheitssystem oder Universitäten im Wissenschaftssystem. Im Weltrecht, so verstehe ich das letzte Zitat, rücken die Gerichte aus dem Zentrum des Systems an die Peripherie. Welche Gerichte, die nationalen Gerichte oder die Entscheidungsinstanzen der transnationalen Rechtsregimes? Eigentlich können nur die letzteren gemeint sein, denn die nationalen Gerichte sind definitionsgemäß weit von den »pluralen Rechtsbildungsmechanismen« des transnationalen Rechts entfernt, gehören sie doch einer anderen Systemkategorie an. So verstanden ist die Aussage nicht besonders aufregend. Dass es auf der globalen Ebene an einer übergreifenden Gerichtshierarchie fehlt, wird niemand in Abrede stellen. Allerdings ist der Kontrast zur territorialen Ebene nicht so stark, wie er rhetorisch aufgebaut worden ist. Auch im Nationalstaat gibt es all die Phänomene, die Fischer-Lescano und Teubner »an den Kontaktstellen der Rechtsperipherie« ausgemacht haben, wenn auch vielleicht nicht in der gleichen Intensität.
Richtig und wichtig ist an der systemtheoretischen Konzeption die Beobachtung, dass transnationales Recht sich weitgehend themenspezifisch entwickelt hat. Aber eine besondere Kollisionsanfälligkeit des neuen Weltrechts folgt allein daraus nicht. Die Kollisionsneigung soll vielmehr aus der Nähe der transnationalen Rechtsregimes zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen resultieren. Die Tatsache solcher Affinität muss man wohl akzeptieren. Doch wo sind die Konflikte? Dieser Frage soll ein weiterer Beitrag nachgehen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Regime Kollisionen S. 34.
2 RdG 572.
3 RdG 582.
4 Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, 2007, Internetfassung S. 10; ähnlich dies., Regime-Kollisionen, 2006, 36.
5 Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 613) nennt vier solcher Formen: (1) Segmentäre Differenzierung; (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) Stratifikatorische Differenzierung, (4) funktionale Differenzierung.
6 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 37.
7 Regime-Kollisionen, S. 37.
8 Teubner beschreibt etwa die innere Struktur der Codes of Conduct transnationaler Unternehmen als hierarchisch (Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen?, 2010, 14).
9 Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; 25.
10 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48.
11 Ebenda S. 48.

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Legal Narratives V: Peter Stegmaiers ethnographischer Blick

Der Call for Abstracts der Sektion für Rechtssoziologie, auf den ich kurz hingewiesen hatte, verweist zur Erläuterung des Themenvorschlags » Wie weiß Recht? Juristische Methoden der Wissenskonstruktion« u. a. auf den Autor Peter Stegmaier. Dessen Buch »Wissen, was Recht ist. Richterliche Rechtspraxis aus wissenssoziologisch-ethnografischer Sicht« (2009) habe ich mir daraufhin angesehen. Ich bin voller Bewunderung über die Mühe, Sorgfalt, Detailversessenheit und Interpretationsfähigkeit des Autors. Von 70 Informanten an 21 verschiedenen Zivil- und Verwaltungsgerichten hat Stegmaier in Interviews und Arbeitsbeobachtungen umfangreiches Material gewonnen, das er mit Hilfe einer zuvor ausführlich und plausibel dargestellten Grounded Theory interpretiert. Eingangs liefert er auf über 100 Seiten eine gelungene Einführung in die wissenssoziologische Perspektive auf die Rechtspraxis (S. 25-118), die das Pflichtpensum einer Dissertation weit zurücklässt. In diesem Zusammenhang werden (S. 62-92) die einschlägigen Untersuchungen von Soeffner und Cremers (1988), Lautmann (1971) und Latour (2002) so ausführlich vorgestellt, dass man sie eigentlich gar nicht mehr selbst lesen muss. Der Bericht über die eigenen Erhebungen wird S. 138 -149 unter der Überschrift »Zur Forschungsstatistik« bescheiden heruntergespielt. Dann folgen drei große Kapitel, in denen das Material interpretiert wird, gespickt mit unzählbar vielen Zitaten aus den vertexteten Interviews und Gesprächen.

Das 2. Kapitel über »Die Fallbearbeitung als Arbeitsbogen« endet mit der Feststellung: »Der Fall wird in ausgewählte, unterscheidbare Elemente zerlegt, die Elemente werden in ihrer Wichtigkeit bewertet und neu sortiert mit Blick auf ein kohärentes Urteil neu zusammengesetzt.« (S. 233) Das folgende Kapitel über »Die pragmatische Strukturierung von Rechtsfällen« (S. 235-325) ist für den Juristenleser vielleicht das interessanteste, denn hier wird gezeigt, was von der juristischen Methodenlehre in der Praxis übrig bleibt, wie ich finde, erstaunlich viel. Das 4. Kapitel über »Richten in Interaktion – Ethnografische Beobachtungen richterlicher Beratungen« zeigt wunderbar, was es heißt, wenn man sagt, dass Kommunikation eigentlich immer mehr oder weniger auf ein Aushandeln hinausläuft. Die Summe zieht Stegmaier schließlich in Kapitel 5 mit der Überschrift »Die kontinuierliche Institutionalisierung von Recht«. Damit nimmt er den Institutionalisierungsbegriff von Berger und Luckmann auf, den er eingangs erläutert und eingeführt hatte.
Ich habe das Buch zwar nicht Satz für Satz, aber doch sehr weitgehend gelesen. Als Rechtssoziologe würde ich sagen: Eine ausgezeichnete Arbeit, viel zu aufwendig für eine Dissertation. Sie hat mir gezeigt, wie der der Ansatz der neuen (Konstanzer) Wissenssoziologie, den ich schon seit einiger Zeit kritisch beäuge, funktioniert. Überraschende Ergebnisse sehe ich jedoch nicht. Als Jurist finde ich, dass Stegmaier sich mit großer Empathie in die richterliche Arbeit eingefunden hat. Ich kann keine Fehldeutungen entdecken. Doch wenn ich an meine Juristen-Kollegen denke, so fürchte ich, dass sie sich in ihren (Vor-?)Urteilen über solche Sozialforschung eher bestätigt fühlen. Nach der Anlage der Untersuchung war es allerdings auch gar nicht möglich, den Punkt in den Griff zu bekommen hat, der Juristen gegenüber solchen Projekten skeptisch macht, nämlich den Umstand, dass die Profession es nicht mit einem und auch nicht mit einzelnen, sondern mit außerordentlich vielen Fällen zu tun hat und dass sie ihre im Umgang mit den Fällen gewonnene Erfahrung auch selbst reflektiert. Mit Mikroanalysen ihrer Fallbearbeitungen haben die Professionellen das Problem, dass die analysierenden Soziologen, Ethnologen, Linguisten usw. in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Aber auch das Ergebnis ist dann oft wenig aufregend:

»Der Handlungstyp ›Normierung‹, wie er sich aus den vorstehenden empirischen Untersuchungen ergibt, bedeutet ein Handeln, durch welches ein normativ mehr oder weniger kompetenter Akteur, im vorliegenden Kontext ein professioneller Jurist, etwas normativ deutet. Normiert wird in diesem Sinne nicht unbedingt etwas normativ nicht näher Bestimmtes, also etwa ein Sachverhalt, sondern normiert wird jeglicher Gegenstand des richterlichen Handelns (und jedes anderen juristisch-professionellen Handelns). Gegenstand kann, wenn man sich die Fallbearbeitung ansieht, nachgerade alles sein: ein Akteur, ein Ding, ein Ereignis, eine Tat, ein Bebauungsplan, aber eben auch eine bereits normierte Sache, Handlung oder Person, ein Urteil, ein schriftlicher Verwaltungsakt oder ein anwaltlicher Schriftsatz. Selbst eine in der Akte bereits genannte und begründete Norm kann durch den erneuten Zugriff der Richterin normiert werden: verändernd oder bestätigend. … Normieren heißt normativ deuten; sei es nun im Sinne sophistizierten rechtlichen Auslegens oder eines eher allgemeinen moralischen Bewertens. Wertigkeiten und Regelhaftigkeiten werden so erkannt, zugeschrieben und bemessen, sowohl in solitärer Handlung als auch in interaktiver Interpretationskommunikation.« (Stegmaier S. 394).

