Das Christentum ist eine moderne Religion

Der Predigttext des letzten Sonntags war aus dem Brief des Paulus an die Galater (2, 16–21):

(16) aber [da] wir wissen, daß der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Christus Jesus, haben wir auch an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt werden und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt wird.
(17) Wenn aber auch wir selbst, die wir in Christus gerechtfertigt zu werden suchen, als Sünder erfunden wurden – ist dann also Christus ein Diener der Sünde? Das ist ausgeschlossen.
(18) Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, so stelle ich mich selbst als Übertreter hin.
(19) Denn ich bin durchs Gesetz [dem] Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt,
(20) und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben, [und zwar im Glauben] an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.
(21) Ich mache die Gnade Gottes nicht ungültig; denn wenn Gerechtigkeit durch Gesetz [kommt], dann ist Christus umsonst gestorben.

Der Text gab den Pastoren Gelegenheit, aus christlicher Sicht zum Beschneidungsthema zu sprechen. Anlass des Galaterbriefes war die für den Apostel Paulus beunruhigende Nachricht, dass bei den Heidenchristen in Kleinasien Missionare aufgetreten waren, die von ihnen die Einhaltung der mosaischen Gesetze, insbesondere die Beschneidung und die Speisegebote forderten. Empört beruft Paulus sich auf die Beschlüsse des Apostelkonzils, das wohl zwischen 44 und 49 in Jerusalem stattfand, und wo man sich darauf geeinigt hatte, dass Heidenchristen und auch getaufte Juden zur Wahrung jedenfalls einer kleinen Tradition nur noch die wichtigsten Speisegesetze einhalten sollten (kein Blut, kein Aas, kein Opferfleisch). Die Tora wurde als bloßes Gesetz der Gnade Gottes untergeordnet und ihres Absolutheitsanspruchs beraubt. Das war der Beginn des hermeneutischen Umganges mit einer heiligen Schrift, den das Judentum und der Islam bis heute nicht akzeptieren. Zwar gab es auch im Christentum immer wieder Versuche, die Bibel fundamentalistisch zu nehmen. Aber im Prinzip ist der christliche Umgang mit der Bibel doch ein hermeneutischer. Auch Luthers sola scriptura dient nur der Abwehr außerbiblischer Tradition, enthält aber kein Auslegungsverbot. Damit war das Christentum von Anfang an modern. Damit war und ist es aber auch für eine Säkularisierung offen. Ob allerdings das Dogma der Nichtinterpretationsfähigkeit von Tora, Koran und Sunnah zur Abwehr des sozialen Wandels taugt, kann man bezweifeln. Seine Anhänger sperren sich damit in eine vormoderne Enklave. Sie marginalisieren sich selbst. Marginalität bedeutet – mit den Worten von David E. Apter: » … a sector of functionally superfluous people for whom no prospects for improvement are easily available. [1] «



[1] David E. Apter, Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Knowledge Divides, Paris 2010, 32-37, S. 33.

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Was stimmt nicht mit dem Urheberrecht?

