Schluss mit der Kritik der Rechte

In die Lektüre von Christoph Menkes »Kritik der Rechte«[1] bin ich vor drei Jahren durch ein Posting über Menkes Arbeiten zu »Recht und Gewalt« hineingestolpert.[2] Dort zitiere ich am Ende den Schluss der »Kritik der Rechte«:

»Das neue Recht gibt daher das bürgerliche Programm auf gegen die Gewalt – die Gewalt überhaupt – zu sichern. Aber gerade indem das neue Recht die Gewalt der Veränderung übt, bricht es den (›mythischen‹) Wiederholungszwang, dem alle Rechtsgewalt bisher unterliegt. Denn als verändernde dankt die Gewalt, jedes Mal wieder, mit dem Erreichen ihres Ziels ab. Das neue Recht ist daher das Recht, dessen Gewalt darin besteht, sich aufzulösen: die Gewalt, die mit ihrer Ausübung ›sofort […] beginnen wird abzusterben.‹[3] Die Gewalt des neuen Rechts ist die Gewalt der Befreiung.« (S. 406f)

Die »Kritik der Rechte« von 2015 hatte einen Vorläufer. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschien 2008 der Aufsatz »Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form«. Ich hatte ihn gelesen, aber nicht verstanden, obwohl ich versucht hatte, meine Paradoxien-Allergie vorübergehend zu unterdrücken. Das war schwierig genug, belässt Menke es doch nicht bei den einfachen Paradoxien der Systemtheorie Luhmanns, sondern arbeitet mit einem dreifachen reentry und der »Paradoxie der Paradoxie«. Nachdem ich das Buch zur Hand hatte, habe ich zuerst das S. 99 beginnende Kapitel »Ontologie: Der Materialismus der Form« auf Rsozblog eher ironisch kommentiert.[4] Es nahm einige Zeit in Anspruch, bis ich das Buch von Anfang bis Ende gelesen hatte. Danach habe ich auf Rsozblog festgehalten, wie ich das Buch verstand oder missverstand. Nach dem vierten Eintrag habe ich Kritik der Kritik allerdings abgebrochen, obwohl zwei Fortsetzungen schon fertig waren, weil den »Torsionen des Schlangenmenschen« nicht mehr folgen konnte und an das gewaltfreie Paradies, dass die Schlange am Ende verkündete, nicht mehr glauben wollte.

Seither ist die »Kritik der Rechte« zu einem eigenen wissenschaftlichen Genre mit Karl Marx als Ahnherrn geadelt worden.[5] Zu den Nachfahren werden neben Menke Sonja Buckel, Axel Honneth und Daniel Loick gezählt. Die Schar der Follower ist gewachsen. Vom 28. bis 20. Juni 2018 veranstalteten Benno Zabel und Eric Hilgendorf in Bonn eine Tagung »Die Idee der subjektiven Rechte«, bei der auch Menke auf dem Programm stand. Auch auf dem Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie­vereinigungen, der vom 13. – 15. September in Basel stattfand, war ein Panel »Kritik der subjektiven Rechte« vorgesehen. Nun ist bei Mohr in Tübingen ein Sammelband erschienen, der sich als Auseinandersetzung mit Menkes »Kritik der Rechte« versteht.[6] Von dem neuen Sammelband habe ich nur Einleitung der Herausgeber gelesen. Die ist informativ, veranlasst mich aber nicht, nun alsbald das Buch zur Hand zu nehmen. Dem Buch von Menke hat ohnehin, so scheint mir, Denninger[7] den Rest gegeben. Ich nehme diese Themenkonjunktur zum Anlass, mich von dem Thema zu befreien, indem ich meine Postings mit den Fortsetzungen aus der Schublade zu einem PDF zusammenschnüre und in das Internet als Papierkorb werfe.

Nachzutragen ist eine einschlägige juristische Dissertation:

Isabelle M. Kutting, Die Normativitätsstruktur subjektiver Rechte. Eine rechtsdogmatische Untersuchung ausgehend von Menkes Kritik der Rechte, Berlin, Duncker & Humblot, 2021.

Das Buch ist schwer zu lesen. Ich habe ihm entnommen, dass die Verf. zwar grundsätzlich mit Menke einverstanden ist, jedoch kritisiert, dass subjektive Rechte keineswegs als bedingungslose Ermächtigung dees Eigenwillens angesehen werden könnten, denn das Recht beschränke den Eigenwillen durch die Ahndung individuellen und institutionellen Rechtsmissbrauchs. Das ersetzt indessen kaum die von Menke avisierte Sittlichkeit.

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[1] Christoph Menke, Kritik der Rechte, Suhrkamp, Berlin 2015, 485 S. 29,95 EUR.

[2] Rsozblog vom 2. Februar 2016: Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen? Prolegomena zur Lektüre der »Kritik der Rechte« von Christoph Menke.

[3] Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt.

[4] Rsozblog vom 14. März 2016: Die Selbstreflexion der Musik hilft bei der Kritik der »Kritik der Rechte«.

[5] Von Christoph Möllers, Was das Recht nicht alles soll bewirken können. Rezension von Daniel Loick, Juridismus (2017), in FAZ Nr. 283 vom 6. 12. 2017 S. 12.

[6] Andreas Fischer-Lescano/Hannah Franzki/Johan Horst (Hg.), Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, Mohr Siebeck, Tübingen 2018. Dieser Band hat Christian Geyer in der FAZ vom 13. 2. 2019 S. N3 zu einem Essay angeregt (»So subjektiv sind sie nicht«).

[7] Erhard Denninger, Ende der ›subjektiven Rechte‹?, Anmerkungen zu Christoph Menke, Kritik der Rechte, Kritische Justiz 51, 2018, 316-326.

Ähnliche Themen

Alles ist politisch. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« IV

Dies ist die vierte Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2] Sie sind inzwischen reichlich abgestanden, sozusagen nur noch Trockenfrüchte, gesammelt aus den ersten beiden Kapiteln von Teil III »Die Ermächtigung des Eigenen«.

Zur Erinnerung noch einmal der Tenor des Buches: Der alte und auch der moderne Liberalismus haben eigentlich ein moralisches Anliegen. Sie fordern Freiheit, um den Menschen ein sittliches Handeln zu ermöglichen. Als Mittel wählen sie die Form subjektiver Rechte. Deren entscheidendes Merkmal besteht darin, das Ob und das Wie ihrer Inanspruchnahme den Berechtigten zu überlassen. Das Recht kümmert sich nicht um deren Motive, sondern nimmt ihren Willen als Tatsache hin. So verschwindet die Moral aus dem Recht. Das Ergebnis ist die amoralische bürgerliche Gesellschaft.[3] Auf Plattdeutsch: Das bürgerliche Recht will sittlich sein, stellt sich aber selbst ein Bein, weil es die Inhalte den Rechtsbürgern überlässt, die tun und lassen können, was sie wollen, solange sie sich nicht wechselseitig in die Quere kommen. Und so auf Franfurterisch: »Der Liberalismus ist die Verdrängung oder Verdeckung des Widerspruchs, des bürgerlichen Rechts – des Widerspruchs zwischen der Form der subjektiven Rechte und den moralischen Gründen ihrer Etablierung.« (255)

Teil III bietet manche Trivialitäten. »Ein Recht ist eine normative Macht: eine Handlungsmöglichkeit, die gegen andere normativ gesichert ist.« (177) Klar. Subjektive Rechts sind mehr als der bloße Reflex einer bestehenden normativen Ordnung (178). Geschenkt. »Subjektive Rechte sind nicht deshalb subjektiv, weil ein Subjekt sie hat, sondern genau umgekehrt, weil sie ein Subjekt hervorbringen.« (178f, 196) Das ist ein schönes Henne-und-Ei-Problem. Aber es ist natürlich richtig, dass die Menschen einmal Hühnersuppe bevorzugen und ein anderes Mal Rührei.[4] Das gilt analog für die Frage, ob das Klagerecht aus dem subjektiven Rechts abzuleiten ist oder ob umgekehrt das subjektive Recht aus der actio (228ff). »Ermächtigung durch subjektive Rechte bedeutet Politisierung und Privatisierung: Privatisierung als Politisierung, Politisierung als Privatisierung.« (179). Das läuft auf eine Nullhypothese hinaus.

Die Kapitel 8 und 9 von Teil III sind von Interesse, weil M. sich dort ausführlicher auf die Rechtstheorie einlässt. Gewährsleute sind Savigny und Windscheid, Jellinek und Kelsen, Carl Schmitt und Dworkin, Hegel und Foucault. Das alles geschieht, um zu erklären, dass das bürgerliche Recht bloßer »Schein« ist, nämlich »die falsche Verwirklichung des modernen selbstreflexiven Rechts« (175).

Die Selbstreflexion des bürgerlichen Rechts ist verzerrt, weil sie »in die Form subjektiver Rechte gekleidet ist«[5] (175) …Die Figur der subjektiven Rechte besetzt die empiristische Position des Gegebenen mit dem Subjekt. … Das bürgerliche Recht macht das Nichtrechtliche zu dem ihm in letzter Instanz Vorgegebenen, indem es das Gegebene als das Eigene des Subjekts versteht. … der Positivismus der subjektiven Rechte macht also das Wollen des eigenen zur autoritativen Tatsache … [von der] alle normative Setzung ausgehen muß« (176). So wird die kantische Idee vom normativen Eigenwert der Privatautonomie umgedreht.

Der direkte Angriff auf das Subjekt folgt erst in Kapitel 9 (197-207). Dort wird es sozusagen dekonstruiert, indem M. erstens mit Hilfe Foucaults seine historische Kontingenz aufzeigt, und zweitens auf die soziale Formierung des Subjekts hinweist. Ein historischer Umbruch im 17. Jahrhundert führte dazu, dass individuelle Entschei-dungen als letzte Grundlage für die Wahl von Zielen und Zwecken, also für eine Wertwahl, akzeptiert wurden. M. zitiert Foucault[6]:

»Was der englische Empirismus … wohl zum ersten Mal in der abendländischen Philosophie beschreibt, ist ein Subjekt …, das als ein Subjekt individueller Entscheidungen erscheint, die zugleich nicht weiter zurückführbar und unübertragbar sind.«

Der Witz der Sache ist aber nun, so M. (204ff), nicht einfach ein naturrechtlicher Dualismus, der das Subjekt mit seiner Autonomie und seinen Rechten als etwas unverfügbar Vorrechtliches akzeptiert. Vielmehr ist es das positive Recht selbst, welches die Form des subjektiven Rechts nicht bloß als fakultative Rechtstechnik einsetzt, sondern als Ermächtigung an jeden Einzelnen, »seine Entscheidungen auf die unhintergehbare Tatsache seines eigenen Wollens zurückzuführen« (207). So ganz habe ich den Unterschied zu der naturrechtlichen Version nicht verstanden. Vielleicht handelt es sich darum, dass das positive Recht die Rechtssubjektivität nicht als Wert, sondern als Tatsache voraussetzt. Vielleicht geht es auch darum, dass die naturrechtliche Version eine intrinsische Beschränkung mit sich führt, der der positivistischen »Naturali-sierung« des Eigenwillens fehlt. Darauf deutet der Abschnitt über das Eigentum (207ff).

Jedenfalls gilt: »Was das Subjekt will, gewinnt seine Geltung aus der Tatsache, daß es dies will. Das macht den spezifisch juridischen Individualismus aus …« (215). Das ist trefflich gesagt. Fraglich ist nur, ob diese Beschreibung nicht überholt ist. Anscheinend erleben wir gerade wieder einen historischen Umbruch. Der äußert sich etwa in einer »sozialen Reformulierung des Begriffs der Autonomie«[7] oder in juridischem Paternalismus, der dem »Eigen-willen« Grenzen zieht. Diese neuen Entwicklungen werden jedoch ausgespart, wiewohl sie M. natürlich geläufig sind.