Aber interessant sind sie doch, die Fälle, die fallweise im Einzelfall anfallen.

Nachtrag: Eine ausführliche Rezension des Buches durch Miguel Tamayo findet sich hier.

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Wo bleibt der »Kampf ums Recht«?

In dieser Woche kam per Mail ein Call for Abstracts der Sektion für Rechtssoziologie für die »2. Konferenz der deutschsprachigen Recht- & Gesellschaftsforschung«, die vom 1. Bis 3. September 2011 unter dem Gesamtthema »Der Kampf ums Recht« in Wien stattfinden soll. Ich nehme an, dass der Aufruf in Kürze auch auf der Webseite der Sektion zu finden ist. Die Sektion will dazu drei Sitzungen zu folgenden Themen organisieren.
1. Die Rolle der Ethnographie in der Rechtsforschung: von der Justizforschung bis zur Diagnose von Rechtskulturen.
2. Wie weiß Recht? Juristische Methoden der Wissenskonstruktion.
3. Zur Psychiatrisierung des Rechts.
Die Themen sind interessant und wichtig. Aber mir fehlt der Bezug zum Generalthema. Vielleicht wird er ja durch das Angebot von Referaten nachgeliefert.

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Videos zur »Exzellenz in der Lehre«

Auch wenn ich mich von der Rechtspädagogik verabschiedet habe, will ich doch eine einschlägige Pressemitteilung weitergeben. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat im Internet unter dem Titel »Horizonte. Expertengespräche des Stifterverbandes« eine Reihe mit Videos gestartet. Die ersten vier Videos befassen sich mit der Frage »Wie entsteht Exzellenz in der Lehre?«. Die Reihe ist anscheinend auf Fortsetzung angelegt.
Wenn man mich fragte, was zur Verbesserung der Lehre sonst noch möglich wäre, würde ich wohl vorschlagen, sich noch einmal näher mit den Studiengebühren zu befassen. Wahrscheinlich gibt es Untersuchungen über die abschreckende Wirkung der Studiengebühren auf mögliche Studienanfänger. Ich habe die Frage nicht verfolgt. Dramatisch scheint die Wirkung allerdings nicht zu sein. Deshalb ist es wohl nicht abwegig, auch einmal nach positiv motivierenden Wirkungen der Gebühren zu fragen. Es lässt sich immerhin mutmaßen, dass die Gebühren bei den Zahlern eine Anspruchshaltung entstehen lassen, dass die Dozenten diese Haltung spüren und sich entsprechend stärker ins Zeug legen. Die Studenten wiederum könnten die Lehre, für die sie zahlen müssen, eher als knappes Gut schätzen und sie deshalb vielleicht besser nutzen. Effekte dieser Art sind ja wohl bei den kommerziellen Repetitorien zu beobachten. Mir ist bisher keine Untersuchung bekannt, die versucht, solche Effekte zu belegen oder gar zu quantifizieren.

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Begriffssoziologie I: Fragmentierung

In mancher Hinsicht erinnert die Systemtheorie Luhmanns und der Teubner-Schule an die alte Begriffsjurisprudenz. Sie baut sich ein Netz von Begriffen, die aufeinander abgestimmt sind und mit dem »System« an der Spitze eine Pyramide bilden. Die Pyramide ist eindrucksvoll und sie scheint standfest zu sein. Doch angesichts der Größe des Bauwerks und der vielen Baumeister kann es nicht ausbleiben, dass man gelegentlich auf Bausteine trifft, die nicht in das System zu passen scheinen, so der Begriff der Fragmentierung. In letzter Zeit bin ich im Feuilleton häufiger auf diesen Begriff gestoßen. Da steht er dann ohne rechte Abgrenzung neben Differenzierung und Pluralisierung. Fragmentierung ist aber auch zum Terminus der Systemtheorie geworden, insbesondere in den Arbeiten von Teubner und Fischer-Lescano zur Globalisierung des Rechts. Sein Stellenwert ist mir noch nicht ganz klar geworden. Auskunft ist aus ihrem gemeinsamen Buch von 2006 zu erwarten, das den Ausdruck schon im Titel trägt. [1]Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006. Zwar kommt »Fragmentierung« im Stichwortregister des Buches gar nicht vor. Aber im Text wird der Begriff laufend verwendet.
Auf den ersten Blick ist Fragmentierung ein deskriptiver oder Beobachtungsbegriff. Er bezeichnet etwas Unzusammenhängendes oder gar Auseinandergefallenes. Auch als deskriptiven Begriff kann man ihn nicht ohne ein theoretisches Vorverständnis verwenden. Man braucht also eine Vorstellung, was denn eigentlich der Zusammenhang oder das Ganze sein könnte. Das gilt zwar für alle deskriptiven Begriffe. Aber oft ist dieses Vorverständnis so selbstverständlich, dass es nicht explizit gemacht zu werden braucht. In diesem Sinne ist deskriptiv von der Fragmentierung des Völkerrechts die Rede. Gemeint ist, dass das Völkerrecht sich in einer Vielzahl von unzusammenhängenden Bruchstücken erschöpft. Im Hinterkopf hat man dabei die Vorstellung, das Völkerrecht könnte nach dem Muster des staatlichen Rechts ein flächendeckendes System bilden.
An die deskriptive Begriffsverwendung der Völkerrechtler knüpfen Fischer-Lescano und Teubner an, wenn sie die »Fragmentierung des globalen Rechts« behandeln. Abgelesen wird sie an der »beeindruckenden Zahl von 125 internationalen Institutionen, in denen unabhängige Spruchkörper verfahrensabschließende Rechtsentscheidungen treffen«. [2]2006, 8. Im Titel der Kurzfassung ihrer Arbeit [3]Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und … Continue reading wird auch das Gegenstück der Fragmentierung genannt, nämlich die »etatistische Rechtseinheit«. Fischer-Lescano und Teubner wollen aber sicher keine bloße Deskription anbieten, sondern eine elaborierte theoretische Analyse von eigenen und fremden Beobachtungen.

»Besonders systemtheoretische Konzepte einer funktional differenzierten Weltgesellschaft … [profilieren] das Verständnis einer polyzentrischen Globalisierung, das die Rechtsfragmentierung in einem neuen Licht erscheinen lässt.« [4]2006, 25.

Ihre These lautet:

»Die Rechtsfragmentierung ist nur ein Epiphänomen der tiefergehenden vieldimensionalen Fragmentierung der Weltgesellschaft selbst.« [5]2006, 24.

Die Fragmentierung des Rechts wird also auf die Fragmentierung der Weltgesellschaft zurückgeführt. Das wäre einleuchtend, wenn die Fragmentierung der Weltgesellschaft ebenso beobachtend beschrieben würde wie die Fragmentierung des Rechts. Das ist aber nicht der Fall:

»Die Fragmentierung der Weltgesellschaft« ist eine doppelte, nämlich »in funktional differenzierte globale Sektoren und in eine Vielzahl globaler Kulturen.« [6]2001, 6.