Mit dem Urheberrecht stimmt etwas nicht. Das zeigt die intensive Debatte, die bis in den politischen Raum ausgreift.
Der Wutausbruch des Sängers Sven Regener auf Youtube hat Schule gemacht. Ein »offener Brief von 51 Tatort-Autoren«, den diese am 29. 3. 2012 auf der Seite des Verbandes Deutscher Drehbuchautoren ins Netz gestellt haben, hat eine hübsche Kontroverse ausgelöst. Die Autoren heben ihre Urheberrechte auf Verfassungsebene und verlangen von der Netzgemeinde, sich von allerhand Lebenslügen zu verabschieden. Die erste sehen sie in der »demagogischen Suggestion«, es gebe keinen freien Zugang mehr zu Kunst und Kultur; die zweite in der »demagogischen Gleichsetzung von frei und kostenfrei« und die dritte darin, dass die Verwertungsindustrie zum großen Übeltäter erklärt werde, der zur Kasse gebeten werden müsse.
Für die Adressaten (»Liebe Grüne, liebe Piraten, liebe Linke, liebe Netzgemeinde!«) haben noch am gleichen Tag 51 Hacker des Chaos Computer Club den »lieben Tatort-Drehbuchschreibern« erwidert. Ihre Antwort kam nicht nur blitzeschnell, sondern war vergleichsweise auch sehr sachlich. »Auch wir sind Urheber, sogar Berufsurheber, um genau zu sein.« Sie meinen, in erster Linie sollten Urheber sich von ihren Auftraggebern bezahlen lassen. Sie vermeiden es, darauf hinzuweisen, dass das Publikum, das eine milliardenschwere Zwangsabgabe an die Fernsehsender zahlt, vielleicht erwartet, die Tatort-Autoren (und alle anderen Fernsehschaffenden) würden von daher ausreichend bezahlt. In der Tat sehen die Hacker ein Problem bei der Verwertungsindustrie unter Einschluss der Verwertungsgesellschaften. Sie wollen die aber nicht einfach zur Kasse bitten, sondern werfen ihr vor, dass sie sich keine Mühe gebe, die geschützten Werke über die längst verfügbaren Bezahlmodelle zu angemessenen Konditionen anzubieten, sondern sich auf massenhafte Abmahnungen versteife.
Der Briefwechsel hat im Netz viele Kommentare ausgelöst. Im Feuilleton der Heimlichen Juristenzeitung vom 4. April hat sich Reinhart Müller eingemischt. Er schreibt: »51 ›Tatort‹-Autoren beklagen die Vernichtung ihrer Rechte im Internet, 51 Hacker halten dagegen – womit? Mit Ignoranz!« Der Artikel ist nur larmoyant. Er beschwört – und verschleißt damit – Menschenrechte, geht aber nicht auf die Argumente der Hacker ein, und rückt am Ende die rechtswidrige Kopie in die Nähe des Plagiats. Plagiat und unberechtigter Kopie (Raubdruck usw.) gehören nicht in einen Topf. Ein Plagiat leugnet die Urheberschaft des Schöpfers und verweigert ihm damit die verdiente Anerkennung. Das Urheberrecht schützt nicht die Idee, sondern nur seine Materialisierung. Anders als das Plagiat leugnet eine Raubkopie nicht die Urheberschaft des Schöpfers. Bei der Raubkopie geht es allein um die wirtschaftliche Komponente des Urheberrechts. Im Übrigen ist Ignoranz die beste Voraussetzung zum Querdenken, das doch sonst so angesehen ist.
Vielen Internetnutzern geht es in der Tat nur um kostenlosen Konsum geschützter und gegen Entgelt angebotener Inhalte. Aber fair use ist nicht bloß ein Rechtsbegriff. Der Fairnessgedanke steckt so tief in allen Menschen, dass die User wohl bereit wären, faire Entgelte zu zahlen. Sie finden sich jedoch unfair behandelt, weil sie das Gefühl haben, für die Urheberrechte doppelt und dreifach zu Kasse gebeten zu werden. Urheberabgaben auf Kopierer, Scanner, Faxgeräte, Drucker und Computer und für Computer nun auch noch zusätzlich Rundfunkgebühren – da kann tatsächlich der Eindruck entstehen, dass man zum Ausgleich frei herunterladen, speichern und kopieren dürfe. Wo auch immer man sich im Internet bewegt (und selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen) muss man Werbung erdulden. Da kann man doch glauben, dass damit die Inhalte hinreichend bezahlt seien. Über das fehlende Unrechtsbewusstsein darf man sich jedenfalls nicht wundern. Nach der Vorstellung des Publikums gehören vermutlich jede Art der Privatkopie und auch der private Austausch zum fair use. Daher wird jeder Versuch, digitale Privatkopien zu verbieten, genauso scheitern wie der Krieg gegen die Drogen.
Fraglos muss es ein Urheberrecht geben, das den Kreativen Anerkennung und Lebensunterhalt sichert. Auch die Piraten-Partei verlangt keine Abschaffung deds Urheberrechts, sondern nur die Freistellung nichtkommerzieller Kopien. [1]Vgl. das Parteiprogramm. Aber der Schutz geht zu weit.
Der Schutz des Urheberrechts ist von keinen Qualitätsanforderungen abhängig. So werden viele Trivialitäten geschützt. Ein schlimmer und unverständlicher Exzess ist etwa der Schutz jedes Amateurfotos. Da gibt es natürlich ein Problem. Wer soll die Qualität beurteilen? Hier kommt nur eine indirekte Lösung in Betracht, insbesondere eine Registrierung, wie sie ja in manchen Ländern praktiziert wird. Vielleicht genügt sogar eine Selbstdeklaration.
Der individualistische Urheberbegriff ist problematisch geworden. Alle anspruchsvolleren Werke beruhen auf Gemeinschaftsarbeit. Sie wird in den spärlichen Danksagungen der Vorworte nicht ausreichend gewürdigt. Einen besseren Eindruck gibt der Abspann mancher amerikanischer Filme. Aber die organisierte Zusammenarbeit ist nur die halbe Miete. Jedenfalls in der Unterhaltungsindustrie, in der Kunst und in den Geisteswissenschaften leben alle mehr oder weniger von den Vorleistungen anderer. Schlimme Plagiatoren sind insoweit Journalisten, die selten oder nie ihre Quellen angeben. Da ist es kein Wunder, dass es im Urheberrecht kaum noch oder gar nicht mehr um Anerkennung und Schutz der Urheberpersönlichkeit geht, sondern um kaltes Geschäft. Ein Unterschied zum Finanzmarkt besteht immerhin darin, dass es den Usern leichter gelingt, auf fremde Konten zuzugreifen.
Die Dauer des Urheberrechts ist mit 70 Jahren über den Tod des Urhebers hinaus viel zu lang. Patente erlöschen, und zwar auch schon zu Lebzeiten des Erfinders, nach 20 Jahren. Es lässt sich darüber streiten, ob das Urheberrecht enger mit der Person des Schöpfers verbunden ist als das Patent mit der Person des Erfinders. Hier wirkt vermutlich die Genieästhetik nach (die ich sehr schätze). Aber ein Schutz bis zum Tode des Autors, mindestens jedoch 20 Jahre, müsste genügen.
Die Perpetuierung des Urheberrechts wird dadurch verstärkt, dass bloße Bearbeitungen fremder Werke ihrerseits Urheberrechtsschutz genießen. Das ist unangemessen, insbesondere dann, wenn die Bearbeitung eine vertretbare Leistung ist, etwa eine neue Edition an Hand zusätzlicher Quellen, die auch von anderen Kundigen geleistet werden könnte. [2]Dafür werde ich, wenn überhaupt jemand diese Sätze liest, Prügel beziehen. Ich werde mich wehren. Für Editionen, die die Vorleistung eines anderen einschließen, sollte es vielleicht ein 3%-Urheberrecht geben (das sich natürlich nicht realisieren lässt). Nach § 70 UrheberrechtsG gilt allerdings eine verkürzte Schutzfrist von 25 Jahren nach dem Erscheinen der Bearbeitung.
Es trifft sich, dass die Heimliche Juristenzeitung gleichfalls am 4. April 2012 einen Artikel des Heidelberger Germanisten Roland Reuß [3]Privater Reichtum durch philologische Kafka-Editionen? , S. N5, im Internet nur gegen Entgelt zugänglich. abdruckt, der Ende März Strafanzeige wegen der Verbreitung von Raubkopien zweier Bände aus der von ihm besorgten Kafka-Edition [4]Peter Staengle Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld Verlag Frankfurt, Peter Staengle. Originalpreis: 128 Euro. Bei Amazon wurden anscheinend … Continue reading erstattet hatte. Die Nachricht über die Strafanzeige [5]Darüber berichtete auch die FAZ am 29. 3. 2012 mit einem Artikel von Felicitas von Lovenberg unter der Überschrift »Hehlerei von geistigem Eigentum. im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels vom 29. 3. 2012 hatte bis zum 4. 4. im Internet 37 Kommentare auf sich gezogen. Besonders empört zeigt Reuß sich über einen Kommentar, in dem es heißt:
»Ohne das Verhalten von Amazon und Nabu Press gutheißen zu wollen: Da ist ein Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft in Heidelberg und erhält seine Bezüge von uns Steuerzahlern. Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Kommentierung von Kafka, für die er durch den Steuerzahler entlohnt wurde. Nun nimmt er sich das Recht heraus und publiziert diese in einem Verlag. Dieser Verlag hat kaum Kosten, da der Steuerzahler bereits die Kosten der wissenschaftlichen Bibliothek, das Arbeitszimmer, inkl. Einrichtung und vor allem die monatlichen Bezüge von Herrn Reuß übernommen hat.«
Reuß beschimpft die Kommentarspalten der Internetseiten als »angeblich so basisdemokratische Art, unter Pseudonym ›die Sau rauslassen zu können‹ «. Doch anstatt auf die Meinung der Kommentatorin einzugehen [6]Sie hatte ihren Namen genannt. Ich kann nicht erkennen, dass es sich um ein Pseudonym handelt., dass aus Steuermitteln bezahlte Wissenschaftler den Ertrag ihrer Arbeit doch eigentlich frei zugänglich machen müssten – eine Ansicht, mit der der Kommentar nicht alleine steht – erklärt Reuß, dass er die Arbeit für die Kafka-Edition als selbstfinanzierte Nebentätigkeit im häuslichen Arbeitszimmer erledigt habe. Da ist Mitleid angezeigt. Davon abgesehen: Die Forderung nach Open Access für wissenschaftliche Veröffentlichungen stützt sich in erster Linie nicht auf die Finanzierungsform, sondern auf den öffentlichen Charakter der Wissenschaft und ist damit eines Frage des wissenschaftlichen Ethos. [7]Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access (am 12. 9. 2009 auf Telepolis).
Eine andere Perpetuierung des Urheberrechts, die immer wieder auf Unverständnis stößt, ist der Schutz für bloße bildliche Reproduktion eines an sich schon gemeinfreien Werkes. Ich halte es hier mit Wikimedia Commons, die in Anlehnung an das New Yorker Urteil Bridgeman Art Library v. Corel Corp. (1999) davon ausgehen, dass jede auf Originaltreue angelegte Reproduktion eines gemeinfreien zweidimensionalen Werks ihrerseits gemeinfrei ist.
Das Urheberrecht in seiner gegenwärtigen Gestalt hat seine Legitimation verloren.

