Libertäre Begriffsklauberei zu Nudge und Co: Legal Design, Choice Architecture, Cloverleaf Effect

Das Nudging-Konzept von Thaler und Sunstein ist so erfolgreich, dass nicht einmal mehr eine Quellenangabe notwendig erscheint. Mich reizt es nur noch zu einer Begriffsklauberei.[1]

Im deutschen Sprachraum läuft das Konzept unter dem Titel »Libertärer Paternalismus«. Dabei handelt es sich wohl nur um eine Übernahme der Ausdrucksweise von Thaler und Sunstein[2], die sich für diese Wortwahl in »Nudge« grob auf Milton Friedman beziehen.[3] Allerdings haben sie schon 2003 ihre Form des Paternalismus als libertär verteidigt[4] und sich dabei auf ein Buch von David Boaz[5] bezogen. Ich habe dieses Buch durchgeblättert, soweit es Google Books zuließ, und bin aus dem Unterschied zwischen liberal und libertär nicht wirklich schlau geworden. Klar ist nur, dass bei Libertären die Distanz zum Staat größer ist als bei Liberalen.[6]

Choice architecture ist wohl eine eigene Begriffsschöpfung von Thaler und Sunstein.[7] Sie verstehen darunter die Gestaltung des Kontextes, in dem Menschen Entscheidungen treffen.[8] Ein nudge ist nur eines unter vielen Bauelementen, die dem Entscheidungsarchitekten zur Verfügung stehen.

Vorläufer von choice architecture waren information architecture und decision architecture. Information architecture ist seit Mitte der 1970er Jahre in der Informatik geläufig.[9] Eine Firma Decision Architects wirbt seit 2006 mit ihrem Namen. Ein Vorgänger war auch Bryan D. Jones mit dem Titel »Politics and the Architecture of Choice« von 2001. Freilich verwendet Jones architecture nicht im Hinblick auf die Gestaltung der für den Entscheider externen Situation, sondern für die interne kognitive Struktur (human cognitive architecture), welche die bounded rationality ausmacht, beschreibt dann aber, wie durch Gestaltung des Vorfelds der Entscheidung deren Rationalität verbessert werden kann. Erst bei Thaler und Sunstein wird architecture zu der gestaltbaren Umgebung des in seiner Rationalität begrenzten Individuums. Die deutsche Übersetzung mit Entscheidungsarchitektur ist nicht voll befriedigend, denn sie lässt nicht erkennen, ob hier über Architektur entschieden wird oder ob ein Architekt Entscheidungen gestaltet.

Die entscheidungslenkende Gestaltung kann zwei Richtungen annehmen. Erstens kann sie versuchen, die Entscheidung so zu lenken, dass moglichst viele der Heuristiken, kognitiven Täuschungen und Prägungen, die eine rationale Entscheidung verhindern, nicht zum Zuge kommen. Und zweitens kann sie genau diese Fesseln der Rationalität nutzen, um Menschen zu einer vollends irrationalen Entscheidung zu drängen. In diesem zweiten Sinne sind Konzept und Begriff der choice architecture von Ökonomie, Marketing und Industrie gierig aufgegriffen worden, so dass man darunter heute in erster Linie die Lenkung des Konsumentenverhaltens im Sinne der Anbieter versteht. Deshalb steht das Konzept unter besonderem Manipulationsverdacht.

Bei Thaler und Sunstein benennt choice architecture das theoretisches Konzept und ist damit eher noch wichtiger als nudge, bezeichnet letzteres doch nur dessen in den Augen der Autoren freilich wichtigste Konkretisierung. In Juristenkreisen ist die Rede über choice architecture erst durch Einträge im Verfassungsblog und den daran anschließenden Tagungsband[10] geläufig geworden. Kein Wunder, dass die Nudge-Debatte fast nur als Paternalismus-Debatte unter dem Gesichtspunkt des Ob geführt wird, obwohl choice architecture im Recht der Sache nach seit eh und je stattfindet. Jede Formvorschrift, jede Frist, jede Belehrung, jedes Formular, das es auszufüllen gilt, wird zum Kontext einer Entscheidung. Interessanter scheint mir jetzt eine Debatte um das Wie zu sein, die im Rahmen von Gesetzgebungslehre und Rechtswirkungsforschung die bereits verwirklichten[11] und weiter denkbaren Gestaltungsmöglichkeiten für eine nicht unmittelbar imperative Steuerung durch Recht aufzeigt, welche zugleich auf direkte materielle Anreize verzichtet.

