Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen? Prolegomena zur Lektüre der »Kritik der Rechte« von Christoph Menke

Die Postmoderne mit ihrem Gewaltgeraune ist eigentlich schon passé. Doch es erscheinen immer wieder neue Texte, die sich mit der Gewalt des Rechts und dem Recht der Gewalt befassen.

Einige Trivialitäten vorab:
1. Der Gewaltbegriff ist so vielfältig, dass man am besten immer dazu sagt, welche Art der Gewalt gemeint ist, physische Gewalt, strukturelle Gewalt (Galtung) oder symbolische Gewalt (Bourdieu). Man kann die Gewalt auch qualifizieren etwa als Staatsgewalt, Polizeigewalt, elterliche Gewalt usw. usw.
2. Mit dem Recht verbindet sich die Vorstellung der physischen (Gewalt) als letztem Sanktions- und Durchsetzungsmittel, mit staatlichem Recht auch die Vorstellung des Gewaltmonopols.
3. Eine Funktion des Rechts besteht darin, physische Gewalt auszuschließen und unkörperliche Gewalt zu begrenzen. Dazu ist freilich die Drohung mit Gewalt und gelegentlich ihr Einsatz erforderlich.
4. Nicht ganz selten ist das sich gewaltfeindlich gebende Recht selbst erst durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen.
5. Das Strafrecht kennt den Unterschied zwischen vis absoluta und vis compulsiva. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst. [1]Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.

Die englische und die französische Sprache unterscheiden zwischen force und violence. In beiden Sprachen ist violence eher die körperliche Gewalt. Dennoch sprach Galrung von structural violence und Bourdieu von violence symbolique, wiewohl doch beidegerade eine unkörperliche Gewalt im Blick hatten. Es handelt sich um eine sicher beabsichtigte contradictio in adjectu. Diese rhetorisch immer mitgeführte contradictio bringt den ganzen Gewaltdiskurs zum Schillern. Im Hintergrund steht immer die körperliche Gewalt. Sie macht den Gewaltbegriff zu einem Faszinosum oder gar Mysterium. Thematisiert werden Mythos und Tragödie. Allenfalls noch die Todesstrafe. Bei der Beantwortung konkreter und aktueller Fragen, der Frage etwa, welche und wieviel Gewalt an der Grenze zulässig sein soll, hilft das alles wenig.

Der kanonische Text zu dem schwierigen Verhältnis von Recht und Gewalt stammt von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1920/1921). [2]Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.

Benjamin hat die Stichworte für die weitere Diskussion geliefert. Er hat insbesondere auch die Verknüpfung des Themas mit Mythologie und Theologie vorgedacht. Sein Essay gipfelt in einer Analogisierung von proletarisch-revolutionärer und göttlicher Gewalt. Eine gute Darstellung und Einordnung bietet Raul Zelik in seinem Blog. [3]Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.

Die postmoderne amerikanische Diskussion ist vom Mysterium der Gewalt des Rechts fasziniert, ohne dass sie über Benjamin weit hinausgekommen wäre. In der Einleitung zu ihrem Sammelband »Law’s Violence« [4]Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995. schreiben Sarat und Kearns:

»The essays collected in Law’s Violence explore that mystery. Each recognizes that violence, as a fact and a metaphor, is integral to the constitution of modern law, and that law is a creature of both literal violence, and of imaginings and threats of force, disorder, and pain. Each acknowledges that in the absence of such imaginings and threats there is no law, and that modern law is built on representations of aggression and disruption. Law is, in this sense, an extended meditation on a metaphor.«

Auch in Deutschland wurde Robert M. Covers Essay »Violence and the Word« [5]Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992. viel beachtet. Covers Text beginnt dramatisch:

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. This is true in several senses. Legal interpretive acts signal and occasion the imposition of violence upon others: A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur. When interpreters have finished their work, they frequently leave behind victims whose lives have been torn apart by these organized, social practices of violence.«

Auch wenn Cover sich nach Umwegen über Folter und Märtyrertum mäßigt (S. 1601),

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

so bleibt doch eine existentialistische Verkopplung von Recht und Gewalt. Sie führt dazu, Rechtsanwendung schlechthin für »gewalttätig« zu halten:

»Legal interpretation is (1) a practical activity, (2) designed to generate credible threats and actual deeds of violence, (3) in an effective way.«

Die Sache wird auch dadurch nicht besser, dass Cover sich auf Milgram beruft, um die institutionalisierte Richterrolle als genuin gewalttätig zu charakterisieren. Das geht so weit, dass Cover an anderer Stelle [6]Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68. Richter schon deshalb als gewaltätig ansieht, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen zurückweisen:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office. Confronting the luxuriant growth of a hundred legal traditions, they assert that this one is law and destroy or try to destroy the rest.« (S. 53)

Dieser pathetische Text wird gerne von Anhängern eines normativen Rechtspluralismus zitiert, denn hinter den »hundred legal traditions« verbergen sich deren Schützlinge.

Im Mittelpunkt von Derridas »Force de Loi« [7]Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991. steht eine »dekonstruktive« Lektüre von Benjamins »Kritik der Gewalt«. Derrida vermeidet es, im Titel von »Violence de Loi« zu sprechen und sucht nach der Gesetzeskraft als einer force juste ou nonviolente. Freilich kommt hier eine neue Mehrdeutigkeit hinein, wenn violence die Bedeutung ungerechter Gewalt erhält, die dann auch wieder unkörperlich sein kann. Es ist immerhin tröstlich, dass Derrida – eher unerwartet – bei seiner Benjamin-Lektüre die Gerechtigkeit, so fern und unerreichbar sie auch sein mag, gegenüber der Gewalt in Schutz nimmt.

In Deutschland hat Christoph Menke den postmodernen Gewaltdiskurs zunächst in der Teubner-Festschrift [8]Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96. und später in einer Monographie aufgenommen. [9]Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011. Natürlich ist die Gewalt paradox.

»Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt … Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt … Beide Feststellungen stehen im Gegensatz zueinander, aber keine von ihnen kann bestritten werden; beide sind wahr.« (Menke 2009 S. 83)

Da haben wir das Paradox. Es resultiert aus einem merkwürdigen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff. Mit dem gleichen Recht könnte ich sagen: Menke ist paradox, denn Menke schläft und Menke wacht. Menkes Gewalt-Buch habe ich danach nicht mehr gelesen. [10]Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.

Nun ist 2015 von demselben Autor eine »Kritik der Rechte« erschienen. Auch dieses Buch hatte einen Vorläufer. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschien 2008 der Aufsatz »Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form«. Ich habe ihn gelesen, aber nicht verstanden, obwohl ich versucht habe, meine Paradoxien-Allergie vorübergehend zu unterdrücken. [11]Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben … Continue reading Das war schwierig genug, belässt Menke es doch nicht bei den einfachen Paradoxien der Systemtheorie Luhmanns, sondern arbeitet mit einem dreifachen reentry und der »Parodie der Paradoxie«. Ach nein, das war ein Freudscher Schreibfehler. Richtig heißt es natürlich »Paradoxie der Paradoxie«.

Das eigene Unverständnis zu begründen ist so schwierig wie die Begründung der offensichtlichen Unbegründetheit. Da hilft nur Evidenz, wie sie allein ein Zitat herstellen kann.

»Die Systemtheorie rekonstruiert die paradoxe Struktur des selbstreflexiven Rechts: Die Paradoxie des reflexiven Rechts besteht darin, dass es sich in sich auf sein Anderes bezieht, dass es sich selbst in seinem Unterschied reflektiert. Die Systemtheorie verkennt aber (oder: nimmt nicht ernst genug), dass die Paradoxie hier nicht nur in der logischen Struktur besteht: dass das Recht sich selbst auf sein Anderes bezieht. Der Selbstbezug des Rechts aufs Andere hat nicht nur eine paradoxe Struktur, sondern deshalb auch einen paradoxen Status, eine paradoxe Existenz im Recht. Die paradoxiegenerierende Selbstreflexion des Rechts ist im Recht ebenso anwesend, nämlich: ausgedrückt in der Form des subjektiven Rechts, wie abwesend, nämlich: verstellt durch die Form des subjektiven Rechts. Die Wirklichkeit, die Seinsweise des Paradoxes ist selbst paradox: fort und da, da und fort. Der dekonstruktive Schritt über die Systemtheorie hinaus besteht darin, die Paradoxie der Paradoxie zu denken.« (2008 S. 101)

Ich bewundere diesen Text wie die Kontorsionen eines Schlangenmenschen.

Das Buch wollte ich danach eigentlich nicht mehr anfassen. Aber hat es so viele positive Rezensionen [12]Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, … Continue reading erhalten, dass ich es doch zur Hand genommen habe. Ich habe zunächst von hinten zu lesen begonnen. Die letzten fünf Seiten (403-407) stehen unter der Überschrift »Recht und Gewalt« (und sie ersparen vielleicht die Lektüre des gleichnamigen Buches).

»Das Recht hat keine Macht über seine Gewalt. Darin liegt die eigentliche Gewalt – die Gewalt der Gewalt – des Rechts: Die Gewalt der rechtlichen Gewalt ist ihre Unbegrenzbarkeit und Unkontrollierbarkeit.« (S. 403)

Anscheinend kennt der Autor ein »neues Recht«, mit dem alles besser wird. So jedenfalls endet das Buch auf S. 406f:

»Das neue Recht gibt daher das bürgerliche Programm auf gegen die Gewalt – die Gewalt überhaupt – zu sichern. Aber gerade indem das neue Recht die Gewalt der Veränderung übt, bricht es den (›mythischen‹) Wiederholungszwang, dem alle Rechtsgewalt bisher unterliegt. Denn als verändernde dankt die Gewalt, jedes Mal wieder, mit dem Erreichen ihres Ziels ab. Das neue Recht ist daher das Recht, dessen Gewalt darin besteht, sich aufzulösen: die Gewalt, die mit ihrer Ausübung ›sofort […] beginnen wird abzusterben.‹ [13]Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt. Die Gewalt des neuen Rechts ist die Gewalt der Befreiung.«

Da bin ich gespannt, ob das mehr ist als postmodernes Gewaltgeraune. Vielleicht berichte ich darüber. Vielleicht auch nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.
2 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.
3 Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.
4 Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995.
5 Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992.
6 Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68.
7 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991.
8 Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96.
9 Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011.
10 Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.
11 Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben sollten, begnügen sich mit Sympathiebekundungen.
12 Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Christoph Möllers, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015.
13 Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt.

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Paradoxien – Absinth der Rechtstheorie, neu angeboten von Philipp Sahm

In der interessanten Schweizer E-Zeitschrift Ancilla Juris ist soeben ein Artikel von Philipp Sahm mit dem Titel »Paradoxophilia« erschienen. [1]Philipp Sahm, Paradoxophilia, Ancilla Iuris 2015, 99-124. Darin versucht der Autor, offenbar ein Schüler Teubners, die Figur der Paradoxie für die Rechtstheorie zu retten. Dazu holt er sie zwar eine Stufe aus der Sphäre des Übersinnlichen herunter. Er besteht indessen darauf, dass sich letztlich alle Rechtsprobleme, für die zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten zu entscheiden ist, als Paradoxie darstellen lassen.

Sahm ist überzeugt,

»that by sharpening one’s analytical weapons, it is possible to establish a connection between law and paradoxes and speak about them without falling victim to obscurantism or poltergeists.« (S. 1)

Er will zeigen, dass das Rechtsentscheidungen und Paradoxien strukturell analoge Probleme aufweisen, und meint darüber hinaus, Recht sei im Sinne des Gödel-Theorems notwendig unvollständig.

Der Artikel ist gekonnt strukturiert und elegant geschrieben. Er verwertet viel Literatur, darunter manches, was ich nicht kannte. Dennoch: Sahm verkauft Absinth.

