Warum ist Luhmann so bedeutend und warum gehe ich auf Distanz?

Soeben ist von Knut Papendorf, Stefan Machura und Kristian Andenaes als Herausgebern der Band »Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies« [1]LIT-Verlag, Berlin 2011.erschienen. Er gibt die Vorträge wieder, die 2009 auf einer kleinen, aber feinen Tagung im Institut für Kriminologie und Rechtsoziologie der Universität Oslo gehalten wurden und die zum Ziel hatten, die skandinavische und die deutsche Rechtssoziologie einander näher zu bringen. Natürlich finden sich in dem Band auch Aufsätze zu den beiden Hauptexportartikeln der deutschen Rechtsoziologie, Max Weber und Niklas Luhmann. Luhmann ist gleich zwei Mal vertreten. Luhmann-Kenner müssen die beiden Artikel nicht lesen. Und wer Luhmann nur als Steinbruch benutzt, findet bessere Anleitungen. Für mich war der Artikel von Frank Welz [2]Frank Welz, Niklas Luhmann’s Sociology of Law: A Critical Appraisal, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies, 2011, S. 80-108. jedoch ein Auslöser, um die folgenden Notizen, die schon länger schlummerten, aufzuwecken.
Warum also ist Luhmann so bedeutend?
In den 1950er und 60er Jahren hatten sich mehr oder weniger alle, die nicht in das marxistische Lager gewechselt waren, auf Empirie gestürzt. Empirische Forschung zeigt jedoch immer nur kleine Ausschnitte der Gesellschaft. Sie kann nicht das Ganze in den Blick nehmen. Das aber möchte eigentlich jeder, ob Laie oder Wissenschaftler. Luhmann bietet nun eine Großtheorie, die genau das zu leisten verspricht. Durch den Zuschnitt der Systeme kann sie Teile der Welt, die den jeweiligen Betrachter besonders interessieren, in den Blick nehmen und zu anderen Teilen und zum Ganzen in Beziehung setzen. Die marxistische Theorie war in dem Sinne »holistisch«, dass sie für alles eine Erklärung anbot – und damit war sie zum Scheitern verurteilt. Luhmann erklärt uns gerade umgekehrt, warum wir nicht alles wissen müssen und können. Damit hat er seine Theorie, ohne sich auf lange Erörterungen einzulassen, wissenschaftstheoretisch abgesichert. Er umgeht das Problem der Fundamentalphilosophie, die Frage nämlich: wo findet Wissenschaft einen sicheren Anfang der Erkenntnis, ohne in einen immer neuen Regress zu verfallen, indem er Rekursivität zu einem zentralen Theoriebaustein macht. Alle Aussagen sind solche eines Beobachters, der Unterscheidungen trifft. Der Beobachter kann sich selbst aber beim Beobachten nicht beobachten und deshalb nicht alles wissen. Daraus folgt ein radikaler Konstruktivismus. Rekursivität gibt es aber auch auf der Systemebene, denn Systeme konstituieren sich selbst, indem sie die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, aus den Elementen ableiten, aus denen sie bestehen. Die daraus resultierend Geschlossenheit der Systeme hat zur Folge, dass man nicht alles wissen kann. Denn über die Systemgrenzen hinaus gibt es keine einfachen Ursache-Wirkungsbeziehungen (sondern nur »strukturelle Kopplungen«). Die Definition der Systemgrenzen gelingt Luhmann allerdings nur deshalb so gut, weil er ein großartiger Beobachter ist.
Luhmanns Theorie ist ebenso wie diejenige von Marx eine Entwicklungstheorie. Doch anders als bei Marx ist die Evolution bei Luhmann nicht gerichtet und sie kennt schon gar keinen Fortschritt. Sie lässt sich deshalb mit der aktuellen Großtheorie für die Entwicklung des Lebens, der darwinistischen Evolutionstheorie, mindestens parallelisieren. Und nicht zuletzt: An intellektuellem Format ist Luhmanns Theorie der marxistischen ebenbürtig. Auf eine solche Theorie hatten viele gewartet.
Und warum gehe ich auf Distanz?
Wie immer, kann eine Kritik grundsätzlich oder am Detail ansetzen. Am Detail habe ich nicht viel zu kritisieren. Luhmann ist einfach gut. Grundsatzkritik dagegen ist billig. Jedes große Theoriegebäude ruht auf letztlich unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzungen. Man muss nur danach suchen, und wenn man nichts Besseres findet, kann man den Autor oder seine Theorie ja immer noch unter Ideologieverdacht stellen.
So musste sich Luhmann oft gefallen lassen, in die konservative Ecke gestellt zu werden. Aber das ist kein adäquates Diskussionsniveau. Man kann nicht einmal sagen – wie gelegentlich zu hören –, dass seine Theorie die Erforschung der sozialen Ungleichheit nicht vorangebracht habe. Immerhin hat er die Begriffe »Inklusion« und »Exklusion« populär gemacht. [3]z. B. Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 581 ff.
Ich verstehe Luhmanns Theorie (nach dem Vorschlag von Frank Welz) als eine Fortsetzung der Phänomenologie Husserls. Luhmann suspendiert alle ontologischen Fragen, Fragen also nach Raum und Zeit, dem Wesen der Dinge und des Menschen. Es sagt einfach, »es gibt Systeme« [4]Soziale Systeme, 1984, S. 16., und konzentriert sich auf die Frage: Wie beschreibe ich sie. Damit erhält, was er beschreibt, den Charakter einer bloßen Möglichkeit. Alle Differenzen werden der Welt von dem Beobachter eingeschrieben. Alle Grenzen, insbesondere auch die Systemgrenzen, sind letztlich bloße Definitionen. Damit hat Luhmann sich gegen jeden Fundamentalismusvorwurf abgesichert. Das Ergebnis ist blanker Konstruktivismus, und den trägt Luhmann auch überall zur Schau. Seine Theorie ist Luhmann nur deshalb so gut gelungen, weil er ein großartiger Beobachter war.
Luhmanns Theorie liefert für sich genommen keine neuen Erklärungen. Aber sie strotzt vor Realität und führt immer wieder zu überraschend neuen Sichtweisen, nicht bloß, wenn wir erfahren, dass Leinenzwang zwar nur für den Hund vorgeschrieben ist, dass dann aber auch der Herr an die Leine muss [5]Das Recht der Gesellschaft, S. 341 f.. Der Anspruch dieser Theorie ist freilich ein anderer. Sie will die Evolution des Rechts erklären, wenn auch nicht in dem Sinne, »dass es so kommen musste«, so aber doch dahin, »dass es, obwohl unwahrscheinlich, so kommen konnte« [6]Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1981, S. 49.
Bald drei Jahrzehnte haben Luhmanns Konstruktionen die deutsche Rechtssoziologie mehr oder weniger beherrscht, und noch immer halten ihm viele die Treue. Ich gehe inzwischen bei aller Bewunderung aber doch auf eine gewisse Distanz. Grund dafür sind vor allem zwei Bauelemente der Theorie, nämliche die Vorliebe für Paradoxien und das Konzept der Autopoiese und der daraus folgenden operativen Schließung der Systeme. Luhmann ist dafür kritisiert worden, wie er das Konzept von Maturana und Varela aus der Biologie in die Soziologie übernommen hat, wo es allein schon wegen der eher willkürlich gezogenen Systemgrenzen nicht passt. Die Vorstellung von der operativen Schließung der Systeme verbietet es, das Recht als Instrument des sozialen Wandels anzusehen. Die Evolution ist blind. Nichts ist vorhersehbar. Alles entwickelt sich anders als geplant. Dieser Standpunkt ist vergleichbar mit jener deterministischen Einstellung, die die Willensfreiheit verneint. Er ist für die Rechtssoziologie gleicher Weise irrelevant wie für die Jurisprudenz.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 LIT-Verlag, Berlin 2011.
2 Frank Welz, Niklas Luhmann’s Sociology of Law: A Critical Appraisal, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies, 2011, S. 80-108.
3 z. B. Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 581 ff.
4 Soziale Systeme, 1984, S. 16.
5 Das Recht der Gesellschaft, S. 341 f.
6 Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1981, S. 49