Das lebende Individuum ist keine Monade, die absolut autonome Entscheidungen trifft. Man wird gerne zustimmen, wenn M. sich selbst zitiert (201):

»Die Sittlichkeit und die Autonomie des Wollens gibt es nur in dialektischen Prozessen, in denen sich Individuen zugleich subjektivieren und sozialisieren; das sittliche selbständige Wollen vollzieht sich nicht im Individuum, sondern zwischen dem Individuum und dem Sozialen.«

Aber das Individuum ist auch keine Marionette, die an den Fäden ihrer sozialen Rollen zappelt. Viele Leser würden daher wohl von der alten Autonomie etwas retten wollen.

Was Foucault beschrieb, ist die Akzeptanz der Subjektivität von Werturteilen. David Hume, auf den Foucault sich bezog, wird gewöhnlich als derjenige genannt, der als erster auf die Differenz von Sein und Sollen und damit auf die Werturteilsproblematik verwiesen hat. Sie ist philosophisch zum Hintergrund des Freiheitsbegriffs geworden. Sie ist Basis ebenso der Willenstheorie des Privatrechts wie der Demokratietheorie des Verfassungsrechts. M. kritisiert die bedingungslose Akzeptanz individueller Wahlentscheidungen durch das Recht als Verdrängung oder Privatisierung des Sozialen (200), als letztlich unmoralische »Naturalisierung« des »Eigenwillens«. Solche Kritik setzt die Möglichkeit voraus, sich einer Moral zu versichern. Dafür hat M. ein einfaches Rezept: »Sittliche Gehalte, das Gute oder die Güter, sind keine Produkte von individuellen Präferenzen, sondern existieren objektiv, in sozialen Praktiken.« (200) Man kann das Werturteilsproblem auf diese Weise mit dem eigenen Werturteil überspielen. Das ist schon deshalb keine Lösung, weil hinreichend universale und detaillierte »soziale Praktiken« als Ersatz nicht in Sicht sind.

Warum nicht umgekehrt? Soziale Praktiken sind die Produkte individueller Präferenzen. Wieso darf man sich nicht analog zu der »merkwürdigen Mechanik, die den homo oeconomicus als individuelles Interessensubjekt innerhalb einer Gesamtheit funktionieren lässt, die ihm entgeht und die dennoch die Rationalität seiner egoistischen Entscheidungen begründet«[8], das Individuum des Liberalismus als Moralsubjekt (homo moralis) vorstellen, das im Schwarm vieler Subjekte das Gute bewirkt? Wenn das moralisch Gute sich aus der Aggregation der individuellen Präferenzen ableitet, darf keine vorgängige Moral auf diese Präferenzen Einfluss nehmen. Die Menschen dürfen gar nicht moralisch handeln, weil gerade ihr amoralisches Handeln der Erkenntnisgrund für die Moral ist.[9]

Soweit die Theorie. Für die Praxis stellt sich dem Leser natürlich die Frage, ob die Form des subjektiven Rechts wirklich unmoralische Folgen nach sich zieht oder ob sie nicht übersubjektiven Zielen gesamtgesellschaftlicher Nützlichkeit dient. Aber »natürlich« gilt diese Frage seit Marx als beantwortet.

In Kapitel 8 (177-196) soll der »Mechanismus rechtlicher Ermächtigung« erklärt werden, »durch den das bürgerliche Recht das Subjekt … als Instanz der Autorität hervorruft« (176). Die »Ermächtigung« durch subjektive Rechte ist für M. rechtstechnisch nur eine »Erlaubnis«. Sie schafft keine neuen Handlungsmöglich-keiten – die sind vorrechtlich schon da –, sondern grenzt durch Verbote die Zonen möglicher Handlungen voneinander ab. »Deshalb gilt – nur – hier, daß alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist.« (180)

Im juristischen Sprachgebrauch ist eine Erlaubnis die partielle Aufhebung eines Verbots. [10] Vorrechtliche Handlungs-möglichkeiten, die nicht verboten sind, sind nicht erlaubt, sondern freigestellt. Aber das betrifft nur die Sprachregelung. Schwieriger ist die Sachfrage, wie es gelingt, subjektive Privatrechte »aus dem negativen Akt des Erlaubens, was nicht verboten ist« (189) zu erklären, und ob diese Erklärung für Eigentum und Vertrag als Kernbezirke des Privatrechts ausreicht.

M. holt zunächst unter Berufung auf Max Weber aus der »Erlaubnis« eine faktische Ermächtigung heraus. Die Erlaubnis begründe entsprechende Erwartungen und sei damit »produktiv«. Dürfen sei Können (194f). Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, wieso die Freistellung möglicher Handlungsweisen eine Ermächtigung bildet. Diese Betrachtungsweise wird aber plausibel, wenn man die implizite oder explizite Freistellung von Handlungen als performativen Akt versteht. Das ist es wohl, was an anderer Stelle (z. B. S. 180) Naturalisierung genannt wird. Soweit die faktische Seite.

Die rechtstheoretische Seite der Angelegenheit diskutiert M. mit Georg Jellinek, der gegen die liberale Deutung des Privatrechts als Erlaubnis geltend machte, das ganze Privatrecht erhebe sich auf Basis des öffentlichen[11]. M. meint, Jellinek habe sich selbst nicht richtig verstanden (183). Das soll heißen, Jellinek sei nicht radikal genug gewesen, weil er das Privatrecht neben dem öffentlichen habe stehen lassen und damit dessen öffentliche und politische Dimension noch nicht voll erkannt habe; das sei erst Kelsen gelungen indem er die Rechtserzeugungsfunktion und die damit gegebene Politizität subjektiver Rechte herausgestellt habe.

Für »die negative, privatrechtsliberale Definition der rechtlichen Ermächtigung – nur als Erlaubnis – « zitiert M. Jellinek mit den Sätzen: »Wenn die Privatrechtsordnung die wirtschaftlichen Verkehrsverhältnisse regelt, so fügt sie der freien Bewegung des Individuums gegenüber den anderen keineswegs ein neues Moment hinzu. Die Rechtsverhältnisse waren als Lebens-verhältnisse schon längst vorhanden, bevor sie einer rechtlichen Normierung unterworfen wurden.« In der Tat erscheint Jellinek hier inkonsequent. Er vergisst für einen Moment sein »Argument gegen den Privatrechtsliberalismus, das besagt, dass die Rechtsordnung dem erlaubten natürlichen Können in der Gestalt des rechtlichen Könnens noch etwas hinzufügt.« (181) Das wird deutlicher wenn man das Jellinek-Zitat um einen Satz verlängert: »Auch wenn ein anderes privatrechtliches Institut vom Staate geschaffen wird, so enthält diese Schöpfung doch nur die Gestattung, dass der individuelle Wille sich nach einer neuen Richtung betätige. Die Rechtsordnung erkennt die betreffenden Handlungen als erlaubt an, d. h. sie gestattet, dass der individuelle Wille nach gewissen Richtungen seine natürliche Freiheit gebrauche.«[12] Das passt nicht zu Jellineks These, dass es kein (privatrechtliches) Dürfen ohne (öffentlich rechtliches) Können gebe.

Hier geht es nicht um Text und Thesen Jellineks, sondern um M.s »Kritik der Rechte«. Letztere fällt aber bis zu einem gewissen Grade in sich zusammen, wenn Jellineks Theorie von der öffentlichen rechtlichen Basis des Privatrechts die Operation moderner Rechtssysteme zutreffend beschreibt, was M. letztlich nicht in Abrede stellt. Dann bleibt nämlich für die bloße Erlaubnis zur Betätigung der natürlichen Freiheit wenig Raum.

Wenn M. sich für den Charakter des subjektiven Rechts als bloße Freistellung auf Hegel beruft (179f), so trifft er wohl das Selbstverständnis des Privatrechtsliberalismus, aber nicht die Operationsweise des modernen Rechts. Subjektive Privatrechte lassen sich nicht aus der bloßen Freistellung eines Handlungsraums und seiner Absicherung durch Verbote in Verbindung mit dem Gleichheitssatz erklären. Das Problem liegt darin, dass die Verbote, die eine Freiheitssphäre schützen, entgegen der kantischen Idee nicht aus dem Begriff der Freiheit abgeleitet werden können[13]. Aus einer Freiheit = Freistellung folgen (logisch) keine Rechte gegen oder Pflichten von Dritten. Die rechtliche Umhegung der Freiheit ergibt sich erst aus (rechts-)politischen Entscheidungen, die zwangsläufig mehr oder weniger distributive und paternalistische (Neben-)Wirkungen haben.[14] Als Raum bloßer Erlaubnis bleibt nur, was durch Strafrecht und das Recht der unerlaubten Handlung indirekt geschützt ist. Für diesen Raum negativer Freiheit hat H. L. A. Hart[15] den Begriff des protective perimeter geprägt. Der Raum des bürgerlichen Privatrechts mit seinen subjektiven Rechten ist dagegen vollständig durch öffentlich rechtlich verantwortete Institutionen ausgestaltet.

100 Jahre nach Jellinek fällt es leicht zu sagen, dass das Privatrecht nicht bloß erlaubt, sondern die Möglichkeiten rechtlichen Könnens umfassender gestaltet. Alle relevanten Handlungsmöglichkeiten haben eine institutionelle Basis, an der immer auch Recht beteiligt ist. Zwar ermächtigen die Institutionen des Privatrechts zu rechtlichem Können für weitgehend unbestimmtes Dürfen. Insofern bleibt es bei der »Erlaubnis des Beliebens« (195), das heißt, rechtliches Dürfen wird nicht durch externe Moral oder Vernunft vorgegeben. Aber das »Belieben« muss das Nadelöhr oder Scheunentor rechtlichen Könnens passieren. Eine Kritik der subjektiven Rechte kann daher nur unmittelbar bei der Rechtspolitik ansetzen, die das Tor mehr oder weniger geöffnet hat. Es macht dagegen wenig Sinn, die »immanente Politizität der subjektiven Rechte« (189) zu beklagen.

»Man wird selten eine klare Definition des Politischen finden«, sagte Carl Schmitt.[16] Für M. sind politisch »Rechte zur Rechtsveränderung, zur Veränderung des Rechts als des normativ gültigen« (190, 226f). Die These von der »Rechtserzeugungs-funktion« des Privatrechts gehört zum Grundbestand der Rechtstheorie. Verträge und Gestaltungsrechte fügen sich mit ohne weiteres in den Stufenbau der Rechtsordnung ein. Aber sie unterscheiden sich von den »eigentlichen« Rechtsquellen dadurch, dass sie nur konkret-individuelle Rechtsnormen begründen oder verändern, die unbeteiligten Dritten gegenüber keine Verpflichtungs-, sondern nur eine Tatbestandswirkung haben. M. bleibt eine Erklärung schuldig, wieso private Rechtssetzung »für alle gültig« (190) sein soll. Kelsen ist dafür kein guter Beleg, denn er sieht die Rechtsetzungsfunktion bei Privatrechten gerade im Gegensatz zu den eigentlich politischen Rechten[17]. Der Satz, »daß jeder Adressat von Rechten der Möglichkeit, also seiner Berechtigung nach Mitautor des Rechts ist« (191), hat deshalb einen großen rhetorischen Überschuss. Alles Recht ist politisch. Das ist uns schon so oft versichert worden, dass die Aussage trivial geworden ist. Wenn man mit Jellinek und Kelsen auch subjektive Privatrechte im öffentlichen Recht begründet sieht, dann haben sie quasi per definitionem politischen Charakter.

Die politische Qualität der subjektiven Rechte hat sogar »doppelte Gestalt« (189), weil diese Rechte die staatsbürgerliche Mitwirkung immanent voraussetzen. Dadurch »gewinnt der Begriff des Politischen … einen Doppelsinn, der die Idee und Wirklichkeit der bürgerlichen Politik bestimmt (und zerreißt).« (190) Wo steckt hier der Doppelsinn, in der Begriffsbildung des Beobachters oder in den Köpfen der Beobachteten?

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift »Hauptsache Moral, welche ist egal«.

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Für den eiligen Leser reicht die Zusammenfassung S. 248-253.

