Häusliche Gewalt und evidenzbasierte Jurisprudenz

Im November 2018 erschien wieder die jährliche kriminalstatische Auswertung des Bundeskriminalamts zur Partnerschaftsgewalt. Obwohl die einschlägigen Opferzahlen leicht abgenommen haben, fand der Bericht in der Presse – zu Recht – große Aufmerksamkeit. Natürlich habe ich mich gefragt, was die Rechtssoziologie zum Thema zu sagen hat. Im Hinterkopf hatte ich Recherchen, die ich 2017 aus Anlass der Berliner Tagung zur Rechtswirksamkeitsforschung angestellt hatte, sowie den Aufruf von Hanjo Hamann zu einer evidenzbasierten Jurisprudenz[1]. Das Stichwort, unter dem diese drei Fäden zusammenlaufen, ist das Minneapolis-Experiment.

Evidenzbasierte Rechtssetzung sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch es gibt hohe Hürden. Zunächst bedarf es erheblicher Anstrengung, um empirische Forschung adäquat zu rezipieren. Das hat Hamann in seinem Buch »Evidenzbasierte Jurisprudenz« 2014 mustergültig (und abschreckend) beschrieben. Die zweite Hürde ist ein Graben, weil längst nicht immer einschlägige Empirie vorhanden ist. Wird Forschung erst ad hoc veranlasst, so bleibt sie punktuell. Mit Auftragsforschung schafft man keine kumulative Evidenz.

»Putting too much emphasis on the need to underpin legislative drafts with empirical data and scientific evidence could even produce counter-productive effects and turn evidence based policy-making into policy-based evidence-making.«[2]

Die dritte und höchste Hürde stellt sich aber erst mit der Frage, was Evidenz überhaupt leisten kann.

Mit dem Amtsantritt der Labour-Regierung 1997 wurde die Forderung nach einer Modernisierung Großbritanniens mit Hilfe einer evidence-based policy laut. Darunter verstand man »that policy and practice should be informed by the best available evidence.«[3] Eine Steigerung gegenüber einer evidence-based policy fordert das evidence-based movement, wie es insbesondere in der Medizin zu beobachten ist. Der Ehrgeiz geht darin, auf der Grundlage von RCTs, randomisierten kontrollierten Studien, sozusagen einen Goldstandard für Interventionen zu entwickeln. Die Rechtswirkungsforschung verfügt in der Regel nur über Empirie minderer Qualität, mehr oder weniger systematische Einzelstudien, qualitative Untersuchungen oder Erfahrungsberichte. Gesetzesevaluationen sind in aller Regel nicht wiederholbare Primärstudien. Selten werden unabhängige Parallelstudien in Auftrag gegeben.

Ein Ausnahmefall, in dem man ein zufallsgesteuertes kontrolliertes Experiment wirklich durchgeführt und sogar mehrfach wiederholt hat, ist das Minneapolis-Experiment[4], das mit dem Schlagwort arrest works best bekannt geworden ist.[5]

Im April 1984 veröffentlichten Sherman und Berk im American Sociological Review die Ergebnisse eines Praxisexperiments über den Erfolg von unterschiedlichen Maßnahmen der Polizei gegen Männer, die gegenüber ihrer Familie gewalttätig geworden waren[6]. Die Polizei reagierte entweder durch vorläufige Festnahme, durch eine Beratung der Beteiligten, teilweise verbunden mit einem Vermittlungsversuch, oder durch ein Gebot an den Täter, sich von der Familie vorläufig fernzuhalten. Welche Maßnahme sie wählten, entschieden die Beamten nicht, wie sonst üblich, nach Ermessen, sondern nach einem Losprinzip. Sie hatten jeweils an Ort und Stelle einen Umschlag zu öffnen, der ihnen vorgab, wie zu verfahren sei. Dabei zeigte sich, dass die Festgenommenen entschieden weniger rückfällig wurden als die anderen beiden Gruppen. Die Autoren schlossen daraus auf die abschreckende oder Denkzettel-Wirkung der Festnahme.