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In eigener Sache VIII: Veröffentlichungen

Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert Rottleuthner, Baden-Baden 2011, S. 357-393

Alternatives to Law and to Adjudication, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, Developments in Socio-legal Studies, Berlin 2011, S. 191-238

Die Wissenschaftlichkeit des juristischen Studiums, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Exzellente Lehre im juristischen Studium, Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik, Bd. 1, Baden-Baden 2011, S. 67-78.
Die ausführliche Besprechung von Cornelia Vismann, die ich abschnittsweise bereits in Recht anschaulich und in Rsozblog eingestellt hatte, ist nunmehr in der Zeitschrift für Rechtssoziologie 32, 2011, 262-276 erschienen.

Zusammen mit Hans Christian Röhl: Röhl, Juristisches Denken mit Versatzstücken, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Methoden des Lernens in der Rechtswissenschaft, Baden-Baden 2012, S. 251-258.

Im Januar 2013 ist bei Mohr Siebeck erschienen »Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag (ISBN 978-3-16-152197-3). Darin S. 675-710 mein Beitrag »Entwicklungshilfe durch Recht und die Konvergenzthese«.

Erschienen sind schließlich in der EzR (Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie – IVR) meine Beiträge Grundlagen der Methodenlehre I und Grundlagen der Methodenlehre II.

Zusammen mit Stefan Machura: 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128.

»Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, Berlin 2013, S. 537-565.

Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens, ARSP XLV, 1969, 23-52, in: Annette Brockmöller (Hg.), Hundert Jahre Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 2007, S. 149-165.

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Zur Kritik am Container- oder Transportmodell der Kommunikation

Nachdem die Methodenlehre längst vom Subsumtionsdogma abgerückt ist, wendet sich die neuere Kritik gegen das so genannte Containermodell der Kommunikation, dass der juristischen Methode zugrunde liege. Gemeint ist eine Informationsübertragung nach dem technischen Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver. Dazu wird das ganze Arsenal postmoderner Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Soziolinguistik und Systemtheorie aufgeboten. Kurz und prägnant wird die Kritik von Lerch [1]Kent D. Lerch, Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter, in: Ulrich Dausendschön-Gay (Hg.), Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in … Continue reading zusammengefasst. Sie läuft weitgehend ins Leere, denn kaum jemand bestreitet, dass das technische Modell der Kommunikation für die Humankommunikation nur als Kontrastmittel brauchbar, und zwar aus fünf Gründen.
1. Ein Mensch empfängt ständig zahllose Reize, die als Zeichen in Betracht kommen. Zum Zeichen werden solche Signale erst durch eine Wahl des Empfängers. Erst wenn und weil der Empfänger ein Signal als Zeichen deutet, kann es kommunikativ wirken.
2. Für die Humankommunikation steht eine Vielzahl von Kodes zur Verfügung. Die prominentesten sind der linguistische Kode der Sprache und der Buchstabenkode der Schrift. Ein beinahe perfekter Kode ist das Notensystem der Musik; andere, insbesondere ikonografische Kodes, sind vergleichsweise sehr unbestimmt. Doch selbst die leistungsfähigsten Kodes lassen Spielräume.
3. Es ist nicht gewährleistet, dass ein vorhandener Kode auch optimal genutzt wird. Der Kode kann nicht technisch implementiert werden wie das Übertragungsprotokoll zwischen Computer und Drucker. Seine Anwendung ist von der Kommunikationskompetenz der Beteiligten und von deren Folgebereitschaft abhängig. Der Sender, der in aller Regel ein Interesse daran hat, verstanden zu werden, wird sich nach Kräften an den verfügbaren Kode halten. Wenn der Empfänger dieses Interesse nicht vollständig teilt, wird er nachlässig dekodieren und alle Unklarheiten in seinem Sinne nutzen. Es liegt auf der Hand: Je schwächer der Kode, desto größer die Interpretationsfreiheit. Die Bedeutungszuweisung wird zur Sache des Empfängers.
4. Humankommunikation vollzieht sich gleichzeitig auf mehreren Kanälen. Die Zeichenkonkurrenz steigert noch die Interpretationsherrschaft des Empfängers und verhilft ihm zu einer dominanten Stellung in der Kommunikation.
5. Auf zwei Stufen vollzieht sich eine nicht-instrumentelle Beteiligung des Mediums am Kommunikationsprozess:
a) Die technischen Medien (der Übertragungskanal) bleiben nicht semantisch neutral. Sie bestimmen die Reichweite und Verfügbarkeit des Informationsflusses und damit die raumzeitliche und soziale Organisation der Kommunikation und haben so erheblichen Anteil an der Bedeutungskonstitution.
b) Die semiotischen Qualitäten des verwendeten Zeichensatzes strukturieren das kognitive Potential von Sender und Empfänger.