Choice architecture als Begriff lässt noch keine Beziehung zum Recht erkennen. Hier kommt nun legal design als neuer Ausdruck ins Spiel. Der Begriff ist eigentlich besetzt mit der Bedeutung als legal information design.[12] Aber nicht bloß Information[13] als solche, sondern ihre adressatengerechte Gestaltung = information design ist wesentlicher Bestandteil jeder Entscheidungsarchitektur. Daher wäre der frühere Gebrauch kein Hindernis, dem Ausdruck nunmehr den umfassenderen Sinn von choice architecture zu geben.

In diesem Zusammenhang sind mir zwei weitere Begriffe aufgefallen, die ich jedenfalls erwähnen will, cloverleaf design und gamification[14] In beiden Fällen geht es nicht abstrakt um das Konzept der Kontextgestaltung, sondern um architektonische Stilmittel zu seiner Ausfüllung, um Stücke aus dem Werkzeugkasten der Entscheidungsarchitektur. Ich behaupte nicht, dass die beiden Ausdrücke in der Nudge-Debatte gebraucht werden sollten. Aber ich will sie jedenfalls vorstellen, weil sie insofern einen Kontrast zum Ausdruck bringen, als das eine Werkzeug die Kosten erwünschten Verhaltens erhöht, während das andere das erwünschte Verhalten versüsst.

Auf den Kleeblatt-Effekt (cloverleaf effect) bin ich bei der Lektüre von Lawrence M. Friedmans »Impact« gestoßen.[15] Friedman gibt dem Begriff Gewicht, indem er ihn auf Karl Llewellyn zurückführt, nennt freilich nur Marc Galanter als nicht weniger gewichtige Quelle vom Hörensagen. Hier die komplette Beschreibung durch Friedman:

»A cloverleaf, then, is a device that forces behavior into a certain, desirable groove. You could, theoretically, make drivers slow down when they leave the highway by imposing fines, or even (theoretically) by handing out free candy and cookies to drivers. You could mount an educational campaign. The cloverleaf takes a different tack: it more or less compels the driver to obey. The cloverleaf, in short, makes compliance easier than noncompliance. A fairly reckless but skillful driver can, of course, ignore the cloverleaf and zoom at full speed off the highway, but this is quite dangerous. Most drivers will react to the cloverleaf as expected; that is, by slowing down.« (S. 147)

Das Kleeblatt dient als Metapher für Gestaltungen, die erwünschtes Verhalten erzwingen oder unerwünschtes jedenfalls stark erschweren. Friedman meint, das Recht sei voll von solchen Arrangements, und nennt als Beispiel den Lohnsteuerabzug vom Arbeitslohn. Andere Beispiele, an die man denken könnte, wären die Verschreibungspflicht für Arzneimittel oder der für einen Schwangerschaftsabbruch notwendige Beratungsschein.

Gamification ist auch im Englischen ein Neologismus. Dafür gibt es keine ansprechende Eindeutschung, aber immerhin einen Wikipedia-Artikel. Gamifikation klingt nicht besser als Verspielung. Gemeint ist die Anwendung spielerischer Elemente, um auf ein erwünschtes Verhalten hinzuführen. Beispiele aus dem Rechtsbereich habe ich nicht gefunden.

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[1] Anlass zu diesem Eintrag gibt mir ein Vortrag, den Johanna Wolff am 25. 1. im Bochumer Habilitandenforum über »Nudging und die Energiewende« gehalten hat. Für mich war der Vortrag wichtig, weil er mir die Augen dafür geöffnet hat, dass die Verwaltung viele Möglichkeiten hat, auch ohne gesetzliche Grundlage von den Möglichkeiten der entscheidungssteuernden Kontextgestaltung Gebrauch zu machen.

Nachtrag: Von Wolff jetzt die Habilitationsschrift: Anreize im Recht. Ein Beitrag zur Systembildung und Dogmatik im Öffentlichen Recht und darüber hinaus, 2020.

[2] Diskussionshinweis von Karl Riesenhuber.

[3] Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein. Nudge, Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness, 2009, dort S. 5 bei Fn. 2. Im Text wird Milton Friedman genannt. Verwiesen wird auf ein Buch von Milton Friedman und Rose Friedman (Free to Choose, 1980). Die Suche nach libertarian und paternalism in Google Books ergibt nur für paternalism zwei Treffer. Im Index kommt libertarian nicht vor. Für paternalism werden im Index vier weitere Fundstellen angezeigt. Die zugehörigen Seiten sind bei Google Boks aber nicht sichtbar.

[4] Cass R. Sunstein/Richard H. Thaler, Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron, The University of Chicago Law Review 70, 2003, 1159-1202.

[5] David Boaz, Libertarianism, A Primer, New York 1998.