[4] Bei Luhmann heißt das Variation der Semantik. Den Wechsel von einer Pflichtensemantik zur Rede von subjektiven Rechten erklärt Luhmann damit, dass Rechte seiner Zeit ein unerfüllte Desiderat waren (Subjektive Rechte: Zum Umbau des Rechtsbeußtseins für die moderne Gesellschaft, in: Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, 1981, 45-104.

[5] Das wird in Endnote 4 auf S. 438 als Luhmann-Zitat ausgewiesen (a. a. O. Fn.  4 S. 84). Der ganze Satz Luhmanns lautet:»Die Inklusion der Bevölkerung in das Gesellschaftssystem muß auf neue Formen gebracht werden, und dies Desiderat wird in die Form subjektiver Rechte gekleidet, weil es noch nicht realisiert ist.« Luhmann hat also an dieser Stelle ein anderes Thema. Er betont den Wechsel der Semantik von Pflichten zu Rechten. Luhmanns Deutung der Figur des subjektiven Rechts passt überhaupt nicht zu M.s Argumentation, denn Luhmann geht es darum, »daß [die Rechtsentwicklung] allgemeine, gesellschaftlich fundierte Normen zur Rechtsfigur des subjektiven Rechts abstrahiert«. Dieses Luhmann-Zitat hat aus dem »Recht der Gesellschaft« hat M. in die Endnote verbannt.

[6] Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, 2004, S. 373 (Vorlesung 11 vom 28. März 1979).

[7] Christoph Menke, Subjektive Rechte und Menschenwürde . Zur Einleitung, Trivium 3, 2009, Rn. 4 [http://trivium.revues.org/3296].

[8] Foucault a. a. O. S. 382.

[9] Das Argument stammt nicht von mir. Aber ich weiß nicht mehr, von wem ich es gelernt habe.

[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 46: »Allein diese Erlaubnis ist rein negativ, ihr ganzer Effekt konsumiert sich in der Aufhebung eines Verbots.« Dagegen verwendet der an anderer Stelle von M. angeführte Robert Alexy »Erlaubnis« auch im Sinne von Freistellung (Theorie der Grundrechte, 1985, Kap. 4 II, in der Suhrkampausgabe S. 206ff.), betont aber, dass es sich um eine »schwache« Erlaubnis handelt.

[11] System S. 82. Vgl. auch S. 10: »Ohne öffentliches Recht kein Privatrecht.«

[12] System S. 45f.

[13] Marietta Auer, Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant. Eine Analyse im Lichte der Rechtskritik Hohfelds, AcP 208, 2008, 584-634. Auer beruft sich dafür mit J. W. Singer und Duncan Kennedy auf Hohfelds analytisches Schema der Rechte. Das folgt aber einfacher aus der Figur der Freistellung im traditionellen Normenquadrat.

[14] Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, 56ff.

[15] H.L.A. Hart, Legal Rights, in: ders., Essays on Bentham, 1982, S. 180ff. Harts Beispiel: Meine Freiheit, mir den Kopf zu kratzen, ist zwar nicht durch direkte Verpflichtungen anderer, mich gerade daran zu hindern, gesichert, aber doch durch einen Kranz allgemeiner Verhaltenspflichten, etwa die Pflicht, körperliche Angriffe zu unterlassen.

[16] Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien., 3. Aufl. der Ausg. von 1963, 1991, S. 21.

[17] Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 144.

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Im Spiegelkabinett der Selbstreflexion. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« III

Dies ist die dritte Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2]

Teil II des Buches, überschrieben »Ontologie: Der Materialismus der Form«, handelt ausführlicher von der Selbstreflexion des Rechts. Hier zeigt M. seine Virtuosität im Umgang mit Luhmannscher Systemtheorie und Paradoxologie. Ich halte das für unergiebig. Das habe ich vorab zu zeigen versucht, indem ich Teile des Textes (106, 111-115) als Formular verwendet und darin »Recht« durch »Musik« ersetzt habe. Das hindert mich nicht, die kunstvolle Komposition zu bewundern.

» … die Selbstreflexion des Rechts … besteht darin, daß es sich selbst im Unterschied zum Nichtrecht als seinem Anderen begreift. Das hat zwei Seiten. Es bedeutet:
(i) Die Anerkennung der Äußerlichkeit des Nichtrechts durch das Recht: die Selbstreflexion des Rechts als (Voraus-)Setzung des Nichtrechts.
Aber weil die Voraussetzung des Nichtrechts durch das Recht geschieht, bedeutet sie zugleich:
(ii) Die Anerkennung der Äußerlichkeit des Rechts gegen-über dem Nicht: die Selbstreflexion als Selbstveräußerlichung des Rechts.« (127)

Wie übersetze ich das ins Plattdeutsche? Gott weet allens, aber wat in de Wos is, weet he nich. Im Grunde ist die Sache ganz einfach. »Das Nichtrecht ist nicht das Äußere gegenüber dem Recht, sondern als Äußeres, im Inneren des Rechts wirksam.« (131) Das erinnert entfernt an Überlegungen, dass die Gesellschaft nicht ganz ohne Bedeutung für das Recht ist.

Schon S. 101 war zu erfahren, dass Selbstreflexion die Grundoperation des modernen Rechts ist. »Die moderne Form der Rechte ist die Form der Selbstreflexion des Rechts – das Recht in der Form seiner Selbstreflexion. Darin ist ›Selbstreflexion‹ eine ontologische Kategorie.« Unter Selbstreflexion habe ich bisher entweder Selbstbeschreibung oder Rekursivität verstanden. Rekursivität kann entweder Reflexivität[3] oder Selbstbezüglichkeit bedeuten. Selbstbezüglichkeit entsteht durch Sätze nach dem Vorbild des lügenden Kreters. Sie erwecken den Anschein eines Widerspruchs, also einer Paradoxie. Dahinter versteckt sich aber nur eine logisch unzulässige Satzbildung. So kommt, was kommen muss: Selbstreflexion als Grundstruktur des Rechts bringt das »Paradox der Rechte« hervor (111). Das Paradox soll darin zu finden sein, dass das Faktische als Außen des Rechts als Normatives in dessen Innerem wiederkehrt. Selbstreflexion deckt die Differenz von Faktum und Norm auf und damit »die Lücke, die das Recht ausmacht« (111). Das ist eine ziemlich umständliche Art zu erklären, dass traditionelle Rechtsmodelle außerrechtliche Wertungen übernehmen, während das moderne Recht die Werturteile, die den Übergang von der Natur zur Norm begründen, jedenfalls überwiegend explizit macht und in die Zuständigkeit von Agenten des Rechtssystems verlegt. Die »Lücke« ist dann nichts anderes als Fundamentalproblem: Wenn Moral und Vernunft ausscheiden, fehlt es an einer Letztbegründung. M.s Lückenbüßer heißt Selbstreflexion: »Die Selbstsetzung des Rechts als Recht radikalisiert seinen Selbstbezug zu seiner Selbstreflexion.« (125) Das Wesen des modernen Rechts ist aber nicht nur die Lücke, sondern, weil keine Gerechtigkeit in Sicht, auch noch die Krise (125). Gerechtigkeit war noch nie in Sicht. Da berufe ich mich ausnahmsweise einmal auf Derrida. Dann gibt es kein Recht ohne Krise. Und dann ist das Krisenattribut leer.

Die Selbstreflexion wird zum Spiegelkabinett, wenn außer dem Recht auch noch die Materie des Nichtrechts selbstreflexiv wird. Einerseits wird durch die Selbstreflexion des Rechts das Nichtrecht als Materie in seiner Nicht- oder Urform hervorgebracht. Dieses Doppelnichts ohne Form und Norm reflektiert sich selbst mit der Folge seiner »(Selbst-)Naturalisierung« (137). Die Folge: Auch das natürliche Streben ist ohne Moral. »Sich als natürlich zu wissen heißt, sich als bestimmt zu wissen, aber ohne etwas Bestimmtes zu wissen.« (139) Und das bedeutet am Ende Unmoral: »Natürliches Wollen ist ein Wollen, das sich stets voraus ist – ein unbestimmtes und maßloses Wollen.« (141)

S. 104ff werden die bis dahin gefundenen Ergebnisse »rekapituliert«. Was dabei zum Vorschein kommt, scheint mir aber weder von den vorangegangenen Erörterungen getragen zu werden noch in sich plausibel zu sein: Das moderne Recht ist durch die Trennung von Recht und Moral autonom geworden. Daher bleibt ihm nur die Natur als Moralersatz. »Die legale Rechtsordnung reguliert Natürliches. Sie geht mithin von Strebungen aus, die sie als Fakten behandelt; Strebungen, in die sie nicht erziehend oder unterdrückend einzugreifen versucht, sondern sie von außen, unter Hinnahme ihres Gegebenseins, nach einem Gesetz der Gleichheit zu ermöglichen – mindestens zu begrenzen, bestenfalls zu befördern – versucht.« Das entspreche der Essenz der Interessentheorie. »Damit steht seine Normativität unter Voraussetzungen, über die es selbst nicht verfügen kann. Das trennt das souveräne Recht in London vom sittlichen Recht in Athen ebenso wie vom imperativen Recht in Rom: Es geht mit dem Bewußtsein einher, daß es in die Faktizität des natürlichen Strebens nicht eingreifen wollen kann. … denn das autonome Recht weiß, daß seine autonome Ordnung bloß deshalb befolgt, ja errichtet wird, weil dies dem natürlich-faktischen Streben dient« (104f). Das ist dann die Essenz der Willenstheorie.

Hier werden Legalisierung und Autonomie gleichgesetzt. Legalisierung ist die bloße Aufwertung von Außerrechtlichem zu Recht. Autonomie wäre nach üblichem Verständnis eine Verselbständigung des Rechts gegenüber dem Nichtrecht. Die These lautet also: Das moderne Recht ist nicht selbständig, weil es sich gegenüber der Gesellschaft nicht durchsetzen kann, und es weiß das. Damit bestreitet M. die Autonomie des Rechts und stellt letztlich in Abrede, was er voraussetzt, nämlich dass die Rechtsform nicht neutral ist, also nicht bloß Außerrechtliches widerspiegelt. Aber so einfach sind die Dinge dann doch nicht. »Durch den Akt der Selbstreflexion wird das, was ein erlittenes Geschehen war, zum eigenen freien Tun.« (141) Autonomie ist Pseudoautonomie.

In dem Abschnitt »Materialismus der Form« (141-152) gewinnt die Selbstreflexion des Rechts Pseudosubstanz als Tragödie. Das »Schicksal des Rechts« ist die tragische Illusion, es könne sein Außen gestalten. Der Privatrechtsliberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts habe resignierend die unkontrollierbare Eigendynamik des Außen freigegeben. Die von Max Weber beschriebene Materialisierung des Rechts sei die selbstreflexive Einsicht, dass die vom Recht selbst ausgelösten Proteste gegen das Recht im Recht berücksichtigt werden müssten (148). Diese »Responsivität des materialisierten Rechts [stehe] nicht im Widerspruch zu seiner Autonomie. »Denn das Nichtrecht ist im Recht nicht gültig, sondern wirksam, seine Anwesenheit im responsiven Recht nicht normativ, sondern effektiv: Trieb (oder Kraft), nicht Grund.« (149) Das ist die ebenso übliche wie nichtssagende Antwort der Systemtheorie über die Verbindung vom Außen der Wirklichkeit zum Innen der (Rechts-)Norm, die man gestern soziologisch unter Kausalitätsgesichtspunkten und normativ juristisch als Werturteil behandelte. Den Spagat der Systemtheorie zwischen operativer Schließung und kognitiver Offenheit tauscht M. gegen die Spreizung von Form und Materie. An die Stelle der Autopoiese tritt Prozessualisierung. »Rechte sind das Ergebnis von Prozessen und sie sind der Ausgangspunkt und Gegenstand von Prozessen.« Die Stelle der strukturellen Kopplung übernimmt die »Wirksamkeit der Materie des Nichtrechts im Recht« (154). Und weil sie sich unter dem Einfluss der Materie laufend verändern, gilt: »Rechte sind die permanente Revolution des Rechts als Form« (154). Eine bekannte Strukturhypothese der Rechtssoziologie lautet: »Alles Recht entwickelt sich« (Carbonnier). Als sie zum ersten Mal, wohl von Montesquieu, formuliert wurde, war sie eher revolutionär. Heute mutet sie trivial an. M. verlagert die Revolution in das Innere der These. Gehaltvoller wird sie dadurch vorerst nicht. Näherer Aufschluss wird im vierten Teil des Buches versprochen.