Erfolgreiche Kommunikation ist aber nicht so selten, wie es unter diesen Voraussetzungen scheinen könnte. Im Gegenteil, eine gelungene Verständigung ist, und zwar nicht nur im Alltag (so aber Lerch), sondern auch in der Rechtspraxis, sogar der Normalfall. Der Rezipient wird Signale aus einem bestimmten Kanal als Zeichen interpretieren und sich um eine subjektive Auslegung, d. h. um eine Auslegung im Sinne des Senders, bemühen, wenn er interessante Informationen erwartet. Auch der Rollentausch zwischen Sender und Empfänger verpflichtet beide auf eine effektive Nutzung der verwendeten Kodes. Schließlich können auch Sanktionen zu einer kodegerechten Kommunikation veranlassen. Sanktionen setzen allerdings Kontrolle voraus. Die Kontrollmöglichkeiten steigen mit der Qualität des Kodes und sind damit bei der Sprache relativ hoch. Kontrolle und Sanktionen laufen ihrerseits wieder über Kommunikation mit der Folge, dass Schrift und Sprache als effektive Kommunikationsmittel geradezu selbstverstärkende Wirkung haben.
Für die Rechtskommunikation tritt eine weitere Komplikation hinzu, weil Normtexte in der Regel nicht von einer einzelnen Person als Absender ausgehen, sondern einer Institution, insbesondere einem Parlament, zuzurechnen sind. Die Rede vom »Willen des Gesetzgebers« ist dann eine grobe Vereinfachung, wenn nicht gar eine Fiktion. Dadurch wird die Identifizierung einer gesetzgeberischen Intention als Dekodierungshilfe zwar erschwert, aber nicht ausgeschlossen. [2]So aber Dietrich Busse, Ist die Anwendung von Rechtstexten ein Fall von Kommunikation?, in: Kent D. Lerch (Hg.), Recht vermitteln, Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, Bd. 3, … Continue reading
Im Normalfall besteht gar keine Meinungsverschiedenheit über die Mitteilungsabsicht »des Gesetzgebers«. Aber auch in Streitfällen wäre, wie die Geschichtswissenschaft mit ihren historisch-kritischen Analysen zeigt, die Intention gesetzgeberischen Handelns oft mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln. [3]Rainer Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, 177. Dass juristische Interpretation von solchen Analysen kaum Gebrauch macht, steht auf einem anderen Blatt.
Ein Problem ergibt sich schließlich daraus, dass das Textverständnis von den Interessen des Interpreten gelenkt wird. Wer eine Gebrauchsanleitung liest, wird sie in aller Regel »richtig« verstehen, das heißt so, wie sie vom Verfasser gemeint war, weil er daran interessiert ist, dessen Mitteilungsabsicht richtig zu erfassen. Wer einen literarischen Text liest, sucht eher eine Projektionsfläche für eigene Gedanken. Juristische Texte werden regelmäßig vor dem Hintergrund von Konflikten gelesen. Mit der Lektüre verbindet sich deshalb das Interesse, die eigene Position im Streit zu verstärken. Das ist keine gute Voraussetzung für eine verlustfreie Informationsübertragung, sondern oft der Ausgangspunkt für einen »semantischen Kampf« [4] Ausdruck nach Ralph Christensen, z. B. in Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 10. Aufl., 2009, S. 195.. Aber daran mus die Wissenschaft sich nicht unbedingt beteiligen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kent D. Lerch, Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter, in: Ulrich Dausendschön-Gay (Hg.), Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern, 2010, S. 225-247.
2 So aber Dietrich Busse, Ist die Anwendung von Rechtstexten ein Fall von Kommunikation?, in: Kent D. Lerch (Hg.), Recht vermitteln, Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, Bd. 3, Berlin 2005, 23-53, 28 ff.
3 Rainer Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, 177.
4 Ausdruck nach Ralph Christensen, z. B. in Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 10. Aufl., 2009, S. 195.

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Rechtliche Identität

Zu den Berichten, die ich in meinen Einträgen zur Berichtsforschung im Blick hatte, gehört der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor »Making the Law Work for Everyone«. Es handelt sich um eine Kommission unter dem Dach des United Nations Development Programme (UNDP) in New York. Vorsitzende waren die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright und der peruanische Ökonom Hernando de Soto. 2008 hat die Kommission einen zweibändigen Bericht abgeliefert:
Der erste Band mit seinen 96 Seiten ist mit vielen Bildern und buntem Design wie eine Public-Relations-Broschüre aufgemacht. Man kann ihn wie ein Management Summary lesen. Als solches bietet er klare Kernaussagen und darüber hinaus ganz interessante Hinweise und Inhalte. Die dramatische Basisaussage: Vier Milliarden Menschen haben keinen Zugang zum Recht. Der zweite Teil mit seinen 353 Seiten ist nüchterner im Stil eines wissenschaftlichen Gutachtens gehalten. Es wird viel Literatur ausgewertet, und es werden illustrative Einzelbeispiele herangezogen. Aber es gibt keine systematische Datenerhebung.
Ein gute Übersetzung für Legal Empowerment ist mir bisher nicht eingefallen. »Zugang zum Recht« trifft die Sache nicht ganz. Blankenburgs »Mobilisierung des Rechts« [1]Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995. gefällt mir auch nicht 100%ig, weil sie auf die Aktivierung der Betroffenen abstellt. Das Problem beginnt nicht erst, wenn die Menschen nach Institutionen suchen, die ihnen helfen könnten, und sie sich bei diesen mit ihrem Anliegen durchsetzen müssen. Bei sehr vielen Menschen beginnt das Problem noch früher damit, dass sie keine legale Existenz haben, keinen amtlich registrierten Namen und folglich keinen Ausweis. Es fehlt damit die rechtliche Identität, an die der rechtliche Schutz von Eigentum und Vertragsrechten anknüpfen kann. Es fehlt die Identität vor Banken und Behörden. Mit Interesse hatte ich deshalb schon vor Jahr und Tag einen Zeitungsartikel von Christoph Hein mit der Überschrift »Eine Nummer für jeden Inder« gelesen. [2]FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39). Bisher gibt es in Indien keinen Pass oder Personalausweis für jedermann, sondern nur zweckgebundene Einzelausweise. Hein: »Wer Steuern zahlt, bekommt eine PAN, die Nummer für ein Steuerkonto. Wer älter als 18 Jahre ist, wird im Wahlregister vermerkt. Die Armen erhalten Karten für Nahrungsrationen. Die im Ausland lebenden Inder haben den Status des NRI – des Non-Resident Indian.« Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr dieser Zustand die Verwaltung des riesigen Landes erschwert. Deshalb hat die indische Regierung den Milliardär und Gründer von Infosys, Nandan Nilekani, beauftragt hat, 1,2 Millionen Inder mit einem Personalausweis zu versehen.

Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007

(Nandan M. Nilekani nach einem Foto von E.T. Studhalter für das World Economic Forum 2007)

Nilekani ist nunmehr Leiter der Unique Identification Authority of India im Range eines Ministers. Nach dem Bericht von Christoph Hein zu urteilen, hat Nilekani die Aufgabe, hier Abhilfe zu schaffen, aber nicht übernommen, um der Verwaltung beizuspringen, sondern er sieht sie als eine soziale Aufgabe an.
Wie belastend ihr Zustand für die Ausweislosen ist, steht nicht ganz außer Frage. Die Doing-Business-Reports der Weltbank und ähnliche Berichte gehen einhellig davon aus, dass die Klarheit der Zuordnung von Eigentumsrechten, die Sicherheit des Eigentums und die Durchsetzbarkeit von Verträgen der Wirtschaft helfen. Autoren aus dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik weisen jedoch darauf hin, dass diese Annahme für den Informellen Sektor, der in den armen Entwicklungsländern für die Wirtschaft erhebliche Bedeutung hat, nicht zutreffen müsse. [3]Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. … Continue reading Sie berufen sich auf Studien, nach denen die Registrierung von Grundeigentum und Unternehmen für den informellen Sektor keine Bedeutung habe.
Die Eintragung von Grundeigentum kann sogar kontraproduktiv wirken, weil die Bodennutzung in manchen Regionen in einer Weise informell geregelt ist, die auch den Schwächsten noch eine gewisse Nutzungsmöglichkeit bietet. Die Registrierung von Grundeigentum führe dagegen zur Exklusion und zur Spekulation. Dem lässt sich wieder der Bericht der UNO Commission on Legal Empowerment of the Poor entgegenhalten. Darin wird an einem Beispiel aus Kenya gezeigt, wie wichtig die Registrierung von Grundeigentum für den Zugang zum Recht sei. Ohne registriertes Eigentum hätten die Bewohner keine Chance zur Gegenwehr, wenn Behörden oder Unternehmen ganze Siedlungen abreißen, um neu und modern zu bauen.
Im Ergebnis wird man wohl sagen müssen: Sobald die Modernisierung eines Landes einmal eingesetzt und die alten sozialen Strukturen zerstört hat, geht es nicht mehr ohne die rechtliche Identität.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Erhard Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, Eine Einführung in die Rechtssoziologie, Berlin 1995.
2 FamS vom 14. 2. 2010 (S. 39).
3 Tilman Altenburg, Christan von Drachenfels, (2006): The ‘New Minimalist Approach’ to Private- Sector Development: A Critical Assessment. In: Development Policy Review, 24, 2006, 387–411; dies. und Matthias Krause, Seven Theses on Doing Business. Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 2008; Miguel Jaramillo, Is there Demand for Formality among Informal Firms? Evidence from microfirms in downtown Lima, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik 2009.

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Kanon oder Kanonen? Zur Vermehrung der »anerkannten Auslegungsmethoden«