Der »kulturelle Polyzentrismus« der Regionalkulturen passt nicht recht in das Begriffsgerüst der Systemtheorie. Kulturelle Vielfalt wird in der Regel nicht als Fragmentierung, sondern als pluralistisch apostrophiert. Etwas ausführlicher erläutert Teubner sein Fragmentierungskonzept im Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsdiskussion: [7]Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36, S. 12. Von Durkheim über Weber, Adorno und Wittgenstein bis hin zu Foucault und Lyotard ist soziologische Analyse immer Analyse von gesellschaftlicher Fragmentierung, wenn irgendwelche schwer vereinbaren oder gar konfliktträchtigen Gegensätze thematisiert werden. Dabei erhält das Phänomen als »Polykontexturalität« noch einen anderen Namen. Damit wird »Fragmentierung« zur kritischen Version sozialer Differenzierung. Zurück zur doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft. Sieht man genauer hin, entspricht der zweiten Fragmentierung in unterschiedliche Regionalkulturen auch eine zusätzliche Fragmentierung des Weltrechts, nämlich diejenige »zwischen dem formalen Recht der Moderne und den gesellschaftlich eingebetteten Rechtsordnungen indigener Gesellschaften«. [8]Gunther Teubner/Korth, Peter, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative … Continue reading
Auf die Systemtheorie verweist die Rede von den funktional differenzierten globalen Sektoren, denn mit diesen Sektoren sind die Funktionssysteme der Weltgesellschaft gemeint. Solche Funktionssysteme lassen sich aber nicht einfach beobachten wie reale Gegenstände – und ein realer Gegenstand ist auch das Recht in seiner Fragmentierung.
Systemtheoretische Texte zeigen oft eine gewisse Zwittrigkeit, weil aus den Formulierungen nicht immer klar wird, ob mit dem »System« ein realer Gegenstand gemeint ist oder ob das »System« nur ein Modell oder eine Abstraktion bildet. Eigentlich kann nur das letztere der Fall sein. Andernfalls müsste man jeden realen Gegenstand exklusiv einem bestimmten System zuordnen können. Das funktioniert selbst dann nicht, wenn man nur Kommunikationen als reale Gegenstände zulässt. Ihre Zuordnung erfolgt über den Sinn, und der ist oft mehrdeutig. Vielleicht werden indigene Systemtheoretiker diese Alternative zurückweisen. Aber damit irritieren sie ihre Umwelt, so wie Teubner und Fischer-Lescano mich irritiert haben, indem sie in Bezug auf soziale Systeme in gleicher Weise von Fragmentierung reden wie im Hinblick auf konkrete Rechtsphänomene.
Was da fragmentiert ist, kann nicht das Rechtssystem als solches sein, denn das ist per definitionem, nämlich durch die Ausrichtung auf seinen einzigartigen binären Code, ein und dasselbe. Eine Fragmentierung kann nur die Strukturen des Systems betreffen. Sie lässt sich vielleicht an den Organisationen ablesen, die sich innerhalb des Rechtssystems zum Vollzug seiner Operationen und zur Implementation seines Funktionsprimats bilden. [9]Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 841. Organisationen des Rechtssystems sind vor allem die Gerichte. Organisationen sind ihrerseits Systeme. [10]Ebenda 826 ff. Auch was diese Subsysteme betrifft, changieren systemtheoretische Texte hinsichtlich der Frage, ob die Organisation als »Typus sozialer Systeme« [11]Ebenda S. 826. gemeint ist, oder ob es um konkrete Organisationen geht. Auf der Ebene der Subsysteme ist die begriffliche Unschärfe allerdings seltener schädlich, weil meistens die Art der gemeinten Organisationen soweit spezifiziert wird, dass der theoretische Begriff sich ohne weitere Operationalisierung als Beobachtungsbegriff eignet.
Auf Weltebene wird für Fischer-Lescano und Teubner die Systemdifferenzierung zur Erscheinungsform der Fragmentierung. Fragmentiert ist die Weltgesellschaft allein schon deshalb, weil sie in sich die bekannten Funktionssysteme ausbildet. Eigentlich war es bisher nicht üblich, die Gliederung der Gesellschaft in Funktionssysteme als Fragmentierung zu bezeichnen. Gebräuchlich war stattdessen der Begriff der Differenzierung. Die Erinnerung an die Begriffsjurisprudenz legt die Frage nahe, ob wir es hier mit dem sogenannten Inversionsverfahren [12]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 71. zu tun haben. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, denn mit der Auswechslung der Begriffe ändern sich ohne Ankündigung auch die Inhalte. Die geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft zeichnen sich nämlich durch Eigenrationalitätsmaximierung und Expansionsdrang aus.

»Durch ihre operative Schließung erzeugen die globalen Funktionssysteme eigene Freiheitsgrade für eine extreme Steigerung ihrer je eigenen Rationalität, die sie ohne Rücksicht auf ihre natürlichen und humanen Umwelten ausschöpfen. Sie tun dies, so lange es geht, also so lange ihre Umwelten dies noch tolerieren.« [13]2006, 27.

Es wird also unterstellt, dass die Funktionssysteme notwendig expansiv und damit aggressiv sind. Der Expansionsdrang der Systeme ist die Ursache aller Fragmentierung.

»… die fragmentierten operativ geschlossenen Funktionssysteme der Weltgesellschaft [setzen] in ihrem Expansionsdrang die eigentlichen Ursachen für die Probleme der Weltgesellschaft und sie bedienen sich zugleich des Weltrechts zur normativen Absicherung ihrer hochgezüchteten Bereichslogiken. Die Rechtsfragmentierung resultiert also letztlich aus der Eigenrationalitätsmaximierung unterschiedlicher Sozialsysteme.« [14]2006, 28 f.

Das ist aber alles andere als selbstverständlich. [15]Die Autoren berufen sich (S. 28 Fn. 15) dafür auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1088 ff. Die Fundstelle ist aber nicht ergiebig. S. 802 redet Luhmann von den Folgeproblemen der … Continue reading Selbstverständlich ist weder, dass Eigenrationalitätsmaximierung mit Expansionsdrang einhergeht. Noch ist selbstverständlich, dass alle Funktionssysteme Expansionsdrang zeigen. Die eigentlich interessante Frage, welche Funktionssysteme gerade expandieren und welche vielleicht auf dem Rückzug sind, wird damit ausgespart. Die Antwort müsste aus Beobachtungen realer Gegenstände abgeleitet werden. Tatsächlich werden aber umgekehrt aus postulierten Eigenschaften der Systeme (Eigenrationalitätsmaximierung + Expansionsdrang = Fragmentierung) reale Konsequenzen abgeleitet, nämlich die unvermeidliche Fragmentierung des Rechts. Das darf man wohl Begriffssoziologie nennen.