Nachtrag Juni 2012:
Manchmal merke ich selbst nicht gleich, wie nahe die Dinge beieinander liegen. Die Blogsoftware von WordPress verweist automatisch am Ende eines Eintrags auf »ähnliche Artikel«. Das System, nachdem diese Verweisungen funktionieren, ist mir nicht klar. So hätte bei diesem Eintrag eigentlich auch auf Rechtssoziologisches zum Urheberrecht? verwiesen werden müssen. Verwiesen wird immerhin auf den Eintrag vom 12. Mai 2011 Das Urheberrecht ist nicht komisch: Bound by Law. Dabei ist mir selbst eine wichtige Verknüpfung zunächst nicht aufgefallen. In jenem Eintrag ging es eigentlich um Keith Aoki. Aber als sein Mitautor wurde auch James Boyle genannt.
James Boyle ist ein wichtiger Theoretiker und Praktiker der kulturellen Allmende. Bisher hatte ich ihn nur als Praktiker zur Kenntnis genommen und als solchen in dem Eintrag über Keith Aoki erwähnt. Erwähnung verdient er aber auch als Theoretiker der Urheberrechtsdebatte. Er prägte er den Begriff des Second Enclosure Movement [8]James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74. Gemeint war die schleichende Ausweitung der Immaterialgüterrechte, sei es der Patentrechte auf das menschliche Genom, auf Naturstoffe, biologische Prozesse und traditionelle Rezepte, sei des Urheberrechts durch Ausweitung des Umfangs und Ausdehnung auf Ideen, Software und Daten. »Second« Enclosure deshalb, weil Boyle diese Ausweitung des geistigen Eigentums mit Auflösung der Allemenden im 18. und 19. Jahrhundert und ihrer Überführung in Privateigentum (enclosure of the commons) verglich.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. das Parteiprogramm.
2 Dafür werde ich, wenn überhaupt jemand diese Sätze liest, Prügel beziehen. Ich werde mich wehren.
3 Privater Reichtum durch philologische Kafka-Editionen? , S. N5, im Internet nur gegen Entgelt zugänglich.
4 Peter Staengle Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld Verlag Frankfurt, Peter Staengle. Originalpreis: 128 Euro. Bei Amazon wurden anscheinend Raubdrucke für unter 20 Euro angeboten. Das ist sicher unerhört, aber nach meiner Vorstellung weniger wegen eines Urheberrechtsverstoßes als nach dem UWG wegen der gewerblichen Ausnutzung einer fremden Vorleistung.
5 Darüber berichtete auch die FAZ am 29. 3. 2012 mit einem Artikel von Felicitas von Lovenberg unter der Überschrift »Hehlerei von geistigem Eigentum.
6 Sie hatte ihren Namen genannt. Ich kann nicht erkennen, dass es sich um ein Pseudonym handelt.
7 Gerhard Fröhlich, Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access (am 12. 9. 2009 auf Telepolis).
8 James Boyle, The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, Law and Contemporary Problems 66, 2003, 32-74.

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Zu Legalisierung von Cannabis II: Steht die zweite Prohibition vor dem Aus?

Im Juni 2011 erschien der Bericht einer »Weltkommission für Drogenpolitik« mit dem Titel »Krieg gegen die Drogen«. Er beginnt dramatisch mit der Feststellung:

Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus.

und schlägt vor:

Der Kriminalisierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, die Drogen konsumieren, aber anderen keinen Schaden zufügen, ein Ende setzen. Die verbreiteten falschen Vorstellungen über Drogenmärkte, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit in Frage stellen, statt sie zu bekräftigen.