[6] Robert Nef erklärt den Unterschied so: »Libertäre und Liberale, oder ›Wirtschaftsliberale‹ und ›Sozialliberale‹ unterscheiden sich punkto Staatsskepsis und Staatsakzeptanz auf jeden Fall graduell, möglicherweise aber auch prinzipiell. Sie finden ihren Zusammenhalt nur in der gemeinsamen Ablehnung des Anarchismus einerseits und des totalitären Etatismus anderseits.« (Und alle wollen Liberale sein, Schweizer Monatshefte Nr. 3/4, 2006, S. 7).

[7] Der Index von Nudge verzeichnet 30 Verwendungen. Vgl. ferner das SSRN-Paper von Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein/John P. Balz, Choice Architecture, 2010. Als Vorläufer gab es noch ein SSRN-Paper von 2007: Shlomo Benartzi/Ehud Peleg/Richard H. Thaler, Choice Architecture and Retirement Saving Plans, 2007.

[8] Nudge S. 3.

[9] Vgl. etwa Louis Rosenfeld/Peter Morville, Information Architecture for the World Wide Web, 2. Aufl., Cambridge, Mass 2002.

[10] Alexandra Kemmerer/Christoph Möllers/Maximilian Steinbeis/Gerhard Wagner (Hg.), Choice Architecture in Democracies, Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016.

[11] Johanna Wolff interpretiert das Erfordernis der Partnermonate für den längeren Bezug von Elterngeld wegen des finanziellen als eine nugde-ähnliche (hybride) Methode der Verhaltenslenkung (›Partner Months‹ and the Fundamental Rights of Parents – Considerations on the Legitimacy of Nudges and ›Nudgy Legislation‹, in: Alexandra Kemmerer u. a. (Hg.), Choice Architecture in Democracies, Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016, 225-265.

[12] Colette R. Brunschwig, Visualisierung von Rechtsnormen. Legal Design, 2001; vgl. ferner mehrere Einträge im Blogbuch »Recht anschaulich«.

[13] In dem vorgenannten Tagungsband befasst sich Oren Bar-Gill mit »Information and Paternalism« (S. 267-269) und bedenkt die Information von Verbrauchern durch Offenlegungs- und Aufklärungspflichten als zulässige und wirksames nudging. Er verliert jedoch kein Wort darüber, dass die sanfte Verhaltenslenkung mit Informationen durch harte Gebote an Dritte erzielt wird, die ihrerseits der Rechtfertigung bedürfen.

[14] Den Hinweis auf diesen Begriff verdanke ich Johanna Wolff.

[15] Lawrence M. Friedman, Impact. How Law Affects Behavior, Cambridge, Massachusetts 2016, S. 147ff.

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Ästhetische Diskriminierung

Das »Recht als Gegenstand der Ästhetik« ist zum Thema geworden.[1] Da liegt es nahe zu fragen: Handelt es sich um eine rechtlich oder auch nur moralisch relevante Diskriminierung, wenn ein Vermieter unter zwei Interessenten den auswählt, der ohne Tattoos daher kommt und eher nach seinem Geschmack gekleidet ist? Ich kann mich daran erinnern, dass ich vor vielen Jahren einmal einen Studenten, der sich um eine Hilfskraftstelle beworben hatte, zurückgewiesen habe, weil ich den Anblick eine gepiercten Mannes nicht ertragen wollte. Darf man öffentlich oder privat bestimmte Verhaltensweisen »geschmacklos« nennen, etwa bestimmte Sexualpraktiken? Bei aller Menschenliebe gibt es doch Zeitgenossen, die man nur mit der Zange anfassen möchte (solange sie nicht in Not sind).

Die Sache ist problematisch, weil das Geschmacksurteil weithin durch Normalitätsvorstellungen geprägt ist, solche Vorstellungen aber vielfach Minderheiten diskriminieren. Zumal Rassismus hat wohl eine starke »ästhetische« Komponente. Nicht nur Minderheiten, auch Frauen sind von negativen Geschmacksurteilen, nicht zuletzt durch ihre Geschlechtsgenossinnen, eher betroffen als Männer, weil sie allgemein körperbetontere Kleidung tragen und darüber hinaus um ihr Erscheinungsbild mehr oder jedenfalls augenfälliger bemüht sind, so dass auch häufiger Missgriffe zu verzeichnen sind, etwa stämmige Beine auf superschlanken Stilletos, die sich fast täglich im Fernsehen bestaunen lassen.