Dieser Artikel fand in den USA eine ungewöhnlich breite Aufmerksamkeit. Tageszeitungen und Fernsehstationen berichteten darüber, und alsbald begann in vielen Städten die Zahl der Festnahmen in vergleichbaren Fällen dramatisch anzusteigen.

Das National Institute of Justice (NIJ), das das Minneapolis-Experiment gesponsert hatte, war über das ungewöhnliche Echo dieser Untersuchung besorgt und veranlasste daher fünf Replikationen in anderen Städten. Eine erste Folgestudie, brachte noch eine weitgehende Bestätigung der Ergebnisse.[7] Allerdings wiesen die Autoren schon darauf hin, dass es sehr schwierig sei, kriminalpolitische Empfehlungen zu geben; so könne der Abschreckungseffekt verloren gehen, wenn der Arrest zur Regel werde, weil er dann, insbesondere auch von der Polizei, nicht mehr ernst genommen werden, was sie auch die Verhafteten merken lasse. Bei der Replikation in Milwaukee fielen die Ergebnisse anders aus.[8] Viele Männer wurden eher noch aggressiver, wenn sie aus dem Arrest zurückkehrten. Im Nachhinein suchte man dafür nach Erklärungen. Teilweise lag das an einer anderen Zusammensetzung der Bevölkerung, teilweise an der sehr unterschiedlichen Art, wie die Polizei in den verschiedenen Städten mit den Verhafteten umging.

Im Zusammenhang mit dem Minneapolis-Experiment hat der langjährige Herausgeber des Law & Society Review, Richard Lempert, gewarnt: »Do not rest policy change or analysis on a single study, no matter how good it is.« Erst Metastudien oder Forschungssynthesen könnten eine einigermaßen brauchbare Grundlage bieten.[9] Doch selbst das stellt die englische Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright in Frage.

Cartwright hält es für schwierig oder gar ausgeschlossen, einigermaßen zuverlässige Vorhersagen über die Wirkung von Interventionen zu machen, und zwar selbst dann, wenn man ein empirisch einwandfrei bestätigtes Vorbild hat. Empirie könne nur zeigen, dass eine Intervention an einem bestimmten Ort Wirkung gehabt habe, nicht aber dass sie an einem anderen Ort wirken werde. Das beste verfügbare Wissen reiche nicht aus, um die Wirksamkeit von Interventionen vorherzusagen.[10] Es reiche insbesondere nicht aus, eine causa sine qua non zu identifizieren und dann einzelne Drittvariablen zu kontrollieren. Dazu gebe es zu viele begleitende und überlagernde Bedingungen. Man muss also davon ausgehen, dass die Reaktion auf Recht grundsätzlich bereichsspezifisch und kontextempfindlich ist.

Danach fällt es schwer, die Forderung nach evidenzbasiserter Jurisprudenz durchzuhalten, zumal wenn man die Klage über die » (Nicht-)Verwendung von Evaluationsergebnissen in Politik und Verwaltung«[11] im Ohr hat. Aber bleibt eine andere Wahl?

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[1] Hanjo Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz. Methoden empirischer Forschung und ihr Erkenntniswert für das Recht am Beispiel des Gesellschaftsrechts, 2014.

[2] Rob van Gestel/Jurgen de Poorter, Putting Evidence-Based Law Making to the Test, Judicial Review of Legislative Rationality, The Theory and Practice of Legislation 4, 2016, 155-185, S. 156.

[3] Sandra Nutley/Huw Davies/Isabel Walter, Evidence Based Policy and Practice: Cross Sector Lessons from the UK, ESRC UK Centre for Evidence Based Policy and Practice, Working paper 9, 2002, S. 1.

[4] Ein anderes Beispiel für eine Intervention, die anscheinend wirksam war, die sich aber nicht ohne weiteres von einem Ort zu jedem anderen übetragen lässt, war die Broken Windows-Strategie des New York Police Department. Dazu Henner Hess, Broken Windows. Zur Diskussion um die Strategie des New York Police Department, Kritische Justiz , 1999, 32-57 .