Traditionell unterscheidet die juristische Methodenlehre vier Standardmethoden, die zusammen den Methodenkanon bilden, die grammatische oder Wortauslegung, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung. Diese Vierzahl geht bekanntlich schon auf Savigny zurück, auch wenn sich Benennung und Bedeutung seither nicht unerheblich verändert haben. Mir ist nun aufgefallen, dass man jetzt häufiger statt von dem Kanon von den Kanones der Auslegung spricht. [1]Heiko Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, Baden-Baden 2011, S. 168-186; so aber auch früher schon Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen … Continue reading. Kanon ist bekanntlich ein griechisches Wort und bedeutet Rohr und im übertragenen Sinne Richtstab. Canones, der latinisierte Plural, bezeichnet Konzilsbeschlüsse mit legislativem Charakter. Die Canones bilden neben den Dekretalen den Kernbestand des Kirchenrechts und haben diesem sogar den Namen als kanonisches Recht gegeben. Die Frage ist nun, ob der neue Sprachgebrauch auch eine sachliche Änderung anzeigt. Der Kanon im Singular dient heute zur Bezeichnung einer grundsätzlich geschlossenen Textsammlung. Dagegen wären Kanones nach dem Vorbild des Kirchenrechts beliebig vermehrbar. Mein Eindruck ist, dass die Verwendung des Plurals relativ gedankenlos erfolgt.
Dennoch steckt dahinter eine Kontroverse. In den 1960er Jahren begannen viele Juristen jene hermeneutische Ontologie oder ontologische Hermeneutik zu rezipieren, wie sie sich von Dilthey bis Heidegger entfaltet hatte und nunmehr durch Hans-Georg Gadamers »Wahrheit und Methode« repräsentiert wurde. Sie wendet sich dagegen, Hermeneutik mit Schleiermacher und Savigny als »Kunstlehre der Auslegung« zu verstehen, die mit einem Kanon anerkannter Methoden arbeitet. Arthur Kaufmann meinte, die von Savigny herrührende Auslegungslehre, nach der es nur die geschlossene Zahl von vier »Elementen« gebe, sei durch die (neue) Hermeneutik als falsch nachgewiesen worden. [2] Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders. u. a. (Hg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., Heidelberg 2011, 26-147, S. 103. Kaufmanns Verdikt ist schon deshalb unhaltbar, weil es Rechtstheorie und Methode zusammenwirft. Eine Methode ist »nur eine geordnete Klassen von Verhaltensanordnungen (Operationen) zum Zwecke von Problemlösungen. Methoden sind nicht wahr oder falsch, sondern fruchtbar oder unfruchtbar.« [3]Adalbert Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, 1972, 491-502, S. 492.
Hassemer bleibt beim Singular, meint aber, der Kreis der Auslegungslehren sei nicht geschlossen; und nennt drei Regeln, »die derzeit den Anspruch erheben dürfen, zum Kreis der Auslegungslehren hinzuzutreten: die verfassungskonforme, die europarechtskonforme und die folgenorientierte Auslegung.« [4]Winfried Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 39 , 2008, 1-22, S. 10. Aus der Unabgeschlossenheit des »Kanons« entwickelt Hassemer ein Argument gegen die … Continue reading Hassemer ist ein Schüler Kaufmanns und selbst als Hermeneutiker hervorgetreten. Daher überrascht es nicht, dass er dass er den Kreis der Auslegungsmethoden als offen ansieht. Für Hermeneutiker handelt es sich eben nicht um Methoden im technischen Sinne, sondern um bloße Argumente, die in der Tat beliebig vermehrbar sind.
Geht man von Methoden im engeren Sinne aus, so lässt sich darüber streiten, ob die verfassungskonforme und die europarechtskonforme Auslegung – eigentlich müssten man jetzt auch noch die völkerrechtskonforme Auslegung hinzunehmen – eigenständige Methoden bilden. Ich würde sie eher zur systematischen Auslegung rechnen. Es gibt weitere Kandidaten. Die Rechtsvergleichung, die früher bei der Auslegung von Gesetzen nur marginale Bedeutung hatte und zwanglos der systematischen Auslegung zugeordnet werden konnte, ist im Zuge der Europäisierung und der Globalisierung so wichtig geworden, dass sie heute als »fünfte« Auslegungsmethode [5]Peter Häberle, Grundrechtsgestaltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – zugleich zur Rechtsvergleichung als »fünfter« Auslegungsmethode, Juristenzeitung , 1989, 913-919. gilt. Dagegen hat Friedrich-Christian Schroeder mit guten Gründen die Annahme zurückgewiesen, die so genannte normative Auslegung sei als fünfte neben die vier Standardmethoden getreten [6]Die normative Auslegung, JZ 2011, 187-194. Die Folgenberücksichtigung, die bis dahin bei der teleologischen Auslegung eine unscheinbare Rolle spielte, könnte sich nunmehr unter dem Einfluss insbesondere der ökonomischen Analyse des Rechts tatsächlich als sechste Auslegungsmethode verselbständigen. Das Verdikt Luhmanns (1969), die Untersuchung und Abwägung von Folgen sei nicht Aufgabe der Rechtsdogmatik, konnte Folgenargumente in Rechtsprechung und Schrifttum nicht ganz unterdrücken und schon gar nicht verhindern, dass die Folgenberücksichtigung im Methodenschrifttum ausführlich und überwiegend positiv erörtert wurde. Ein wichtiger Einwand war bisher, dass das Angebot der Sozialwissenschaft nicht ausreiche, die Gerichte, das Verfassungsgericht vielleicht ausgenommen, aber nicht ad hoc empirische Forschung veranlassen könnten. Ich habe bereits in einem früheren Eintrag [7]Berichtsforschung IV: Ein Umweg zur Interdisziplinarität der juristischen Arbeit? darauf hingewiesen, dass sich Situation insoweit durch die freie Verfügbarkeit einer umfangreichen Berichtsforschung geändert haben könnte.
Ein Kanon im Sinne eines prinzipiell geschlossenen Bestandes muss nicht zementiert sein, sondern kann sich im Laufe der Zeit wandeln. Der Kreis der Auslegungsmethoden ist nicht so offen, wie Hassemer meint und schon gar nicht beliebig. Das Bundesverfassungsgericht spricht wiederholt von »anerkannten Auslegungsgrundsätzen« [8]Z. B. E 88, 145/167; BVerfG, 2 BvR 2939/93 vom 29.4.1998 Abs. 13; BVerfG, 1 BvR 224/07 vom 28.4.2009 Abs. 15. (von denen die Verfassung keine bestimmte Auslegungsmethode vorschreibe). Welche das sind, lässt das Gericht offen. Aber »anerkannt« müssen sie sein. Man sollte deshalb weiterhin vom Kanon reden (und nicht von Kanonen).
(Geändert am 15. 8. 2011.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Heiko Sauer, Juristische Methodenlehre, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, Baden-Baden 2011, S. 168-186; so aber auch früher schon Peter Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, Heidelberg 1988.
2 Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders. u. a. (Hg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., Heidelberg 2011, 26-147, S. 103.
3 Adalbert Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, 1972, 491-502, S. 492.
4 Winfried Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 39 , 2008, 1-22, S. 10. Aus der Unabgeschlossenheit des »Kanons« entwickelt Hassemer ein Argument gegen die Tauglichkeit der Auslegungsmethoden, das wenig taugt, weil es den Unterschied zwischen Auslegungsmethoden und Auslegungstheorien = Theorien über das Ziel der Auslegung vernachlässigt.
5 Peter Häberle, Grundrechtsgestaltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – zugleich zur Rechtsvergleichung als »fünfter« Auslegungsmethode, Juristenzeitung , 1989, 913-919.
6 Die normative Auslegung, JZ 2011, 187-194
7 Berichtsforschung IV: Ein Umweg zur Interdisziplinarität der juristischen Arbeit?
8 Z. B. E 88, 145/167; BVerfG, 2 BvR 2939/93 vom 29.4.1998 Abs. 13; BVerfG, 1 BvR 224/07 vom 28.4.2009 Abs. 15.