Wer die Kommission eingesetzt hat, ist mir weder aus dem Bericht noch aus ihrer Webseite richtig klar geworden. Aber die Mitglieder sind so prominent, dass ihr Wort Gewicht hat. Irgendwann sind zu einem Thema mehr oder weniger alle Argumente ausgetauscht. Dann können nur noch soziale Bewegungen oder Autoritäten die Dinge im politischen Raum vorantreiben. Die Mitglieder der Kommission verfügen über so viel Autorität, dass die Dinge in Bewegung kommen könnten, nicht zuletzt, weil viele von ihnen aus dem konservativen Lager kommen, das den von Präsident Nixon vor 40 Jahren ausgerufenen War on Drugs als moralischen Kreuzzug versteht. Mitglieder der Kommission sind u. a. die früheren Präsidenten von Brasilien und Mexico, Fernando Henrique Cardoso und Ernesto Zedillo, aus der Ära Ronald Reagans der Außenminister George Shultz und der Chairman des Federal Reserve System Paul Volcker, der frühere Generalsekretär der UN, Kofi Annan, und der Schriftsteller Mario Vargas Llosa.
Anlass zu diesem Posting ist ein kurzer Artikel in der »Time« vom 2. April 2012 [1]Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail., der darauf aufmerksam macht, dass die extreme Zahl der verhängten und vollstreckten Haftstrafen in erster Linie auf Drogendelikte (und die dafür verhängten Mindeststrafen) zurückgeht. In den USA beträgt die Quote der Strafgefangenen 760 auf 100.000 Einwohner. In Deutschland sind es 90. [2]Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010). Inzwischen entwickelt die teilweise privatisierte Gefängnisindustrie in den USA insofern eine Eigendynamik, als sie zur Methode der Wirtschaftsförderung in unterentwickelten Landstrichen geworden ist. Vielleicht kommt aus dieser Ecke jetzt ein hartnäckigerer Widerstand gegen die Liberalisierung des Drogenkonsums als von der Front der Moralapostel. Diesen Punkt hat schon vor vielen Jahren Nils Christie in »Crime Control as Industry« (3. Aufl. 2000) aufgespießt.
Natürlich ist die Problematik der Masseninhaftierung in den USA längst zum Thema geworden. Aber darüber kann ich nicht kompetent berichten. Hier nur einige Literaturhinweise, die ich noch nicht alle ausgewertet habe:
Loïc Wacquant, Von der Sklaverei zur Masseneinkerkerung. Zur »Rassenfrage« in den Vereinigten Staaten, Das Argument Nr. 294 vom 20. 1. 2004, teilweise unter http://www.linksnet.de/de/artikel/18600.
Marie Gottschalk, The Prison and the Gallows: The Politics of Mass Incarceration in America, Cambridge University Press 2006 (Rez. von Joseph F. Spillane, Law & Society Review 41, 2007, 936-937);
Mary Bosworth, Explaining U. S. Imprisonment, Sage Publications, 2010;
Jonathan Simon, Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford Univ. Press, 2009;
Bernard E. Harcourt, On the American Paradox of Laissez Faire and Mass Incarceration; University of Chicago Institute for Law & Economics Olin Research Paper No. 590; U of Chicago, Public Law Working Paper No. 376 (2012), verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=2020659. Es handelt sich um die Ewiderung auf eine Rezension eines eigenen Buches, das an sich mit dem Thema nicht direkt etwas zu tun hat. Harcourt wendet sich u. a. gegen den Vorwurf der »Foucaultphilie«. Den Ausdruck kannte ich noch nicht.
Nachtrag Juni 2012:
Nachzutragen ist ein Hinweis auf Gary S. Becker/Kevin M. Murphy/Michael Grossman, The Economic Theory of Illegal Goods: The Case of Drugs, 2004 (NBER Working Paper 10976: http://www.nber.org/papers/w10976). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass eine Legalisierung weicher Drogen verbunden mit einer hohen Besteuerung wirksamer ist als die strafrechtliche Verfolgung, auch wenn es natürlich Versuche geben werde, die Steuer zu vermeiden. Langsam schwenken auch die Medien auf den Legalisierungskurs ein, so ein großer Artikel von Claudius Seidl und Harald Staun in der FamS vom 29. 4. 2012 (»Machen wir Frieden mit den Drogen«).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Fareed Zakaria, Incarceration nation. The war on drugs succeded only in putting Millions of Americans in jail.
2 Die World Prison Population List des King College London, International Centre for Prison Sudies, nennt etwas abweichende Zahlen, nämlich für die USA für 743 (2009) und für Deutschland 85 (2010).

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Wikirecht

In einem Artikel im New Republic vom 25. 5. 2010 schreibt Daniel Lansberg-Rodriguez [1]Er bloggt auf ConstitutionsMaking.org. über »Wiki-Constitutionalism«. Damit meint er das in Südamerika verbreitete Phänomen, dass die Regierungen die Verfassungen bei Bedarf umschreiben.
»This is a phenomenon I call ›Wiki-constitutionalism.‹ In Latin America, constitutions are changed with great frequency and unusual ease (though not through any open-source collaborative process), as if they were Wikipedia pages. The evidence is staggering: The Dominican Republic has had 32 separate constitutions since its independence in 1821. Venezuela follows close behind with 26, Haiti has had 24, Ecuador 20, and Bolivia recently passed its seventeenth. In fact, over half of the 21 Latin American nations have had at least ten constitutions while, in the rest of the world, only Thailand (17), France (16), Greece (13), and Poland (10) have reached double digits. And the process occurs under governments of every political stripe—not just socialist ones like those of Chavez and Bolivia’s Evo Morales. Gruff conservatives like Colombia’s Alvaro Uribe and friendly, doting moderates like the Dominican Republic’s Leonel Fernandez have joined the party too, attempting to tear up and revise their constitutionally-mandated term limits. (It’s important to distinguish between amending and rewriting. Constitutional amendments are common all over the world, but Latin America’s rewrite-mania is truly eccentric: Venezuela, for instance, has adopted 26 new constitutions, but amended an existing one only thrice.)«
Die Wiki-Metapher finde ich gut, und ich will sie gleich übernehmen. Allerdings macht Lansberg-Rodriguez von ihr einen schiefen Gebrauch. Der Witz eines Wiki besteht ja doch darin, dass jedermann an einem Text mitschreiben kann, nicht nur autoritäre Regierungen und die von ihnen gesteuerten Parlamente. [2]Unter dem Titel »WikiRecht das freie Rechtslexikon« gibt es seit November 2008 eine Webseite, die es noch nicht zu nennenswerten Inhalten gebracht hat. Als Träger firmiert eine DeOnA Online … Continue reading Eine passendere Verwendung liegt nahe. In dem Eintrag vom 15. April 2011 hatte ich die These von Thomas Vesting referiert, die Computerkultur werde dazu zwingen, das Recht ständig neu zu überschreiben. Ist es das, was Vesting gemeint hat, ein Recht, an dem jedermann mitschreiben kann? Das hat er zwar nicht ausdrücklich gesagt. Aber sonst wäre der Neuigkeitswert seiner These nur begrenzt, denn dass das positive Recht geändert werden kann und laufend geändert wird, hat, wer es noch nicht wusste, spätestens von Luhmann gelernt. Die Frage ist also, was der Computer insoweit im Vergleich zu Schrift und Buchdruck ändert. Das wäre doch ein schöner Traum, der Traum vom Wikirecht. Den Traum von der »Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« [3]Peter Häberle, JZ 1975, 297-305. gab es ja schon einmal. [4]Diese Formulierung wird Häberles These nicht gerecht. Sie lautete: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit). Das ist eine höchst soziologische These, und Häberle verkennt nicht, … Continue reading Und auch der Schritt zur »offenen Gesellschaft der Rechtsinterpreten« wurde schon angedacht. [5]Von Hans Joachim Mengel in: Lexikon der Politikwissenschaft, 4. Aufl. 2010, S. 451. Ich stelle mir das Ganze so vor: Die Vorhut bilden die Blogger mit ihren Blawgs. In der zweiten Linie werden die Kommentare zu den wichtigeren Gesetzen als Wikis organisiert. Und am Ende wird dann das Bundesgesetzblatt von den Bürgern geschrieben. Eher ein Albtraum als ein Traum.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Er bloggt auf ConstitutionsMaking.org.
2 Unter dem Titel »WikiRecht das freie Rechtslexikon« gibt es seit November 2008 eine Webseite, die es noch nicht zu nennenswerten Inhalten gebracht hat. Als Träger firmiert eine DeOnA Online Akademie für Recht und Wirtschaft.
3 Peter Häberle, JZ 1975, 297-305.
4 Diese Formulierung wird Häberles These nicht gerecht. Sie lautete: »Wer die Norm ›lebt‹, interpretiert sie auch (mit). Das ist eine höchst soziologische These, und Häberle verkennt nicht, dass er damit einen anderen als den üblichen Interpretationsbegriff verwendet.
5 Von Hans Joachim Mengel in: Lexikon der Politikwissenschaft, 4. Aufl. 2010, S. 451.