[5] Die Literatur ist umfangreich. Ein Kurzdarstellung bei Nick Tilley, Realistic Evaluation: An Overview, Paper Presented at the Founding Conference of the Danish Evaluation Society, September 2000.

[6]Lawrence W. Sherman/Richard A. Berk, The Specific Deterrent Effects of Arrest for Domestic Assault, ASR 49, 1984, 261-272. Über die Folgeuntersuchungen Richard Lempert, Empirical Research for Public Policy, With Examples from Family Law, Journal of Empirical Legal Studies 5, 2008, 907-926.

[7] Richard A. Berk/Phyllis J. Newton, Does Arrest Really Deter Wife Battery? An Effort to Replicate the Findings of the Minneapolis Spouse Abuse Experiment, ASR 50, 1985, 253-262.

[8] Lawrence W. Sherman/Janell D. Schmidt/Dennis P. Rogan/Douglas A. Smith, The Variable Effects of Arrest on Criminal Careers: The Milwaukee Domestic Violence Experiment, The Journal of Criminal Law & Criminology 83 , 1992, 137-169.

[9] Richard Lempert, Empirical Research for Public Policy, Journal of Empirical Legal Studies 5, 2008, 907-926. In diesem Sinn mit weiteren Nachweisen Hanjo Hamann, Evidenzbasierte Jurisprudenz, 2014, S. 122ff.

[10] Nancy Cartwright, Knowing What We Are Talking About, Why Evidence Doesn’t Always Travel, Evidence & Policy 9, 2013, 97-112; dies./Jeremy Hardie, Evidence-Based Policy, A Practical Guide to Doing it Better, York 2012.

[11] Hellmut Wollmann, Die Untersuchung der (Nicht-) Verwendung von Evaluationsergebnissen in Politik und Verwaltung, in: Sabine Kropp/Sabine Kuhlmann (Hg.), Wissen und Expertise in Politik und Verwaltung, Opladen 2014, S. 87-102.

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Erotisches Kapital als symbolisches Kapital

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch istz jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

 

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Moralische Maschinen ans Steuer?

Jeder Student wird bereits in der ersten Strafrechtsvorlesung mit dem Notstandsproblem konfrontiert, das heute international als Trolley-Problem geläufig ist: Ein Waggon rollt führerlos auf eine Weiche zu und wird mit einem entgegenkommenden Personenzug zusammenstoßen, wenn nicht der Beobachter im Stellwerk die Weiche stellt. Dann wird der Waggon jedoch auf dem anderen Gleis einen Arbeiter überrollen. Der Handelnde hat also die Wahl, ob er durch sein Eingreifen einen Menschen tötet, um mehrere Menschen zu retten. Wie auch immer er sich entscheidet; er handelt rechtswidrig, denn das Menschenleben als Rechtsgut ist nicht abwägungsfähig. Entscheidet er sich, die Weiche zu stellen, so wird ihm ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand zugebilligt. Bleibt er untätig, so handelt er trotzdem im Sinne einer Unterlassung. Offen ist die Frage, ob er handeln muss, um das größere Unheil zu verhindern. Dazu müsste man ihm eine Garantenstellung zumuten. Die verträgt sich aber nicht mit dem Abwägungsverbot. Die Entscheidung bleibt schwierig. Eben deshalb handelt es sich um ein Dilemma.

Dieses Problem stellt sich heute – so jedenfalls scheint es – bei der Programmierung autonomer Fahrzeuge. Sollen bei einer drohenden Kollision eher die Insassen oder die Passagiere anderer Fahrzeuge oder Fußgänger gerettet werden, eher Frauen als Männer, eher Junge als Alte, eher Gesunde als Kranke, eher Menschen als Tiere? Juristisch gibt es eine klare Antwort nur für die Alternative Mensch oder Tier.