Nachtrag Mai 2011: In seiner Eröffnungsrede zum DGS-Kongress 2010 in Frankfurt a. M. findet Soeffner »eine ganze Reihe gegenwärtig beliebter Begriffsschimären« und meint, in Anlehnung an Mephisto ließe sich sagen: »Es glaubt der Mensch, wenn er Begriffe hört, es müsse sich die Welt nach dem Begriffe richten.« [16]Hans-Georg Soeffner, Die Zukunft der Soziologie, 35. Kongresses der DGS in Frankfurt am Main am 11. Oktober 2010, Soziologie 40, 2011, 137-150, S. 144. Auf der nächsten Seite folgt die schöne Formulierung vom »Begriffsprekariat, in dem wir uns bewegen«. Soeffners Beispiele sind allerdings andere als die Begrifflichkeiten der Systemtheorie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006.
2 2006, 8.
3 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007, 37-61, hier zitiert nach der Internetfassung.
4 2006, 25.
5 2006, 24.
6 2001, 6.
7 Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36, S. 12.
8 Gunther Teubner/Korth, Peter, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, Baden-Baden 2009, S. 137-168.
9 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 841.
10 Ebenda 826 ff.
11 Ebenda S. 826.
12 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 71.
13 2006, 27.
14 2006, 28 f.
15 Die Autoren berufen sich (S. 28 Fn. 15) dafür auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 1088 ff. Die Fundstelle ist aber nicht ergiebig. S. 802 redet Luhmann von den Folgeproblemen der funktionalen Differenzierung. Die sind in der Tat erheblich, begründen aber keinen Expansionsdrang.
16 Hans-Georg Soeffner, Die Zukunft der Soziologie, 35. Kongresses der DGS in Frankfurt am Main am 11. Oktober 2010, Soziologie 40, 2011, 137-150, S. 144.

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Was können wir von der Globalisierung wissen?

Jeder erlebt die Globalisierung. Er hört und sieht Nachrichten aus aller Welt, kauft Mangos aus Brasilien und Wein aus Südafrika, sieht und hört Menschen mit anderer Hautfarbe oder Sprache in der Nachbarschaft, reist freiwillig oder unfreiwillig in ferne Länder oder erfährt, dass die eigene Firma Arbeitskräfte entlassen will, weil sie in Marokko billiger produzieren kann. Wir lesen Zeitung, sehen fern und gugeln und fühlen uns im Großen und Ganzen recht gut über den Zustand der Welt informiert. Aber das ist wohl eine Illusion. So einfach kann man sich kein Bild von der Globalisierung machen. Dazu ist die Welt zu groß und vielfältig. Annähernd sieben Milliarden Menschen leben verteilt auf über 190 Staaten, der größte China mit über einer Milliarde Einwohnern, der kleinste wohl Nauru mit 13.500 Einwohnern. Vor allem aber ist die Welt in Bewegung. Globalisierung ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Politisch und wirtschaftlich und selbst physikalisch ist die Welt in schneller und unvorhersehbarer Entwicklung: 1989 der Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, 2009 eine weltweite Finanzkrise und 2029 vielleicht eine Klimakatastrophe?
Kann Wissenschaft uns helfen, die Globalisierung besser zu verstehen? Die wissenschaftliche Literatur zum Thema ist inzwischen so gewaltig und sie wächst jeden Tag weiter und die Themenvielfalt ist so groß, dass sie selbst zum Problem geworden ist. Kein Einzelner kann sie mehr übersehen, geschweige denn hinreichend auswerten. Das Bemühen, sich auf das rechtssoziologisch Relevante zu beschränken, macht die Aufgabe kaum einfacher. Wenn man in der Literatur sucht, die sich selbst als rechtssoziologisch zu erkennen gibt, dann ist es, als ob man in einem Aquarium angelt. Viele, und oft die interessanteren Informationen muss man aus dem Meer der soziologischen, ökonomischen und politikwissenschaftlichen Literatur herausfischen. Nach längerem Studium stößt man aber dann doch auf Themen und Thesen, die immer wiederkehren. Deshalb ist der Versuch, eine Art Basisinformation zur Rechtssoziologie der Globalisierung zusammen zu stellen, nicht hoffnungslos.
Wissenschaft kommt mit Theorie und Empirie. An großen Theorien ist kein Mangel. Beim Globalisierungsthema konkurrieren dieselben Theoriefamilien, die auch in der allgemeinen und in der Rechtssoziologie anzutreffen sind. Theorien sind wie Brillen. Sind sie gut angepasst, sieht man mit ihnen schärfer. Aber sie zeigen nichts Neues. Ob das, was man zu sehen glaubt, nicht bloße Einbildung ist, erweist allein Empirie im Sinne kontrollierter Beobachtung.
Für die makrosozialen und vor allem für makroökonomische Daten gibt es eine erstaunliche Anzahl offizieller oder semioffizieller Quellen, die meistens in Gestalt jährlicher Reports und Rankings erscheinen. UNO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds, die OECD und zahlreiche INGOs (International Non-Governmental Organizations), »Think Tanks« und Stiftungen offerieren Statistiken und Berichte, die Berichte meistens in Gestalt von Ländervergleichen (Rankings). Die internationalen Berichte vergleichen mit Vorliebe die Wirtschaftsfreundlichkeit, die politische Kultur und die soziale Lage der Bevölkerung eines Landes. Insgesamt gibt es wohl über 200 solcher Berichte. [1]Dazu verweise ich auf frühere Beträge über die von mir so genannte Berichtsforschung: Berichtsforschung als Datenquelle, Berichtsforschung II, Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt … Continue reading
Die Beobachtung des Globalisierungsprozesses hat ihre Tücken. Wenn wir empirische Untersuchungen im Nahbereich anstellen, können wir den Kontext einigermaßen übersehen und die Bedeutung der Ergebnisse (hoffentlich) richtig einschätzen.
Ein beliebter Untersuchungsgegenstand der Rechtssoziologie sind Konfliktregelungsverfahren. Ich habe mich selbst mehrfach auf diesem Gebiet betätigt. So habe ich mit meinen Mitarbeitern vor nun schon 30 Jahren untersucht, wie Verfahren am Amtsgericht ablaufen und unter welchen Umständen sie mit einem Vergleich abgeschlossen werden. Zuvor hatte ich fast zehn Jahre lang als Zivilrichter gearbeitet. Die Mitarbeiter waren angehende Juristen und Soziologen. Die Fälle, die wir beobachteten, waren unser Alltagserfahrung nicht völlig fremd. So waren wir uns einigermaßen sicher, ein abgrenzbares Phänomen zutreffend zu erfassen und einzuordnen. Die Leser unserer Veröffentlichung [2]Klaus F. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, 1983. (hoffentlich gab es welche) dürften in der Lage gewesen sein, Qualität, Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit der Arbeit zu verstehen und zu beurteilen. Ähnliches gilt für spätere Untersuchungen über außergerichtliche Streitregelung durch den sogenannten Schiedsmann. [3]1983/84 gab es ein größeres Projekt, in dem meine Mitarbeiterinnen eine klassische Begleitforschung zu einer Neuerung im zivilrechtlichen Güteverfahren vor dem Schiedsmann, die darin bestand, dass … Continue reading
Wenn ich dagegen heute eine Untersuchung über alternative Konfliktregelung in Mulukukú [4]Letitia M. Saucedo/Raquel Aldana (2007): The Illusion of Transformative Conflict Resolution: Mediating Domestic Violence in Nicaragua., einem Dorf in Nicaragua, lese, dann bin ich ziemlich hilflos, wie ich das Gelesene einordnen soll. Nicht viel anders geht es mir, wenn ich eine Untersuchung über Mediationsverfahren bei Gewalt gegen Frauen in einer Kleinstadt in Hawaii zur Kenntnis nehme. Merry beschreibt, wie sich dort unter dem Einfluss der internationalen Menschenrechts- und Frauenbewegung drei Gruppen gebildet haben, die Gewalt gegen Frauen auf ganz unterschiedliche Weise bekämpfen. [5]Sally Engle Merry, Rights, Religion, and Community: Approaches to Violence Against Women in the Context of Globalization, Law and Society Review, 35, 2001, S. 39–88. Eine feministische Gruppe nutzte ein in den USA entwickelte Umerziehungs- und Trainingsprogramm. Eine christliche Sekte (Pfingstkirche) griff zum Mittel ritueller Heilung und der Austreibung böser Geister verbunden mit Familienberatung. Und eine dritte Gruppe verwendete das auf Hawaii traditionelle Verfahren des H’oponopono. Dazu versammelt sich die Familie, betet und bittet um die Hilfe der Götter, um dann in einen Versöhnungsprozess überzuleiten.
Wir werden mit Beispielen aus Afrika, Lateinamerika, und Osteuropa bombardiert. Oft handelt es sich nur um anekdotische Belege. Es gibt zwar auch viele empirische Untersuchungen, die lege artis mit den Methoden der Sozialwissenschaften durchgeführt wurden. Doch selten oder nie gibt es Replikationen, ohne die man in anderen empirischen Disziplinen kein Ergebnis akzeptieren würde. Was aber für die Einschätzung solcher Untersuchungen noch schwerer wiegt, ist ihre Relativität zu einem weitgehend unbekannten Kontext. Wir können kaum übersehen, ob die Untersuchungsergebnisse für den Problemzusammenhang der Globalisierung typisch und damit verallgemeinerungsfähig sind.
Ökologie, Wachstum und Alterung der Bevölkerung, Weltfinanzkrise, die Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln, Energieversorgung der Zukunft und der Umgang mit einer globalen Klimaveränderung – alle diese Themen geben vor dem Hintergrund globaler Ungleichheit reichlich Konfliktstoff ab. Sie sind auf Mikro-, Meso- und Makroebene miteinander verwoben und spiegeln so die ganze Komplexität unserer modernen Welt. In Konfliktsituationen treffen schon auf der Beschreibungsebene beinahe zwangsläufig unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Je nach Kontext und Perspektive der Beteiligten werden andere Gesichtspunkte relevant. Daher ist kaum eine einzig richtige Beschreibung einer Situation zu erwarten.
Noch unsicherer werde ich, wenn ich allgemeine Prognosen, Einschätzungen oder Urteile lese, etwa vom Ende der Geschichte, vom Kampf der Kulturen, vom Rechtsimperialismus der westlichen Welt oder von der Verderblichkeit des neoliberalen Staates. Dabei drängt sich auf, dass viele solcher Einschätzungen von starken Werturteilen getragen werden. Wenn es um die Globalisierung geht, können viele Wissenschaftler ihre Kritik an den Zuständen und ihre politische Meinung nur schwer zurückhalten.
Auch die Rechtssoziologie ist nicht frei von Hintergrundtheorien, die man als ideologisch einordnen könnte. Einige Vorannahmen wird man gerne teilen, so die Wertschätzung von Demokratie und Menschenrechten. Andere dagegen sind nicht unproblematisch. Das gilt besonders für die Vorliebe für einen transnationalen Rechtspluralismus von unten und die damit korrespondierende Abneigung gegen staatliche Regulierung und das Völkerrecht als »klassischen Herrschaftsmodus internationaler Politik« [6]Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht der Zeitschrift »Kritische … Continue reading, die in systemtheoretische Vorstellungen von Selbstregulierung verpackt wird.
Dennoch gibt es kleinere oder größere Inseln des Wissens. Gelegentlich kann man sich mit einem rough consensus beruhigen. Aber im Großen und Ganzen zeigt uns die Globalisierungsforschung eigentlich nur, wie wenig wir wissen und wissen können. Eine Spur optimistischer dürfen wir vielleicht werden, wenn wir unsere Fragestellung bescheidener formulieren. Dann geht es nicht mehr um die Globalisierung als solche, sondern nur noch um die aktive oder passive Rolle des Rechts im Globalisierungsprozess.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu verweise ich auf frühere Beträge über die von mir so genannte Berichtsforschung: Berichtsforschung als Datenquelle,
Berichtsforschung II, Berichtsforschung: Generationsgerechtigkeit statt Generationengerechtigkeit — Die Verwestlichung der chinesischen Rechtswissenschaft. Alle Reports und Indices sind mit einer Suchmaschine im Internet leicht zu finden.
2 Klaus F. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, 1983.
3 1983/84 gab es ein größeres Projekt, in dem meine Mitarbeiterinnen eine klassische Begleitforschung zu einer Neuerung im zivilrechtlichen Güteverfahren vor dem Schiedsmann, die darin bestand, dass für den Gegner eine Erscheinenspflicht angeordnet war, wenn der Antragsteller sich (freiwillig) an den Schiedsmann gewendet hatte (Röhl (Hg.), Das Güteverfahren vor dem Schiedsmann, 1987). Zuletzt war ich mit 2004 auf diesem Gebiet mit einer Untersuchung über die obligatorische Streitschlichtung vor dem Schiedsmann aktiv (Röhl/Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung, 2005). Nunmehr ging es darum, dass prospektive Kläger verpflichtet wurden, sich zunächst eine Gütestelle zu wenden, bevor sie klagen durften.
4 Letitia M. Saucedo/Raquel Aldana (2007): The Illusion of Transformative Conflict Resolution: Mediating Domestic Violence in Nicaragua.
5 Sally Engle Merry, Rights, Religion, and Community: Approaches to Violence Against Women in the Context of Globalization, Law and Society Review, 35, 2001, S. 39–88.
6 Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht der Zeitschrift »Kritische Justiz (Heft 1/2010) mit dem Titel »Die Vielfalt transnationaler Rechtskreation ›from below‹ ((Symptomatisch die kurze Einführung von Andreas Fischer-Lescano/Tanja Hitzel-Cassagnes/Eva Kocher/Ulrich Mückenberger für das Schwerpunktheft »Transnationales Recht« der Zeitschrift »Kritische Justiz« (Heft 1/2010) mit dem Titel »Die Vielfalt transnationaler Rechtskreation ›from below‹«.