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Die Dominanz des Verfügbaren

Der Umbruch der Medienlandschaft hat handfeste Folgen. Die Digitalisierung der juristischen Literatur, insbesondere der juristischen Zeitschriften setzte erst mit der Jahrtausendwende in voller Breite ein. Es wurden jedoch nur wenige Jahrgänge rückwärts digitalisiert. In aller Regel nehmen die Anbieter nur neue Texte in ihre Datenbanken auf. Das hat zur Konsequenz, dass die älteren Texte kaum noch zur Hand genommen und gelesen werden. Das ist einerseits ein Segen, denn ich stehe nicht an zu behaupten, dass über 90 % aller juristischen Texte – meine eigenen nicht ausgenommen – nach wenigen Jahren zur Makulatur geworden sind. Das ist andererseits ein Verlust, denn in den restlichen 10 % steckt vielleicht Substanz.
Die Tatsache, dass im Zuge der Digitalisierung ältere Texte in Vergessenheit geraten, hat eine Kehrseite. Einige machen daraus ihr Geschäft, indem sie in der Vergangenheit wühlen, alte Texte editieren und Ideengeschichten schreiben. Andere benutzen die alten Bücher in erster Linie als Steinbruch, aus dem sich brauchbare Spolien oder gar ganze Säulen gewinnen lassen. Die Älteren haben oft noch einen gefüllten Bücherschrank, in den sie gelegentlich hineingreifen, und sei es nur aus Nostalgie. Sie (damit meine ich mich) sind dann oft überrascht, wie frisch und neu manche alten Texte wirken, oder umgekehrt, wie altmodisch viele neue Gedanken eigentlich sind. Vielleicht werde ich in Zukunft häufiger Fundstücke aus der Vergangenheit vorzeigen. Heute will ich nur noch mitteilen, welches Buch gerade der Auslöser für diesen Eintrag war, nämlich das Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 »Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft« von 1972. Dagegen wirkt manche moderne Einführung in die Rechtstheorie oder die Grundlagen der Rechtswissenschaft ziemlich blass.

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Überflüssige Literatur

Gelegentlich liest man Zahlen über den gewaltigen Ausstoß an wissenschaftlicher Literatur. Die Naturwissenschaften übertreffen insoweit wohl sogar noch die Sozial- und Geisteswissenschaften. Keiner kann alles thematisch Einschlägige lesen. Man kann das Problem der überflüssigen Literatur von einem distanzierten Beobachterstandpunkt aus ansehen nach dem Motto: Die Evolution wird es schon richten. Aber dem individuellen Wissenschaftler ist damit nicht geholfen. Viele Doktoranden verbringen zwei wertvolle Jahre ihres Lebens damit, überflüssige Literatur zu lesen und auszusondern. Im Übrigen entwickelt jeder seine eigene Technik zum Umgang mit dem Überfluss. Gelegentlich bewundere ich wissenschaftliche Arbeiten, die explizit nur wenige Quellen heranziehen als souverän und elegant. Vermutlich kenne ich dann selbst die einschlägige Literatur nicht gut genug, um zu erkennen, wem alles der Autor noch hätte Kredit geben können.

Bewährt ist die Methode, nur zu lesen und auszuwerten, was andere bereits mehr oder weniger zustimmend oder jedenfalls als diskussionswürdig zitiert haben. Aber da landet man nicht ganz selten in geschlossenen Zitiernetzwerken. Soweit vorhanden, helfen Buchbesprechungen. Dabei zeigt sich jedoch eine merkwürdige Asymmetrie. Es wird immer noch viel zu viel Literatur positiv als wertvoll erwähnt. Selten oder nie erklärt jemand ein Stück schlicht für überflüssig. Dafür gibt es natürlich Gründe. Der erste liegt in dem prinzipiellen Wohlwollen, mit dem nicht nur jede Alltagskommunikation beginnt, sondern das auch Grundlage aller hermeneutischen Anstrengungen ist. Zweitens gehört auch das Besprechungswesen weitgehend zur Netzwirkerei. Drittens fehlt aber auch ein selbstverständlicher Maßstab für das Überflüssige unter dem thematisch an sich Relevanten. Eine Begründung für das Überflüssigkeitsurteil ist ähnlich schwierig wie die Begründung für die offensichtliche Unbegründetheit eines Rechtsmittels nach § 313 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Für den Produzenten selbst ist sein Literaturstück nie überflüssig, und sei es, dass er, wie regelmäßig der Verfasser dieser Zeilen, nur schreibt, um sich seiner eigenen Gedanken zu versichern. Vieles wird im Laufe der Zeit überflüssig. Da gilt wohl längst, dass Texte, die älter als zehn Jahre sind, nur noch gelesen werden, wenn sie Bestandteil der Zitatenschatzes geworden sind (und damit wären wir wieder im Netz). Mir geht es aber um die Literatur, die von vornherein überflüssig ist, weil sie mehr oder weniger Bekanntes nur neu formuliert, die man aber dennoch sichten muss, sei es wegen der Prominenz der Autoren, sei es wegen der deutlichen Bezüge der angebotenen Stichworte zu der eigenen Thematik.