Es lässt sich sicher darüber diskutieren, ob solche Geschmacksurteile die Auszeichnung als ästhetisch verdienen. Zur Hälfte beruhen sie auf Tradition und Gewohnheit. Ein Christ, der seine Kirche liebt und sich selbst beobachtet, wird feststellen, dass die Liebe viel mit ästhetischen Qualitäten zu tun hat, mit historischen Kirchenräumen, mit vertrauten Texten, mit Chorälen und Kirchenmusik, kurz mit Farben, Formen und Klängen, und so er katholisch ist, auch mit Gerüchen, die ihm seit der Kindheit vertraut sind. Er wird seine Kirche mit dem vergleichen, was er vom Islam hört, sieht und riecht. Natürlich kennt und schätzt er von Reisen und aus Museen, aus Büchern und von Bildern die wunderbare Architektur, Ornamentik und Kalligraphie des mittelalterlichen Islam. Doch was er in seiner deutschen Umgebung wahrnimmt, dürfte seine Sinne kaum ansprechen. Ein Besuch in der großen Moschee in Duisburg-Marxloh ist eine ästhetische Enttäuschung. Die neobyzantinische Architektur mag noch hingehen, aber die Dekoration wirkt schablonenhaft, die Farben stammen anscheinend aus dem Baumarkt und der Geruch ist jedenfalls kein Weihrauch. Ist dieser Eindruck ein Ausdruck von Islamophobie?

Schönheit macht erfolgreich und glücklich.[2] Schöne Menschen erzielen materielle und immaterielle Vorteile. Ihr Aussehen wird nicht nur auf dem Partnermarkt honoriert, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt, und sie steigert direkt und indirekt das Wohlbefinden. In der Gleichheitsdiskussion wagt man sich an Schönheit als diskriminierenden Faktor nicht heran, weil er bis zu einem gewissen Grade als naturgegeben und nicht gesellschaftspolitisch beeinflussbar gilt. Aber Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters, und so ist diese Enthaltsamkeit[3] im Zeitalter des Konstruktivismus eher überraschend.

Es besteht wohl kein Zweifel, dass professionelles Verhalten gegenüber anderen Menschen nicht von ästhetischen Differenzierungen geleitet werden darf. Juristische Auslegungskunst hätte keine unüberwindlichen Schwierigkeiten, ästhetische Differenzierungen als Diskriminierung zu ächten, wenn sie zu Benachteiligungen im Anwendungsbereich des § 2 AGG führen. Fehlende körperliche Schönheit ließe sich als Behinderung interpretieren. Ästhetisch abgelehnte Verhaltensweisen werden sich oft als unerwünschte Verhaltensweisen im Sinne von § 3 III AGG einordnen lassen.

Eigentlich wollte ich hier für die Freiheit des ästhetischen Urteils auch über Menschen und ihre Verhaltensweisen plädieren. Aber nun befürchte ich, dass ich mich damit auf ein Minenfeld begeben habe. Vielleicht meldet sich ja ein Minenräumer.

Nachtrag: Ältere, immer noch gute Literaturzusammenstellung: Jürgen Maes, Physische Attraktivität – eine gerechtigkeitspsychologische Frage, GiP-Bericht Nr. 139, 2001. Zu Fn. 2: Lesenswert im Tagesspiegel vom 9. 10. 2016 der Artikel Lookismus: Bevorzugung des Schönen.

Nachtrag vom 11. 4. 2021: Dazu heute in der FamS ausführlich und gut: Justus Binder, Ugly Lives Matter. Bender wiegelt allerdings ab. Das Problem sei nach Auskunft aller Fachleute unlösbar, denn es handele sich nicht um die strukturelle Diskriminierung einer Gruppe, sondern um ein jeweils individuelles Problem. Dass es sich um ein individuelles, nicht an Gruppenmerkmalen festzumachendes Problem handle, stimmt allerdings nicht damit überein, dass Bender zuvor Untersuchungen anführt, nach denen das Schönheitsurteil über Individuuen bei verschiedenen Beobachtern einhellig ausfällt:

»Außenstehenden wurden Fotos der Kinder gezeigt. Sie waren erbarmungslos einig, welches Kind auf einer Skala von 0 bis 6 hübsch war und welches nicht.«

Wenn man tatsächlich der Ansicht ist, dass das Problem sich nicht gesetzgeberisch lösen lässt, wie der von Bender zitierte FDP-Politiker – eine Ansicht, die ich teile –, dann ist als Konsequenz wohl auch bei anderen »strukturellen« Diskriminierungen mehr Zurückhaltung geboten. Auf der anderen Seite gilt es, Funktionäre, die Chancen verteilen oder entziehen wie Lehrer und Richter für ihre »Vorurteile« zu sensibilisieren.