S. 154ff kämpft M. wieder mit dem Letztbegründungsproblem, jetzt am Beispiel der Vertragstheorien. Operative Verträge können sich bekanntlich nicht selbst in Geltung setzen. Sie benötigen eine außervertragliche Grundlage. Ein analoges Problem gibt es für den Gesellschaftsvertrag. Das wird hier messerscharf herausgestellt. Erneut erweist sich die Selbstreflexion des Rechts als Letztbegründungsersatz. Das Recht bejaht qua Selbstreflexion seine Geltung.

Das 7. Kapitel S. 164ff nimmt den Titel des Buches auf: Die Kritik der Rechte. Schon S. 154 erfuhr der Leser: »Rechte sind die permanente Revolution des Rechts als Form. Aber darin liegt zugleich der Widerspruch, der diese Form zerreißt. In dem Aufweis dieses Widerspruchs besteht die Kritik der Rechte.« Nun lernt der Leser, dass die subjektiven Rechte als geschichtlich und gesellschaftlich herrschende Gestalt des modernen Rechts »der zur Wirklichkeit gewordene (Selbst-)Widerspruch: der Widerspruch zwischen Wesen [ = Selbstreflexion] und Erscheinung [ = Form des Rechts]« ist (165). »Das bürgerliche Recht ist falsch, weil es sich selbst widerspricht.« (166) Denn »es verstellt und blockiert den Akt der Selbstreflexion, der es begründet. Das bürgerliche Recht setzt die revolutionäre Prozessualisierung zugleich voraus und bricht sie ab. Es will postrevolutionär sein und wird dadurch antireflexiv (und antirevolutionär).« (166f). Der Fehler liegt in einem falschen Materialismus = Positivismus, der »das in dem selbstreflexiven Formprozess des Rechts wirksame Materielle als positiv Gegebenes« auffasst (169). Dieses Gegebene ist ein »Mythos«. Adornos Dialektik hilft ihn entlarven (169). Und wer dem mit M. folgt, dem erscheint als Unversöhnliches Gegenüber des bürgerlichen »das andere Recht«. »Das bürgerliche Recht ist unwahr …, aber vorhanden; das andere Recht ist wahr, aber nicht da.« (170) Das übersteigt zunächst die Grenzen meiner Fassungskraft. Aber vielleicht vermag Teil III mit der Überschrift »Kritik: Die Ermächtigung des Eigenen« mir auf die Sprünge zu helfen. Heute nicht mehr.

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift Hauptsache Moral, welche ist egal, die zweite am 9. 5. unter dem Titel Das subjektive Recht ein hohles Ei.
[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Wie sie von Niklas Luhmann unter dem Titel »Reflexive Mechanismen« beschrieben wurde (Soziale Welt 17, 1966, 1-23).

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Das subjektive Recht ein hohles Ei. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« II

Dies ist die zweite Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2]

In der Einleitung unter der Überschrift »Marx‘ Rätsel« wird die Grundthese des Buches formuliert: Die bürgerlichen Revolutionen der Moderne waren der Akt eines politischen Gemeinwesens, ihr Ziel die Gleichheit, ihr Mittel die Form der Rechte, deren Träger keine politischen, sondern private Subjekte sind. Das Ergebnis ist die Entpolitisierung der Gesellschaft (7f). Der Liberalismus, der auf seine guten moralischen Absichten verweist, ist, wie Marx formulierte, nur zu »vulgärer Kritik« imstande. Die wahre Analyse des bürgerlichen Rechts ist nicht historisch, sondern ontologisch. Der moderne Umbruch des Rechts ist ein Umbruch in der Ontologie der Normativität (S. 11). Man kann die bürgerliche Erklärung gleicher (subjektiver) Rechte nicht funktional nach ihren »Gehalten, Zwecken und Wirkungen« begreifen, wenn man nicht zuvor deren Form verstanden hat, denn »diese Form ist nicht neutral« (9). Sie bringt normativ »vor und außernormative Faktizität« hervor (10). Faktisch heißt, »dem politischen Gemeinwesen vorgeordnet und entzogen« (9), oder, was dasselbe ist, die »Naturalisierung des Sozialen« (10) Diesen Vorgang kann das bürgerliche Recht in seiner Selbstreflexion nicht begreifen. Es fällt daher in sich zusammen, nachdem M. den Zusammenhang aufdeckt hat. Das führt zu einer »neuen Revolution der Rechte«, einem »Recht der Gegenrechte« (13).

Die Kritik der Rechte setzt an bei deren moralisch hohler Form. Dazu wird im ersten Teil des Buches eine historische Kontrastfolie aufgespannt. Idealtypisch werden uns mit Hilfe von Aristoteles und Cicero das griechische und das römische Recht vorgestellt. Das »Modell Athen« sei auf Erziehung zur Tugend angelegt gewesen, das »Modell Rom« auf die zwangsweise Durchsetzung der Vernunft (65ff). In Athen und Rom war die Rechtswelt, so scheint es,  noch in Ordnung, denn Rechte seien dort eigentlich nur Reflexe eines moralischen Universums gewesen. »Ein Recht hat man nach dem Maß der Gerechtigkeit und daher nur auf Gerechtes; das Recht des einzelnen ist sein gerechter Anteil.« (47)

Für den Umbruch zur Moderne steht das Modell London, personifiziert zuerst durch Hobbes, dann durch Locke.

»In der Form bürgerlicher Rechte bleibt der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand anwesend, ja wird der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand zur Geltung gebracht. Die Gewährleistung des Vor- und Außerrechtlichen, also des Natürlichen, wird zur Wesensbestimmung des Rechts.« (S. 55)

Für das moderne Recht gilt: »Das Gesetz ist nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander.« (58) Mit anderen Worten: Das moderne Recht ist darauf zugeschnitten, durch Determination von Rechtsansprüchen Sphären der Willkürfreiheit voneinander abzugrenzen. Es ist egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit werden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen.

Da haben wir ein Paradox: Die neuzeitliche Form der Rechte »verklammert Normativität und Faktizität, ohne die Normativität in Faktizität aufzulösen. … Rechte berechtigen – nur – Natürliches.« (S. 63) »Dabei heißt ›natürlich‹ vor- oder außerrechtlich; natürlich sind alle Handlungen, die nicht an der Normativität des Rechts ausgerichtet sind.« (S. 90) Paradox wird das nur durch die Mehrdeutigkeit, in der hier von Normativität geredet wird. Rechtsnormen, die für Ansprüche in bestimmten Grenzen Beachtung fordern, sind für M. nicht wirklich normativ, soll heißen, sie sind nicht substantiell moralisch. Schon an dieser Stelle fragt sich der Leser, ob nicht auch hinter der rechtlichen Garantie für die nur durch die Rechte anderer gebundene Wahrnehmung von Handlungs-möglichkeiten eine substantielle Moral stecken könnte.

Gerne zustimmen wird man der Zurückweisung des »liberalen Dualismus«, das heißt der naturrechtlichen Annahme von subjektiven Rechten, die Vorrang vor dem objektiven Recht beanspruchen. (24ff).[3] Der Dualismus kommt erst auf, wenn die naturrechtlichen Inhalte nicht als gelebter und selbstverständlicher Bestand positiven Rechts Geltung haben, sondern als kontingent reflektiert werden. Von diesem Augenblick an geht es um unterschiedliche Rechtsbegriffe. Von einem positivistischen Standpunkt aus ist »das natürliche Recht vor dem Recht ein Scheinrecht« (25). Im System des positiven Rechts sind objektives und subjektives Recht nur noch zwei Seiten derselben Medaille. Nicht so für M. Auch für das moderne Recht gelte der Vorrang der (subjektiven) Rechte, und zwar wegen deren radikal neuer Form (29).

»Die Sicherung der Rechte des einzelnen wird zur neuen Funktionsbestimmung des Rechts überhaupt.« (31) Das sei eine »Revolution im Begriff des Rechts« die den »Primat des Anspruchs [subj. Recht] vor dem Gesetz [=obj. Recht]« begründe (31). Funktion soll hier heißen, dass es »im Recht [nur noch] um die normative Sicherung natürlicher, das heißt, vorrechtlich bestehender, dem Recht vorhergehender und vorgegebener Strebungen und Handlungen geht« (32). Worum denn sonst, möchte man fragen? Das wäre ja die Superautopoiese, wenn es im Recht um die Sicherung des Rechts ginge. Für das moderne Recht ist auch Moral etwas Vorrechtliches. Die Operationsweise des Philosophen besteht hier in der Verwendung unterschiedlicher Rechtsbegriffe. Anders wäre der Satz, das Recht habe nur noch die Aufgabe des Schutzes und der Sicherung rechtlicher Ansprüche (32), tautologisch. »Die Operationsweise des Rechts besteht in der Legalisierung des Natürlichen.« (33) Das klingt, als ob alles Natürliche legalisiert werde. Als Mittel wirkt »die funktionalen Totalisierung des Anspruchs«, was wohl heißen soll, das alles Recht letztlich als Privatrecht organisiert ist. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass M. nur das halbe Recht im Blick hat, ein Eindruck, der sich im Fortgang verstärkt. Aber der Eindruck ist falsch, denn M. meint, was er sagt.

An Thomas Hobbes‘ Begründung der staatlichen Souveränität findet M. deren immanente Grenze wichtig, den von Carl Schmitt so genannten Todeskeim (73ff), den Schmitt in dem Vorbehalt der inneren Glaubens- und Gedankenfreiheit gegenüber dem Leviathan hatte entdecken wollen. Dem Liberalismus, so meint M., diene der Gesinnungsvorbehalt als Verzicht auf eine sittliche Inanspruch-nahme. Deshalb sei »das souverän herrschende Recht … aus innerer Konsequenz zu dem Recht geworden, dessen Wesen die Erlaubnis oder Befugnis« sei (S. 80). Recht in der Zeit nach Hobbes »legalisiert« und sichert damit das »Natürliche«, nämlich die willkürliche Verfolgung individueller Interessen (S. 89). Allerdings ist die »rechtliche Erlaubnis [nur] eine Freigabe des Urteilens.« (S. 82) Das heißt: »Die Gesetze stellen die Gründe ihrer Befolgung frei.« (S. 83) Damit verzichtet das Recht auf einen moralischen Anspruch. Diesen Verzicht findet M. bei Kant wieder, wenn dieser Ethik und Recht danach unterscheidet, dass das Recht äußeres Handeln vorschreibt (S. 84ff).

Kant sage, weil das Recht äußerlich sei, müsse es das Innere freigeben. Dieser Schluss sei aber unrichtig oder zirkulär, denn tatsächlich hätten das griechische und das römische Rechtsregime »erziehend oder unterdrückend« auch auf das Innere eingewirkt. Die Freiheitserlaubnis des modernen Rechts folge deshalb nicht direkt aus der Äußerlichkeit des Rechts, sondern aus dessen Selbstreflexion: Das moderne Recht deute sich so, dass es die Freiheit der Willkür – die im weiteren Verlauf des Buches als Eigenwille angesprochen wird – erlaube (S. 87). Ihre normative Begründung sei mit Karl Marx letztlich nur in der Idee der Gleichheit zu suchen (345).