Jean Clam hat die (rhetorisch gemeinte) Frage gestellt, »ob nicht das ganze Gerede vom Paradox nichts anderes [sei], als eine hyperbolische Rhetorik von Legitimation suchenden Theorien«. [2]Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, Zeitschrift für Rechtsoziologie 21,2000, 109-143, S. 114. Die Antwort fällt natürlich negativ aus, wenn man sich einen neuen Paradoxiebegriff zurechtbastelt:

»Die wichtigste Einsicht darin, was ein Paradox ist, gründet in der Abwehr der Vorstellung, das Paradox sei ein (logischer) Widerspruch, eine endgültige Hemmung der Denkbewegung, das denkerische Zeugnis der Realunmöglichkeit von etwas.« (Clam S. 133.)

Aber wenn ein Paradox kein Paradox ist, ist es kein Paradox. So bastelt sich auch Sahm Schein-Paradoxien, indem er gängige Entscheidungsprobleme mit hochprozentigem Paradoxietalk übergießt. Das macht zunächst einen hübschen Louche-Effekt und später ist man betrunken. Wenn man am Ende wieder aufwacht, ist nicht ein einziges Problem gelöst oder auch nur klarer zu sehen, dass man nicht mit den alten Begrifflichkeiten von Dezision und Werturteil längst im Blick hatte. Die Kritik an der Luhmann-Teubnerschen Paradoxologie, die Sahm in einer früheren Arbeit jedenfalls in einer Fußnote noch erwähnt hatte, [3]Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2013, http://ssrn.com/abstract=2284145, S. 8 Fn. 53. wird nunmehr schlicht ignoriert. [4]Meine eigene Kritik der Juristenparadoxologie habe ich in § 12 und 12 der Allgemeinen Rechtslehre (3. Aufl. 2008) S. 102-108 und früher schon in der FS Blankenburg (1998) zu Papier gebracht.

Die Vergleichbarkeit von Paradoxien und Entscheidungssituationen soll sich daraus ergeben, dass in beiden Fällen eine Überfülle von Antwortmöglichkeiten gegeben ist. Beispielhaft werden das Lügner-Paradox und das Sorites-Paradox genannt. Paradoxien seien unentscheidbar, denn »paradoxes provide us with too many good answers«. Das ist aber nur für Rechtsentscheidungen zutreffend. Da gibt es in der Tat (oft) mehrere »vertretbare« Antworten. Und nur das zeigen die angeführten Beispiele aus der Rechtsprechung. Für Paradoxien dagegen gibt es nicht mehrere vertretbare Antworten, sondern entweder handelt es sich schlicht um Nonsens oder sie lassen sich analytisch auflösen. Das Sorites-Paradox ist ein bloßer Sophismus, denn die Haufeneigenschaft ist unabhängig von der Körnerzahl eine Frage der Gestalt; man kann auch sagen, eine gegenüber der Menge der Körner emergente Eigenschaft. [5]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34. Das Paradox des lügenden Epimenides ist als semantische Antinomie gleichfalls nur ein Pseudoparadox, weil es sprachliche Mehrdeutigkeit ausbeutet. [6]Ebd. S. 94ff. Bleibt die Mehrdeutigkeit verborgen, ergibt sich das irritierende Phänomen der Unentscheidbarkeit: Wenn wir annehmen, es sei wahr, dass der lügende Kreter lügt, so ist der Satz falsch. Lügt er aber, so ist der Satz richtig. Die Antinomie »oszilliert« zwischen den beiden Wahrheitswerten. Wird die Mehrdeutigkeit aber aufgedeckt, so zeigt sich, dass ein Nonsens-Satz vorliegt. Das wird klar, wenn wir den Satz des Epimenides

Ich lüge jetzt.

umformen in den ausführlicheren Ausdruck

Ich sage jetzt einen falschen Satz.

Wenn ohne Einschränkung von einem »Satz« die Rede ist, ist gewöhnlich ein wahrer Satz gemeint. Für »Satz« können wir deshalb »wahrer Satz« einsetzen und erhalten:

Ich sage jetzt einen falschen wahren Satz.

In dieser Form ist der Satz offenbar widersprüchlich. In der verkürzten Fassung der Antinomie ist der Widerspruch jedoch nicht sogleich zu erkennen, weil »Satz« sich auch auf den Satz im grammatischen Sinne beziehen kann, und tatsächlich wird hier ja ein grammatisch korrekter Satz geäußert.

Ein interessanter Effekt ergibt sich, wenn wir den Wahrheitswert vertauschen.

Ich sage jetzt einen wahren Satz.

Ersetzen wir erneut »Satz« durch »wahren Satz«, so ergibt sich:

Ich sage jetzt einen wahren wahren Satz.

Der Satz ist also tautologisch. Paradoxien und Tautologien sind demnach miteinander verwandt. Beide ergeben sich aus der Vermischung von Objektsprache und Metasprache. Ob das eine oder das andere entsteht, hängt davon ab, ob in einem selbstbezüglichen Satz gleiche oder unterschiedliche Wahrheitswerte zusammentreffen.

Sahm bemüht sich zwar, die gängigen »Lösungen« für die angeführten Paradoxien zu referieren, scheut sich aber, den letzten Schritt zu akzeptieren, dass es sich um Sophismen handelt, für die es eine klare analytische Lösung gibt. Vielmehr werde zur Gewinnung einer Antwort stets eine neue Unterscheidung eingeführt. Damit bleibt Sahm, auch wenn der Ausdruck nicht fällt, bei der unter Paradoxologen so beliebten Paradoxieentfaltung, die Paradoxien als solche ontologisiert.

»Paradoxes and legal decision-making situations are equal in terms of their resolvability.« (Sahm S. 105)

Das wäre schlimm, wenn es so wäre. Rechtsprobleme sind keine Sophismen. Es gibt daher allerdings leider auch keine analytischen Lösungen.

»Furthermore, paradoxes and legal decision-making situations are equal in terms of their role as epistemic motors.« (Sahm S. 110)

Nun ja, es mag sein, dass Paradoxien und juristische Entscheidungsprobleme beide zum Nachdenken anregen. Es ist ja auch richtig, dass die in der Literatur gehandelten Paradoxie-Beispiele von unterschiedlicher Schwierigkeit sind und dass im Laufe der Zeit neue Lösungsvorschläge hinzugekommen sind, wie im Falle von Zenos Paradox von Achilles und der Schildkröte, wo sogar Sahm akzeptiert, dass das Paradox heute leicht zu lösen ist. Das hilft aber in der Sache wenig.

»Consequently, legal decision-making situations are paradoxical in the sense that they pose the same problem as paradoxes.« (Sahm S. 119)

Nein, sie stellen ganz andere Probleme, denn die Paradoxien, von denen hier die Rede war, sind logische Kunstfiguren ohne Entsprechungen in der realen Welt. Dort gibt es nur Rückkopplungen, Rekursivität oder Reflexivität, und die sind keineswegs paradox. Paradoxien sind hilfreich, weder um ein neues Licht auf die Offenheit juristischer Entscheidungen zu werfen noch um neue Lösungen zu finden. Vielleicht könnte die Beschäftigung mit Paradoxien das von Wittgenstein formulierte Problem des Regelfolgens oder vielmehr Kripkes Version dieses Problems als Scheinproblem entlarven. Aber Sahm meint eher im Gegenteil, Paradoxologie sei hilfreich, um die Differenz von Norm und Entscheidung aufzudecken. Da fallen die Paradoxien in eine offene Tür, wo sie wohl keinen Schaden mehr anrichten.

»Thus, law seems to be necessarily incomplete and always in need of and open to external completion in order to be applied. One could even consider this as a translation of the Gödelian incompleteness theorem from formal systems into legal systems. The paradoxicality shows the inherent limitations of law and explains why a self-contained and self-sufficient legal system is not possible.« (Sahm S. 120f.)

Die Berufung auf Gödel erinnert an Luhmanns missglückten Rückgriff auf den »Wiedereintritt der Form in die Form« von George Spencr Brown. [7]Dazu Allg. Rechtslehre S. 102ff. Wer sich eingehender mit den Laws of Form von George Spencer Brown beschäftigen will, kann folgendes Buch zu Rate ziehen: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas … Continue reading Wieso Gödel hier helfen kann, hat Sahm nicht weiter ausgeführt. So bleibt von Gödels Unvollständigkeitssatz nicht mehr als eine Metapher. Es ist deshalb wohl nicht ganz abwegig, an die Kritik von Sokal und Bricmont an der Verwendung von scientific metaphors im Postmodernismus zu erinnern, die besonders auch das Gödel-Theorem im Blick hat. [8]Alan D. Sokal/Jan Bricmont, Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals‘ Abuse of Science, New York 1998 Zusätzich irritiert, dass hier – wie so oft im Zusammenhang mit Paradoxien – sprachliche Mehrdeutigkeit ins Spiel kommt. Die »Entscheidungsoffenheit« des Rechts wird als Gegensatz zu self-containedness und self-sufficiency begriffen. Die letzteren Ausdrücke bezeichnen, zumal in einem Atemzug mit external completion, wohl eher Autonomie. Entscheidungsoffenheit des Rechts und Autonomie sind aber, jedenfalls nach meinem bisherigen Verständnis, keine Gegensätze.

Mit seiner letzten These gleitet Sahm wieder in die übliche Paradoxologie ab. Die These besagt nämlich, dass die juristische Methode als Paradoxie-Management zu verstehen sei. Da ist es wieder: Paradoxien werden nicht ausgeräumt, sondern sie werden gepflegt, gebügelt, ge- oder entfaltet, kurz, sie werden gemanagt.

Was Sahm höchst kunstvoll als Paradoxie widersprüchlicher Entscheidungsmöglichkeiten vorführt, ist nichts anderes, als das alte Werturteilsproblem in wenig nutzerfreundlicher Verpackung. Wenn man dagegen juristische Entscheidungen als Werturteile einordnet, ist das zwar nur die Benennung eines theoretisch letztlich ungeklärten Vorgangs. Trotzdem gewinnt man damit etwas, nämlich erstens vom Standpunkt der beobachtenden Rechtstheorie die Möglichkeit der Anknüpfung an eine lange (nicht nur) rechtsphilosophische Tradition, zweitens vom Standpunkt der entscheidenden Juristen die Möglichkeit die Möglichkeit zur Einbindung in einen größeren Argumentationszusammenhang und drittens vom Standpunkt sog. Stakeholder die Möglichkeit der Zurechnung der Entscheidung auf bestimmte Personen oder Gruppen mit der Folge, dass die Entscheider Verantwortung übernehmen und alle anderen Kritik üben können.

Die Paradoxologen haben sich eine eigene Sinnwelt aufgebaut, die als Diskurs im Foucaultschen Sinne funktioniert. Wer paradoxologisiert, gehört dazu, und wer dazu gehört, wird gehört. Lese ich doch eben bei Vesting [9]Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 191. ein Ladeur-Zitat [10]Karl-Heinz-Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 225. Ich habe das Zitat und seinen Kontext nicht nachgeprüft., dass die Funktion des Lehrers an öffentlichen Schulen kennzeichnen soll: » ›Vermittler einer symbolischen Ordnung‹ zu sein, ›die Individualität erst auf eine paradoxe Weise durch den Zugang zu einem in der Kultur eingelagerten kollektiven Gedächtnis eröffnen kann.‹ « In die Alltagssprache übersetzt, handelt es sich um eine blanke Trivialität: Der Lehrer öffnet seinen Schülern den Zugang zur Kultur. Kultur ist etwas Überindividuelles. An der Kultur können Schüler ihre (individuelle) Persönlichkeit entwickeln. Die Paradoxie ist in diesem Zusammenhang ebenso überflüssig wie die symbolische Ordnung und das kollektive Gedächtnis. Aber durch die Verwendung solcher hochgestelzten Vokabeln erhalten Texte jene Weihe, die sie für eine Jüngerschar attraktiv macht.