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[1] Helge Dedek, Die Schönheit der Vernunft – (Ir-)Rationalität von Rechtswissenschaft in Mittelalter und Moderne, Rechtswissenschaft 1, 2010, 58-85; Rolf Gröschner, Judiz – was ist das und wie läßt es sich erlernen?, Juristenzeitung 1987, 903-908; Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 1991; Michael Kilian, Vorschule einer Staatsästhetik, Zur Frage von Schönheit, Stil und Form als – unbewältigter – Teil deutscher Verfassungskultur im Lichte der Kulturverfassungslehre Peter Häberles, FS Häberle, 2004, 31-70; Joachim Lege, Ästhetik als das A und O »juristischen Denkens«, Rechtsphilosophie (RphZ) 1, 2015, 28-36; Edward M. Morgan, The Aesthetics of International Law, Toronto 2007; Gerhard Plumpe, Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhunert, Archiv für Begriffsgeschichte 23, 1979, 175-196; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, § 14: Ästhetik des Rechts (in der 5. Aufl. von 1956 S. 205-208); Andreas Reckwitz u. a. (Hg.), Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, 2015; Klaus F. Röhl, Zur Rede vom multisensorischen Recht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/2013, 51-75; Pierre J. Schlag, The Aesthetics of American Law, Harvard Law Review 115, 2002, 1047-1118; Eva Schürmann, Das Recht als Gegenstand der Ästhetik?, Rechtsphilosophie (RphZ) 1, 2015, 1-12; Arno Scherzberg u. a. (Hg.), Kluges Entscheiden, 2006; Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts (1947) mit einer Einleitung von Andreas von Arnauld und Wolfgang Durner (S. I-XLII), 2007; Cornelia Vismann, Das Schöne am Recht, 2012.

[2] Daniel S. Hamermesh/Jason Abrevaya, Beauty Is the Promise of Happiness?, IZA Discussion Paper No. 5600, 2011.

[3] Gesucht habe ich u. a. in dem Heft 2/2016 der Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Aber auch dort habe ich den Suchbegriff »ästhetisch« nur in dem Artikel von Ansgar Thiel u. a. über »Körperlichkeit als Devianz. Zur sozialen Konstruktion des übergewichtigen Körpers und ihrer Folgen« (S. 37-48) gefunden. Dort heißt es (S. 39), insbesondere die »Bildsprache der Fitnessbewegung der 1970er und 1980er Jahre habe ein ästhetisches Element« in den Diskurs eingebracht.

 

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Recht muss anthropozentrisch bleiben – was sonst?

Der erste Eintrag des neuen Jahres enthält eine prononciert normative Äußerung, auf die ich sonst verzichte, wiewohl ein normativer Überschuss natürlich meist nicht zu vermeiden ist.

Die potenziell grenzenlose Ausdeutbarkeit von Grund- und Menschenrechten führt zu deren Verschleiß, wenn kein dauerhaftes soziales Einverständnis sie rechtlich und sozial fixiert. Dieses Einverständnis schien lange selbstverständlich zu sein. Menschenrechte sind eben Menschenrechte und keine Tierrechte und schon gar keine Pflanzenrechte. Aber eine breite Tierrechtsbewegung marschiert, um die normative Differenz zwischen Mensch und Tier einzuebnen, prominent vertreten etwa durch das Great Ape Project[1], dessen Protagonisten gewisse Menschenrechte auch für Hominiden fordern.

In dem Eintrag vom 30. April 2013 habe ich kritisch über eine rechtspolitische Diskussion über den Schutz der »Pflanzenwürde« berichtet. Seither ist die wissenschaftliche Literatur zum Thema weiter angewachsen.[2] Längst ist über Tier- und Pflanzenrechte so viel gesagt und geschrieben worden, dass kaum noch neue Argumente zu entdecken sind. Das wohl jüngste Argument beruft sich auf das Anthropozän-Konzept, das besagt, wir seien in ein Zeitalter eingetreten, in dem nicht länger die Natur, sondern die Menschen die Gestalt der Erde und das Leben auf ihr formten. Sozusagen als Gegengewicht sollen Teilen der Natur, Tieren und Landschaften, eigene Rechte zugestanden werden.[3]

Es ist müßig, weiter über ontologische Differenzen zwischen Mensch und Tier zu streiten. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Mensch ein höheres Tier. Es lohnt sich auch kaum, darüber zu diskutieren, ob die traditionelle Auffassung, der Mensch unterscheide sich vom Tier durch seinen Vernunftgebrauch, haltbar ist. Dadurch verlagert sich der Streit nur auf den ohnehin problematischen Vernunftbegriff. Man kann Tieren weder Kognitionen noch Emotionen absprechen.

Das ändert nichts daran, dass bisher kaum eine empirische Grenze so scharf ist, wie diejenige zwischen Mensch und Nichtmensch. Bisher ist jedenfalls kein Fall bekannt, indem die Eigenschaft eines Lebewesens als Mensch oder Nichtmensch zweifelhaft gewesen wäre. Insbesondere auch die Artgrenze zwischen Mensch und Tier hat seit unvordenklicher Zeit gehalten, wiewohl auch sie grundsätzlich nicht evolutionsfest ist.