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Eigenlogik – eine neue Supertheorie

So neu ist die Sache eigentlich gar nicht. Aber auf dem Jubiläumskongress der DGS in Frankfurt ist sie mir besonders aufgefallen, die Eigenlogik als universelles Erklärungswerkzeug der Soziologen. Von der Logik der Organisation war da die Rede, von der Logik des Vertrages oder von Sanktionslogik. Die Eigenlogik der Bilder, so habe ich gelernt, liegt darin, dass sie über höhere Evidenz verfügen. Konstitutionslogisch handelt es sich dabei um eine Redensart zur Erklärung des nicht weiter Erklärbaren.
Situationslogik lasse ich mir gefallen. Es handelt sich um einen Begriff aus der soziologischen Handlungstheorie. Wer sich nicht treiben lässt, sondern sinnvoll handeln will, muss sich Ziele oder Zwecke setzen und nach Mitteln fragen, mit denen sie verwirklicht werden können. Er muss also fragen, welche Verhaltensweisen (= Mittel) geeignet sind, eine gegebene Ausgangssituation in eine gewünschte andere Situation (= Zweck) zu überführen. Ein Zweck kann darauf beschränkt sein, den gegebenen Zustand vor Veränderungen zu bewahren, eine Entwicklungstendenz zu beschleunigen oder sie zu bremsen. In manchen Situationen drängen sich bestimmte Handlungsstrategien geradezu auf. Situationen dieser Art werden von der Spieltheorie beschrieben. Insofern ist es angezeigt von einer Eigenlogik der Situation oder Situationslogik zu sprechen. Oft wird der Ausdruck gleichbedeutend mit »Rationalität« oder häufiger noch im Plural »Rationalitäten« gebraucht. Für die Frage, wie die Situation von den handelnden Personen »definiert« wird, sind Psychologie und Soziologie zuständig. [1]Zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
Entstanden ist die Rede von der Eigenlogik anscheinend zur Ersetzung von Luhmann geprägter Begriffe der Systemtheorie. Anstatt von autopoietischer Schließung und der daraus folgenden Autonomie sprechen manche von der »Eigenlogik« oder »Eigenrationalität« der Systeme. Gemeint ist damit, dass Systeme bestimmten Sachzwängen oder funktionalen Imperativen gehorchen und/oder, dass sie eine relative Autonomie besitzen. Wo zwei Systeme aufeinandertreffen, ist dann von Rationalitätenkonflikten die Rede: Die Wirtschaft arbeitet nach einer anderen »Logik« als die Politik; Religion und Wissenschaft können sich schwer verstehen; der Arbeitsmarkt fordert den räumlich und zeitlich mobilen Arbeitnehmer (Arbeitsmarktlogik), der den Anforderungen einer Familie (Familienlogik) kaum genügen kann, usw.
Bei Marc Amstutz [2]Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184 etwa lesen wir:

Die »Eigenlogik des Rechtsystems markiert nun gerade die äußerste Grenze der Variabilität seiner Normen. «

Von Teubner [3]Google Books findet den Ausdruck »Eigenlogik« in Teubners »Recht als autopoietisches System« vier Mal (auf S. 60, 92, 123 und 149). etwa erfahren wir, dass die Globalisierung sich »polyzentrisch« entwickelt; es entsteht eine Vielzahl von transnationalen Rechtsregimen, die den Eigenlogiken der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme folgen, die sich als solche zu Weltsystemen entwickelt haben. Dieses transnationale Recht wird nicht durch das Völkerrecht koordiniert, und es fügt sich erst recht in keinen Stufenbau und wird von keiner einheitlichen Gerichtshierarchie kontrolliert. Daraus entstehen »Regimekollisionen«, denn die jeweiligen transnationalen Rechtsregime orientieren sich an der Eigenlogik ihres Funktionssystems. Die WTO z.B. ist Teil des Wirtschaftssystems und setzt auf wirtschaftliche Rationalität mit der Folge, dass der Freihandel den Gesundheitsschutz behindert oder der weltweite Patentschutz angestammte Kulturtechniken in die Illegalität abdrängt. Mir erscheinen die »Eigenlogik« jeweils systemspezifischer transnationaler Rechtsentwicklungen und die daraus folgenden »Rationalitätenkonflikte« eher als Artefakte der zugrunde liegenden Theorie. Sie werden aus der »operativen Schließung« der Systeme abgeleitet, und Systeme wiederum sind per definitionem »autonom«.
Bei Systemtheoretikern hat die Eigenlogik einen festen Platz im Theoriegebäude. Doch sie wird auch ohne Theoriebezug verwendet. Einige Beispiele:
Aus dem 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (2. Aufl. 2009, BT Drucksache 16/12860, S. 61):

»Der Körper ist einerseits sperrig und widersetzt sich in seiner spezifischen Eigenlogik der vollständigen Instrumentalisierung.«

ind ebenda S. 71:

»… Themen wie … die Analyse unerwünschter Nebenwirkungen ›fürsorglicher Belagerung‹ und ihrer institutionellen Eigenlogiken …«

Oder: Aus Uwe Vormbusch, Die Kalkulation der Gesellschaft, in: Andrea Mennicken/Hendrik Vollmer (Hg.), Zahlenwerk, Kalkulation, Organisation und Gesellschaft, 1. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 43-64, S. 54.

»Form und Ergebnisse der in dieser Weise stimulierten Aushandlungsprozesse folgen einerseits einer gewissen (argumentativen und ›realweltlichen‹) Eigenlogik, andererseits sind sie eine Funktion der zugrunde gelegten Taxonomie und der Fähigkeit kalkulativer Praktiken, soziale Phänomene in organisierbare, komplexitätsreduzierte und handhabbare Größen zu transformieren.«

Der Begriff der Eigenlogik ist weitgehend zu einer bloßen Redensart verkommen, so etwa, wenn von einer »Eigenlogik der Städte« gesprochen wird, oder, wenn »Eigenlogik« und »Verzahnung« als Begriffspaar verwendet werden. Sehr hübsch eine Internetseite, die Beispielsätze mit »Eigenlogik« ins Englische übersetzt. Früher hätte man in vielen Fällen, für die heute von Eigenlogik die Rede ist, vom Wesen oder von der Natur der Sache gesprochen. Diese Redeweisen sind nicht ohne Grund in Verruf gekommen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, 1-34.
2 Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 184
3 Google Books findet den Ausdruck »Eigenlogik« in Teubners »Recht als autopoietisches System« vier Mal (auf S. 60, 92, 123 und 149).

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Jetzt kommt der Temporal Turn

Vom Linguistic Turn, Pictorial Turn und Cultural Turn ist mir noch ganz schwindelig. Nun komme ich gerade von einem Besuch auf dem Jubiläumskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt. Da gäbe es viel zu berichten. Aber Fleißarbeit ist meine Sache nicht. Ich will nur mitteilen, dass mein Drehschwindel in Frankfurt durch den Spatial Turn neuen Anstoß bekam. Nicht nur, weil es Veranstaltungen unter dieser Überschrift gab, sondern vor allem, weil die Tagung in dem neiderregend wunderbaren Space des neuen Westend Campus der Frankfurter Universität auf dem ehemaligen IG-Farben Gelände stattfand.
Doch es bleibt keine Zeit zum Ausruhen. Der nächste Turn kündigt sich an, und ich will ihn hier schon einmal ausrufen, den Temporal Turn nämlich. Schuld sind die Kulturwissenschaften. Für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung wird eine lange Reihe von Themen empfohlen, darunter auch Raum und Zeit. [1]Eine Aufzählung bietet der m. W. unveröffentlichte Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in … Continue reading
Raum und Zeit geben der Welt im Erleben der Menschen Struktur. Diese Struktur ist primär natürlich, beim Raum durch die Gestalt der Erde und ihrer Landschaften, bei der Zeit durch den Wechsel von Jahreszeiten, Tag und Nacht. Aber die natürliche Struktur wird überlagert durch eine soziale. Die Landschaften sind durch Besiedlung und Bauten gestaltet. Die Zeit erhält durch Kalender, Uhren und Gewohnheiten und Pläne ihren Rhythmus. Der natürliche Rhythmus der Jahreszeiten und vor allem von Tag und Nacht wird durch künstliche Vorgaben überlagert und ersetzt. Man kennt Datum und Uhrzeit und ist pünktlich. Der Tagesablauf wird geregelt. Schulstunden, Arbeitszeit und Bürostunden, Fahrpläne und Öffnungszeiten setzen sich gegenüber individuellen Befindlichkeiten durch. Die Zeiten für Arbeit, Ruhe und Vergnügen sind weitgehend fremdbestimmt, und daran haben sich alle wie selbstverständlich gewöhnt. Das alles ist als vorrechtliche Sozialdisziplinierung vielfach beschrieben worden. [2]Je nach Geschmack zitiert man hier Foucault, Oestreich, Treiber und Steiner und andere mehr.
Zeit korrespondiert mit Kausalität, denn Kausalität wird als eine zeitliche Abfolge von Ereignissen gedacht. Die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Rechtsgeschichte und historische Soziologie bringt Periodisierungen hervor, die auf das Verständnis des aktuellen Rechts zurückwirken. Für den Alltagsgebrauch sind es die sog. Narrationen, die das Recht zeitlich gliedern. Monoton wird beklagt, dass die Beziehung zwischen Recht und Zeit wissenschaftlich vernachlässigt worden sei. [3]Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«. Tatsächlich ist die Literatur zum Thema gar nicht so spärlich. [4]David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; … Continue reading
Überall im Recht ist die Zeit präsent, beim Alter von Personen, in Fristen und Terminen, bei der Verjährung, der Dauer einer Strafe usw. usw. Das ist trivial. Aber die Kulturwissenschaften leben davon, Trivialitäten hochzustilisieren. Positivität des Rechts bedeutet Änderbarkeit und begründet damit auch ein Zeitphänomen. Das ist durch Niklas Luhmann zu einem klassischen Thema der Rechtssoziologie geworden. Bei Luhmann findet man sicher auch eine theoretische Verpackung. Von Anfang an gehört die »Zeitdimension« zu der Begriffstrias, mit der er die Generalisierung von Erwartungen beschreibt. Die »Zeitlichkeit des Rechts« ist im »Recht der Gesellschaft« ein durchgehendes Thema. Hier wird die Zeitdimension sogar grundlegend für die Bestimmung der Funktion des Rechts. [5]Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 125 ff. Man muss man nicht unbedingt Luhmanns Paradoxologie übernehmen, wie sie in der These zum Ausdruck kommt, eine zirkuläre Definition der Rechtsgeltung könne nur durch zeitliche Asymmetrisierung unsichtbar gemacht werden [6]Ebenda S. 109.. Unverzichtbar ist aber Luhmanns Konzeption der Gesellschaft und damit des Rechts als Kommunikationszusammenhang. Gesellschaftliche Zeit entsteht dadurch, dass eine Kommunikation im Abstand von mehr als einer logischen Sekunde an die andere andockt. [7]So gesprächsweise in Frankfurt Fatimah Kastner. So formuliert es Luhmann selbst:

Auch wenn die einzelne Kommunikation nur einen kurzen Moment dauert, sondern im Moment ihrer Aktualisierung schon wieder verschwindet, ist sie doch darauf angewiesen, sich durch rekursive Vernetzung in der Zeit zu bestimmen, das heißt: sich auf bereits gelaufene Kommunikation und auf künftige Anschlußmöglichkeiten zu beziehen. Jede Kommunikation bindet daher Zeit insofern, als sie bestimmt, von welchem Systemzustand die weitere Kommunikation auszugehen hat. [8]Ebenda S. 126.

Wenn man das Recht mit Luhmann als Kommunikationszusammenhang betrachtet, fallen mir sogleich medientheoretische Anwendungsmöglichkeiten ein.
Von Harold Innis [9]Harold A. Innis, The Bias of Communication, 1951, mehrfach neu aufgelegt. stammt die These, dem jeweils dominierenden Kommunikationsmedium sei ein »bias«, eine Voreinstellung zugunsten bestimmter gesellschaftlicher Interessen und Organisationsformen inhärent. Innis stellte dabei auf das materielle Substrat der Kommunikation − Stein oder Tontafeln, Pergament, Papyrus und Papier und schließlich Elektrizität − ab. Maßgebliche Eigenschaften von Stein und Tontafeln sind räumliche Bindung und Dauerhaftigkeit, die die Zeitdimension und damit Tradition und Hierarchie begünstigen sollen. Das leicht transportable Papier dagegen ermöglicht die Ausdehnung der Herrschaft in den Raum, der Druck durch preiswerte Vervielfältigung eine soziale Breitenwirkung und die Elektrizität schließlich durch ihre Geschwindigkeit den sozialen Wandel.
Mit den juristischen Zeitschriften, die die Zeit schon im Titel führen, hat sich jüngst Oliver M. Brupbacher befasst: [10]Die Zeit des Rechts, Experimente einer Moderne in Zeitschriften, 2010.

Durch die hochgradige Selektivität ihrer periodischen Mitteilungen machen die Zeitschriften die Welt des Rechts selbst größer und unübersichtlicher. In der Zeitdimension: in Strategien des verzeitlichten Nacheinanders bewältigbarer Informationseinheiten, der Fokussierung auf die jeweilige datierte Gegenwart und der Latentstellung von Sinnüberschüssen, findet das Recht Lösungsformen für eine der Welt der Moderne adäquate Komplexität des Rechts.

Die Zeitlichkeit des Rechts korrespondiert mit der Zeitperspektive der Gesellschaft. Besonders interessant ist natürlich, wie sich die Zeitperspektive wandelt. Zu beobachten sind gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite Beschleunigung: Die Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsvorgängen durch die moderne Technik und die (dadurch beförderte) Globalisierung der Wirtschaft mit dem daraus folgenden Konkurrenzdruck haben zu einer Art Nonstop-Gesellschaft geführt. Die rechtliche Regelung von Feiertagen und Ladenschluss, Arbeitszeiten und Fristen aller Art muss darauf reagieren. Die Rechtssoziologie beobachtet besonders die Auswirkungen auf Arbeit und Familie.
Auf der anderen Seite steht die Dehnung der für relevant angesehenen Zeit. Traditionelle Verjährungsvorstellungen sind zu einem erheblichen Teil obsolet geworden. 1949 verjährte die Verfolgung von Mord noch in 20 Jahren. Dann wurde diese Verjährungsfrist im Blick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf 30 verlängert, und als 1979 auch diese Spanne ablief, ganz aufgehoben. Aber auch zivilrechtliche Wiedergutmachungsansprüche werden heute ohne Rücksicht auf Fristen zugelassen. Hier sind ganz deutlich die rechtlichen Konsequenzen einer Neubewertung von Kolonialismus und Sklaverei, Naziverbrechen und sozialistischen Diktaturen zu spüren. Die Konsequenz ist eine »Vermessung der Geschichte durch die Gerichte« [11]Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical … Continue reading. Rückwirkende Moralisierung schlägt auf das Recht durch.
Auch Erinnern und Vergessen sind zeitbezogene Tätigkeiten. Auf dem Kongress in Frankfurt wurden sie mehrfach mit dem Recht in Zusammenhang gebracht. In einer Veranstaltung der Sektion Entwicklungssoziologie sprach Anika Oettler [12]»Transitional Justice zwischen globalen Normen und lokalen Verhältnissen«. über den »Aufarbeitungsimperativ«, der politische Übergänge mit einer Vergangenheitsbewältigung durch Gerichtsverfahren, Wahrheitskommissionen, Lustrationen oder Reparationen verbindet. Als »Transitional Justice« erhält das Phänomen einen neuen Namen. In einer Ad-Hoc-Gruppe über »Erinnern und Vergessen im Kontext transnationaler Gesellschaften« wurde das Thema von Fatima Kastner aufgenommen. [13]Das Recht des Vergessens: Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aus systemtheoretischer Perspektive. (Eine Möglichkeit der Aufarbeitung mit noch etwas größerem Zeitabstand bieten die Historikerkommissionen, wie sie in Deutschland für Organisationen beliebt sind, zuletzt beim Auswärtigen Amt.) Auch ein rechtsoziologisch höchst relevanter Vortrag von Hans Dembowski über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Indien fügt sich in den Temporal Turn. [14]Die Gleichzeitigkeit von Vorgestern und Übermorgen – Staats-, Rechts- und Nationenverständnis in Indien.
Diese Andeutungen sollten ausreichen, um die Ausrufung des Temporal Turn für die Rechtssoziologie und darüber hinaus zu rechtfertigen. [15]Nachtrag vom 7. 11. 2010: Nicht ganz selten mache ich die Erfahrung, dass ironisch gemeinte Beiträge oder Sätze von den Lesern meines Blogs ernst genommen werden. Ich habe Anlass zu der … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine Aufzählung bietet der m. W. unveröffentlichte Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2006 im ZIF in Bielefeld stattgefunden hat.
2 Je nach Geschmack zitiert man hier Foucault, Oestreich, Treiber und Steiner und andere mehr.
3 Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«.
4 David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; Ali Khan, Temporality of Law, McGeorge Law Review 40, 2008; Bruce C. Peabody, Reversing Time’s Arrow: Law’s Reordering of Chronology, Causality, and History, Akron Law Review 40, 2007, 587-622; Charles F. Wilkinson, American Indians, Time and the Law, Yale University Press 1987.
5 Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 125 ff.
6 Ebenda S. 109.
7 So gesprächsweise in Frankfurt Fatimah Kastner.
8 Ebenda S. 126.
9 Harold A. Innis, The Bias of Communication, 1951, mehrfach neu aufgelegt.
10 Die Zeit des Rechts, Experimente einer Moderne in Zeitschriften, 2010.
11 Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical Injustice, 2004.
12 »Transitional Justice zwischen globalen Normen und lokalen Verhältnissen«.
13 Das Recht des Vergessens: Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aus systemtheoretischer Perspektive.
14 Die Gleichzeitigkeit von Vorgestern und Übermorgen – Staats-, Rechts- und Nationenverständnis in Indien.
15 Nachtrag vom 7. 11. 2010: Nicht ganz selten mache ich die Erfahrung, dass ironisch gemeinte Beiträge oder Sätze von den Lesern meines Blogs ernst genommen werden. Ich habe Anlass zu der Klarstellung, dass ich natürlich keinen Temporal Turn für Rechtssoziologie ausrufen will. Ich hatte gehofft, dass die Ironie aus den ersten beiden Absätzen deutlich würde.