Die Frage liegt nahe, ob das wirklich die Selbstdeutung des modernen Rechts ist oder nicht vielmehr M.s Fremddeutung. Nach der üblichen Lesart gewährleistet das subjektive Recht die Möglichkeit der freien Entfaltung der Person in materieller wie in ideeller Hinsicht und damit den Rahmen für »die guten Zwecke des Liberalismus …: Würde, Autonomie, Selbstbestimmung usw.« (9). In einer Formulierung Savignys[4]: »Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert.«. Das mag noch der längst dekonstruierte autonomiebasierte Rechtsbegriff der ersten Moderne[5] sein. Wenn man die Willenstheorie etwas tiefer hängt, so reflektiert sie immer noch die rationale Unentscheidbarkeit moralischer Fragen und verlangt dafür individuelle Gewissensentscheidungen. Das ist ein hoher normativer Anspruch. Die »Freiheit der Willkür« ist nur die Kehrseite dieses Angebots. Solche Überlegungen prallen an M.s Argumentation ab. An die Stelle von Autonomie oder Gewissens-entscheidung tritt der mit Hilfe Foucaults »empirisch« von Urteil und Kritik gestrippte »Eigenwille«, der als psychisches Faktum zählt, nicht aber wegen seiner moralischen Qualität (197ff). Erneut die Frage, warum dem Eigenwillen die moralische Qualität abgehen soll, die dem (von mir so genannten) Statuswillen zugesprochen  wird, der in den festen Hierarchien Athens und Roms die Basis der für eine gerecht Verteilung bildete. Nun gut, das liberale Recht war nicht sehr erfolgreich mit seiner Moral (oder Ethik). Aber waren Athen und Rom erfolgreicher?[6]

S. 88 folgt ein Zwischenergebnis, dem man abstrakt beipflichten möchte. »Das moderne Recht erzieht nicht mehr, sondern es diszipliniert.« Foucault lässt grüßen. Die »Differenz von Innen und Außen« etabliert sich »im Individuum (das dadurch zum Subjekt wird)«. Wenn da nur nicht die Hintergrundthese stünde, »daß das [moderne] Recht keinen normativen Anspruch an das Sein, die Ontologie des Rechtssubjekts« stelle (S. 88). Wieso sind Erziehung (Modell Athen) und Unterdrückung (Modell Rom) normativ, Disziplinierung aber nicht? Hier fällt wieder auf, wie M. »das Sittliche« und »das Vernünftige« des griechischen bzw. des römischen Modells anspricht, ohne deren Realität als Modelle guten und glücklichen Lebens zu betrachten. Das schöne Aristoteles-Zitat auf S. 209 zur Mitbenutzung des Eigentums war seinerzeit nicht mehr oder weniger symbolische Deklamation als heute Art. 14 Abs. 2 GG. Moderne Arbeitssklaverei ist kaum schlimmer als die antike Leibeigenschaft. Die vom modernen Recht geforderte äußere Disziplinierung im Sinne eines neminem laedere ist da schon ein gewisser Fortschritt.

Auf dem Wege dahin gibt es Überlegungen, die zum Grundbestand der Rechtstheorie gehören. Das gilt zunächst für die Überlegung, dass die Erfindung des subjektiven Rechts im Privatrecht eine Dynamik entfaltet hat, die im Verlauf das subjektiv-öffentliche Recht zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen. M. teilt allerdings die von Hegel und Savigny bis zu H. H. Rupp vertretene Auffassung, die Figur des subjektiv öffentlichen Rechts sei eine falsche Übertragung zivilrechtlicher Konstruktionen. Nur zur Erinnerung: Die Begründung subjektiver Rechte gegen den Staat scheint an der Vorstellung vom Staat als Quelle des objektiven Rechts zu scheitern mit der Folge, dass der Staat als Rechtsschutzgewährender und -verpflichteter ein- und dieselbe Person wäre. Da zum Recht ein unabhängiger Richter gehört und ein Richter per definitionem unabhängig zu sein hat, der Staat aber Richter in eigener Sache wäre, wären subjektive Rechte gegen den Staat paradox. Befriedigend formulieren lassen sich Problem und Lösung aber mit der Vorstellung, dass es sich logisch (auf der Satzebene) um ein (unlösbares) Rekursivitätsproblem handelt, dass der Staat praktisch aber kein monolithisches Gebilde ist, sondern sich aus mehreren »Gewalten« und vielen Funktionsträgern zusammensetzt, die sich wechselseitig beobachten und durch Rückkoppelungsprozesse in der Schwebe halten. Deshalb ist es richtig, dass die aus dem Privatrecht stammende Figur des subjektiven Rechts hat eine Dynamik entfaltete, die ihren Ursprung weit hinter sich gelassen hat. Die Dynamik ist mit der Akzeptanz des subjektiv öffentlichen Rechts aber längst nicht erschöpft. Doch das ist nicht, was M. interessiert. Ihm kommt es darauf an, dass subjektiv öffentliche Rechte auch nur verkleidete Privatrechte sind.

Iherings Interessentheorie liest M. als Reformulierung seiner Deutung vom Primat des Anspruchs. Die normative Kraft subjektiver Rechte knüpfe daran, »daß Personen Interessen haben« (62). Das ist plausibel, obwohl das Individualinteresse nur der Normalfall ist, aber kein Essentiale des subjektiven Rechts bildet. M. zitiert Jellinek mit dem Satz »Wille und Interesse oder Gut gehören daher im Begriffe des Rechts nothwendig zusammen.« Den nächsten Satz Jellineks übergeht er. Der Satz lautet: »Nicht aber müssen der Träger des auf das Interesse gerichteten Willens und der Destinatär des Interesses identisch sein.«[7] Damit hatte Jellinek den Begriff des subjektiven Rechts weit geöffnet. Es hat zwar noch ein Jahrhundert gedauert, bis die darin liegenden Möglichkeiten zur Entwicklung des Rechtsbegriffs ausgeschöpft wurden. Heute bereitet es jedoch keine Schwierigkeiten mehr, den Begriff des subjektiven Rechts für die Organisation der Wahrnehmung öffentlicher Interessen durch staatliche Stellen und durch Gruppierungen der Zivilgesellschaft heranzuziehen. M.s Analyse des subjektiven Rechts ist damit auf halber Strecke stehen geblieben.

Der Kontroverse zwischen Interessentheorie (Ihering) und Willenstheorie (Savigny, Windscheid) bringt M. auf den Nenner, diese Theorien hätten entgegengesetzte Naturbegriffe (92); der einen gehe es um die »Ermöglichung von Interessen«, der anderen um die »Erlaubnis der Willkür«, zwei »einander strukturell entgegengesetzte Weisen der Legalisierung des Natürlichen«, die in der modernen Form der Rechte beide gegenwärtig seien (95). Bei der rechtlichen Ermöglichung müsse das Recht die Interessen als Grundtypen des natürlichen Strebens bestimmen. An dieser Stelle erinnert sich der Leser daran, wie Marietta Auer[8] besonders herausstellt, dass Kants wunderbare Formel von der Freiheit, die ihre Grenzen an der Freiheit anderer findet, inhaltsleer ist und von hoher oder fremder Hand ausgefüllt werden muss. Darin steckt die »Bestimmung« der Interessen, die Voraussetzung für deren »Ermöglichung« ist. Es meldet sich die Frage, ob nicht in dieser Bestimmung der Interessen ein Stück Politik und vielleicht gar Moral stecken könnte.

Bei der rechtlichen Erlaubnis gehe es darum, die Willkür unter Absehung von Gründen zu legalisieren. Deshalb müsse die Erlaubnis inhaltlich unbestimmt bleiben. »In ihrer modernen Form sichern Rechte zugleich Interessen und Willkür.« Doch weil die Erlaubnis der Willkür das natürliche Streben unbestimmt lässt, während »die Ermöglichung von Interessen voraussetzt, daß das Recht das natürliche Streben bestimmt« arbeiten »die Sicherung von Interessen und der Willkür gegeneinander«. Darin besteht die »doppelte Performanz« der »Legalisierung des Natürlichen« im modernen Recht. »Aufgrund der Form der Rechte entfaltet sich die Einheit des modernen Rechts nur im Gegeneinander sich ausschließender Leistungen. Dieses Gegeneinander bildet die spezifisch moderne Gestalt des ›Kampfs um’s Recht‹ (Rudolf von Ihering).« (97)

Übersetzt man das »Gegeneinander« mit dem Gegensatz von objektivem und subjektivem Interessenbegriff, dann kann man vielleicht sagen: Ihering sah das Interesse als objektiv gegeben, während Savigny und Windscheid mangels einer Grundlage zur Beurteilung objektiver Interessen auf die Selbstbehauptung des Interesses (Bedürfnis) durch Willensentschluss abstellten. Damit erklärt sich mir aber noch nicht, warum sich »in der modernen Form des Rechts … die Sicherung von Interessen und der Willkür gegeneinander« richten, ja einander ausschließen sollen (97). Ich hätte vielmehr angenommen, dass beides wunderbar zusammenstimmt, denn die Willkür der Rechtsausübung ist das Korrektiv dafür, dass letztlich kein Dritter, weder Rechtsphilosoph noch Gesetzgeber, sondern nur der Betroffene selbst seine Interessen kennt. Aber das hat M. nicht gemeint. Das Gegeneinander läuft vielmehr auf die permanente Auseinandersetzung zwischen Privatautonomie und sozialen Rechten hinaus, denn die rechtliche Bestimmung von Interessen bedeutet die Bestimmung eines »Vermögens sozialer Teilhabe«. Das führt im weiteren Verlauf zu einem auf den ersten Blick vielleicht überraschenden Ergebnis:

»Die soziale Kritik ist Teil des politischen Kampfes im bürgerlichen Recht, Rechtskritik ist in der bürgerlichen Gesellschaft eine Strategie in der Rechtsbegründung: Das bürgerliche Recht ist wesentlich herrschaftskritisches Recht.« (S. 301)

Aber die Sache hat einen Haken. »Die bürgerliche Kritik (oder Selbstkritik) des Rechts« hat nicht verstanden, worum es (M.) geht (305). Doch das führt heute zu weit. Fortsetzung nicht garantiert.

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift »Hauptsache Moral, welche ist egal«.

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Damit ist die Sache freilich noch nicht ganz zu Ende. Gerade die positivrechtliche Form der subjektiven Rechts öffnet es für den rights talk oder rights discourse – mir fehlt der passende deutsche Ausdruck –, mit dem an vielen Fronten neue subjektive Rechte eingefordert werden, nicht immer ganz erfolglos.

[4] Savigny, System, Bd. 1, S. 331. Zur »moralontologischen« Fassung des modernen Begriffs der Rechtsperson Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 15ff. Sie meint, Hugo Grotius habe noch »ein in seinen Grundlagen normatives System geschaffen … in dem subjektive Individualrecchte gerechtfertige Güter- und Handlungszuweisungen begründeten. Dagegen habe »der Mensch als moralische Person« im System von Hobbes keinen Platz gehabt, sei jedoch spätestens von Kant wieder als solche eingesetzt worden.

[5] Auer a. a. O. S. 6.

[6] Mit der Kritik der Moderne vor dem Hintergrund einer idyllischen Vormoderne steht M. nicht allein. Deshalb ist hier ein Hinweis auf die Selbstkritik der zweiten Moderne angebracht, wie sie von Auer (2014, S. 46ff) referiert und rezipiert wird. Eine seit Hegel und Marx zentrale Kritik geht dahin, dass die Moderne den Einzelnen von der Familie abtrennt, indem sie ihn ins Erwerbsleben zwingt, die Familie zerstört und als Kehrseite dem Einzelnen den sozialen Rückhalt nimmt (Auer S. 77). Doch nach der Realität der vormodernen Familie jenseits des Adels, der Stände und der Bauern wird nicht ernsthaft gefragt. Die Lebensgüter waren ungleich verteilt. Das Leben überhaupt war kurz und mühsam, die reale Möglichkeit von Hunger und Durst, Elend und Schmerz nicht weniger beklagenswert als nach der bürgerlichen Revolution.