Es bleibt verdienstvoll, in dieser Situation den »Anthropozentrismus des juristischen Personenbegriffs«[4] aufzuarbeiten. Gezeigt wird aber nur, was wir schon immer wussten: Rechtstechnisch ist es überhaupt kein Problem, bestimmten Teilen der belebten oder unbelebten Natur Rechtsfähigkeit zu verleihen und ihnen in der Folge auch subjektive Rechte zuzuerkennen.[5] Die Privilegierung des Menschen, die als Anthropozentrismus geläufig ist, hat eine religiöse und eine logozentrische Begründungtradition. Selbstverständlich wird diese Tradition heute, wie alles, was selbstverständlich erscheint, in Frage gestellt.

Die Diskussion um Rechte für die Natur ist nicht länger ein rationaler Diskurs im Sinne von Habermas, sondern ein Machtdiskurs im Sinne Foucaults, in dem nicht mehr Argumente, sondern Fußnoten zählen. Wer sich äußert, äußert sich in der Regel im Sinne der Tierrechtsbewegung. Die Mehrheit bleibt stumm, bis sie eines Tages nicht mehr reden darf. Es ist daher an der Zeit, Farbe zu bekennen.

Ganz gleich, ob es eine fundamentale Grenze zwischen Mensch und Tier gibt: Ich ziehe eine Grenze – oder vielmehr, ich folge all denen, die eine solche Grenze ziehen. Die große Errungenschaft der Grund- und Menschenrechte verliert durch die Proliferation ins Tier- oder gar ins Pflanzenreich an Kraft. Solange Milliarden Menschen nicht in Frieden und Freiheit leben, solange sie hungern, leiden und Ungleichheit ertragen müssen, gilt es, die Grund- und Menschenrechte auf diese Menschen zu konzentrieren. Naturschutz und Tierschutz sind diesem Ziel untergeordnet.

Solche Privilegierung des Menschen muss nicht unbedingt deontologisch begründet werden. Ich ziehe einen bescheidenen Utilitarismus vor. Bescheiden, weil es nicht um das größte Glück, sondern nur um die Ausräumung großen Unglücks geht. Deshalb müssen Naturschutz und Tierschutz nicht zurückstehen, Utilitarismus verlangt auch die Verringerung tierischen Leids. Ein menschenzentrierter Utilitarismus inkorporiert ferner das Prinzip der Nachhaltigkeit, das ohne intensiven Naturschutz nicht zu halten ist. Damit wird die Frage, welche Schmerzen, Leiden oder Schäden Tieren zugefügt werden und wann sie getötet werden dürfen, zu einer Frage der Verhältnismäßigkeit, bei deren Beantwortung das Wohl von Menschen ein deutliches Übergewicht erhält. Es wiegt so schwer, dass im Interesse menschlichen Wohlergehens selbst die Tötung von Tieren zulässig ist. Alles andere wäre Heuchelei.

Auf Dauer schließt diese Sichtweise nicht einmal aus, dass auch Tieren Rechte zugestanden werden. Es handelt sich, wie gesagt, um ein rechtstechnisches Problem. Wenn dem Menschen durch Tierrechte besser gedient wäre als ohne, sollte man sie einrichten.

Juristen könnten – besser noch als Theologen – wissen, dass sich nicht das dominium terrae der biblischen Schöpfungsgeschichte, sondern allenfalls eine bestimmte Auslegungstradition für die ökologische Krise der Welt verantwortlich machen lässt. Die Einordnung des gegenwärtigen Erdzeitalters als Anthropozän bestätigt das dominium terrae nicht als Imperativ, sondern als Faktum. Wenn darauf überhaupt noch eine Reaktion möglich, dann nur als solche von Menschen, die den Schaden, den sie angerichtet haben, zu begrenzen und vielleicht ein wenig zu reparieren suchen. Hier sind allein Menschen als Pflichtsubjekte gefordert. Deshalb sollten sie auch als Rechtsubjekte privilegiert bleiben.

Ohnehin werden Tierrechte bald nur noch einen Nebenschauplatz bilden. Die neuen Möglichkeiten zu einer Genveränderung mittels CRISPR/Cas9 und die heraufziehende künstliche Intelligenz bilden die Zukunftsfront, an der es die Menschlichkeit zu verteidigen gilt und die erst recht einen anthropozentrischen Standpunkt fordert.