Es liegt nahe, in dieser Situation nach Volkes Meinung zu fragen. Das haben Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology getan.[1] Sie haben ins Internet gestellt, was sie eine Moral Machine nennen. Dort konnten Internetnutzer aus aller Welt für 13 Szenarien ihre Präferenzen angeben. Es soll 40 Millionen Teilnehmer gegeben haben. Dabei zeigten sich weltweit drei Präferenzen: Menschen vor Tieren, Mehrzahl vor Einzahl und jung vor alt. Die Präferenzen unterschieden sich etwas nach der Herkunftsregion. So war im Fernen Osten die Präferenz für das Alter höher, während in Süd- und Mittelamerika Jugend, Frauen und Tiere höher geschätzt wurden. Wenn man die Moralmaschine ans Steuer lässt, fährt sie also einen Schlingerkurs.

Das Problem scheint eine gewisse Ähnlichkeit mit der Verteilungssituation zu haben, die als Triage bekannt ist.[2] Der Begriff stammt aus der Militär- und Katastrophenmedizin. Wenn kurzfristig großer Andrang von Verwundeten oder Kranken entsteht, die mit den vorhandenen Mitteln nicht versorgt werden können, so erfolgt eine »Sichtung« und Einteilung in drei Gruppen (daher der Name). Die Schwerstverletzten mit geringen Überlebenschancen werden abgesondert und erhalten allenfalls noch Schmerzlinderung und Trost. Leichtverletzte, die auch später noch behandelt werden können, müssen warten. Die Behandlung konzentriert sich auf diejenigen, deren Versorgung besonders dringlich und zugleich erfolgversprechend ist. Die Situation der Triage ist in der medizinischen Versorgung längst zum Alltagsproblem geworden. Für Dialyse, Organtransplantation oder Intensivmedizin ergeben sich ständig Knappheitssituationen, in denen die Behandlung mehr oder weniger verdeckt nach dem social worth der Betroffenen zugeteilt wird. Bei der Triage verfährt man utilitaristisch, das heißt, die juristischen Abwägungsverbote gelten hier nicht. Der soziale Wert der Betroffenen wird quantitativ beurteilt. Das heißt, einer muss vor mehreren zurückstehen; gesund geht vor krank und jung vor alt.

Zu programmieren ist eine Abwägung unter Unsicherheit. Unsicher sind zunächst die empirischen Prämissen. Wer oder was kann mit welcher Wahrscheinlichkeit gerettet werden? Unsicher sind aber auch die normativen Prämissen? Juristen haben für diesen Fall tolle Formeln entwickelt.[3] Programmierer werden darüber aber wohl eher in Gelächter ausbrechen. Es spricht einiges für die Einschätzung der Ethikkommission des Bundes.[4] Sie bezweifelt, dass die ethischen Dilemmata, um die es hier geht, überhaupt normierbar und programmierbar seien, und kommt zu dem Schluss:

»Bei unausweichlichen Unfallsituationen ist jede Qualifizierung nach persönlichen Merkmalen (Alter, Geschlecht, körperliche oder geistige Konstitution) strikt untersagt. Eine Aufrechnung von Opfern ist untersagt. Eine allgemeine Programmierung auf eine Minderung der Zahl von Personenschäden kann vertretbar sein. Die an der Erzeugung von Mobilitätsrisiken Beteiligten dürfen Unbeteiligte nicht opfern.«

Weder Trolley-Problem noch Triage passen genau auf den fahrenden Automaten. Hier treffen nämlich Gefährder, Gefährdeter  und zur Handlung Aufgerufener zusammen. Sieht man Fahrzeug und Insassen als Einheit, so wäre an einen Notstand zur Selbstrettung nach § 35 StGB zu denken. Dann kommt es darauf an, ob der Handelnde die Gefahr »selbst verursacht« hat. Nackte Kausalität genügt hier zum Ausschluss der Entschuldigung nicht, volles Verschulden, wie früher nach § 54 a. F., ist aber auch nicht erforderlich. Ich bin ziemlich sicher, dass die Programmierung automatisierter Fahrzeuge darauf hinausläuft, zuerst die Insassen des Fahrzeugs zu retten, koste es was es wolle.