[7] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44. Ebd. S. 71 heißt es noch deutlicher: »Das positive Recht kann aber den Kreis der formellen Interessen beliebig verengen oder erweitern. Im letzteren Fall bildet nicht einmal das materiell subjektive Interesse für seine Gewährungen eine unübersteigbare Grenze, so daß selbst dort, wo ein Individualinteresse gar nicht vorliegen kann, trotzdem ein geschützter Anspruch geschaffen zu werden vermag.«

[8] Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 55ff, 59.

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Hauptsache Moral, welche ist egal. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte«

Nun habe ich endlich doch noch Christoph Menkes »Kritik der Rechte«[1] von Anfang bis Ende gelesen. In diesem und – vielleicht – in weiteren Einträgen will ich festhalten, wie ich das Buch missverstanden habe.[2]

Die Rechte, die hier kritisiert werden, sind die subjektiven Rechte, die das moderne Recht charakterisieren. Vorab die Kernaussagen des Buches stark verkürzt: »Das bürgerliche Recht … berechtigt, und ermächtigt dadurch, den einzelnen dazu, nach seinem Belieben zu wollen und zu handeln. … Das Wollen des einzelnen zählt, worin auch immer sein Gehalt besteht; das subjektive Recht entkoppelt die rechtliche Macht des einzelnen von der Tugend oder der Vernunft, an die das traditionelle Recht seine Chance zur Durchsetzung band.« (196) »Der Grund aller Entgegensetzungen und Widersprüche, die im bürgerlichen Recht aufbrechen, ist … die Form der subjektiven Rechte.« (306) »In ihrer modernen Form sichern die Rechte zugleich Interessen und Willkür.« (97) »[Das Recht] muß definieren, was ein Interesse ist, welche Interessen es gibt und wann sie verwirklicht sind … Da Willkür das Vermögen der Wahl unter Absehung von Gründen ist, kann das Recht sie nur legalisieren, indem es sie nicht bestimmt.« (95) Diese »Doppelperformanz« des bürgerlichen Rechts führt zwar zur laufenden Selbstkritik mit dem Ergebnis von sozialen Reformen, die aber wiederum nur Ausbeutung und Zwang durch das Privatrecht befestigen. Die Selbstkritik des bürgerlichen Rechts hat nicht verstanden, worum es geht: Die moderne Form der Rechte ist in sich paradox (355). Hat man das mit M. begriffen, kommt die Revolution von selbst. Sie äußert sich freilich nicht in Gewalt, sondern in einer »Revolution des Urteilens« und in »Gegenrechten«.

Die Lektüre des Buches war durchaus angenehm. Anders als das Zitat am Ende des Eintrags vom 2. Februar 2016 befürchten ließ, ist der Text frei von sprachlichen Kontorsionen. Im Gegenteil, er besticht durch die Eleganz der Darstellung. Das Layout entspricht eher einem literarischen als einem wissenschaftlichen Werk. Die Sätze, wenn auch nicht immer ihre Aussage, sind klar und durchsichtig. Wiederholte Wiederholungen und Zusammen-fassungen bilden ein Stilelement, als ob dem Leser damit Argumente und Thesen eingehämmert werden sollen. Dem senilen Leser erleichtert dieser performative Stil die Lektüre. Ein Stilbruch ist die Grafik auf S. 304. Lästig ist die Wiedergabe der Anmerkungen als Endnoten. Vermisst werden Sachregister und Literaturverzeichnis.

Das Buch ist in vier Teile und fünfzehn durchgezählte Kapitel gegliedert. Außerhalb der Gliederung stehen die Einleitung und ein Schluss über »Recht und Gewalt«.[3] In Exkursen, die im Layout als solche erkennbar sind, setzt M. sich mit alten und postmodernen Autoren auseinander. Jeder Exkurs ist ein kleines Meisterstück der Darstellung, und sie alle tragen zur Verdeutlichung der Argumentation bei.

Warum ist so viel über das subjektive Recht gedacht und geschrieben worden? Auf der Oberfläche geht es um ein Definitionsproblem. Der Begriff des subjektiven Rechts wird mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet mit der Folge, dass man nicht selten aneinander vorbeiredet. Auf der einen Seite steht ein sehr weiter Begriff, der Rechtspositionen im Sinne absoluter Rechte (Eigentum, Persönlichkeitsrecht, Grundrechte) ebenso einschließt wie Gestaltungsrechte und Forderungen. Auf der anderen Seite steht ein enger technischer Begriff, der unter subjektiven Rechten nur klagbare Ansprüche versteht. Hinter der Kontroverse um den richtigen Begriff des subjektiven Rechts steckt das Dauerproblem der Rechtsphilosophie, nämlich die Frage, wieweit die Geltung des Rechts von seinem Inhalt abhängig ist. Gehört es zum Begriff des subjektiven Rechts, dass es gerecht ist, sei es, dass es ein (berechtigtes) Interesse schützt, sei es dass es im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit Gegenleistung oder Restitution bildet, sei es, dass es im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit Bedürfnisse zufrieden stellt? Oder genügt es, auf die Willensmacht des Rechtsträgers abzustellen? Im Hintergrund steht Karl Marx’ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Daran knüpft M. an mit der These, das subjektive Recht habe nicht gleiche Rechte für alle, sondern nur die »Gleichheit der Form der Rechte« gebracht (7).

Es handelt sich um eine relativ junge Problematik. In ursprünglichen Verhältnissen war in allen Rechtsbeziehungen Reziprozität im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit eingebaut. So wie heute noch der Käufer meistens sieht oder weiß, was er für sein Geld bekommt, waren alle Rechtsbeziehungen mehr oder weniger konkrete Tauschbeziehungen. Im modernen Recht ist die Gegenseitigkeit nicht mehr zu erkennen. Für sich betrachtet erscheint das subjektive Recht daher oft als ein ungerechtes Recht. Mit den Worten Luhmanns:

Ein Professor, der sich überarbeitet hat, wird nicht in der Universität wiederhergestellt, sondern im Sanatorium. Den Bau von Freibädern bezahlen nicht diejenigen, welche die Flüsse verunreinigen. Die Unfallopfer werden nicht in die Autofabriken gebracht, die Atombombe nicht auf die Physiker geworfen, die randalierende Jugend wird nicht von ihren Eltern und Lehrern niedergeknüppelt. Es muss mithin in erheblichem Umfang Mechanismen der Problemüberwälzung und eines indirekten Folgenausgleichs geben. Diese Umleitung wird durch abstrakte Medien wie Macht und Geld zu verbindlichen Entscheidungen getragen. … Juristisch ließe sich ein solcher indirekter Ausgleich ohne die Figur des subjektiven Rechts kaum organisieren.[4]

Viele sind heute der Ansicht, das subjektive Recht sei als »modernes« individualistisches Konzept überholt und müsse durch kommunitäre Vorstellungen ersetzt werden. Vielleicht sind wir sogar schon auf dem Wege dorthin. Dagegen steht die »rights explosion«[5] oder »rights revolution«[6] im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die auf die Positivierung der Menschenrechte zurückgeht und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.

Es gibt hier also ein großes Thema. Daher ist es nicht überraschend, dass das M.s Buch in Akademie und Medien auf Resonanz gestoßen ist.[7] M. entwickelt seine Kritik weitgehend in einer Diskussion mit der Rechtstheorie, wie sie im 19. Jahrhundert von Savigny, Ihering und Windscheid und später von Georg Jellinek und Kelsen auf den Weg gebracht wurde. Das war für mich der Grund, dem Buch so viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Rezensionen in den Medien fallen eher zurückhaltend aus. Sie halten dem Buch einen hohen Abstraktionsgrad und mangelnde Verständlichkeit vor, suchen vergeblich nach der angekündigten »neuen Revolution der Rechte« und sehen »großes Theoriekino«. In der Akademie wird die Qualität eines geisteswissenschaftlichen Textes wird an der Elaboration der Darstellung gemessen. Davon haben Auer und Möllers sich leiten lassen. Auer findet die »Kritik der Rechte« eindrucksvoll[8] und Möllers sogar furios. Er meint, »Menkes Buch [sei] von einer geradezu berückenden systematisch-begrifflichen Geschlossenheit. … die begriffliche Rigorosität [schaffe] ein neues eigenes Argument«[9]. Bis zu einer Kritik der Kritik dringen die Kritiker nicht vor. Das war aber in den für die SZ und die FAZ geschriebenen Rezensionen auch nicht zu erwarten. Hilfreich war deshalb die parallele Lektüre von Marietta Auers 2014 erschienener Monographie »Der privatrechtlichen Diskurs der Moderne«.

In der Form betreibt M. eine Begriffsphilosophie, die Juristen an die Begriffsjurisprudenz erinnert. Dabei helfen offene Allgemeinbegriffe wie Subjekt und Macht, Revolution und Krise, Naturalisierung, Materialismus und Positivität, Privatisierung und Politisierung sowie für die Metaebene Selbstreflexion, Dialektik und Ontologie. Aus den anscheinend beschreibenden oder analytischen Begriffen werden normativ aufgeladene Ergebnisse abgeleitet. Das funktioniert besser noch als bei der alten Begriffsjurisprudenz, weil die Begriffe so gegriffen werden, dass sie in sich oder in Kombination Widersprüche ergeben. Aus Widersprüchen lassen sich beliebige Schlussfolgerungen ziehen.

Dieser Umgang mit den Begriffen ist unhistorisch und unsoziologisch, denn er unterstellt, dass die Welt den Begriffen folgt, und nicht umgekehrt. M.s Begriffswelt führt ein Eigenleben. Sie lässt in der Schwebe, ob die Ideengeschichte des Liberalismus von Locke bis Rawls begrifflich analysiert oder ob die Wirkungsgeschichte dieser Ideen nachvollzogen werden soll. Entwicklung und Konflikte der Gesellschaft werden aus Begriffen rekonstruiert. Auf Luhmannesisch gesagt, M.s Begrifflichkeiten invisibilisieren die Realität des modernen Rechts.

In der Sache führt M. einen Angriff auf den klassischen und ebenso auf den modernen Rechtsliberalismus. Er hält seinen Angriff für vernichtend. Daher sind alle, die der Ansicht sind, dass dieser Liberalismus die Basis ihres Staates und seiner Gesellschaft und auch die Basis der westlichen Welt bildet, zu einer Verteidigung des Liberalismus aufgerufen. Bisher ist der Aufruf ungehört verhallt. In der Akademie gehört es heute zum guten Ton, mit der Liberalismuskritik zu kokettieren, auch wenn man keine Alternative vorweisen kann.

Zu den subjektiven Rechten, denen die Kritik M.s gilt, gehören über das klassische Privatrecht hinaus die sozialen Teilhaberechte sowie die Grund- und Menschenrechte. Die Grundrechte wären ein guter Ausgangspunkt, um die praktischen Konsequenzen und die noch unausgeschöpften Möglichkeiten der Form des subjektiven Rechts in Augenschein zu nehmen. Diese Möglichkeiten hatte schon der von M. ausgiebig rezipierte Georg Jellinek angelegt, wenn er sagte, dass »Wille und Interesse oder Gut … im Begriffe des Rechts [nicht] nothwendig« zusammengehören, und wenn er das Recht darüber hinaus von der Betroffenheit individueller Interessen überhaupt befreite[10]. Was daraus geworden ist, deutet die von M. geschätzte Feministin Wendy Brown an, wenn sie vom Ortswechsel vieler sozialer Bewegungen von der Straße in den Gerichtssaal spricht[11]. Aber M.s Analyse, die dem Begriff des subjektiven Rechts eine innere Widersprüchlichkeit attestiert, verbaut sich den Blick für die Möglichkeiten, die in der Form des subjektiven Rechts stecken.

Durch die Betonung der Begriffsarbeit und die eingehende Auseinandersetzung mit der analytischen Rechtstheorie wirken die Thesen des Buches analytisch und verstecken ihre Normativität. M. kritisiert das moderne Recht, weil »das Gesetz … nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander« ist. Das moderne Recht sei egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit würden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen (S. 59). Auer meint, »die Rückkehr zu einem sittlichen Rechtsverständnis im Sinne der Vormoderne« habe M. bei seiner Kritik »natürlich« nicht im Sinn. Was dann, fragt sich der Leser, wenn ihm von dem »neuen Recht« auch nur eine Form vorgestellt wird?