Aus dieser Sinnwelt kann auch Sahm sich nicht befreien. Dennoch ist sein Versuch einer Para-Paradoxologie ein gewisser Fortschritt. Immerhin verzichtet er darauf, das Recht auf den Selbstwiderspruch des radikalen Konstruktivismus festzulegen und Luhmanns berüchtigte Paradoxie des Entscheidens auch nur zu erwähnen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Philipp Sahm, Paradoxophilia, Ancilla Iuris 2015, 99-124.
2 Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, Zeitschrift für Rechtsoziologie 21,2000, 109-143, S. 114.
3 Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2013, http://ssrn.com/abstract=2284145, S. 8 Fn. 53.
4 Meine eigene Kritik der Juristenparadoxologie habe ich in § 12 und 12 der Allgemeinen Rechtslehre (3. Aufl. 2008) S. 102-108 und früher schon in der FS Blankenburg (1998) zu Papier gebracht.
5 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34.
6 Ebd. S. 94ff.
7 Dazu Allg. Rechtslehre S. 102ff. Wer sich eingehender mit den Laws of Form von George Spencer Brown beschäftigen will, kann folgendes Buch zu Rate ziehen: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas Hölscher, George Spencer Brown, Eine Einführung in die »Laws of Form«, 2004. Von S. 245 bis 256 befasst sich Thomas Hölscher mit der Rezeption der Law of Forms durch Niklas Luhmann mit dem Ergebnis, dass Luhmann wohl doch Spencer Brown nicht ganz richtig interpretiert habe. Im Internet (GoogleBooks) verfügbar: Louis H. Kauffmann, Das Prinzip der Unterscheidung. Über George Spencer-Browns »Laws of Form« (1969), in: Dirk Baecker (Hg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, 2005, 173-190.
8 Alan D. Sokal/Jan Bricmont, Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals‘ Abuse of Science, New York 1998
9 Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 191.
10 Karl-Heinz-Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 225. Ich habe das Zitat und seinen Kontext nicht nachgeprüft.

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Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«

Der letzte Einrag zu casus und regula schloss mit Frage nach der verbindlichen Kraft von Juristenrecht in Rom.

Ähnlich wie heute in Deutschland hatten Urteile in Rom keine präjudizielle Wirkung. [1]Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, … Continue reading. Aber das folgte eigentlich schon daraus, dass die Richter Laien waren und die rechtliche Beurteilung ihrer Fälle aus den Responsen und Consilien der Juristen bezogen. Letzlich war es die Autorität der Juristen, die ihren Entscheidungsvorschlägen Kraft verlieh. Diese Autorität bezogen sie aber aus ihrer Kennerschaft der Vorentscheidungen. Aus solcher Kennerschaft folgte eine gleichförmige und sichere Übung mit der Konsequenz, das »das Recht als solches weitgehend den Charakter allgemeiner Rechtssätze« [2]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21. gewann. Anders sieht es Kaser, wenn er schreibt (S. 54f), zwar hätten die »römischen Juristen zum Zweck vereinfachter Darstellung aus vielfacher übereinstimmender Fallpraxis nicht selten gegenständlich meist eng begrenzte Regelsätze« gebildet. Doch diese Regeln hätten nur die Ergebnisse der Fallpraxis zusammengefasst, das heißt also sie hätten keine normative Geltung gehabt. Nun fällt es wohl leichter, im (neuen) Einzelfall von einer bloß induktiv aus (alten) Einzelfällen gewonnenen Regel abzuweichen, als von einem abstrakt verkündeten Gesetz, das mit dem Anspruch auf Befolgung daher kommt. Aber die faktische Folgebereitschaft ist mehr als ein Faktum. Modern gesprochen hört sie auf den Namen Rechtsprechungspositivismus. [3]Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: … Continue reading Auf Rom bezogen müsste sie Juristenpositivismus heißen.

Dem scheint das Paulus-Zitat im Wege zu stehen. Man kann versuchen, die übliche Lesart und damit das (römische) Regelproblem wegzuinterpretieren. Eine grober Versuch würde das Zitat für in sich unstimmig erklären, weil rerum narratio und causae coniectio sich auf die Sachlage beziehen und nicht auf die Rechtslage. Feiner hat es Richard Böhr versucht. [4]Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff. Er meint, ius und regula seien auch für Paulus keine Gegensätze gewesen, die regula vielmehr Bestandteil des ius. Deshalb gebe die Paulus-Stelle nichts dafür her, dass juristische Urteile nur induktiv aus der Beurteilung von Fällen gewonnen worden seien. Die Römer hätten praktisch zwei Wege gekannt, um regulae iuris zu gewinnen, nämlich induktiv aus mehreren Entscheidungen und durch Verallgemeinerung besonders überzeugender Einzelfallentscheidungen. Ohne solche Abstraktionen zur Regel könne man sich die Juristenarbeit nicht vorstellen.

Okko Behrends tritt auch hier wieder mit einer prägnanten These hervor: Die Lesart, die den Vorrang des Rechts vor der Regel betont, beruhe auf einer »romantisierenden Heroisierung« der klassischen römischen Jurisprudenz durch die Freirechtsschule, auf die die moderne Romanistik, insbesondere in der Person von Max Kaser, hereingefallen sei. [5]Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50. Zuvor habe man den Satz des Sabinus so verstanden, »daß eine einzelne Rechtsregel immer nur als Ausdruck des gesamten in Betracht kommenden Rechts gilt und daher, wo immer nötig, aus dem gesamten Recht zu korrigieren sei.« [6]Ebd. S. 49.

»Durch den Kunstgriff, das ›ius quod est‹ nicht mehr als die Gesamtheit der in Betracht kommenden Normen der Rechtsordnung, also als vorweg festliegendes Recht im allgemeinen Sinne zu verstehen, sondern auf das Recht des Einzelfalls, auf das Recht der entschiedenen Einzelfälle oder noch konsequenter auf das im Lebensverhältnis des zur Entscheidung stehenden Einzelfalls wirkende Recht zu beziehen, wurde dieser Ausspruch mit großer bis heute andauernder Wirkung zum Programmsatz einer als vorbildlich angesehenen induktiven, nur aus der Erfahrung schöpfenden, und intuitiven, den Umweg über abstrakte Begriffe verschmähenden Rechtsfindung, wie sie das Freirecht den Römern, dem klassischen Juristenvolk, beimaß.« (S. 49f.)

In der Tat scheint der von Paulus angeführte Satz des Sabinus zum Motto der Freirechtsschule geworden zu sein. Lombardi Vallauri meint:

»Wohl das beliebteste Zitat der Freirechtler ist der Spruch des Paulus: non ex regula jus sumatur, sed ex jure quod es regula fiat.« [7]Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.

Lombardi Valluri gibt dazu keine Nachweise, und ich habe nicht weiter nachgeforscht. Okko Behrends verweist auf Eugen Ehrlich und zitiert in Fußnote 46 auf S. 49 aus »Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft«:

»Es beruhen nicht die Entscheidungen auf den Rechtsregeln, sondern die Rechtsregeln werden aus Entscheidungen gezogen. Das Recht, auf dem die Entscheidungen beruhen, ist das ius quod est.« [8]Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur … Continue reading.

Aber wenn Ehrlich sich hier auf Paulus/Sabinus bezieht, so kaum, um daraus unmittelbar eine Rechtfertigung für die freie Rechtsfindung abzuleiten. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ehrlich war ganz und gar nicht der Auffassung, die römischen Juristen hätten den Umweg zur Rechtsfindung über abstrakte Begriffe und Regeln verschmäht. Vielmehr betont er 1903 – und ebenso zehn Jahre später in dem Kapitel über »Die römische Jurisprudenz« in seiner »Grundlegung der Soziologie des Rechts« von 1913 (dort S. 197-217), dass die außerordentliche Leistung der Römer darin bestanden habe, aus vielen Einzelfallentscheidungen zu allgemeinen Regeln vorzustoßen. Mir scheint, dass Behrends die Differenz zwischen dem »lebenden Recht« und den »Entscheidungsnormen«, die den Kern der Rechtssoziologie Ehrlichs ausmachen, vernachlässigt hat. Bei der Suche nach der regula im römischen Recht geht es um die von Ehrlich so genannten Entscheidungsnormen, und Ehrlich bewundert die römischen Juristen gerade dafür, dass sie das lebende Recht so trefflich in Entscheidungsnormen umgesetzt haben. Und nebenbei erfährt man von Ehrlich beinahe noch mehr über die Regelbildung bei den Römern als in den bisher von mir herangezogenen Texten:

» … auf welchem Wege die Ansichten der Juristen zu einem Bestandteil des vor Gericht verbindlichen Rechts, des ius civile, wurden, … lehrt wohl ein Blick auf die uns erhaltene juristische Literatur. Der Jurist führt seine Ansicht meist sehr bescheiden ein: et puto, magis arbitror, sed magis sentio, aequius est, magis est; nur sehr selten kommen so kräftige Wendungen vor wie existimo constituendum. Daran knüpft die disputatio an, nicht mehr auf dem Forum, sondern in der Literatur: et magis placuit, sed magis visum est, et magis putat Pomponius … et ego puto, secundum Scaevolae sententiam quam puto veram, et magis admittit (Marcellus) tenere eum, et est aequissimum, oder auch mit einer Ablehnung: quae sententia vera non est et a multis notata est, nec utimur Servii sententia; bis sich schließlich die Regel festsetzt: maiores constituerunt, Cassii sententia utimur, Labeo scribit eoque jure utimur, et hoc et Julianus admittit eoque iure utimur, haec Quintus Mucius refert et vera sunt, abolita est enim quorundam veterum sententia. Erst wenn man von einer Regel, die von einem Juristen angesprochen wird, sagen konnte: eoque iure utimur hat sie sich endgültig durchgekämpft.« [9]Grundlegung S. 214f.

Nur auf einem höchst modern anmutenden Umweg rechtfertigt Ehrlich die »freie Rechtsfindung«, nämlich weil die zunächst bei den Römern anzutreffende und mit der Rezeption in die Neuzeit übernommene Idee der Lückenlosigkeit »nie etwas anderes gewesen [sei] als ein Scheingebilde der juristischen Technik« [10]1903 S. 6 = 1967 S. 176.

Ich glaube eher, dass die Paulus-Stelle so gemeint war, wie sie üblicherweise verstanden wird. Dann schließt sich aber die Frage an, ob es sich dabei nur um die affirmative Wiedergabe der Meinung des Sabinus handelt oder ob der Sabinus zugeschriebene Satz die römische Rechtspraxis zutreffend wiedergibt. Der Eindruck, das römische Recht sei reines Fallrecht, geprägt von Judiz oder Urteilskraft, geschaffen aus Intuition oder kraft natürlicher Vernunft (naturaliter ratione) in Verbindung mit der auctoritas der Juristen mag dadurch entstanden sein, dass die meisten überlieferten Fallbeurteilungen nicht mit Gründen versehen sind. Horak hat jedoch gezeigt, dass dieser Eindruck trügt. Tatsächlich haben die Römer so viele Begründungen geliefert, dass er sagen kann:

»Nicht arational und autoritär, wie Schulz glauben machen will, sondern sowohl rational als auch autoritär müssen wir uns die römische Jurisprudenz denken. Sie wird sich darin von unserer heutigen Jurisprudenz nicht allzusehr unterschieden haben, in der oft genug neben den Gründen das Ansehen eines Autors eine entscheidende Rolle spielt.« (S. 75f)

Danach scheint mir, dass man die Sache zwar nicht an der Vokabel regula festmachen darf, dass es aber in der Tat unvorstellbar ist, dass die römischen Juristen keine aus Erfahrung und Überlegung gebildeten Regeln im Kopf gehabt hätten.