Eine große Teilmenge des Genres überflüssige Literatur besteht aus Sammelbänden, wie sie nach Tagungen entstehen oder als Festschriften produziert werden. Wohl unvermeidlich enthält jeder Sammelband Überflüssiges. [1]Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der … Continue reading Aber nicht selten kann man den ganzen Band vergessen. Ich habe mich gerade wieder über zwei solcher Exemplare geärgert, denn die Mühe, sie zu beschaffen und sie dann mindestens durchzublättern, ist (jedenfalls für mich) nicht unerheblich. Und deshalb fange ich einfach damit an zu benennen, was ich überflüssig gefunden habe, nämlich:
Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011
Marc L. M. Hertogh (Hg.), Living Law, Reconsidering Eugen Ehrlich, Oxford 2009; vgl. dazu die zurückhaltende Rezension von Dan Steward. Law & Society Review 45, 2001, 225-227).
Guido Holzhauser/Carolin Suter (Hg.), Interdisziplinäre Aspekte von Compliance, Baden-Baden 2011.

Nachträge:
Schöner Titel, nichts dahinter: Heinz-Dieter Assmann/Frank Baasner/Jürgen Wertheimer (Hg.), Normen, Standards, Werte – was die Welt zusammenhält, Baden-Baden 2012.
Unergiebig: Ralf Diedrich/Ullrich Heilemann (Hg.), Ökonomisierung der Wissensgesellschaft, Wie viel Ökonomie braucht und wie viel Ökonomie verträgt die Wissensgesellschaft?, Berlin 2011.

Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, 2015. Klug und belesen. Viel rezensiert und zitiert. Und trotzdem: Überflüssig, es sei denn, man suchte nach einem Beleg für die Möglichkeit des Schreibens.

Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), Lektüre und Geltung. Zur Verstehenspraxis in der Rechtswissenschaft und in der Literaturwissenschaft, 2020. Die Texte sind in drei Kolloquien 2012, 2014 und 2016 entstanden und entsprechend abgehangen. Immerhin erfahren wir (S. 7) »Rechtswissenschaft und Literaturwissenschaft sind Interpretationswissenschaften.« Ich habe nur einen interessanten Beitrag gefunden, der aber eigentlich gar nicht unter das Rahmenthema des Bandes passt: Pascale Cancik, Wenn der Gesetzgeber schweigt … — »Interpretation« durch die Verwaltung(en). Das Beispiel der Lärmaktionsplanung, in: Dieter Grimm/Christoph König (Hg.), S. 172-187. Darin zeigt Cancik auf, dass an der Implementation von Planungsrecht eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kritisch zur Sammelbandunkultur hat sich gerade Gerd Schwerhoff in der heimlichen Juristenzeitung geäußert. (Entschleunigung der Forschung – aber wie?, FAZ Nr. 184 vom 10. 8. 2011 S. N5.) Der weiß auch kein Rezept außer dem Vorschlag, Tagungsbeiträge zunächst grundsätzlich im Open Access Verfahren im Netz zu veröffentlichen.