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Was Kommunikationswissenschaft für die Rechtssoziologie zu bieten hat

In der Rechtssoziologie stellt sich immer wieder die Frage nach der Verbreitung und der Verhaltenswirksamkeit von Rechtskenntnissen. Daran wurde ich erinnert, als mir in diesen Tagen zwei funkelnagelneue (nur äußerlich) dünne Bändchen aus einer Reihe »Konzepte. Ansätze der Medien- und Kommunikations-wissenschaft« aus dem Nomos-Verlag in die Hände fielen. Diese Reihe war mir zunächst wegen der Art der Darstellung aufgefallen. Sie bietet kompakte, didaktisch gut aufbereitete Darstellungen von Kernkonzepten der Kommunikationswissenschaft. Dabei geht es ganz positivistisch um empirisch weitgehend ausgetestete Theorien. Von Luhmann haben wir gelernt, Recht als Kommunikationssystem zu betrachten. Luhmann hielt zwar nichts von einem Verständnis von Kommunikation als Informationsübertragung. Aber mir genügt hier eine Trivialausgabe seiner Theorie. Wenn Recht Kommunikation ist, warum sehen wir dann nicht viel stärker auf die Kommunikationswissenschaft? Diese Frage drängt sich auf, wenn man Band 5 und 6 der genannten Reihe aufschlägt. In Band 5 befasst sich Christof Klimmt mit dem Elaboration-Likelihood-Modell, in Band 6 Veronika Karnowski mit Diffusionstheorien.
Bei den Diffusiontheorien geht es um die Frage, wie sich Innovationen verbreiten. »Diffusion ist der Prozess, in dessen zeitlichen Verlauf eine Innovation über verschiedene Kanäle an die Mitglieder eines sozialen Systems kommuniziert wird.« (Karnowski nach Rogers [1]Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003., dem Pionier der Diffusionstheorie). Gedacht war allerdings zunächst an die Verbreitung technischer Innovationen (Unkrautvernichter und Kunstdünger in der Landwirtschaft, Fernseher, Handy, Internet usw.). Für die Verbreitung solcher Innovationen gibt es typische Verläufe. Die möglichen Adressaten einer Innovation müssen zunächst das erforderlichen Wissen erwerben, sie müssen sich von der Relevanz der Innovation überzeugen lassen, sie müssen sich entscheiden, sie müssen eine positive Entscheidung umsetzen, und schließlich suchen sie regelmäßig Bestätigung im Sinne von Dissonanzreduktion. Die Akzeptanz einer Innovation wird – wer hätte das anders erwartet – von persönlichen Eigenschaften der möglichen Übernehmer beeinflusst. Erst wenn eine kritische Masse erreicht wird, gewinnt die Verbreitung eine Eigendynamik. Innovatoren laufen dem Bandwagon voran, Meinungsführer springen als erste auf. Nach der Überschreitung der kritischen Masse folgt die frühe Mehrheit dem neuen Trend. Die späte Mehrheit und erst recht die Nachzügler werden dann von wirtschaftlichem und sozialem Druck getrieben. Und natürlich hängt die Verbreitung einer Innovation auch von deren »Qualitäten« ab. Dazu gehören neben der Eigenschaft, Probleme lösen oder Bedarfslücken füllen zu können, auch »Verpackung« und Gebrauchsgeeignetheit.
Die Diffusionsforschung ist von Rogers für technische Innovationen entwickelt worden. Aber sie ist alsbald auch auf die Verbreitung von Nachrichten angewandt worden. »Innovation ist eine Idee, Tätigkeit oder Objekt, welche vom Übernehmer als neu angesehen wird.« (Karnowski S. 22). Innovationen müssen also nicht mit einer technischen Apparatur oder einem Ge- oder Verbrauchsgegenstand verbunden sein. Da liegt es nahe, auch rechtliche Regelungen, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, als Innovation anzusehen, sei es, dass sie durch Gesetzgebung oder Rechtsprechung tatsächlich neu entwickelt werden, sei es, dass längst vorhandene Optionen von Innovatoren entdeckt werden.
Die Diffusion technischer Innovationen endet nicht mit der Verbreitung bloßen Wissens, sondern mit der Anwendung durch die Übernehmer. Bei der Verbreitung von Nachrichten geht es zunächst nur um einen »verkürzten Übernahmeprozess«, der bloß bis zur Wissensübernahme (awareness-knowledge) verfolgt wird (Karnowski S. 63). Doch was zunächst als bloße Nachricht erscheint, kann zu Einstellungsänderungen führen und in der Folge verhaltenswirksam werden. So interessiert sich die politische Wissenschaft dafür, wie Nachrichten das Wählerverhalten ändern, und die Rechtssoziologie müsste sich dafür interessieren, wie Rechtsinformationen verhaltenswirksam werden. Ein wichtiger Unterschied, dessen Bedeutung ich nicht einschätzen kann, besteht allerdings wohl darin, dass der Nachrichtenwert von Rechtsinformationen vergleichsweise dürftig ist. Eine Folge ist vermutlich, dass Rechtsinformationen sich nur selten selbsttätig über die Medien verbreiten, sondern gezielt gestreut werden müssen.
Wenn es um eine Einstellungsänderung als Voraussetzung für die Handlungswirksamkeit neuen Wissens geht, greift die Persuasionsforschung, und als deren »Gold-Standard«, so habe ich von Klimmt gelernt, gilt das Elaboration-Likelihood-Modell. Aber dazu ein anderes Mal. Für einen Blogeintrag ist dieser Text schon wieder zu lang.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York, NY 2003.

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Veränderungen in der Linkliste

Den Verweis auf die »Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften«, die bislang vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen angeboten wurden, habe ich gelöscht, denn die Texte sind verschwunden. Anscheinend will man einer bevorstehenden Buchpublikation keine Konkurrenz machen. Schade!
Neu ist in den Links zur Globalisierung ein Verweis auf das Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg, und genauer auf die Seite mit den GIGA-Working Papers.