Von der römischen unterscheidet sich die moderne Diskussion dadurch, dass meistens einschlägige ausformulierte Normen vorhanden sind. Das hat zur Folge, dass man sich (nur noch) darüber streitet, ob überhaupt vorgängige Regeln möglich sind, denen sich durch Subsumtion eine Entscheidung entnehmen lässt (lex ante casum), oder ob das, was als Rechtsanwendung erscheint, letztlich produktive Rechtserzeugung ist (lex in casu). [11]Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«. Sehr groß ist der Fortschritt nicht. Um es mit dem Schlusswort von Horaks »Rationes Decidendi« zu sagen:

»Wenn die kleine Stichprobe indes nicht sehr trügt, dann zeigt sich, daß seit den Tagen der ausgehenden römischen Republik die Jurisprudenz zwar an Selbsterkenntnis und Selbstkritik ihren Methoden gegenüber sehr viel weiter gekommen ist, daß aber die juristische Praxis und zum Teil auch die Rechtslehre nicht wesentlich anders arbeiten, als es die römischen Juristen getan haben. Es ist zu bezweifeln, ob angesichts der unvermeidlichen Wertungen, ohne die die Jurisprudenz nicht zu existieren vermag, ein höherer Grad an Wissenschaftlichkeit erreicht werden kann. Die römische Jurisprudenz ist groß, weil sie diesen Standard an möglicher Wissenschaftlichkeit schon vor zweitausend Jahren erreicht hat.«

Nach einer langen Periode des Regelskeptizismus darf man heute wohl wieder sagen: Regeln haben Bedeutung und lassen sich anwenden, auch wenn jede Anwendung in irgendeiner, oft minimalen Weise auf die Regel zurückwirkt, indem sie die Regel festigt oder verändert. Nicht alle, aber viele Fälle fordern die Regel heraus, so dass sie im Zuge der Anwendung »übersetzt« wird. [12]Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von … Continue reading So war es auch schon bei den Römern. Das moderne Regelverständnis wird jedoch durch einen Gesichspunkt mitbestimmt, der den Römern noch fremd war. Zentral für Kants Freiheitsphilosophie und Ethik ist die Idee, dass man sich sittliches Handeln immer so vorzustellen hat, dass es einer Regel folgt. In die Jurisprudenz findet diese Vorstellung über den Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit Eingang. Rechtsanwendungsgleichheit setzt die Bereitschaft voraus, auch neuartige Fälle, für die eine Regel fehlt, stets unter dem Gesichtspunkt einer für alle gleichartigen Fälle gültigen Regel zu entscheiden, mag diese Regel auch erst im konkreten Fall zum ersten Mal aufgestellt und als solche nicht einmal ausgesprochen werden. [13]Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).

Luhmann hat sich an der Stelle, die Anlass der Überlegungen zu casus und regula war [14]Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula., dem sabinianischen Standpunkt vom Vorrang des Rechts vor der Regel angeschlossen. Damit folgt er kritiklos der freirechtlichen Okkupation des Paulus/Sabinus-Zitats, nach der die regula nicht mehr ist als ein unverbindlicher Entscheidungsvorschlag, dem kein darüber hinausgehender normativer Wert zukommt.

Dieser Ausgangspunkt ist zu brüchig für Luhmanns weitergehende These, im römischen Rechtsdenken habe die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung keiner sie legitimierenden Rechtsquelle bedurft. [15]Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«. Sie lässt sich schwerlich halten. Zwar gab es in Rom keine abstrakte Rechtsquellenlehre, aber durchaus handfeste Vorstellungen von verbindlichen Rechtsquellen, die sich freilich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. [16]Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und … Continue reading Das zeigt der so genannte Rechtsquellenkatalog des Gaius: Constant autem iura populi Romani ex legibus, plebiscitis, senatus consultis, constitutionibus principum, edictis eorum, qui ius edicendi habent, responsis prudentium. Rechtsquelle im soziologischen Sinne war anfangs vor allem die legitimierende Kraft der Tradition und die Autorität der Juristen, die sich ursprünglich aus dem Priesteramt ableitete. Später kamen Senat, Prätoren und Gerichtsmagistrate hinzu, in der Kaiserzeit dann selbstverständlich der Kaiser und die von ihm abgeleiteten Autoritäten, etwa der Juristen, die das Recht zu respondieren hatten. Und es gab auch innerhalb der Juristen reflektierende Überlegungen zur Rechtfertigung des Rechts. Dazu kursierten etwa Begriffe wie natura und aequitas, consuetudo und auctoritas, mos majorum und ius moribus introductum, voluntas populi oder gar tacitus consensus populi. Ohnehin passt Luhmanns Satz, »daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung (k)einer sie legitimierenden Rechtsquelle« bedurft hätte, nicht so ganz zu der von ihm in Fn. 70 auf S. 523 angeführten Paulus-Zitat »non ex regula ius sumatur«. Eine Regel, die es gar nicht gibt, braucht auch keine Legitimation. Doch dann verlagert sich das Legitimationsproblem auf die Entscheider.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 72.
2 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21.
3 Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, 2014, 41-49.
4 Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff.
5 Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50.
6 Ebd. S. 49.
7 Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.
8 Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, 1967, S. 170-202, dort S. 180.
9 Grundlegung S. 214f.
10 1903 S. 6 = 1967 S. 176
11 Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«.
12 Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von Rezeptionsästhetik und Reader-Response-Theorie«.
13 Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).
14 Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula.
15 Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«.
16 Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 9-41.

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Casus und regula: Die Hellenismuskontroverse

Dies ist eine Fortsetzung des Eintrags über »Casus und Regula« vom 20. 8. 2015.

»Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«, so lautet nach dem Paulus-Zitat des Pomponius die Position der Sabinianer. Dieser Satz trägt so viel Betonung, dass es eine Gegenposition gegeben haben muss. Die findet Peter Stein [1]Peter Stein, Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556, S. 1553f. Grundlegend Steins Monographie Regulae Iuris, From Juristic Rules to Legal Maxims, … Continue reading bei Labeo:

»The late republican jurists, particularly Quintus Mucius Scaevola, tried to state the civil law in a series of definitiones, which were seen as summary descriptions of the law as revealed in practice. Labeo introduced a new word, regula, as an alternative to definitio. He took this word from grammatical language, where it had decidedly analogist overtones. A regula was something more than a definitio. It was a normative proposition which governed all situations which fell within its rationale. In contrast with definitio, which looked to the past, a regula looked to the future since its ratio was applicable to many cases which had not yet arisen.«

Danach scheint es, als habe Labeo das Konzept der regula eingeführt, die zwar ursprünglich an einem Einzelfall gewonnen wurde, die dann aber als allgemeine Norm Geltung hatte. Aber, so Nörr (S. 31):

»Es ist auffällig, daß es regulae gibt, die in die republikanische Zeit zurückreichen, daß der Ausdruck regula selbst aber in den Juristenschriften frühestens bei Sabinus (Paul. 50.17.1), also etwa in der Mitte des 1. Jahrh. n. Chr., bezeugt ist.«

In diesem Sinne betont Schmidlin [2]Bruno Schmidlin, Horoi, pithana und regulae – Zum Einfluß der Rhetorik und Dialektik auf die juristische Regelbildung, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der … Continue reading, dass regula in der frühen Prinzipatszeit noch gar kein technischer juristischer Begriff gewesen sei.

»In der Bedeutung der Einzelregeln scheinen sich die regulae erstmals in der Grammatik eingebürgert zu haben, und zwar offensichtlich in Anlehnung an den griechischen Terminus canon, der auch im Plural, canones, im Sinn von ›Einzelregeln‹ verwendet wird. Auch in dem methodologisch wenig gefestigten Vokabular der Juristen haftet dem Wort regula eine bildhafte Unbestimmtheit an. Noch Celsus bezeichnet die catonianische Regel ganz unbefangen bald als regula, bald als definitio, während der Jurist Maecenius sententia dafür verwendet.« [3]Schmidlin S. 117f.

An dieser Stelle zeigt sich schon, dass die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von casus und regula verfehlt war, denn sie beruht auf dem Vorurteil, die römischen Juristen hätten in der gleichen Weise von regula geredet wie der moderne Jurist von der Regel im Sinne einer Rechtsnorm. [4]Nörr, SZ 89,1972, S. 36; Richard Böhr, Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, Ein Beitrag zur rechtshistorischen Spruchregelforschung, 2002, 49f.

Versucht man nachzufassen, greift man in das Wespennest eines Gelehrtenstreits um den Einfluss hellenistischer Philosophie auf die Jurisprudenz der späten Republik und des frühen Prinzipats. An den Fronten stehen Peter Stein und Bruno Schmidlin mit einschlägigen Monographien und abseits Okko Behrends und sein Schüler Martin Avenarius.

Behrends und ihm folgend Avenarius vertreten die Ansicht, dass die vorklassische Tradition der veteres mit der Ermordung des Quintus Mucius Scaevola 82 v. Chr. endete und nunmehr Servius Sulpicius Rufus mit der ars juris eine neue wissenschaftliche Juristentradition begründete, die auf Definitionen und Subsumtion angelegt war. »In seiner ars juris wurde die ars im Sinne des hellenistischen Wissenschaftsbegriffs als τέχνη verstanden. Mit ihr schuf Servius das Recht als regelhafte Ordnung.« [5]Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum, 2005, S. 88. Davon seien dann die Prokulianer ausgegangen. Diese These vom Methodenwechsel wird allerdings wohl nicht allgemein akzeptiert. [6]Boudewijn Sirks in seiner Rezension des Buches von Avenarius, Gnomon 80, 2008, S. 325-330, S. 326.

Peter Stein veröffentlichte 1966 »Regulae Juris. From Juristic Rules to Legal Maxims« und verteidigte darin die zuvor insbesondere von Fritz Schulz begründete die Ansicht, die Römer hätten unter dem Einfluss platonischer Dialektik und aristotelischer Philosophie die Jurisprudenz zu einer »hellenistischen Fachwissenschaft« ausgebaut. [7]Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 45. Dagegen wandte sich insbesondere Bruno Schmidlin 1970 mit einer Arbeit »Die römischen Rechtsregeln (Versuch einer Typologie)«. [8]Dieter Nörr hat ihr 1972 einen großen Essay in der Savigny-Zeitschrift gewidmet. (Spruchregel und Generalisierung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, 1972, 18-93).

Schulz (S. 44f) spricht von einer hellenistischen Periode der römischen Rechtswissenschaft beginnend mit dem Ende des Zweiten Punischen Krieges (201 v. Chr.) und endend mit der Aufrichtung des Prinzipats des Augustus (31 v. Chr.). Seine klare Position und Darstellung sei zitiert:

»Eine wesentliche Veränderung aber brachte die Übertragung der Dialektik auf die Rechtswissenschaft. Unter der dialektischen Methode verstand Platon kurz gesagt das Studium der Gattungen (genera und species). Die Gattungen sollen erkannt werden durch Trennung (differentia, διαίρεσις) auf der einen Seite und durch ›Synthese des Mannigfaltigen‹ (συναγωγή, σύνθεσις) auf der andern. Aus dem Studium der Gattungen sollen Prinzipien entwickelt werden, die für die verschiedenen Gattungen gelten und die das Verständnis der Einzelerscheinungen erschließen.« (S. 73)

Schulz weist dann darauf hin, dass die führenden Juristen mit der hellenistischen Philosophie vertraut waren, um fortzufahren: (S. 75)

»Die Verwertung der Dialektik in der Jurisprudenz führte zunächst, genau wie in den griechischen Philosophenschulen, zu einem planmäßigen Aufsuchen juristischer genera und species. Die technische Bezeichnung derartiger genetischer Trennungen ist seit Aristoteles ›διαίρεσις‹. Im Lateinischen wird das Wort wiedergegeben mit divisiones, distinctiones oder differentiae.

Nach einigen Beispielen heißt es weiter (S. 76):

»Genau den griechischen Vorbildern entsprechend arbeitet jetzt die römische Jurisprudenz. Pomponius berichtet [D.1,2,2,41]: Quintus Mucius Publii filius pontifex maximus ius civile primus constituit generatim in libros decem et octo redigendo.«

Generatim ist das Attribut, mit dem die dialektische Differenzierungsmethode gekennzeichnet wird. Sie dient den römischen Juristen dazu, System in die Kasuistik zu bringen, indem sie gleiche oder ähnliche Fälle zusammenfassen und Tatbestandselemente, die einen Unterschied machen sollen, als species davon abheben. Die Differenzierung – διαίρεσις – ist jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Regel. »Es gilt jetzt, für die gefundenen genera und species Prinzipien zu entwickeln.« [9]Schulz S. 77. Der Prinzipienbegriff darf hier nicht im Sinne moderner Rechtstheorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um mehr oder weniger vollständige und mehr oder weniger bestimmte Rechtssätze. Prinzipien sind Grundsätze, die gemeinsam für ein genus gelten. Hier passt der von Karl Larenz geprägte Begriff der rechtssatzförmigen Prinzipien. [10]Zu diesen Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 284.