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Das Rechtssystem in Zahlen

Gerade ist das Statistische Jahrbuch 2010 erschienen. Es lässt sich ganz oder kapitelweise herunterladen. Aus dem Kapitel 10 über die Justiz erfährt man etwa, dass es im Jahre 2009 in Deutschland 20 101 Richter, 5 111 Staatsanwälte und 143 647 Rechtsanwälte gab, dass im Jahre 2008 874 691 Personen wegen eines Vergehens und Verbrechens verurteilt wurden, dass bei den Amtsgerichten 1 314 738 und bei den Landgerichten 381 014 neue Klagen eingingen oder dass die Zahl der Amtsgerichte auf 661 geschrumpft ist. Um solche Daten einzuordnen, benötigt man einen Überblick über das Rechtssystem mit Vergleichszahlen und möglichst auch Zeitreihen. Ich habe deshalb vor vielen Jahren einmal versucht, eine Dissertation über »Das Rechtssystem in Zahlen« zu veranlassen. Leider hat die Bearbeiterin nach verheißungsvollen Anfängen wegen anderer Interessen aufgegeben. Ich halte das Thema aber nach wie vor für bearbeitungswürdig.
Ich würde von einem ganz naiven Systembegriff ausgehen und das Rechtssystem als ein Teilsystem der Gesellschaft behandeln, das im allgemeinen Bewusstsein regelmäßig klar von anderen Teilsystemen abgegrenzt ist. Als Teilsysteme der Gesellschaft kommen etwa in Betracht die Wirtschaft, die Kultur, die Religion, Erziehung, Sport oder Verkehr. Gewisse Abgrenzungsprobleme gibt es zum Teilsystem der Politik. Aber darauf kommt es hier nicht an. Viele Bereiche gehören mehreren Systemen gleichzeitig an. So sind die Parlamente ein Teil der Politik ebenso wie des Rechtssystems. Juristische Fakultäten gehören zu Erziehung und Wissenschaft aber auch zum Recht.
Folgende Bestandteile des Rechtssystems sollten näher betrachtet werden: Organisatorische Einheiten, Personal, Verfahren, Betroffene, Kosten und Informationen.
Als organisatorische Einheiten des Rechts kommen Gerichte, Justizvollzugsanstalten, Juristische Fakultäten, die Anwaltschaft, das Parlament und Justizministerien in Betracht. Auch die Rechtsschutzversicherungen kann man hierzu rechnen. Auch die öffentliche Verwaltung sollte einbezogen werden.
Zum Personal zählen Richter und Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare, vielleicht auch Steuerberater. Rechtsprofessoren, Studenten und Referendare gehören dazu, ebenso Rechtspfleger, Gerichtsvollzieher und anderes Hilfspersonal. Von Interesse sind ferner Juristen in Verwaltung und Wirtschaft und arbeitslose Juristen.
Als Verfahren sind natürlich Zivilprozesse und Strafverfahren und all die vielen anderen Prozesse, Konkurse, Vergleiche und Zwangsvollstreckungen gemeint.
Betroffene sind Kläger und Beklagte, Verurteilte und sonstige Beteiligte, und am Rande auch Zeugen, Sachverständige oder Dolmetscher.
Die Kosten spiegeln sich in den Justizhaushalten des Bundes und der Länder. Kosten fließen vor allem als Gerichtsgebühren, Anwaltskosten oder Kosten für Zeugen und Sachverständige.
Im Rechtssystem werden Informationen gespeichert, verarbeitet und produziert. Informationen in diesem Sinne sind Gesetze und Verordnungen, Entscheidungen und juristische Literatur. Zur Bereitstellung des relevanten Rechtswissens gibt es spezielle Informationssysteme. Juristische Informationssysteme bilden natürlich die Datenbank JURIS, die sich selbst so nennt, aber auch die traditionellen Formen der Wissensspeicherung und Vermittlung wie Gesetzblätter, Entscheidungssammlungen, Bibliotheken und das juristische Verlagswesen. Diese Informationssysteme könnten auch als Institutionen aufgeführt werden, sollten jedoch wegen des Sachzusammenhangs vielleicht zusammen mit den Informationen dargestellt werden.
Es geht nicht darum, selbst zu zählen, sondern allein darum, die vorhandenen Zahlen, vor allem aus den amtlichen Statistiken, zusammenzutragen und sie in einer sinnvollen Weise darzustellen. Erforderlich sind dazu eine gute Übersicht über das Gesamtgebiet des Rechts, Sammelleidenschaft und Findigkeit, die Fähigkeit zum Umgang mit Zahlen, Tabellen und Graphiken. Auf den ersten Blick könnte die Sache nach einer Fleißarbeit aussehen, ist sie aber nicht. Es geht zwar nicht ohne Fleiß. Vor allem aber ist ein gutes Urteilsvermögen erforderlich, damit kein bloßer Zahlenfriedhof entsteht. Das Vorhaben hat ein erhebliches Frustrationspotential, weil alle Zahlen schnell veralten. Eine gewisse Erleichterung – und ein Angebot an die Nutzer einer solchen Arbeit – bietet da die Möglichkeit, Reihen, zu denen immer wieder neue Zahlen zu erwarten sind, so anzulegen, dass sie laufend ergänzt werden können.
Vorsorglich sollte ich darauf hinweisen, dass ich selbst keine Dissertationen mehr betreue.

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