Nachtrag: Susanne Beck, Autonomes Fahren: Herausforderung für das bestehende Rechtssystem, Informatik aktuell, 20. 8. 2018, online. Weitere einschlägige Veröffentlichungen der Hannoveraner Strafrechtsprofessorin werden in deren auch sonst über das Strafrecht hinaus interessanten Schriftenverzeichnis angeführt.

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[1] Edmond Awad u. a., The Moral Machine Experiment, Nature 563, 2018, 59-64.

[2] Volker H. Schmidt, Veralltäglichung der Triage, Zeitschrift für Soziologie 25, 1996, 419-437; Weyma Lübbe, Veralltäglichung der Triage?, Ethik in der Medizin 13, 2001, 148–160.

[3] Matthias Klatt/Johannes Schmidt, Abwägung unter Unsicherheit, AöR 137, 2012, 545-591; Justus Quecke/Jan Sturm, Unsicherheit über Abwägung, Rechtstheorie 45, 2014, 113-131.

[4] Bericht der Ethikommission, Automatisiertes und Vernetztes Fahren, 2017.

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Bourdieus Sexdefizit

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

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Interdisziplinarität wird oft enttäuscht

Mit einem Kapitel zur Ästhetik des Rechts[1] haben wir versucht, den Juristenblick interdisziplinär zu weiten. Dabei sind wir u. a. auf das Judiz als das Geschmacksurteil der Juristen gestoßen. Bei Savigny und Ihering war vom »Takt« die Rede, den sich Juristen durch lange Übung erwerben, und mit dessen Hilfe sie komplizierte Zusammenhänge ordnen. Heute redet man lieber über Klugheit[2] oder Angemessenheit[3].

Als ästhetische Kategorie kommt der Sinn für Angemessenheit in Betracht. Das Prinzip der Angemessenheit, wie es von Klaus Günther entwickelt wurde, bewegt sich im Bereich der Reflexion. Es verlangt nach einem »Anwendungsdiskurs«, der eine »Angemessenheitsargumentation« zu der Frage entwickeln soll, ob eine allgemeine Regel unter Berücksichtigung aller Umstände auf den Einzelfall passt. Die eher unreflektierte Kompetenz, in Situationen mit wertenden Aspekten eine »angemessene« Entscheidung zu treffen, ist dagegen das Thema von Landweer. Es liegt, so möchte man sagen, in der Natur der Sache, dass sie aus dem Aspekt der Angemessenheit keine subsumtionsgeeigneten Maßstäbe ableiten kann.

Die verschiedenen Ansätze haben jenseits der erfahrungsgesteuerten Routine gemeinsam, dass es sich um Strategien des Umgangs mit komplexen Situationen handelt, die der Handelnde nur unvollständig analysieren kann. Es geht also um undeklarierte Methoden des Umgangs mit der von Simon so getauften bounded rationality. Psychologen bieten dafür einen Katalog von Heuristiken und kognitiven Täuschungen an. Soziologen bemühen eine Theorie der Frame-Selection, die eine »Vorstrukturierung des Handelns durch kognitiv-emotional verankerte Schemata« zugrunde legt.[4] Man würde nur gerne genauer wissen, wie diese Frames aussehen und wie sie entstehen. Hier wirken anscheinend die evolutionär entstandenen Schemata, die mit der Sozialisation allgemein erworbenen Frames und ihre spezifische Prägung durch die berufliche Praxis zusammen. Aber die Benennung operativer Strategien speziell der juristischen Praxis ist bisher nicht gelungen. Dagegen gibt es auf der Makroebene allerhand Vermutungen über implizites Wissen, kulturelle Codes, Natürlichkeits- und Normalitätsvorstellungen. Dem Juristen helfen sie nicht weiter als schon Savigny und Ihering gelangt waren[5].