Auer lobt, M. habe seine Thesen historisch verankert. Doch er hat sich mit Athen und Rom einen bequemen Ankergrund ausgesucht. Sehr viel steiniger ist die nationalsozialistische ebenso wie die international-sozialistische Rechtserneuerung. Beide haben die Entwicklung noch einmal zurückgedreht, indem sie subjektive Rechte mit einer objektiven Bindung versehen haben, die von M.s Sittlichkeitsbegriff gedeckt ist, der verlangt, »daß die Inanspruchnahme der Rechte durch ein geteiltes Ethos reguliert ist« (S. 272).

Ein zentrales Element der Moderne und damit auch des Liberalismus ist die Skepsis gegenüber moralischer Gewissheit. Sie wird von M. nicht gewürdigt. Daher wirkt die Emphase, mit der er immer wieder den Verlust der Sittlichkeit im Recht beklagt, wie eine Einladung an das einzige zeitgenössische Recht, das durchgehend moralisch verankert ist, nämlich an die Scharia (= Modell Riad).

Diese meine Kritik der Kritik verlangt nach näherer Begründung. Eine Fortsetzung ist deshalb geplant, aber noch nicht gesichert.

[1] Christoph Menke, Kritik der Rechte, Suhrkamp, Berlin 2015, 485 S. 29,95 EUR..

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original.  Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Zu diesem Schluss bereits der Eintrag vom 2. Februar 2016 Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen?.

[4] Niklas Luhmann, Zur Funktion der »subjektiven« Rechte, JbRSozRTh 1, 1970, 321/327 f.

[5] Robert A. Licht, Old Rights and New (The Rights Explosion), Washington, D.C., 1993.

[6] Bruce A. Ackerman, The Civil Rights Revolution, Cambridge, Mass., 2014; Charles R. Epp, The Rights Revolution. Lawyers, Activists, and Supreme Courts in Comparative Perspective, Chicago 1998; Michael Ignatieff, The Rights Revolution, Toronto 2000; Cass R. Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the Regulatory State, Cambridge, Mass., 1993; Samuel Walker, The Rights Revolution. Rights and Community in Modern America, New York 1998.

[7] Marietta Auer, Sittlichkeit ist halt perdu, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10;  Hannah Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, Deutschlandradio Kultur am 11. 12. 2015; Christoph Fleischmann, Rezension, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Christoph Möllers, Jenseits des Eigenwillens, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Tom Wohlfahrt, Die Möglichkeit der Rechte, Blogbeitrag vom 26. 1. 2016.

[8] Das ist ein bißchen überraschend, denn M. folgt keineswegs der Devise Auers, »die soziale Praxis ernst zu nehmen« (Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 5).

[9] Möllers a. a. O.

[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44, 71.

[11] Wendy Brown, Die Paradoxien der Rechte, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011,  454-473, S. 454. In diese Richtung deutet auch Möllers, wenn er auf »vielen um Emanzipation kämpfenden Gruppen [hinweist], die erst durch die gemeinsame Einforderung von Rechten politisch vergemeinschaftet wurden.«

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Die Selbstreflexion der Musik hilft bei der Kritik der »Kritik der Rechte«

Wie angekündigt, habe ich mich an die Lektüre von Christoph Menkes »Kritik der Rechte« gemacht. Heute will ich schon einmal eine Lesefrucht anbieten. Es handelt sich um einen Text aus dem S. 99 beginnenden Kapitel »Ontologie: Der Materialismus der Form«. Darin wird mit Hilfe Luhmannscher Systemtheorie erklärt, dass die moderne Form der Rechte ein Paradox bildet. Da ich mit Paradoxien im Recht bekanntlich Schwierigkeiten habe, habe ich jeweils das Wort »Recht« durch »Musik« und »Unrecht« durch »Lärm« ersetzt.[1] Lärm scheint mir besser als Rauschen, denn er steht, ähnlich wie das Unrecht, für menschlich erzeugte Töne. Das Rauschen »wäre dann die Welt«[2]. »Normativ« gegen »ästhetisch« zu tauschen, wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, passt aber ganz gut. Ein etwas tieferer Eingriff in den Text war nur für S. 113 u. notwendig, um H. L. A. Harts Unterscheidung von primären und sekundären Regeln anzupassen. Hier das Ergebnis für die Seiten 106, 111-115 mit der Versicherung, dass das Tauschgeschäft noch über etliche Seiten fortgeführt werden kann:

Die moderne Form der Musik ist die Form der Differenz. Oder die moderne Form der Musik bildet ein Paradox. …

Worin besteht die Grundstruktur der Musik, durch deren Selbstreflexion das Paradox der Musik hervorgebracht wird? Weshalb bringt die Selbstreflexion der Musik diese Form hervor, in der sich das Natürliche und Faktische, das Außen der Musik in der Musik geltend macht (und die deshalb als ein Paradox erscheint)? Weil die Selbstreflexion der Musik nichts anderes als der Ausdruck und Vollzug einer Lücke ist, die im Zentrum der Musik klafft. Das heißt hier Selbstreflexion: die Lücke in der Musik, die Lücke, die die Musik ausmacht, auszustellen; den Riß in der Musik nicht zu flicken, sondern zu bejahen.

Unterscheidung und Selbstbezug

Im Zentrum der Musik – aller Musik – klafft eine Lücke: Diese These, die dem Verständnis der modernen Selbstreflexion der Musik zugrunde liegt, ist die Konsequenz aus zwei Einsichten, die Niklas Luhmann formuliert hat. Die erste Einsicht lautet, daß die Musik – als Form – durch zwei verschiedene Unterscheidungen gekennzeichnet ist (i). Die zweite Einsicht lautet, daß diese beiden Unterscheidungen in der Musik – als System – durch ihre Selbstbezüglichkeit verbunden sind (ii).

(i) Die doppelte Differenz der Form: Alles, was die Musik tut, ist dadurch definiert, eine Form, die sie spezifisch auszeichnet, zu verwenden. Das heißt: Sie ist dadurch definiert, eine spezifische Unterscheidung zu treffen; denn »Formsetzung ist […] Unterscheiden«. In der Musik ist das die Unterscheidung von Musik und Lärm. Die Musik verwendet diese Unterscheidung, um zu tun, was nur die Musik (und die Musik nur) tun kann: um etwas als Musik oder Lärm zu identifizieren. Musik ist dann oder dort, wo mit der Unterscheidung von Musik und Lärm operiert wird. Es gibt »keine andere Instanz in der Gesellschaft […], die sagen könnte: Dies ist Musik und dies ist Lärm.«

In jedem Fall, in dem die Musik ihre Form verwendet und etwas als Musik (oder als Lärm) identifiziert wird, gibt es mithin eine »Außenseite«: für die Musik den Lärm und für den Lärm die Musik. »Nun muß noch an eine zweite Außenseite gedacht werden, nämlich an die Außenseite der Differenz von [Musik] und [Lärm], an die Außenseite der Einheit dieser Differenz, an die Außenseite der [Musik]. Dies wäre dann die Welt.« Die Musik konstituiert sich durch das Verwenden ihrer Form »in einem Bereich, der dann für [sie] zur Umwelt wird«. Die Musik unterscheidet zwischen Musik und Lärm. Durch diese Unterscheidung wird aber zugleich eine zweite Unterscheidung getroffen. Neben die Unterscheidung zwischen Musik und Lärm tritt die Unterscheidung zwischen der Unterscheidung von Musik und Lärm und der Nichtunterscheidung von Musik und Lärm: die Unterscheidung von Musik und Nichtmusik.

Wie in jeder Form, so werden auch in der Musik immer beide Unterscheidungen zugleich getroffen. Sie sind aber fundamental verschieden. Die erste ist ästhetisch und symmetrisch: Sie unterscheidet zwischen zwei Seiten, die ästhetisch einander entgegengesetzt – als positive (Musik) und negative Seite (Lärm) –, aber von gleicher Art sind; beides sind »Werte« (Luhmann). Die zweite Unterscheidung ist strukturell und asymmetrisch: Ihre beiden Seiten sind die Form in ihrem Gebrauch in der Musik und die Welt als das Außen der Musik, die Nichtmusik; die musikalische Form und die musikindifferente, daher – aus der Sicht der Musik – formlose Materie.

(ii) Selbstbezug: Die erste Unterscheidung, zwischen Musik und Lärm, ist in der Musik so da, daß die eine oder die andere Seite der Unterscheidung zur Identifizierung von etwas (als Musik oder als Lärm) gebraucht wird. Die zweite Unterscheidung, zwischen Musik und Nichtmusik, dagegen trifft die Musik dort (und deshalb), wo sie sich in dieser unterscheidenden Identifizierung von etwas zugleich auf sich bezieht: Die Musik muß zwischen Musik und Nichtmusik, zwischen sich und der Welt unterscheiden, weil es keine Musik ohne Selbstbezug gibt. Denn um sich musikalisch auf irgend etwas beziehen und es als Musik oder Lärm identifizieren zu können, muß die Musik sich auf andere Ereignisse musikalischen Unterscheidens beziehen und diese als auch musikalische identifizieren können. Und dies zu tun heißt, sie als Musik und nicht Nichtmusik zu identifizieren, also die Unterscheidung von Musik und Nichtmusik zu gebrauchen. Die Musik kann nicht allein dadurch definiert werden, daß sie zwischen Musik und Lärm unterscheidet; dann könnte es auch einen einzigen Musikakt, einen einmaligen Gebrauch der Unterscheidung von Musik und Lärm geben. Jeder Gebrauch der Unterscheidung von Musik und Lärm ist aber die Wiederholung des Gebrauchs dieser Unterscheidung. Und daher gehört zur Musik nicht nur die Identifizierung von etwas als Musik oder Lärm, sondern auch die Identifizierung von anderen Akten als solche, die die Unterscheidung von Musik und Lärm gebrauchen oder die sie nicht gebrauchen – und damit gehört zur Musik zugleich der Gebrauch der Unterscheidung von Musik und Nichtmusik.

Dasselbe Argument läßt sich mit H. L. A. Hart auch so formulieren, daß die Musik nicht nur primär aus Kompositionen, Aufführungen und Improvisationen bestehen kann. Der »Schritt von der vormusikalischen in die musikalische Welt« ist erst dann getan, wenn es (mindestens) auch noch eine sekundäre »Regel des Wiedererkennens [rule of recognition]« gibt, die es erlaubt zu sagen, wann man es mit Musik primären Typs und daher mit einem musikalischen Ereignis zu tun hat. Die Musik kann nur Musik enthalten, wenn sie nicht nur aus Musik besteht. Denn die Musik kann ohne »basale Selbstreferenz« nicht operieren: Das Operieren der Musik »erfordert ein Mindestmaß an ›Ähnlichkeit‹ der Elemente«. So bezieht sich jeder Akt der Aufführung oder der Komposition auf andere solche Akte und leistet darin die »musikeigene Identifizierung« von Musik (als Musik). Die Musik operiert auf zwei Ebenen zugleich: Sie gebraucht die Unterscheidung von Musik und Lärm (zur Identifizierung von etwas als Musik oder Lärm), und sie bezieht sich auf diese Unterscheidung (zur Identifizierung von etwas als Musik und nicht Nichtmusik).[3]

Indem die Musik sich zugleich auf die Unterscheidung bezieht, die sie gebraucht; indem sie diese Unterscheidung nur so gebrauchen kann, daß sie sich zugleich auf sie bezieht, wird die Unterscheidung von ihrem Gebrauch unterschieden. Und weil dies in der Musik selbst geschieht, kann man auch sagen, daß die Unterscheidung, die die Musik gebraucht, in die Musik »hineincopiert« wird oder daß die »Unterscheidung […] in sich wiedervorkommt«. Indem sich die Musik im Gebrauch der Unterscheidung von Musik und Lärm auf diese Unterscheidung bezieht, gebraucht sie zugleich die Unterscheidung von Musik und Nichtmusik. Die Musik gebraucht beide Unterscheidungen, und dieser doppelstöckige Unterscheidungsgebrauch ist intern verknüpft. Die Musik ist die Doppelung, ja Spaltung und Verknüpfung von Musizieren und Selbstbezug, Praxis und Selbstreferenz.