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»Harte« und »weiche« Normen

In der »Allgemeinen Rechtslehre« (§ 29 I) nehmen wir aus der amerikanischen Diskussion die Unterscheidung zwischen standard und rule auf, die hierzulande vernachlässigt wird. Natürlich wird auch hier ausführlich über Regeln und Standards diskutiert. Aber man kann die englischen Ausdrücke nicht einfach mit den gleichlautenden deutschen Vokabeln übersetzen. Gemeint ist etwas anderes, und deshalb sprechen wir von »harten« und »weichen« Normen. Unter »harten« Normen verstehen wird solche, die sich im Wege semantischer Interpretation konkretisieren lassen. »Weich« sind solche Normen, die dem Anwender einen größeren Spielraum geben. Für beide Normtypen bietet die Straßenverkehrsordnung viele Beispiele. Subsumtionsfähig sind etwa folgende Regeln: Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt innerhalb geschlossener Ortschaften 50 km/h. Es ist links zu überholen. Krafträder dürfen nicht abgeschleppt werden. Relativ unbestimmt sind dagegen folgende Normen: Der Fahrzeugführer darf nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Bei der Benutzung von Fahrzeugen sind unnötiger Lärm und vermeidbare Abgasbelästigungen verboten. Wer ein- oder aussteigt, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
In Deutschland konzentriert sich die Diskussion über Standards im Sinne von unbestimmten Rechtsnormen auf die juristisch-dogmatische Frage von wem und mit welchen Methoden solche Standards zu konkretisieren sind. In den USA steht eine andere, rechtssoziologische Frage im Vordergrund, nämlich die Frage nach der Funktion von solchen standards. »Harte« Regeln müssen genau sein und verlangen daher mehr Aufwand bei ihrer Formulierung. Sie können jedoch den Vollzug erleichtern und damit Kosten sparen. Zugunsten »harter« Regeln werden immer wieder Rechtssicherheit und die Abschreckungswirkung ins Feld geführt, dagegen, dass sie dem durch O. W. Holmes sprichwörtlich gewordenen »bad man« gestatten, berechnend bis an die Grenzen zu gehen. »Weiche« Normen dagegen veranlassen die Adressaten zu situationsadäquatem Verhalten auf der Linie des Gesetzeszwecks. Auf der anderen Seite können weiche Normen risikoscheue Menschen von wünschenswerten Aktivitäten abhalten und umgekehrt risikofreudige Personen zu Grenzüberschreitungen veranlassen. Ähnlich liefern »harte« Regeln zwar eine klare Abgrenzung bei der Delegation von Befugnissen, fördern jedoch Verantwortungsscheu, während weiche Normen dazu veranlassen können, von Vollmachten sinnvoll Gebrauch zu machen. Schließlich können »harte« Regeln zwar in vielen Situationen für klare Information sorgen und Informationskosten reduzieren. Sie empfehlen sich daher, wenn das zu regulierende Verhalten ein Massenphänomen ist, wie z.B. im Straßenverkehr. Dort kann allerdings die Flüssigkeit des Verkehrs darunter leiden. »Harte« Regeln können andererseits die Kommunikation beschränken und Missverständnisse herbeiführen, während »weiche« Normen durch Vermeidung von Ritualen und Formalitäten eine breitere Kommunikation anregen und dadurch Verständigung fördern.
Zu diesem Fragenkreis gab es jetzt eine interessante Diskussion im Harvard Law Review. In einem Artikel über »Inducing Moral Deliberation: On the Occasional Virtues of Fog« [1]Harvard Law Review 123 , 2010, 1214-1246. machte die Autorin Seana Valentive Shiffrin geltend, »weiche« Normen könnten moralische Überlegungen und demokratische Aktivitäten der Bürger anregen. Wer einer weichen Norm gerecht werden wolle, müsse oft selbst darüber nachdenken, welche moralischen Prinzipien im Hintergrund relevant seien und danach abwägen, welche Verhaltensweise von anderen Menschen erwartet werde und was fair, angemessen usw. usw. sei. Damit gehe von standards auch eine erzieherische Wirkung aus, weil Menschen sich die Zwecke der Norm und den Sinn des Rechts überhaupt bewusst machen müssten. Darauf hat Brian Sheppard erwidert mit »Calculating the Standard Error: Just How Much Should Empirical Studies Curb Our Enthusiasm For Legal Standards?« [2]Harvard Law Review 124, 2011, 92-109. Er meint, die Sache sei komplizierter. Es komme darauf an, ob eine Norm verbindlich oder nur eine Empfehlung sei. Das finde ich nicht so interessant, denn eine bloß empfehlende Norm (z. B. Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn) könnte psychologisch durchaus die von Shiffrin behaupteten Wirkungen haben. Sheppards eigenes Beispiel – ein modifiziertes Diktatorspiel – finde ich nicht überzeugend, weil zu untypisch für einen Standard. Interessanter scheint mir das Argument, dass bei einem Konflikt zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Normen eine »harte« Rechtsnorm eher in moralische Auseinandersetzungen führe. Am interessantesten ist aber wohl Sheppards Hinweis auf zwei empirische Untersuchungen, die jedenfalls indirekt zu den unterschiedlichen Qualitäten von »harten« und »weichen« Normen aufschlussreich sein könnten. Hier ist das Ergebnis eher skeptisch. In dem einen Fall scheint es, als ob die »weiche« Norm eher zu egoistischem Verhalten veranlasst. Im anderen Fall geht um die Handhabung von »weichen« Normen durch Richter, und hier zeigt sich wohl, dass »weiche« Normen eher geeignet sind, vorgefasste (»ideologische«) Meinungen zu praktizieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Harvard Law Review 123 , 2010, 1214-1246.
2 Harvard Law Review 124, 2011, 92-109.

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Wäre das ein Plagiat?