Nun bin ich noch einmal dem Hinweis von Kroneberg auf das in der Soziologie geläufige Konzept einer Logik der Angemessenheit (logic of appropriatness) nachgegangen. Der Ertrag ist insofern positiv, als er Juristen in dem Glauben bestärkt, dass da etwas »dran ist«, wenn sie von Judiz usw. reden. Aber solche Affirmation ist wohl nicht Sinn der Interdisziplinarität.

Die »Logik der Angemessenheit« wird als Gegensatz zur der utilitaristischen Logik der Konsequenzen verstanden.[6] Auch ein utilitaristisches Kalkül ist danach eingebettet in einen ideellen und normativen Kontext mit daraus resultierenden Praktiken und entsprechenden »Logiken«, nach denen Akteure ihr Handeln bemessen. Von einer »Logik« kann indessen keine Rede sein.

»… the core intuition is that humans maintain a repertoire of roles and identities, each providing rules of appropriate behavior in situations for which they are relevant. Following rules of a role or identity is a relatively complicated cognitive process involving thoughtful, reasoning behavior; but the processes of reasoning are not primarily connected to the anticipation of future consequences as they are in most contemporary conceptions of rationality. Actors use criteria of similarity and congruence, rather than likelihood and value. To act appropriately is to proceed according to the institutionalized practices of a collectivity, based on mutual, and often tacit understandings of what is true, reasonable, natural, right, and good.«[7]

Was folgt, kann man als Bestätigung der juristischen Hermeneutik lesen. Es muss eben alles an System, Situation und Selbstverständnis angepasst werden oder sein. Über die Maßstäbe der Angemessenheit erfahren wir nur eine Trivialität, nämlich dass eine klare »Logik« der Situation über eine unklare dominiert. Letztlich geht es um eine Differenzierung der Theorie der Rationalwahl. Rational choice als Grundprinzip hat zur Folge, dass die Handlungswahl dem Ziel der möglichst effizienten Nutzenproduktion folgt und deshalb zweckrational die Konsequenzen des Handelns in Rechnung stellt. Normen sind dabei nur Randbedingungen (=Rechnungsposten). Erst wenn die Rechnung unübersichtlich wird – was seine Ursache auch in unklaren Normen haben kann – tritt an die Stelle des Berechnens möglicher Folgen die Frage nach Angemessenheit des Handelns im Hinblick auf die gegebene Situation. »Dabei versucht der Akteur seine Unsicherheit über den Charakter der Situation aufzulösen und zu einer möglichst angemessenen Situationsdefinition zu gelangen.« Es hilft wenig, dass Kroneberg den »Angemessenheitsglauben« mit USinn formalisiert und in seine MFS-Formel (Modell der Frame-Selektion) einstellt. U steht dabei für (Subjective Expected) Utility. Wie die Angemessenheit näher bestimmt werden kann, erfahren wir nicht. So könnte USinn auch für Unsinn stehen.

Nachtrag vom 1. 12. 2020: Mit dem Sinn für Angemessenheit befasst sich erneut Hilge Landweer: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären, 2011, 57-78, und jetzt wieder: Warum Normen allein nicht reichen. Sinn für Angemessenheit und Rechtsgefühl in rechtsästhetischer Perspektive, in: Eva Schürmann/Levno von Plato (Hg.), Rechtsästhetik in rechtsphilosophischer Absicht, 2020, 63-84. Sie fasst zuzsammen (S. 83):

»1. Angemessenheit ist auf die jeweilige Situation bezogen. Wegen der Abhängigkeit von der Besonderheit der jeweiligen Situation kann sie nicht als Norm expliziert werden, denn Normen gelten übersubjektiv und situationsunabhängig. 2. Dass wir den Begriff ›angemessen‹ sinnvoll verwenden können, weist darauf hin, dass wir ein menschliches Vermögen zur erforderlichen feinkörnigen Wahrnehmung von Situationen unterstellen. Diese Fähigkeit bezeichne ich als ›Sinn für Angemessenheit‹. 3. Der Sinn für Angemessenheit muss für die in einer Situation relevanten Wertungen empfänglich sein und Wertungen vornehmen können. Das verlangt mehr als bloß eine sinnliche und kognitive Wahrnehmung von Sachverhalten; dieses Vermögen muss affektiv fundiert sein.«

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[1] Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Zur Ästhetik des Rechts, SSRN 2018.