_____________________

[1] Die Sache hat einen halbernsten Hintergrund. Der Katalog der Funktionssysteme der Gesellschaft ist nicht geschlossen. So liegt der Gedanke nahe, auch die Musik als ein solches System zu behandeln. Musik ist fraglos Kommunikation Aber Peter Fuchs meint, sie bilde, ebensowenig wie die Sprache, ein System. Ich bin da nicht so sicher, halte es aber nicht für notwendig, mir dazu eine Meinung zu bilden. Immerhin sei auf folgende Literatur hingewiesen: Peter Fuchs, Vom Zeitzauber der Musik, Eine Diskussionsanregung, in: Dirk Baecker et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt 1987:214-237; Felix Görg, Eine Einführung in die Kunst in der Systemtheorie unter besonderer Berücksichtigung der Musik, Magdeburger Seminararbeit von 2009; Ulrich Tadday, Systemtheorie und Musik. Luhmanns Variante der Autonomieästhetik, Musik und Ästhetik 1, 1997, 13-33.

[2] Vgl. S. 111 mit Endnote 22 auf S. 428. Menke zitiert hier Luhmann.

[3] Hier (auf S. 114) folgt im Original ein längeres Zitat aus Luhmann, die Paradoxie der Form, S. 199.

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Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen? Prolegomena zur Lektüre der »Kritik der Rechte« von Christoph Menke

Die Postmoderne mit ihrem Gewaltgeraune ist eigentlich schon passé. Doch es erscheinen immer wieder neue Texte, die sich mit der Gewalt des Rechts und dem Recht der Gewalt befassen.

Einige Trivialitäten vorab:
1. Der Gewaltbegriff ist so vielfältig, dass man am besten immer dazu sagt, welche Art der Gewalt gemeint ist, physische Gewalt, strukturelle Gewalt (Galtung) oder symbolische Gewalt (Bourdieu). Man kann die Gewalt auch qualifizieren etwa als Staatsgewalt, Polizeigewalt, elterliche Gewalt usw. usw.
2. Mit dem Recht verbindet sich die Vorstellung der physischen (Gewalt) als letztem Sanktions- und Durchsetzungsmittel, mit staatlichem Recht auch die Vorstellung des Gewaltmonopols.
3. Eine Funktion des Rechts besteht darin, physische Gewalt auszuschließen und unkörperliche Gewalt zu begrenzen. Dazu ist freilich die Drohung mit Gewalt und gelegentlich ihr Einsatz erforderlich.
4. Nicht ganz selten ist das sich gewaltfeindlich gebende Recht selbst erst durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen.
5. Das Strafrecht kennt den Unterschied zwischen vis absoluta und vis compulsiva. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst. [1]Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.

Die englische und die französische Sprache unterscheiden zwischen force und violence. In beiden Sprachen ist violence eher die körperliche Gewalt. Dennoch sprach Galrung von structural violence und Bourdieu von violence symbolique, wiewohl doch beidegerade eine unkörperliche Gewalt im Blick hatten. Es handelt sich um eine sicher beabsichtigte contradictio in adjectu. Diese rhetorisch immer mitgeführte contradictio bringt den ganzen Gewaltdiskurs zum Schillern. Im Hintergrund steht immer die körperliche Gewalt. Sie macht den Gewaltbegriff zu einem Faszinosum oder gar Mysterium. Thematisiert werden Mythos und Tragödie. Allenfalls noch die Todesstrafe. Bei der Beantwortung konkreter und aktueller Fragen, der Frage etwa, welche und wieviel Gewalt an der Grenze zulässig sein soll, hilft das alles wenig.

Der kanonische Text zu dem schwierigen Verhältnis von Recht und Gewalt stammt von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1920/1921). [2]Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.

Benjamin hat die Stichworte für die weitere Diskussion geliefert. Er hat insbesondere auch die Verknüpfung des Themas mit Mythologie und Theologie vorgedacht. Sein Essay gipfelt in einer Analogisierung von proletarisch-revolutionärer und göttlicher Gewalt. Eine gute Darstellung und Einordnung bietet Raul Zelik in seinem Blog. [3]Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.

Die postmoderne amerikanische Diskussion ist vom Mysterium der Gewalt des Rechts fasziniert, ohne dass sie über Benjamin weit hinausgekommen wäre. In der Einleitung zu ihrem Sammelband »Law’s Violence« [4]Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995. schreiben Sarat und Kearns:

»The essays collected in Law’s Violence explore that mystery. Each recognizes that violence, as a fact and a metaphor, is integral to the constitution of modern law, and that law is a creature of both literal violence, and of imaginings and threats of force, disorder, and pain. Each acknowledges that in the absence of such imaginings and threats there is no law, and that modern law is built on representations of aggression and disruption. Law is, in this sense, an extended meditation on a metaphor.«

Auch in Deutschland wurde Robert M. Covers Essay »Violence and the Word« [5]Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992. viel beachtet. Covers Text beginnt dramatisch:

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. This is true in several senses. Legal interpretive acts signal and occasion the imposition of violence upon others: A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur. When interpreters have finished their work, they frequently leave behind victims whose lives have been torn apart by these organized, social practices of violence.«

Auch wenn Cover sich nach Umwegen über Folter und Märtyrertum mäßigt (S. 1601),

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

so bleibt doch eine existentialistische Verkopplung von Recht und Gewalt. Sie führt dazu, Rechtsanwendung schlechthin für »gewalttätig« zu halten:

»Legal interpretation is (1) a practical activity, (2) designed to generate credible threats and actual deeds of violence, (3) in an effective way.«

Die Sache wird auch dadurch nicht besser, dass Cover sich auf Milgram beruft, um die institutionalisierte Richterrolle als genuin gewalttätig zu charakterisieren. Das geht so weit, dass Cover an anderer Stelle [6]Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68. Richter schon deshalb als gewaltätig ansieht, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen zurückweisen:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office. Confronting the luxuriant growth of a hundred legal traditions, they assert that this one is law and destroy or try to destroy the rest.« (S. 53)

Dieser pathetische Text wird gerne von Anhängern eines normativen Rechtspluralismus zitiert, denn hinter den »hundred legal traditions« verbergen sich deren Schützlinge.

Im Mittelpunkt von Derridas »Force de Loi« [7]Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991. steht eine »dekonstruktive« Lektüre von Benjamins »Kritik der Gewalt«. Derrida vermeidet es, im Titel von »Violence de Loi« zu sprechen und sucht nach der Gesetzeskraft als einer force juste ou nonviolente. Freilich kommt hier eine neue Mehrdeutigkeit hinein, wenn violence die Bedeutung ungerechter Gewalt erhält, die dann auch wieder unkörperlich sein kann. Es ist immerhin tröstlich, dass Derrida – eher unerwartet – bei seiner Benjamin-Lektüre die Gerechtigkeit, so fern und unerreichbar sie auch sein mag, gegenüber der Gewalt in Schutz nimmt.

In Deutschland hat Christoph Menke den postmodernen Gewaltdiskurs zunächst in der Teubner-Festschrift [8]Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96. und später in einer Monographie aufgenommen. [9]Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011. Natürlich ist die Gewalt paradox.

»Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt … Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt … Beide Feststellungen stehen im Gegensatz zueinander, aber keine von ihnen kann bestritten werden; beide sind wahr.« (Menke 2009 S. 83)

Da haben wir das Paradox. Es resultiert aus einem merkwürdigen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff. Mit dem gleichen Recht könnte ich sagen: Menke ist paradox, denn Menke schläft und Menke wacht. Menkes Gewalt-Buch habe ich danach nicht mehr gelesen. [10]Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.

Nun ist 2015 von demselben Autor eine »Kritik der Rechte« erschienen. Auch dieses Buch hatte einen Vorläufer. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschien 2008 der Aufsatz »Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form«. Ich habe ihn gelesen, aber nicht verstanden, obwohl ich versucht habe, meine Paradoxien-Allergie vorübergehend zu unterdrücken. [11]Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben … Continue reading Das war schwierig genug, belässt Menke es doch nicht bei den einfachen Paradoxien der Systemtheorie Luhmanns, sondern arbeitet mit einem dreifachen reentry und der »Parodie der Paradoxie«. Ach nein, das war ein Freudscher Schreibfehler. Richtig heißt es natürlich »Paradoxie der Paradoxie«.

Das eigene Unverständnis zu begründen ist so schwierig wie die Begründung der offensichtlichen Unbegründetheit. Da hilft nur Evidenz, wie sie allein ein Zitat herstellen kann.

»Die Systemtheorie rekonstruiert die paradoxe Struktur des selbstreflexiven Rechts: Die Paradoxie des reflexiven Rechts besteht darin, dass es sich in sich auf sein Anderes bezieht, dass es sich selbst in seinem Unterschied reflektiert. Die Systemtheorie verkennt aber (oder: nimmt nicht ernst genug), dass die Paradoxie hier nicht nur in der logischen Struktur besteht: dass das Recht sich selbst auf sein Anderes bezieht. Der Selbstbezug des Rechts aufs Andere hat nicht nur eine paradoxe Struktur, sondern deshalb auch einen paradoxen Status, eine paradoxe Existenz im Recht. Die paradoxiegenerierende Selbstreflexion des Rechts ist im Recht ebenso anwesend, nämlich: ausgedrückt in der Form des subjektiven Rechts, wie abwesend, nämlich: verstellt durch die Form des subjektiven Rechts. Die Wirklichkeit, die Seinsweise des Paradoxes ist selbst paradox: fort und da, da und fort. Der dekonstruktive Schritt über die Systemtheorie hinaus besteht darin, die Paradoxie der Paradoxie zu denken.« (2008 S. 101)

Ich bewundere diesen Text wie die Kontorsionen eines Schlangenmenschen.

Das Buch wollte ich danach eigentlich nicht mehr anfassen. Aber hat es so viele positive Rezensionen [12]Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, … Continue reading erhalten, dass ich es doch zur Hand genommen habe. Ich habe zunächst von hinten zu lesen begonnen. Die letzten fünf Seiten (403-407) stehen unter der Überschrift »Recht und Gewalt« (und sie ersparen vielleicht die Lektüre des gleichnamigen Buches).

»Das Recht hat keine Macht über seine Gewalt. Darin liegt die eigentliche Gewalt – die Gewalt der Gewalt – des Rechts: Die Gewalt der rechtlichen Gewalt ist ihre Unbegrenzbarkeit und Unkontrollierbarkeit.« (S. 403)

Anscheinend kennt der Autor ein »neues Recht«, mit dem alles besser wird. So jedenfalls endet das Buch auf S. 406f:

»Das neue Recht gibt daher das bürgerliche Programm auf gegen die Gewalt – die Gewalt überhaupt – zu sichern. Aber gerade indem das neue Recht die Gewalt der Veränderung übt, bricht es den (›mythischen‹) Wiederholungszwang, dem alle Rechtsgewalt bisher unterliegt. Denn als verändernde dankt die Gewalt, jedes Mal wieder, mit dem Erreichen ihres Ziels ab. Das neue Recht ist daher das Recht, dessen Gewalt darin besteht, sich aufzulösen: die Gewalt, die mit ihrer Ausübung ›sofort […] beginnen wird abzusterben.‹ [13]Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt. Die Gewalt des neuen Rechts ist die Gewalt der Befreiung.«

Da bin ich gespannt, ob das mehr ist als postmodernes Gewaltgeraune. Vielleicht berichte ich darüber. Vielleicht auch nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.
2 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.
3 Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.
4 Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995.
5 Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992.
6 Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68.
7 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991.
8 Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96.
9 Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011.
10 Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.
11 Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben sollten, begnügen sich mit Sympathiebekundungen.
12 Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Christoph Möllers, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015.
13 Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt.

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