In der heimlichen Juristenzeitung vom 24. 6. 2010 schreiben Justus Haucap und Jürgen Kühling über »Gerechtere Wasserpreise«. Ein bißchen (aber nur ganz wenig) habe ich mich über den ersten Satz geärgert: »Die kommunale Trinkwasserversorgung ist das letzte Monopol ohne wirksame Kontrolle.« Das ist reißerisch, weil es falsch ist. Deshalb habe ich einfach einmal nicht, durch Copy and Paste, sondern durch Suchen und Ersetzen, die Trinkwasserversorgung gegen die Abwasserbeseitigung ausgetauscht:
Die Abwasserbeseitigung ist ein natürliches Monopol. Echter Wettbewerb konkurrierender Entsorger im Markt ist nicht nur schwer zu etablieren, er ist volkswirtschaftlich auch gar nicht effizient und würde letztlich zu Kostensteigerungen führen. Weil aber deswegen die Verbraucher – anders als auf den meisten anderen Märkten – ihren Anbieter nicht wechseln können, wenn dessen Preise oder Service ihnen nicht gefallen, fehlt die marktliche Disziplinierung der Anbieter.
Die Verbraucher sind daher – weil die Entsorgung von Abwasser ein besonders wichtiges Gut ist – besonders schutzbedürftig. Ohne effektive behördliche Kontrolle könnten die Entsorgungsunternehmen ihre Monopolstellung missbrauchen. Wie die Erfahrung zeigt, lässt sich dies auch nicht allein dadurch verhindern, dass Abwasserentsorgung als öffentlich-rechtliche Organisationseinheit im kommunalen Eigentum geführt wird. Denn dies birgt die Gefahr, dass übermäßig hohe Kosten produziert werden, ineffizient gewirtschaftet wird und – im schlimmsten Fall – durch inkompetente Betriebsführung und Verwaltung den Bürgern unnötige Kosten aufgebürdet werden, denen sie sich nicht entziehen können. Eine Privatisierung allein hilft auch nicht weiter, da sie die Anreize zu Preismissbrauch nicht verhindert.
Entscheidend ist demnach weniger die Organisationsform als die Aufsicht über die Abwasserentsorgung der Endverbraucher. Denn auch ein Durchleitungswettbewerb, bei dem Konkurrenten die Leitungen der etablierten Anbieter zu regulierten Preisen mitbenutzen, ist in der Abwasserwirtschaft – anders als bei Telekommunikation und Energie – wenig sinnvoll.
Usw. usw.
Zugegeben, an einigen Stellen müsste man von Hand nacharbeiten. Der regionale Schwerpunkt könnte von Hessen in die ostdeutschen Bundesländer wandern. Doch im Prinzip passt alles.

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Verlust der Empirie: Entkernung oder Entlastung der Rechtssoziologie?

Die Rechtssoziologie als akademische Disziplin scheint eher durch Tiefen als durch Höhen zu gehen. Sie musste sich eine weitgehende Deinstitutionalisierung durch den Abbau von Lehrstuhldenominationen und Lehrveranstaltungen gefallen lassen. Sie muss mit dem anscheinend unaufhaltsamen Imperialismus der Kulturwissenschaften [1]Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100. leben. Und sie traut sich nicht mehr, unter ihrem angestammten Namen aufzutreten. [2]Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft. Immer deutlicher zeigt sich jetzt eine andere Entwicklung, die man als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen könnte, nämlich den Verlust der empirischen Forschung.
Ein Kernstück der Rechtssoziologie war die anwendungsbezogene Rechtstatsachenforschung. Sie ist heute weitgehend durch das verdrängt worden, was ich als Berichtsforschung beschrieben habe. [3]Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393. Die Berichtsforschung stellt sozusagen auf Vorrat Faktenwissen für Politik, Justiz und Verwaltung zusammen. Wenn dennoch einmal ad hoc eine Rechtstatsachenforschung in Auftrag gegeben wird, so wird sie nicht von der akademischen Rechtssoziologie, sondern von spezialisierten Sozialforschungsinstituten erledigt. [4]»DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als … Continue reading
Aber auch die empirische Grundlagenforschung ist abgewandert, und zwar in andere Disziplinen, nämlich in die Sozialpsychologie und die Verhaltensökonomie. Wenn ich zuletzt in meinem Blog über empirische Untersuchungen berichtet habe, so stammten die fast immer von Psychologen, so zuletzt »Das Frühstück der Richter und seine Folgen« sowie »Normstrenge und lockere Kulturen«.
Was folgt daraus? Soll man diese Entwicklung als Entkernung der Rechtssoziologie beklagen und, den Laden schließen und die Arbeit anderen überlassen? Ich möchte das Abwandern der empirischen Forschung zu verschiedenen Spezialisten eher als Entlastung verstehen. Rechtssoziologie bleibt deshalb doch eine empirische Disziplin in dem Sinne, dass sie für alle Theorien und Thesen empirische Belege sucht, mögen die auch von anderen beigebracht werden. Das Recht ist zum dominierenden Faktor bei der Koordinierung und Regulierung des Komplexes von Subsystemen geworden sei, die das Gesamtsystem der modernen Gesellschaft ausmachen. [5]Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja … Continue reading Nur noch das Recht kann der Wirtschaft Paroli bieten. Über die Realität des Rechts werden Daten beinahe im Überfluss erhoben. Es bleibt die Aufgabe, die von anderen gesammelten Daten zu einem Wissenssystem zu integrieren. Das vermag nur eine Disziplin, welche die Beobachtung des Rechts als ihre zentrale Aufgabe versteht und die darin über lange und intensive Übung verfügt. Deshalb ist die Rechtsoziologie wichtiger denn je.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu mein Beitrag »Crossover Parsival«, in: M. Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 91-100.
2 Die Vereinigung für Rechtssoziologie heißt nun Vereinigung für Recht und Gesellschaft.
3 Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: M. Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, FS Rottleuthner, 2011, 357-393.
4 »DJI erforscht Motive für und gegen gemeinsame Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern«, so lautet eine Pressemeldung vom 10. 5. 2011. Früher hätte ich diese Meldung als Ankündigung eines Projekts der Rechtstatsachenforschung gelesen. Heute habe ich das Gefühl, dass sie für die Rechtssoziologie so richtig nicht mehr interessiert.
5 Alan Hunt (Foucault’s Expulsion of Law, Law and Social Inquiry 17, 1992, 1/30) würde diese Einstellung als legal imperialism kritisieren. Aber irgendetwas muss man der Konkurrenz ja entgegenhalten.

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