[2] Arno Scherzberg, Wird man durch Erfahrung klug?, Internetpublikation, 2008.

[3] Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988; Hilge Landweer, Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären, 2011, 57-78.

[4] Clemens Kroneberg, Wertrationalität und das Modell der Frame-Selektion, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59 , 2007, 215-239.

[5] Dazu Stephan Meder, Missverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der modernen Hermeneutik, 2004 (S. 55ff).

[6] James G. March/Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions, 1989, S. 160-163; dies, The Institutional Dynamics of International Political Orders, International Organization 52, 1998, 943-969; Hartmut Esser, Soziologie Bd. 5: Institutionen, 2000, S. 92ff.

[7] James G. March/Johan P. Olsen, The Logic of Appropriateness, in: The Oxford Handbook of Political Science 2011, 478-497, S. 479.

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Bourdieus tauschtheoretische Analyse des Geschlechterverhältnisses ist keine

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Tod in der JVA Kleve. Hat der Haftrichter geschlafen?

Nach dem tragischen Tod eines Syrers, der wegen einer Personenverwechslung zu Unrecht in Untersuchungshaft saß und nach einem Feuer in der Zelle seinen Brandverletzungen erlegen ist, sucht man bei der Polizei und unter dem Personal der JVA nach den Schuldigen. Kein Wort davon, dass der arme Mann nach seiner Festnahme nach §§ 115f StPO einem Richter vorgeführt worden sein muss, der den Vollzug des Hamburger Haftbefehls bestätigt hat. In § 115a II 2 StPO heißt es: »Ergibt sich bei der Vernehmung, dass … der Ergriffene nicht die in dem Haftbefehl bezeichnete Person ist, so ist der Ergriffene freizulassen.« Das bedeutet doch wohl, dass der Haftrichter sich von der Identität des Ergriffenen überzeugen muss. Hat da vielleicht auch der Richter nicht aufgepasst? Ich habe hier schon einmal auf die Befürchtung hingewiesen, dass der Richtervorbehalt, der gravierende Eingriffe in die Grundrechte überwachen soll, nicht so sorgfältig gehandhabt wird, wie man es erwarten darf.

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Der Jurisprudenz wird empfohlen, auf die dissidenten Stimmen von Literatur und Kunst zu lauschen. Das will freilich ohne einen gewissen Zynismus nicht gelingen. Ich habe großes Verständnis dafür, dass die Printmedien, denen die Abonnenten fortlaufen und die Werbeeinnahmen wegbrechen, neue Einnahmequellen generieren. So halte ich es auch für legitim, dass die FAZ das Geltungsbedürfnis ihrer Leser über ein Angebot von ebenso überflüssigem wie überteuertem Chichi monetarisiert. Heute fand ich in der FAZ eine Beilage »Ausgesuchtes für Kluge Köpfe«, mit der für Skulpturen und Grafiken von Markus Lüpertz geworben wude, die Skulpturen zum Preis von 14.000 EUR, die dazu passenden Grafiken für 1.600 EUR. Über den Kunstbegriff kann man unendlich räsonnieren. Markus Lüpertz ist fraglos ein renommierter Künstler. Wer wollte bezweifeln, dass die Arbeiten des langjährigen Rektors der Düsseldorfer Kunstakademie eben als Kunst gelten müssen? Zu Lüpertz als Künstler – so meinte ich bisher – hätte Julia Voss in der FAZ vom 13. 10. 2009 bereits das Erforderliche gesagt. Mit der Aufnahme in die Selektion hat die FAZ Lüpertz nun definitiv in die Kitschecke gestellt, in die er gehört.

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