Daher kann Schulz fortfahren:

»Diese Prinzipien nennt die griechische Dialektik ὅροι oder κανόνες, die lateinische definitiones oder regulae. Die Übertragung der Dialektik zur Jurisprudenz führt also zur Aufstellung von regulae juris.« (S. 79)

Den Kern des Expertenstreits über die Differenz zwischen Prokulianern und Sabinianern bringt Wieacker (S. 439f) auf den Punkt, wenn er seine eigene Auffassung der von Peter Stein entgegenstellt:

»Danach scheint der weiteste klassische Begriff von regula: Juristenrecht, das durch eine abgeschlossene Diskussion als auctoritas festgestellt ist und daher der Beglaubigung durch Zitate und Argumente nicht mehr bedarf (regula tradita, vulgo dictum, definitio, constitutum). Natürlich liegt es im Wesen solcher Sätze, auf künftige Fälle unstreitig anwendbar zu sein, und die regula steht daher auch im Gegensatz zum jus singulare. [11]Verdunkelt wird der Gegensatz von Einzelfallentscheidung und Regel weiter durch das den Romanisten vertraute Begriffspaar jus commune und jus singulare. Das jus singulare unterscheidet sich vom jus … Continue reading Aber offenbar enthält regula keinen notwendigen Bezug auf eine durch wissenschaftliche Deduktion mit den Mitteln der Dialektik gewonnene Abstraktion oder Verallgemeinerung speziellerer Begriffe. Kürzer: Im Gegensatz zum Vf. [Peter Stein] glauben wir, daß bis zur nachklassischen Zeit regula mit dem Problem der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung durch ὅροι, γένη und εἶδη verhältnismäßig wenig zu tun gehabt hatte.«

Der Streit geht also darum, ob aus dem Einfluss aristotelischer Philosophie eine Regularjurisprudenz entstanden sei, die begonnen habe, das Recht nach genera und species zu ordnen. Noch einmal Wieacker (S. 442):

»Die klassische regula meinte mehr durch gefestigte Autorität unstreitig gewordenes Juristenrecht als zur Axiomatik hinstrebende Verallgemeinerung. Vollends an den Erfolg einer ›Wissenschaftlichen Revolution‹, die die römische Rechtstradition nach den Anweisungen der aristotelischen Wissenschaftslehre zu einem induktiv gewonnenen einheitlichen Ableitungs-zusammenhang umgestaltet hätte, glaubten wir weniger zuversichtlich als der Vf. [Stein].«

Diese von mir so genannte Hellenismuskontroverse hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der durch Theodor Viehweg ausgelösten Topik-Diskussion. Die betraf bekanntlich die Frage, ob man das zeitgenössische Recht in seiner wissenschaftlichen Verarbeitung als System begreifen könne oder ob es besser als rhetorisch-dialogisch-topische Veranstaltung zu charakterisieren sei. Auch Viehweg [12]Topik und Jurispudenz, 5. Aufl. 1974. sprach der römischen Jurisprudenz (und ebenso der modernen) Wissenschaftlichkeit im Sinne Aristotelischer Apodeiktik ab, sah in beiden aber ein anderes aristotelisches Konzept realisiert, nämlich die rhetorische Topik (Dialektik). So ist es kein Zufall, dass Franz Horak am Rande der Hellenismuskontroverse eine ebenso scharfe wie scharfsinnige Viehweg-Kritik formuliert hat. [13]Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, 45-64. In beiden Fällen sagt man heute: Pauschalurteile sind überholt. Die Dinge sind komplex und die eine wie die andere Vorstellung ist hilfreich, um sie zu verstehen. [14]So für die Hellenismuskontroverse Schmidlin 1976, 102, und für die Topikkontroverse Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der … Continue reading

Peter Stein und andere gehen wohl in der Tat zu weit, wenn sie bei den Römern die aristotelische Wissenschaftslehre (Apodeiktik) finden. Deren Kennzeichen besteht ja darin, dass sie eine evidente Prämisse an den Anfang setzt, aus der dann durch Deduktion weitere wahre Sätze abgeleitet werden. Davon kann aber im römischen Recht keine Rede sein. Andererseits waren die führenden Juristen mit dem Hellenismus vertraut und daher ist es

»unwahrscheinlich, daß Juristen wie Mucius Scaevola, Servius Sulpicius, Cascellius,. Trebatius, Labeo, deren dialektische Bildung von den Zeitgenossen bezeugt wird, ihr erlerntes Denken vor der Tür der Jurisprudenz ablegten, um nach Art der altväterlichen Kautelarjurisprudenz zu respondieren. … Nur gilt es, sich über das Ausmaß und die Art des Einflusses klar zu werden.« (Schmidlin 1976, 104.)

Schmidlin endet (1976 S. 127):

»Darum erfaßt regula iuris nicht nur Spruchregeln, sondern überhaupt alles, was normative Funktion übernehmen kann und dem funktionalen Sinn einer Rechtsregelung entspricht. Aber auch in den libri regularum vermischen sich die kasuistischen Leitsätze, Definitionen und Worterklärungen. Ihre methodologisch scharf gefaßten Urbilder in den horoi und pithana verschwimmen. Der Vermittlerdienst der dialektischen Aussagenlehre ist abgeschlossen, die regulae haben sich der juristischen Kasuistik assimiliert.«

Letztlich ist es wohl zutreffend, wenn James Gordley [15]James Gordley, The Jurists: A Critical History, Oxford 2013 S. 13. sagt, die Hellenismusthese

»obscure the unique contribution that the Roman jurists made, which was not to borrow from Greek philosophy, but rather to found an intellectual tradition of their own that approached problems in a different way. … Roman legal concepts were not abstract in the same way as those of Greek Philosophy. For the most part, they were taken from ordinary experience.«

Es wäre indessen zu eng, die Auffassungen römischer Juristen zum Verhältnis von Norm und Fall nur aus dem Gegensatz von Prokulianern und Sabinianern herauslesen zu wollen. Die römische Jurisprudenz ist älter. Und sie ist aus Entscheidungen geboren.

»In jeder Entscheidung ist unausgesprochen (undeclaredly) auch schon ein Prinzip für folgende Entscheidungen gegenwärtig. Mit dieser unauffälligen Feststellung des Vf. [Stein] ist schon die erste Wegkreuzung überschritten, an der sich entschied, ob es bei der irrationalen Spontaneität der Rechtsorakel, Gottesurteile oder des Medizinmannes bleiben sollte, der Sackgasse primitiver Kulturen, von der es keinen Weg in den Aufbau höherer und dauernder Gesellschaften gibt; oder ob die Entscheidung auf Vorwegnahme einer dauernden Regel menschlichen Zusammenlebens angelegt sein soll. Sich für diesen Weg entschieden zu haben, der den Weg in die nachmalige Größe des römischen Rechts eröffnete, ist ersichtlich das unermeßliche Verdienst der Pontifikaljurisprudenz.«

So Wieacker in seiner Rezension des eingangs erwähnten Buches von Peter Stein. [16]Franz Wieacker, (Rezension von) Peter Stein, Regulae Iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims. University Press, Edinburgh 1966, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. … Continue reading Was Wieacker hier anspricht, ist die implizite Regelhaftigkeit von Entscheidungen.

Auf die erste Stufe impliziter Regelhaftigkeit folgt seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. die nächste, auf der römischen Juristen begannen, »neben der rein kasuistischen Fallbehandlung … das allgemeine Ergebnis der zahllosen Einzelentscheidungen zusammenfassend, abstrakte Rechtsregeln (regulae juris) aufzustellen«. [17]Waldstein/Rainer S. 151. »Generalisierende Rechtssätze [vom Typ nemo sibi causam possessionis ipse mutare potest] formulierten die Römer in großer Zahl.« [18]Böhr 2002, S. 2. Für diesen Vorgang hat Paul Jörs [19]Paul Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik, I: Bis auf die Catonen. Berlin, 1888, S. 295ff. als Gegenbegriff zur Kasuistik die Bezeichung Regularjurisprudenz eingeführt. Ob diese Benennung angemessen ist, wird allerdings wiederum bestritten. Fritz Schulz meinte, sie müsse verschwinden und durch den Ausdruck »dialektische Jurisprudenz« ersetzt werden. (S. 80) Nörr (S. 19) hat andere Einwände gegen Jörs‘ Begriffsschöpfung:

»Das Wort regula sei der Juristensprache dieser Epoche noch fremd. Was Jörs unter regulae verstehe, sei unsicher. Soweit er damit die die Entscheidung tragenden Prinzipien meine, sei der Ausdruck zu weit, da jede rationale Jurisprudenz von der Verwendung solcher Prinzipien bestimmt sei. Soweit es um die Prägung von juristischen Sentenzen gehe, könne die von Jörs gemeinte Epoche vielleicht besonders produktiv gewesen sein; doch reiche einerseits diese Art der Regelbildung nicht zur Charakterisierung der Epoche aus, zum anderen sei die Verwendung von regulae auch in den folgenden Epochen der römischen Rechtswissenschaft bekannt und gewinne gerade in der Spät- und Nachklassik besondere Bedeutung.«

Man ist sich mindestens einig, dass die Juristen der späten Republik das Zivilrecht in einer Reihe von definitiones festzuhalten versuchten, die als zusammenfassende Beschreibungen der Rechtspraxis gedacht waren. Dazu kamen Abstraktionen wie die Einteilung von Sachen in corporales und incorporales (Gai. inst. 2, 14 = D 1, 8, 1, 1.). Diebstahlsobjekt war bei Scaevola nicht länger ein Pferd, sondern eine Sache. Es wurden verschiedene Formen des Besitzes unterschieden. Aber bei solchen Unterscheidungen mit Hilfe von Begriffen und Gegenbegriffen, Mengen und Teilmengen handelt es sich auf den ersten Blick nur um Differenzierungen, die heute als Schemata der Alltagslogik [20]Manfred Kienpointner, Alltagslogik, 1992, 250 ff. (Definitionsschemata, Genus-Spezies-Schemata, Ganzes-Teil-Schemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata, Kausalschemata). gelten. Die Bildung unterschiedlicher species erfolgte jedoch im Hinblick darauf, dass sie jeweils unterschiedlichen Regeln gehorchen. Die Regel versteckt sich dabei hinter den Begriffen. [21]Dazu Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, S. 56 Fn. 42: »Normative Begriffe lassen sich ja als Komplexe von Forderungen … Continue reading Ähnlich liegt es mit Rechtsinstituten. Ein Beispiel wäre die Definition der Dienstbarkeit als einer Duldungspflicht. [22]Pomponius, D 8,1,15,1 (33 ad Sab.): Servitutium non ea natura est, ut aliquid faciat quis, …, sed ut aliquid patiatur aut non faciat. Die Definition begründet nur eine unvollständige Rechtsnorm, aus der erst im Rahmen einer lex contractus Verhaltenspflichten resultieren.