Nachtrag: Die Argumente sind, wie gesagt, getauscht. Es wäre langweilig sie zu wiederholen. Aber ich will doch jedenfalls auf eine Darstellung verweisen, die ich mir gerne zu eigen mache: Heike Baranzke, Natur als Subjekt von Eigenrechten — eine sinnvolle Rede?, in: Gerald Hartung/Thomas Kirchhoff (Hg.), Welche Natur brauchen wir?, 2014, 439-460.

Und noch ein Nachtrag: Mitte März 2017 meldete die Presse, das Parlament in Wellington/Neuseeland habe dem Whanganui River auf Wunsch der Maori Rechtspersönlichkeit verliehen und ihm einen Vertreter der Maori und einen Verteter der Regierung als Treuhänder bestellt. Der für die Verhandlungen mit den Maori zuständige Minister wird mit den Worten zitiert: »Manche Leute werden das einigermaßen seltsam finden. Aber das ist auch nicht anders als bei einer Familienstiftung oder einer Firma.« Richtig. Juristische Personen sind Rechtspersonen zweiter Klasse. Das ist keine Frage der Rechtstheorie. Rechtstheorie, will sie nicht zum Naturrecht zurückkehren, kann auch den Menschen nur als juristische Person konstruieren. Aber der Mensch ist die einzige juristische Person erster Klasse. Das ist keine Theorie, sondern eine Wertentscheidung.

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[1] Es »geht zurück auf das 1993 erschienene Buch »Menschenrechte für die Großen Menschenaffen – Das Great Ape Projekt« (Originaltitel: The Great Ape Project: Equality Beyond Humanity), das von den Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer herausgegeben wurde. Es enthält Beiträge von 34 Autoren, darunter Jane Goodall, Jared Diamond und Richard Dawkins. Nach dem ersten Schwung in den 90er Jahren lösten sich zahlreiche Arbeitsgruppen zum GAP allmählich auf. Im Gefolge der Verleihung des Ethik-Preises 2011 der Giordano-Bruno-Stiftung an Paola Cavalieri und Peter Singer wurde das GAP in Deutschland neu gestartet. Der Relaunch wird koordiniert von dem Psychologen Colin Goldner, unterstützt von Wissenschaftlern wie Volker Sommer, Dieter Birnbacher oder Michael Schmidt-Salomon.« (Wikipedia, Great Ape Project).

[2] Heft 3/2016 der Zeitschrift »Rechtwissenschaft« ist als Themenheft »Tier und Recht« erschienen. Aus den Beiträgen lässt sich die ältere Literatur rückverfolgen.

[3] Kyniker werden sich mit Muslimen zusammenschließen, die die westliche Welt als Kynozän kritisieren, weil Menschen dort Hunde oft höher geschätzt werden als die Familie.

[4] Steffen Augsberg, Der Anthropozentrismus des juristischen Personenbegriffs – Ausdruck überkommener (religiöser) Traditionen, speziesistischer Engführung oder funktionaler Notwendigkeiten?, Rechtswissenschaft 7, 2016, 338-362.

[5] Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 463.

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Belanglose Theorie zum Streit um die Reform der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit

Die polnische Regierung mit ihrer aktuellen Parlamentsmehrheit versucht bekanntlich, durch die Einsetzung neuer Richter sowie durch eine Änderung von Gerichtsverfassung und Verfahren das Verfassungsgericht in den Griff zu bekommen. Später kam noch ene Budget-Kürzung hinzu. In Europa ist man empört. Die Venedig Kommission hat eine kritische Stellungnahme zu dem Änderungsgesetz abgegeben. Die EU hat erstmals von dem 2014 eingeführten Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips Gebrauch gemacht. Die Sache ist empörend. Ich beschränke mich jedoch auf ein rechtstheoretisches Argument. Es betrifft nur die mit Gesetz vom 22. Dezember 2015 beschlossenen Änderungen von Gerichtsverfassung und Verfahren. Im Kern geht es um zwei Punkte:

  1. Der Verfassungsgerichtshof, der planmäßig 15 Richter zählt, soll künftig Plenarentscheidungen nur in einer Besetzung von mindestens 13 Richtern und mit Zwei-Drittel-Mehrheit treffen dürfen. Zuvor lag das Quorum bei neun Richtern. Eine qualifizierte Mehrheit war nicht erforderlich.
  2. Der Verfassungsgerichtshof soll alle eingehenden Klagen der Reihe nach abarbeiten müssen.