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Download des Jahres

Ende Juli 2011 unternahm FDP-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger einen Vorstoß zur Restgleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Aus der CDU erhielt sie Widerspruch, von der Opposition, besonders von den Grünen, dagegen Unterstützung. Da ist es vielleicht der Artikel von Interesse, der zur Zeit an der Spitze der Hitliste des SSRN steht: »What is Marriage?« von Sherif Girgis, Robert George (beide Princeton) und Ryan T. Anderson (University of Notre Dame). Seit der Veröffentlichung am 11. 12. 2010 wurde er 34.283 Mal heruntergeladen und 84.402 zitiert. Die Autoren plädieren vehement für das Festhalten am herkömmlichen Ehebegriff und gegen die absolute Gleichstellung. Hier das Abstract:
In the article, we argue that as a moral reality, marriage is the union of a man and a woman who make a permanent and exclusive commitment to each other of the type that is naturally fulfilled by bearing and rearing children together, and renewed by acts that constitute the behavioral part of the process of reproduction. We further argue that there are decisive principled as well as prudential reasons for the state to enshrine this understanding of marriage in its positive law, and to resist the call to recognize as marriages the sexual unions of same-sex partners.
Besides making this positive argument for our position and raising several objections to the view that same-sex unions should be recognized, we address what we consider the strongest philosophical objections to our view of the nature of marriage, as well as more pragmatic concerns about the point or consequences of implementing it as a policy.
Das Thema ist in vielen Ländern der westlichen Welt aktuell. Es trifft sich, dass mir vor kurzem Thomas Kupka seinen Artikel über »Verfassungsnominalismus« geschickt hat, der der soeben in ARSP 97, 2011, 44-77 erschienen ist. Kupka macht die Sache spannend, denn er verspricht eingangs, zwei auf den ersten Blick höchst widersprüchlich erscheinende Urteile des kalifornischen Supreme Courts zur Zulässigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe zu harmonisieren. 2008 ging es um die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung aus dem Familiengesetzbuch, die ihrem Wortlaut nach nur Personen unterschiedlichen Geschlechts die Eheschließung gestattete:
»Family Code section 300 currently provides in relevant part: ›Marriage is a personal relation arising out of a civil contract between a man and a woman, to which the consent of the parties capable of making that contract is necessary.‹ In light of its language and legislative history, all parties before us agree that section 300 limits marriages that lawfully may be performed in California to marriages of opposite-sex couples.« (In re Marriage Cases, 43 Cal. 4th 757). Diese Beschränkung wurde für verfassungswidrig erklärt, denn auch wenn die kalifornische Verfassung das Recht auf Eheschließung nicht erwähne, so sei doch nach vielen Vorentscheidungen klar, dass unter dem Schutz der Verfassung jedermann das Grundrecht auf Heirat ohne Rücksicht auf das Geschlecht des Partners habe. Und dazu gehöre auch, dass die Verbindung gleichgeschlechtlicher Paare als »marriage« zu bezeichnen sei, auch wenn das nicht dem historischen Sprachgebrauch entspreche. »The current statutes—by drawing a distinction between the name assigned to the family relationship available to opposite-sex couples and the name assigned to the family relationship available to same-sex couples, and by reserving the historic and highly respected designation of marriage exclusively to opposite-sex couples while offering same-sex couples only the new and unfamiliar designation of domestic partnership—pose a serious risk of denying the official family relationship of same-sex couples the equal dignity and respect that is a core element of the constitutional right to marry.«
Kalifornien ist bekannt dafür, dass es der direkten Demokratie großen Raum gewährt. Sogar die Verfassung kann durch Volksentscheid geändert werden. Im November 2008 wurde auf diesem Wege mit der Proposition 8 ein Verfassungszusatz mit dem Namen California Marriage Protection Act angenommen, der die Verfassung um den Zusatz ergänzte: »Only marriage between a man and a woman is valid or recognized in California«.
Schon im nächsten Jahr hatte der Supreme Court in Strauss v. Horton, 46 Cal. 4th 364 über die Gültigkeit dieser Bestimmung zu entscheiden. Aus deutscher Sicht hätte man wohl die Frage gestellt, ob Proposition 8 verfassungswidriges Verfassungsrecht begründet hätte. Der Supreme Court rettete die Proposition 8, in dem er sie eng auslegte: Sie bedeute in keiner Weise eine Einschränkung des Rechts gleichgeschlechtlicher Paare zur Heirat mit allen ihren Wirkungen. Dieser Verbindung werde einzig und allein die Benennung als Ehe versagt, und selbst in dieser eingeschränkten Bedeutung gelte Proposition 8 nur für die Zukunft: » Proposition 8 reasonably must be interpreted in a limited fashion as eliminating only the right of same-sex couples to equal access to the designation of marriage, and as not otherwise affecting the constitutional right of those couples to establish an officially recognized family relationship.« Eine andere Frage ist dann, ob die Bestimmung gegen die Bundesverfassung verstößt, wie inzwischen wohl ein Federal Court entschieden hat. Wie Kupka mit diesen Urteilen umgeht, möge man bei Interesse selbst nachlesen.
Ich finde das Thema zurzeit unter dem Gesichtspunkt interessant, ob und wieweit die juristische Methode die Gesetzesauslegung lenken kann. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie gibt es einen älteren Artikel zum Thema von Jörg Wegener [1]Die Ehe für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, ZfRSoz 16, 1995, 170-191. Damit reagierte Wegener auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 10. 1993, NJW 1993, 3058., der sehr schön Fakten zum Thema zusammenstellt und dann – vorsichtig gesagt – wenig überzeugend die Ansicht zu begründen versucht, die Ehe von gleichgeschlechtlicher Personen sei bereits de lege lata zulässig. Wenig überzeugend, denn das, was Wegener als »institutionelle Auslegung« des Art. 6 GG abtut, ist nun einmal der Standard der Methodenlehre [2]Sehr viel differenzierter Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg 1999, 409 ff.. Es wird ja immer wieder behauptet, dass die Richterpersönlichkeit für viele Entscheidungen wichtiger sei als das Gesetz. Ich würde eine Wette abschließen, dass fast alle Juristen, die in einer professionell eingekleideten Gesetzesauslegung zu dem Ergebnis gelangen, der Ehebegriff des Art. 6 GG verlange kein unterschiedliches Geschlecht der Partner, selbst homosexuell sind.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Ehe für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, ZfRSoz 16, 1995, 170-191. Damit reagierte Wegener auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 10. 1993, NJW 1993, 3058.
2 Sehr viel differenzierter Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., Heidelberg 1999, 409 ff.

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Wäre das ein Plagiat?

In der heimlichen Juristenzeitung vom 24. 6. 2010 schreiben Justus Haucap und Jürgen Kühling über »Gerechtere Wasserpreise«. Ein bißchen (aber nur ganz wenig) habe ich mich über den ersten Satz geärgert: »Die kommunale Trinkwasserversorgung ist das letzte Monopol ohne wirksame Kontrolle.« Das ist reißerisch, weil es falsch ist. Deshalb habe ich einfach einmal nicht, durch Copy and Paste, sondern durch Suchen und Ersetzen, die Trinkwasserversorgung gegen die Abwasserbeseitigung ausgetauscht:
Die Abwasserbeseitigung ist ein natürliches Monopol. Echter Wettbewerb konkurrierender Entsorger im Markt ist nicht nur schwer zu etablieren, er ist volkswirtschaftlich auch gar nicht effizient und würde letztlich zu Kostensteigerungen führen. Weil aber deswegen die Verbraucher – anders als auf den meisten anderen Märkten – ihren Anbieter nicht wechseln können, wenn dessen Preise oder Service ihnen nicht gefallen, fehlt die marktliche Disziplinierung der Anbieter.
Die Verbraucher sind daher – weil die Entsorgung von Abwasser ein besonders wichtiges Gut ist – besonders schutzbedürftig. Ohne effektive behördliche Kontrolle könnten die Entsorgungsunternehmen ihre Monopolstellung missbrauchen. Wie die Erfahrung zeigt, lässt sich dies auch nicht allein dadurch verhindern, dass Abwasserentsorgung als öffentlich-rechtliche Organisationseinheit im kommunalen Eigentum geführt wird. Denn dies birgt die Gefahr, dass übermäßig hohe Kosten produziert werden, ineffizient gewirtschaftet wird und – im schlimmsten Fall – durch inkompetente Betriebsführung und Verwaltung den Bürgern unnötige Kosten aufgebürdet werden, denen sie sich nicht entziehen können. Eine Privatisierung allein hilft auch nicht weiter, da sie die Anreize zu Preismissbrauch nicht verhindert.
Entscheidend ist demnach weniger die Organisationsform als die Aufsicht über die Abwasserentsorgung der Endverbraucher. Denn auch ein Durchleitungswettbewerb, bei dem Konkurrenten die Leitungen der etablierten Anbieter zu regulierten Preisen mitbenutzen, ist in der Abwasserwirtschaft – anders als bei Telekommunikation und Energie – wenig sinnvoll.
Usw. usw.
Zugegeben, an einigen Stellen müsste man von Hand nacharbeiten. Der regionale Schwerpunkt könnte von Hessen in die ostdeutschen Bundesländer wandern. Doch im Prinzip passt alles.