Wenn man sich bei der Suche nach abstrakten Normen im klassischen römischen Recht nicht auf den Ausdruck regula kapriziert, bleibt die Suche nicht erfolglos. Aber hinsichtlich der Frage, ob ob die zahlreich überlieferten regulae als Rechtsquelle normative Bedeutung hatten, eiert die Einschätzung ähnlich herum wie die moderne Diskussion um die Rechtsqualität von Richterrecht. Von der regula wird immer wieder gesagt, sie sei ein »Konzentrat kasuistischer Rechtserfahrungen«, man könne sie mit den Leitsätzen moderner Entscheidungssammlungen vergleichen (z. B. Schmidlin 1976, 118). Noch den zaghaften Versuch Schmidlins, jedenfalls die regulae iuris civilis als »echte« Normen von den einfachen regulae als bloßen Prinzipien oder Rechtsgrundsätzen zu unterscheiden, hat Nörr (S. 38f.) verworfen. [23]Anders wiederum Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 1988, S. 593, der die Begriffsbildungen und Rechtsregeln der veteres als »ihrem Inhalt nach normativ (›präskriptiv‹)« bezeichnet und … Continue reading

[Schluss folgt bald.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Peter Stein, Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556, S. 1553f. Grundlegend Steins Monographie Regulae Iuris, From Juristic Rules to Legal Maxims, Edinburgh 1966; vgl. auch ders., Interpretation and Legal Reasoning in Roman Law, Chicago-Kent Law Review 70, 1995, 1539-1556.
2 Bruno Schmidlin, Horoi, pithana und regulae – Zum Einfluß der Rhetorik und Dialektik auf die juristische Regelbildung, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 1976, 101-130.
3 Schmidlin S. 117f.
4 Nörr, SZ 89,1972, S. 36; Richard Böhr, Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, Ein Beitrag zur rechtshistorischen Spruchregelforschung, 2002, 49f.
5 Martin Avenarius, Der pseudo-ulpianische liber singularis regularum, 2005, S. 88.
6 Boudewijn Sirks in seiner Rezension des Buches von Avenarius, Gnomon 80, 2008, S. 325-330, S. 326.
7 Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 45.
8 Dieter Nörr hat ihr 1972 einen großen Essay in der Savigny-Zeitschrift gewidmet. (Spruchregel und Generalisierung, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, 1972, 18-93).
9 Schulz S. 77.
10 Zu diesen Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 284.
11 Verdunkelt wird der Gegensatz von Einzelfallentscheidung und Regel weiter durch das den Romanisten vertraute Begriffspaar jus commune und jus singulare. Das jus singulare unterscheidet sich vom jus commune nicht, wie es gelegentlich den Anschein hat, dadurch, dass ersterem der Regelcharakter fehlt, sondern dass es sich nicht in das allgemeinere System des letzteren einfügt.
12 Topik und Jurispudenz, 5. Aufl. 1974.
13 Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, 45-64.
14 So für die Hellenismuskontroverse Schmidlin 1976, 102, und für die Topikkontroverse Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, Eine Untersuchung zu Rezeption und Relevanz der Rechtstheorie Theodor Viehwegs, 2010. Launhardt wird allerdings der Kritik von Viehwegs Lehre durch Horak nicht gerecht.
15 James Gordley, The Jurists: A Critical History, Oxford 2013 S. 13.
16 Franz Wieacker, (Rezension von) Peter Stein, Regulae Iuris. From Juristic Rules to Legal Maxims. University Press, Edinburgh 1966, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung, 434-443.
17 Waldstein/Rainer S. 151.
18 Böhr 2002, S. 2.
19 Paul Jörs, Römische Rechtswissenschaft zur Zeit der Republik, I: Bis auf die Catonen. Berlin, 1888, S. 295ff.
20 Manfred Kienpointner, Alltagslogik, 1992, 250 ff. (Definitionsschemata, Genus-Spezies-Schemata, Ganzes-Teil-Schemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata, Kausalschemata).
21 Dazu Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, 1969, S. 56 Fn. 42: »Normative Begriffe lassen sich ja als Komplexe von Forderungen darstellen; sie verlangen bestimmte Handlungen und verbieten andere.«
22 Pomponius, D 8,1,15,1 (33 ad Sab.): Servitutium non ea natura est, ut aliquid faciat quis, …, sed ut aliquid patiatur aut non faciat.
23 Anders wiederum Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte 1988, S. 593, der die Begriffsbildungen und Rechtsregeln der veteres als »ihrem Inhalt nach normativ (›präskriptiv‹)« bezeichnet und fortfährt: »Erst in der ausgehenden Republik erscheinen als regulae und definitiones auch deskriptive Bestimmungen von Sach- und Rechtsbegriffen, die also (wie die meisten modernen ›Legaldefinitionen‹) bloße Rechtsfolgeverweisungen sind.«

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Casus und Regula

Das Verhältnis von Casus und Regula, von Einzelfallenscheidung und Norm, ist ein uraltes Thema, das ebensowenig an Aktualität verloren hat wie es einer Lösung näher gekommen ist. Heute taucht das Problem besonders in folgenden Zusammenhängen auf:

  • in der Rechtsquellenlehre als Frage nach der Allgemeinheit des Gesetzes,
  • in der Methodenlehre als Forderung regelbewussten Entscheidens,
  • in der Kritik der von der Rechtsprechung nicht zuletzt des Bundesverfassungsgerichts geforderten Abwägung aller Umstände des Einzelfalls,
  • in der Vorstellung von Rechtsprinzipien, die an Stelle von Regeln juristische Entscheidungen leiten könnten,
  • in der Position des Regelskeptizismus, der besagt, dass Begriffe und folglich auch Regeln keine Bedeutung an sich haben, sondern ihre Bedeutung nur aus Summe der erinnerten oder vorgestellten Anwendungsfälle beziehen,
  • in der These von der Verschleifung von Regel und Entscheidung
  • bei der Suche nach einem theoretischen Verständnis von Abstraktion.

Es handelt sich bei der Frage nach dem Verhältnis von Regel und Fall wohl um ein Henne-Ei-Problem. Aber ich habe ein Vor-Urteil zugunsten der regula als Henne, und um mich dessen zu vergewissern, wollte ich eine Spur verfolgen die – einmal wieder – Niklas Luhmann gelegt hat. In »Recht der Gesellschaft« (S. 523) ist zu lesen:

»Für das römische und das mittelalterliche Rechtsdenken war ja die Regel nur eine brevis rerum narratio gewesen. Das in der Sache selbst liegende ius, das für gerecht befundene Recht war entscheidend. Daher konnte auch nicht davon die Rede sein, daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung einer sie legitimierenden Rechtsquelle bedürfe.«

Vorab will ich bekennen, dass ich mit meiner Spurensuche gescheitert bin. Aber auch das ist ein Ergebnis, das für das Sachproblem, also das Verhältnis von Regel und Fall, nicht irrelevant zu sein scheint. Deshalb soll hier von einigen Begegnungen auf der Suche berichtet werden. Denn immerhin, zwei Ergebnisse scheinen mir bemerkenwert. Erstens: Die Suche führt einmal wieder zur Konvergenzen zwischen unverbundenen wissenschaftlichen Dikussionssträngen. Zweitens: Das Luhmann-Zitat enthält zwei Sachaussagen. Die erste verneint den Regelcharakter römischen Rechts. Die zweite baut darauf auf und bestreitet die Existenz von legitimierenden Rechtsquellen. Beide Aussagen scheinen mir nicht haltbar zu sein.

Luhmann bezieht sich auf die berühmte Digestenstelle D. 50,17,1

Paulus libro sexto decimo ad Plautium. Regula est, quae rem quae est breviter enarrat. Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat. Per regulam igitur brevis rerum narratio traditur, et, ut ait Sabinus, quasi causae coniectio est, quae simul cum in aliquo vitiata est, perdit officium suum.
[Eine Regel ist die kurze Wiedergabe der Rechtslage. Das Recht wird nicht der Regel entnommen, sondern die Regel dem Recht, wie es ist. Eine Regel gibt wird also in kurzer Form die Rechtslage wieder. Sie bildet, wie Sabinus sagt, gleichsam eine Zusammenfassung der Gründe. Ist die Regel insoweit irgendwie fehlerhaft, verliert sie ihre Verbindlichkeit.]

Sie steht an der Spitze der justinianischen Regelsammlung D. 50, 17 De diversis regulis iuris antiqui. Dieser Text führt in die Prinzipatszeit zu den Rechtsschulen der Prokulianer und Sabinianer [1]Detlef Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der … Continue reading und ihrem (angeblichen?) Methodenstreit über den Vorrang von casus oder regula und er führt weiter in eine große Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen.

Die Prokulianer haben ihren Namen zwar von Sempronius Proculus, ihr Gründer war jedoch M. Antistius Labeo (54 v.Chr. – 10 oder 11 n.Chr.). [2]Paul Jörs, Antistius 34, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 2, 1894, Sp. 2548–2557 [http://de.wikisource.org/wiki/RE:Antistius_34]. Auch die Sabinianer tragen diesen Namen nicht nach ihrem Schulhaupt C. Ateius Capito, sondern nach Masurius Sabinus. Die Prokulianer gelten als die eher fortschrittlichen Reformer, die Sabinianer als eher konservativ. Das hat zunächst mit ihrer unterschiedlichen Einstellung zum Prinzipat zu tun. Labeo blieb der Gesinnung nach Republikaner, während Capito unter Augustus politische Karriere machte. [3]Vgl. dazu etwa Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 199ff.; Dieter Nörr, Pomponius oder »Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen«, in: Hildegard Temporini/Wolfgang … Continue reading Immerhin brachte es auch Labeo zum Praetor. Von der Sache her ist die Einschätzung Labeos als eher fortschrittlich überraschend, denn im Vergleich zu den Prokulianern erscheint er eher als formalistischer Begriffsjurist. Jedenfalls war er äußerst produktiv. Sextus Pomponius, der etwa 200 Jahre später die Geschichte des Römischen Recht aufzeichnete, berichtet (D. 1.2.2.47), Labeo habe das Konsulat abgelehnt, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. Er soll 400 Buchrollen hinterlassen haben. Fögen hat nachgezählt:

»Seine Werke sollten so einflußreich werden wie die keines anderen der älteren Juristen: 563 Mal kommt Labeo in den Digesten zu Wort …. Sein Konkurrent Ateius Capito schafft es auf nicht mehr als sechs Erwähnungen.« [4]Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 202.

Eine lange Liste von sachlichen Meinungsverschiedenheiten zu einzelnen Rechtsfragen hat Liebs zusammengestellt. [5]Liebs aaO. hat sie S. 243ff. Dass es einen »Methodenstreit« gegeben hätte, ist dagegen nicht so sicher. Bei Waldstein/Rainer [6]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 227. heißt es: »Die Kontroversen zwischen den beiden Schulen bezogen sich nur auf Einzelfragen, nicht auf Unterschiede in der juristischen Arbeitsweise oder im Denken.« Dagegen konstatiert Michael von Albrecht [7]Geschichte der römischen Literatur, 2012, S. 748 Fn. 5 einen deutlichen Unterschied:

»Die Sabinianer oder Cassianer stellen wissenschaftliches Denken (das in Rom notwendigerweise zuweilen an Stoisches erinnert) überwiegend in den Dienst der Ordnung des gesamten Rechts und der Bewahrung der Tradition; sie schreiben also vielfach Gesamtdarstellungen. Die Leistung der Proculianer (bei denen man neben stoischem auch peripatetischen Einfluß vermutet hat) liegt in der präzisen und logischen, auch vor Innovationen nicht zurückscheuenden Behandlung des Einzelfalles; ihre Schriften sind meist kasuistisch. Der Gegensatz verblaßt im 2. Jh.«

Okko Behrends ordnet das Rechtsdenken der Prokulianer als »institutionell« ein im Unterschied zu den »prinzipiell« verfahrenden Sabinianern. Institutionelles Rechtsdenken geht von Rechtsfiguren (Instituten) aus, die durch Gesetz oder Juristenarbeit entstanden sind mit der Folge, dass »die Berechtigungen und Haftungen, die aus ihnen fließen, als Rechtsfolgen fest und genau eingeplant sind. Sie sind juristische Klassenbegriffe, die entsprechend ihrer juristisch-technischen Fassung über Berechtigungen und Verpflichtungen genau Auskunft geben« (S. 16). Ein Prinzip dagegen wie Treu und Glauben (bona fides) das »sowohl im römischen Recht als auch gegenwärtig das schlechthin Bedeutendste ist und den präzisen Rechtsinstituten am schärfsten entgegengesetzt ist«, ist ein offenes Wertprinzip, das anleitet, die Entscheidung über Rechts und Pflichten nach den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Hier schimmern immerhin unterschiedliche Auffassungen von dem Verhältnis von casus und regula durch. Später spricht Behrends spricht von zwei »geistigen Traditionen«:

» … die eine Tradition, die über die Sabinianer auf die veteres zurückgeht [denkt] sich ein umfassendes, alles ergreifendes und umfassend interpretierbares Recht (ein ius quod est) und mahnt daher: non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat, während die andere Tradition, die über die Prokulianer und Labeo auf Servius Sulpicius zurückgeht, sich das Recht als eine vom Menschen geschaffene, nicht erschöpfende, sondern gegenüber dem ungeregelten factum amtsrechtlich ergänzungsbedürftige, aber doch abschließend definierte Ordnung denkt und daher sagen kann: cum ius finitum et possit esse et debeat. [8]Es handelt sich um eine Sentenz des Prokulianers Neraz D. 22,6,2. Gleich ob man aber nun mit den Formalisten das Recht für eine jeweils abgeschlossene Ordnung von subsumtionsfähigen Regeln hält oder mit der Tradition der veteres für eine Summe von konkretisierungsfähigen und -bedürftigen Prinzipien, immer kann ich das Recht nur kennen, wenn ich die jeweilige Rechtstradition durchdringe.« [9]Okko Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur (1995), in: ders., Institut und Prinzip, Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden … Continue reading

Worum es dabei letztlich ging, ist für Juristen oder gar Soziologen, die mit dem römischen Recht nicht wirklich vertraut sind, schwierig nachzuvollziehen, zumal sich nicht einmal die Experten einig sind. Ihre und meine Schwierigkeiten rühren daher, dass man sich die außerordentliche Leistung der römischen Jurisprudenz ohne Methode eigentlich nicht vorstellen kann, die Römer selbst ihre Methoden aber so gut wie gar nicht explizit reflektiert haben, so dass man auf Rekonstruktionen [10]Wie etwa von Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, Wien 1986. angewiesen ist.

[Fortsetzung folgt – wahrscheinlich.]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Detlef Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Berlin [etc.] 1976, S. 197-286; Heinrich Vogt, Die sogenannten Rechtsschulen der Proculianer und der Sabinianer oder Cassianer, in: Dieter Nörr/Dieter Simon (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, Frankfurt a.M 1984, S. 515-521.These: Die beiden Rechtsschulen hat es real gegeben (Heinrich Vogt, Die sogenannten Rechtsschulen der Proculianer und der Sabinianer oder Cassianer, in: Dieter Nörr/Dieter Simon (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, 1984, 515-521).
2 Paul Jörs, Antistius 34, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I, 2, 1894, Sp. 2548–2557 [http://de.wikisource.org/wiki/RE:Antistius_34].
3 Vgl. dazu etwa Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 199ff.; Dieter Nörr, Pomponius oder »Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen«, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg) Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, 1976, S. 497-604, S. 573f.
4 Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, S. 202.
5 Liebs aaO. hat sie S. 243ff.
6 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 227.
7 Geschichte der römischen Literatur, 2012, S. 748 Fn. 5
8 Es handelt sich um eine Sentenz des Prokulianers Neraz D. 22,6,2.
9 Okko Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur (1995), in: ders., Institut und Prinzip, Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen: ausgewählte Aufsätze, 2004, 225-266, S. 263.
10 Wie etwa von Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Ausgewählte, zum Teil grundlegend erneuerte Abhandlungen, Wien 1986.

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Diszipliniert Foucault: Wahrheiten für Juristen

Wie gesagt: Ein wichtiger Schritt zur »Disziplinierung« Foucaults besteht darin, ihn in gängige Schubladen zu stopfen, auch wenn es quietscht und klemmt.

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Mit der Suche nach relativen Wahrheiten – Foucaults Gefolgschaft spricht lieber von »relationaler« Wahrheit – [2]Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann, Ni méthode, ni approche. Zur Forschungsperspektive der Gouvernementalitätsstudien – mit einem Seitenblick auf Konvergenzen und Divergenzen zur … Continue reading und Rationalitäten hat Foucault mit durchaus eigenem Akzent den postmodernen Multiperspektivismus der Kulturwissenschaften angeschoben. Seine Originalität gründet sich darauf, dass er nicht die synchrone Vielfalt der Kulturen behandelt, sondern in vertieften historischen Analysen die Kontingenz gesellschaftlicher Zustände offenlegt. Historische Rekonstruktion wurde folglich zum bevorzugten Instrument der Dekonstruktion.

Der Jurist wird sogleich den Band aufschlagen, der den Titel »Die Wahrheit und die juristischen Formen« trägt. [3]Es handelt sich um drei Vorträge, die Foucault 1973 an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro gehalten hat (La verité et les formes juridiques, Gallimard, Paris, 1994). Man kann sie als … Continue reading Hier erklärt Foucault eingangs unter vielfacher Bezugnahme auf Nietzsche seine Wahrheitstheorie und die damit verbundene »Neufassung der Theorie des Subjektes«:

»Ich möchte nun zeigen, wie es möglich ist, dass soziale Praktiken Wissensbereiche erzeugen, die nicht nur neue Objekte, neue Konzepte, neue Techniken hervorbringen, sondern auch gänzlich neue Formen von Subjekten und Erkenntnissubjekten. Auch das Erkenntnissubjekt hat eine Geschichte; auch die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, also die Wahrheit, hat eine Geschichte.
Insbesondere möchte ich auf diese Weise zeigen, wie im 19. Jahrhundert ein bestimmtes Wissen über den Menschen, die Individualität, das normale oder anomale Individuum innerhalb oder außerhalb der Regel entstehen konnte, ein Wissen, das in Wirklichkeit aus den Praktiken der sozialen Kontrolle und Überwachung hervorgegangen ist. Und ich möchte zeigen, dass dieses Wissen sich nicht einem vorhandenen Erkenntnissubjekt aufdrängte oder aufprägte, sondern eine vollkommen neue Art von Erkenntnissubjekt entstehen ließ.« (2003 S. 10)

Foucault wendet sich gegen den seit Descartes herrschenden »Primat eines ein für alle Mal vorgegebenen Erkenntnissubjekts«, dem auch der akademische Marxismus anhänge. Dieser gehe

»stets von dem Gedanken aus, dass die Kräfteverhältnisse, ökonomischen Bedingungen und sozialen Beziehungen den Individuen vorgegeben sind, sich zugleich aber einem Erkenntnissubjekt aufzwingen, das in allem mit sich identisch bleibt, nur nicht in Bezug auf die als Irrtümer verstanden Ideologien.« (S. 27)

Von Nietzsche übernimmt Foucault die Idee, dass das »Erkennen« kein anthropologischer Befund, sondern eine historische Erfindung sei. Zugleich übernimmt er von Nietzsche den »Willen zur Macht« als Rivalen des »Willens zur Wahrheit«, freilich ohne das Verhältnis beider zueinander theoretisch zu vertiefen; Foucault habe nur »eine Schrumpfform der nietzeanischen Dialektik von Macht und Wahrheit« rezipiert. [4]Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, 2006, S. 243, 245; vgl. auch S. 265. Wahrheit ist einfach nur die Kehrseite der Bildung des Erkenntnissubjekts, die sich historisch immer über eine Abfolge von agonalen Diskursen vollzieht. Hier kommt nun das Recht ins Spiel:

»Mir scheint, unter den sozialen Praktiken, deren historische Analyse die Entstehung neuer Formen des Subjekts zu lokalisieren erlaubt, sind die im engeren Sinne juristischen Praktiken die wichtigsten.« (S. 12)

»Die juristischen Praktiken, also die Art und Weise, wie man über Schuld und Verantwortung unter den Menschen urteilte; wie man in der Geschichte des Abendlandes festlegte, dass bestimmte Verhaltensweisen als Vergehen galten, nach denen die Menschen verurteilt werden konnten; wie man von bestimmten Menschen für gewisse Taten eine Wiedergutmachung verlangte und anderen eine Strafe auferlegte – all diese Regeln oder, wenn Sie so wollen, all diese Praktiken, die zwar geregelt waren, in der Geschichte aber auch ständig abgeändert wurden, scheinen mir eine der Formen zu sein, in denen unsere Gesellschaft Typen von Subjektivität definiert hat, Formen von Wissen und damit auch Beziehungen zwischen dem Menschen und der Wahrheit, die eine genauere Erforschung verdienen.« (S. 13)

Zustimmend nimmt Foucault auf Nietzsche Bezug:

»Die Erkenntnis ist also erfunden worden. Das heißt, sie … ist absolut kein Bestandteil der menschlichen Natur. Die Erkenntnis ist keineswegs der älteste Trieb des Menschen; sie ist nicht keimhaft in seinem Verhalten, seinen Strebungen und Trieben angelegt. … Die Erkenntnis ist das Ergebnis der Konfrontation und der Verbindung des Kampfes und des Kompromisses zwischen den Trieben. Weil die Triebe aufeinanderstoßen, miteinander kämpfen und schließlich zu einem Kompromiss gelangen, entsteht etwas. Und dieses Etwas ist die Erkenntnis.« (S. 17f)
Es besteht »keine Beziehung mehr zwischen der Erkenntnis und den zu erkennenden Dingen«; vielmehr handelt es sich um »ein Macht- und Gewaltverhältnis« (S. 20).

»Wenn wir Erkenntnis wirklich begreifen wollen, … wenn wir ihre Wurzel und Fabrikation erfassen wollen, müssen wir uns an den Politiker halten und uns klarmachen, dass es sich um Verhältnisse des Kampfes und der Macht handelt. Nur wenn wir diese Kampfbeziehungen und Machtverhältnisse verstehen, wenn wir uns ansehen, wie Dinge und Menschen einander hassen und bekämpfen, wie sie versuchen, die Herrschaft zu erlangen und Macht über die anderen auszuüben, können wir begreifen, was Erkenntnis ist.« (S. 24)

Deshalb

»wäre es vollkommen widersinnig, wenn man sich eine Erkenntnis vorzustellen versuchte, die nicht zutiefst parteiisch und perspektivisch wäre. Der perspektivische Charakter der Erkenntnis resultiert nicht aus der menschlichen Natur, sondern aus dem polemischen und strategischen Charakter der Erkenntnis. Man kann von einem perspektivischen Charakter der Erkenntnis sprechen, weil hier ein Kampf stattfindet und weil Erkenntnis das Ergebnis dieses Kampfes ist.« (S. 26)

Es folgt ein Durchgang durch die Rechtsgeschichte, der zeigen soll, dass in der Antike das Rechtsverfahren als Praktik der Wahrheitsproduktion noch deutlich Kampfcharakter hatte, ja sich darin erschöpfte, der dann in der Neuzeit weitgehend unsichtbar wurde (bis ihn Ihering wieder hervorzog). [5]Ausführlich wird dieser Text von Schauer a. a. O. (S-207-293) erläutert und gewürdigt.

In der Sekundärliteratur sind Zitate aus den »Dispositiven der Macht« beliebt, um den postmodernen Wahrheitsbegriff Foucaults zu verdeutlichen. Der geneigte Blogleser möge die Zitate überschlagen und nur noch den letzten Absatz lesen, denn ich habe sie mir nur vorsorglich notiert, weil ich den Foucault-Text zurückgeben musste.