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Verlust der Empirie: Entkernung oder Entlastung der Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie als akademische Disziplin scheint eher durch Tiefen als durch Höhen zu gehen. Sie musste sich eine weitgehende Deinstitutionalisierung durch den Abbau von Lehrstuhldenominationen und Lehrveranstaltungen gefallen lassen. Sie muss mit dem anscheinend unaufhaltsamen Imperialismus der Kulturwissenschaften [1]Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100. leben. Und sie traut sich nicht mehr, unter ihrem angestammten Namen aufzutreten. [2]Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft. Immer deutlicher zeigt sich jetzt eine andere Entwicklung, die man als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen könnte, nämlich den Verlust der empirischen Forschung.
Ein Kernstück der Rechtssoziologie war die anwendungsbezogene Rechtstatsachenforschung. Sie ist heute weitgehend durch das verdrängt worden, was ich als Berichtsforschung beschrieben habe. [3]Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393. Die Berichtsforschung stellt sozusagen auf Vorrat Faktenwissen für Politik, Justiz und Verwaltung zusammen. Wenn dennoch einmal ad hoc eine Rechtstatsachenforschung in Auftrag gegeben wird, so wird sie nicht von der akademischen Rechtssoziologie, sondern von spezialisierten Sozialforschungsinstituten erledigt. [4]»DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als … Continue reading
Aber auch die empirische Grundlagenforschung ist abgewandert, und zwar in andere Disziplinen, nämlich in die Sozialpsychologie und die Verhaltensökonomie. Wenn ich zuletzt in meinem Blog über empirische Untersuchungen berichtet habe, so stammten die fast immer von Psychologen, so zuletzt »Das Frühstück der Richter und seine Folgen« sowie »Normstrenge und lockere Kulturen«.
Was folgt daraus? Soll man diese Entwicklung als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen und, den Laden schließen und die Arbeit anderen überlassen? Ich möchte das Abwandern der empirischen Forschung zu verschiedenen Spezialisten eher als Entlastung verstehen. Rechtssoziologie bleibt deshalb doch eine empirische Disziplin in dem Sinne, dass sie für alle Theorien und Thesen empirische Belege sucht, mögen die auch von anderen beigebracht werden. Das Recht ist zum dominierenden Faktor bei der Koordinierung und Regulierung des Komplexes von Subsystemen geworden sei, die das Gesamtsystem der modernen Gesellschaft ausmachen. [5]Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja … Continue reading Nur noch das Recht kann der Wirtschaft Paroli bieten. Über die Realität des Rechts werden Daten beinahe im Überfluss erhoben. Es bleibt die Aufgabe, die von anderen gesammelten Daten zu einem Wissenssystem zu integrieren. Das vermag nur eine Disziplin, welche die Beobachtung des Rechts als ihre zentrale Aufgabe versteht und die darin über lange und intensive Übung verfügt. Deshalb ist die Rechtsoziologie wichtiger denn je.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100.
2 Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft.
3 Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393.
4 »DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als Ankündigung eines Projekts der Rechtstatsachenforschung gelesen. Heute habe ich das Gefühl, dass sie für die Rechtssoziologie so richtig nicht mehr interessiert.
5 Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja entgegenhalten.

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Der myopische Zelot

Dieses Stückchen [1]Dieter Simon, Ein Arbeitsrechtler vom Bodensee, Myops 2011, 68-72. zeigt, dass es doch nicht so einfach ist, eine Satire zu schreiben. Simon legt hier so viel Eifer an den Tag, als sei er von dem Objekt der Satire persönlich angegriffen worden. [2]Dabei will er vielleicht nur aus ggfs. falsch verstandener Solidarität Mitherausgeber und Autoren von Myops in Schutz nehmen. Rüthers hat Grasnick und Ogorek scharf kritisiert (Rechtswissenschaft … Continue reading Damit sägt er dann doch eher an seiner eigenen Reputation, die ihm wahrscheinlich ohnehin herzlich egal ist.

Simon der Zelot (Caravaggio): Gesägter oder Säger?

Gute Witze dürfen auch mal geschmacklos sein. Allerdings erzählt man sie im Herrenzimmer und schreibt sie nicht auf. Von einer schizoiden Persönlichkeit zu fabulieren und damit anzudeuten, dass der Angegriffene einem wissenschaftlichen Selbstwiderspruch erlegen sei, ist nicht einmal im Ansatz komisch. Das kommt einem eher wie ein schlechter Altherrenwitz vor. Myops will für Juristen geschrieben sein, »die offen sind für Stil, Ethos, Verantwortung und Geschichte« (Verlagsankündigung). Das hört sich wie die Werbung für einen zweitklassigen Herrenausstatter an. Und passt insofern auch irgendwie.

Bernd Rüthers muss man nicht mögen. Aber seine rechtstheoretischen Überlegungen für ein wenig unterkomplex zu halten, seine Nähe zum Arbeitgeberlager zu benennen oder seine wissenschaftspolitischen Ansichten als konservativ zu geißeln, das ist alles wie Felchen in den Bodensee zu werfen: Nicht neu, nicht mutig, nicht interessant. Was übrig bleibt, ist degoutant.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dieter Simon, Ein Arbeitsrechtler vom Bodensee, Myops 2011, 68-72.
2 Dabei will er vielleicht nur aus ggfs. falsch verstandener Solidarität Mitherausgeber und Autoren von Myops in Schutz nehmen. Rüthers hat Grasnick und Ogorek scharf kritisiert (Rechtswissenschaft ohne Recht?, NJW 2011, 434-436). Zwar ist diese Kritik erst Anfang Februar 2011 erschienen, während Simons Invektive im Januarheft 2011 von Myops veröffentlicht wurde. Aber dass schließt nicht aus, dass Rüthers‘ Manuskript in Frankfurt bereits bekannt war. In Frankfurt hört man das Gras wachsen.

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