»Wichtig ist, so glaube ich, daß die Wahrheit weder außerhalb der Macht steht noch ohne Macht ist (trotz eines Mythos, dessen Geschichte und Funktionen man wiederaufnehmen müßte, ist die Wahrheit nicht die Belohnung für freie Geister, das Kind einer langen Einsamkeit, das Privileg jener, die sich befreien konnten). Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie übergeregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihr ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.« (Dispositive der Macht S. 51)

Das »Wahrheitsdispositiv« wird auf der folgenden Seite weiter konkretisiert:

» – die Wahrheit ist um die Form des wissenschaftlichen Diskurses und die Institutionen, die ihn produzieren, zentriert;
– sie ist ständigen ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt (Wahrheitsbedürfnis sowohl der ökonomischen Produktion als auch der politischen Macht);
– sie unterliegt in den verschiedensten Formen enormer Verbreitung und Konsumtion (sie zirkuliert in Erziehungs- und Informationsapparaten, die sich trotz einiger strenger Einschränkungen relativ weit über den sozialen Körper ausdehnen);
– sie wird unter der zwar nicht ausschließlichen aber doch überwiegenden Kontrolle einiger weniger großer politischer oder ökonomischer Apparate (Universität, Armee, Presse, Massenmedien) produziert und verteilt;
– schließlich ist sie Einsatz zahlreicher politischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Konfrontationen (›ideologischer‹ Kämpfe).«

Noch eine Seite weiter meint Foucault,

»all dies muß ziemlich verwirrend und ungewiß klingen«, um noch einmal zusammenzufassen, dass er »unter Wahrheit nicht ›das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind‹, verstehe, sondern ›das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird«: daß es nicht um einen Kampf ›für die Wahrheit‹ geht, sondern um einen Kampf um den Status der Wahrheit und um ihre ökonomisch-politische Rolle.«

Dazu passt aus »Der Ordnung des Diskurses« (S. 25) der Satz:

»Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.«

Anke Draude interpretiert diesen Satz dahin, Wahrheit meine die objektive Wirklichkeit, während das Wahre in einer Gesellschaft diskursiv festgelegt sei. [6]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 58. Mag ja sein. Aber jedenfalls ist das bei Foucault kein durchgehender Sprachgebrauch. Der »Wille zur Wahrheit« ist allerdings wohl als – letztlich ohnmächtiger – Wille zur objektiven Wahrheit zu verstehen.

Für die Rechtstheorie ist zweierlei wichtig. Erstens – das liegt auf der Hand – steckt hinter der Wahrheitstheorie Foucaults eine Konflikttheorie, die sich mit derjenigen Iherings kombinieren lässt. Foucault hat seine konflikttheoretische Sichtweise als »Genealogie des Wissens« näher ausgeführt. Davon soll in einem späteren Eintrag noch die Rede sein. Zweitens ist der Wahrheitsbegriff Foucaults kein Wahrheitsbegriff im epistemologischen Sinne, sondern ein Geltungsbegriff. Als solchen kann man ihn mit dem juristischen und dem rechtssoziologischen abgleichen – was ich jetzt so schnell nicht leisten kann. [7]Diese Aufgabe hatte ich noch nicht gesehen, als ich im letzten Jahr in vier Einträgen die Rechtsgeltungslehre Luhmanns behandelte.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im letzten Eintrag hatte ich geschrieben, es gebe radikalere Konstruktivisten als Foucault. Das kommt mir jetzt widersprüchlich vor. Die Differenz erklärt sich aus dem Unterschied zwischen epistemischem und Sozialkonstruktivismus. Hier ist letzterer gemeint.
2 Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann, Ni méthode, ni approche. Zur Forschungsperspektive der Gouvernementalitätsstudien – mit einem Seitenblick auf Konvergenzen und Divergenzen zur Diskursforschung, in: Johannes Angermüller/Silke van Dyk (Hg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung, 2010, 23-42, S. 25.
3 Es handelt sich um drei Vorträge, die Foucault 1973 an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro gehalten hat (La verité et les formes juridiques, Gallimard, Paris, 1994). Man kann sie als Fortsetzung der »Ordnung des Diskurses« lesen.
4 Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, 2006, S. 243, 245; vgl. auch S. 265.
5 Ausführlich wird dieser Text von Schauer a. a. O. (S-207-293) erläutert und gewürdigt.
6 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 58.
7 Diese Aufgabe hatte ich noch nicht gesehen, als ich im letzten Jahr in vier Einträgen die Rechtsgeltungslehre Luhmanns behandelte.

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Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung und der Vertrag als Rechtsquelle

Im Eintrag vom 29. 4. 2010 hatte ich eine Stelle aus Luhmanns Geltungsaufsatz von 1991 zitiert, in der davon die Rede ist, das zirkulierende Geltungssymbol solle den Rechtsquellenbegriff ersetzen. Hier noch einmal das (gekürzte) Zitat:

»Im Anschluß an eine Terminologie, die Talcott Parsons in seiner Theorie symbolisch generalisierter Tauschmedien benutzt, kann man auch von einem im System zirkulierenden Symbol sprechen und damit die Metapher der Quelle durch die Metapher des Zirkulierens ersetzen.« [1]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.

Mit der ihm eigenen Souveränität erklärt uns Luhmann, wenn man seine Theorie der Rechtsgeltung akzeptiere und mit ihr »Quelle« durch »Zirkulation« ersetze, so führe das »zu weitreichenden Änderungen der theoretischen Beschreibung des Rechtssystems«. [2]S. 283.

»Mit dem formalen Begriff der Geltung in Anspruch nehmenden und transportierenden Operation können mehr Tatbestände erfaßt werden, als mit dem Begriff der Rechtsquelle. Diese Ausweitung unterläuft klassische Einteilungen des Rechts – insbesondere die Einteilung von öffentlichem Recht und Privatrecht und die Einteilung von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Vor allem aber gelingt es auf diese Weise, die mit der Vertragsfreiheit gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten einzubeziehen. Wir hatten bereits notiert [3]Bei Fn. 8 unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 12. Savignys Text ist in im Internet verfügbar: … Continue reading, daß Savigny Verträge aus dem Bereich der Rechtsquellen ausgeschlossen hatte. Das kam der zeitgenössischen Vorstellung eines ›unpolitischen‹ Privatrechts entgegen und lenkte im Kontext der liberalen Ideologie davon ab, daß Private mit dem Instrument der Verträge die öffentliche Gewalt dazu zwingen können, zu ihren Gunsten zu intervenieren, ohne daß der Vertragsinhalt zuvor politisch kontrolliert worden wäre.« [4]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.

Um den Vertrag als Rechtsquelle zu erfassen, braucht es Luhmanns Geltungstheorie nicht, wenn man die Privatautonomie als eine vom Recht verliehene Kompetenz versteht [5]So ohne die Nachhilfe Luhmanns schon die erste Aufl. der Allg. Rechtslehre 1994. S. 238, 558f., ein Verständnis, dass Savigny allerdings noch fernlag. In Fußnote auf S. 12 erklärt dieser die »irrtümliche« Einordnung des Vertrages als Rechtsquelle mit dem »vieldeutigen Ausdruck Autonomie«. Versteht man Privatautonomie nicht als originäre, sondern als rechtlich verliehene oder jedenfalls geordnete Kompetenz, dann wird auch klar, dass auch der Inhalt privater Verträge wenn nicht politisch, so doch rechtlich kontrolliert wird, ein Thema, dass heute unter dem Aspekt der Materialisierung des Vertragsrechts breit abgehandelt wird.

Gunther Teubner, der zwar nicht explizit, aber in vielen Formulierungen Luhmanns Geltungslehre übernimmt, sieht die notwendige Veränderung der traditionellen Rechtsquellenlehre »sehr viel radikaler«:

»Der globale Kontext, in dem keine bereits bestehenden Rechtsordnung eine Geltungsquelle globaler Verträge darstellt, nötigt uns dazu, den Vertrags selbst als Rechtsquelle anzuerkennen, gleichgeordnet neben Richterrecht und Gesetzgebung.« [6]A. a. O. S. 22.
In der Sache geht es dabei um die berühmt-berüchtigte lex mercatoria. Teubner fragt:
»Wie ist es denkbar, daß sich, ohne daß ein globales politisches System oder globale Rechtsinstitutionen existierten, ein globaler Rechtsdiskurs auf der Grundlage binärer Codierung und mit Anspruch auf globale Geltung ohne Fundierung in einem nationalen Recht etabliert?« [7]A.a.O. S. 17.

Ich sehe hier von Teubners begriffssoziologischer Konstruktion der »Selbstvalidierung des Vertrages« ab und ziehe nur das Ergebnis in Betracht:

»Private Schiedsgerichte und private Gesetzgebung werden auf diese Weise zum Mittelpunkt eines Entscheidungssystems, das eine Hierarchie von Normen und Entscheidungsstellen zu errichten beginnt.«

Von unserem Standpunkt der Relativität der Rechtsquellenlehre kann ich dem ohne weiteres folgen. Die lex mercatoria ist Rechtsquelle für das Entscheidungssystem der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, aber nicht Rechtsquelle schlechthin. So dürfte Teubner das aber wohl nicht gemeint haben, auch wenn er vielfach die »Fragmentierung« des Rechts in viele »Privatregimes« betont. Deshalb will ich doch noch einmal auf die Frage nach der Universalität des Rechtssystems zurückkommen.

Das Phänomen, um dessen theoretische Erfassung viele Autoren kämpfen, ist die Tatsache, dass es so etwas wie einen globalen Rechtsdiskurs gibt. Ich wiederhole noch einmal ausführlicher das Teubner-Zitat aus dem Beitrag vom 21. 4. 2014:

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert. Das erste Kriterium – binäre Codierung – unterscheidet globales Recht von ökonomischen und anderen sozialen Prozessen. Das zweite Kriterium – globale Geltung – grenzt globales Recht von nationalen und internationalen Rechtsphänomen ab.« [8]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Das erste Kriterium, Luhmanns Recht/Unrecht-Code, hat selbst keinerlei Globalisierungsbezug. Daher wird das zusätzliche Kriterium »globale Geltung« eingeführt. Entgegen dem ersten Anschein, ist wohl keine universelle Geltung, sondern (nur) »transnationale« Geltung gemeint, nämlich »Geltung jenseits der Nationalstaaten und sogar jenseits der inter-nationalen Beziehungen« (A. a. O. S. 11.)). Für solche Geltung bietet auch Teubner letztlich kein anderes Erkennungsmerkmal als die Existenz eines Entscheidungssystems, in diesem Fall, der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit.

Der Rechts/Unrecht-Code hat, wie gesagt, keinerlei Globalisierungsbezug. Er hat aber auch keinen Bezug auf nationale oder sonstige Rechtssysteme beschränkter Reichweite. Insofern eignet er sich durchaus zur Identifizierung eines universellen Rechtssystems. Klaus Günther spricht von einem universalen Code der Legalität. [9]Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, FS Habermas, 2001, 539-567; ders., Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. … Continue reading Die verschiedenen Akteure (Anwälte, Gesetzgeber, NGOs, Schiedsrichter) seien stets in der Lage, auftauchende Fragen auf der Basis grundlegender Vorstellungen von Rechten und fairen Verfahren, von Sanktionen und Kompetenzen als Rechtsthemen zu behandeln. Das gelinge aber nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass »Recht« eben doch etwas Einheitliches sei. Günthers »Code« ist gehaltvoller als die bloße Unterscheidung von Recht und Unrecht. Man soll ihn sich als eine Art Metasprache vorstellen, die grundlegende Vorstellungen von Rechten und fairen Verfahren, von Sanktionen und Kompetenzen enthält, wie sie durch historische Erfahrungen geprägt wurden. Eine juristische Rechtsquellenlehre kann sich auf so vage Vorstellungen nicht einlassen. Sie beansprucht Geltung immer nur für ein Entscheidungssystem. Daran kann und will auch Luhmanns Theorie der Rechtsgeltung als zirkulierendes Symbol nicht ändern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279; ähnlich, aber ohne Anspruch auf Ersatz der Rechtsquellenmetapher RdG S. 107.
2 S. 283.
3 Bei Fn. 8 unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 12. Savignys Text ist in im Internet verfügbar: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10565865_00068.html.
4 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
5 So ohne die Nachhilfe Luhmanns schon die erste Aufl. der Allg. Rechtslehre 1994. S. 238, 558f.
6 A. a. O. S. 22.
7 A.a.O. S. 17.
8 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
9 Klaus Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, FS Habermas, 2001, 539-567; ders., Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. Globalisation as a Problem of Legal Theory, 2008, http://www.helsinki.fi/nofo/NoFo5Gunther.pdf; ders./Shalini Randeria, Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozess der Globalisierung, 2001.

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