Für sich genommen könnte man die einzelnen Änderungen für akzeptabel halten. Im Zusammenhang mit der Wahl neuer Richter und Bestimmungen über die Amtszeit der alten sowie mit Änderungen des Richterdisziplinarverfahrens ist die Reform jedoch politisch brisant, weil sie Entscheidungen gegen die von der Parlamentsmehrheit getragene Regierung verhindern kann. Im Dezember 2015 hatte sich die Lage insofern zugespitzt, als nur noch zwölf Richter im Amt waren, so dass das nunmehr vorgeschriebene Quorum von 13 überhaupt nicht erreicht werden konnte. Der Verfassungsgerichtshof selbst hat am 9. März das Reformgesetz auf der Basis des alten Rechts für verfassungswidrig erklärt. Zwei Richter machten in einem Sondervotum geltend, jede Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reform müsse nunmehr auf der Basis des neuen Rechts erfolgen. Die polnische Regierung hat sich geweigert, das Urteil zu veröffentlichen und ihm zu folgen, weil es nicht nach Maßgabe des neuen Gesetzes ergangen sei.

-Der Gerichtshof selbst meinte, das Reformgesetz auf sein Verfahren nicht anwenden zu müssen, da die Richter nach Art. 195 Nr. 1 »in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und nur der Verfassung unterworfen« seien und die Reform unmittelbar die Funktion des Gerichts betreffe.[1] Die Venedig Kommission hat diese Begründung gebilligt.[2] Sie meint, andernfalls brauche man nur ein Gesetz, das sagt »herewith, constitutional control is abandoned – this law enters into force immediately«, um die Verfassungsgerichtbarkeit ganz abzuschaffen.[3] Aber so lauten die streitigen Gesetze nun einmal nicht, und es kann nicht ernstlich zweifelhaft sein, dass das Parlament durch das Verfassungsgerichtsgesetz Regelungen treffen kann, die dem Gericht nicht gefallen. Dann müssen diese Regelungen eben doch jede einzeln und alle zusammen auf ihre Verfassungsmäigkeit hin überprüft werden. sagt mit einem argumentum a fortiori: Davon abgesehen sollte es selbstverständlich sein, dass die Verfassungsrichter auch an die verfassungsmäßig geltenden Gesetze, darunter insbesondere das Verfassungsgerichtsgesetz nach Art. 197, gebunden. Nur bei Entscheidungen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind sie insoweit frei.

Die theoretische Frage bleibt also: Ist das Reformgesetz auf das Verfahren des Verfassungsgerichtshofs anwendbar, wenn über die Verfassungsmäßigkeit der Reformbestimmungen gerade dieses Gesetzes entschieden wird. Anscheinend geht es um die Problematik selbstbezüglicher Vorschriften im Verfassungsrecht[4]. Das ist freilich auf den ersten Blick nicht ohne weiteres zu erkennen.

Die Problematik selbstbezüglicher Vorschriften hat Douglas R. Hofstadter, der Autor von »Gödel, Escher, Bach«, durch seinen Artikel »Nomic« im »Scientific American«[5] populär gemacht. Hofstadter schildert eingangs den folgenden, freilich erdachten Fall: Der amerikanische Kongress verabschiedet ein Gesetz, dem zufolge in Zukunft alle Entscheidungen des U. S. Supreme Court mit einer Mehrheit von 6 zu 3 Stimmen (statt wie bisher mit einer einfachen Mehrheit von 5 zu 4) getroffen werden müssen. Dieses Gesetz wird in einem Gerichtsverfahren angefochten, das schließlich bis vor den Supreme Court selbst gelangt, und dieser stellt die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes fest – natürlich mit einfacher Mehrheit von 5 zu 4. Eine nähere Analyse oder gar Lösung bietet Hofstadter allerdings nicht.

Verfassungen enthalten regelmäßig Bestimmungen, nach denen die Verfassung nur in einem besonderen Verfahren geändert werden kann. Das Grundgesetz fordert in Art. 79 I zur Verfassungs-änderung die ausdrückliche Änderung des Verfassungstextes, in Art. 79 II qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und enthält darüber hinaus in Art. 79 III die »Ewigkeitsklausel«:

»Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig«.

Solche Vorschriften werfen die Frage auf, ob sie auf sich selbst anwendbar sind mit der Folge, dass das Verfahren der Verfas-sungsänderung seinerseits geändert werden könnte.[6]

Die polnische Verfassung von 1997 sieht in Art. 188 die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin vor. Nach Art. 197 sind die Organisation des Verfassungsgerichtshofs und die Verfahrensweise vor dem Verfassungsgerichtshof einem einfachen Gesetz vorbehalten. Allerdings sind in Art. 194 der Verfassung Richterzahl (15) und Richterwahl (durch das Parlament) sowie in Art. 190 Nr. 5 das Prinzip der (einfachen) Mehrheit festgelegt. Das Reformgesetz vom 22. 12. 2015 ändert also die Verfassung, soweit es eine qualifizierte Mehrheit für Plenarentscheidungen einführt. Soweit es ein höheres Quorum für Plenarentscheidungen und die sequentielle Behandlung eingehender Klagen vorsieht, ändert es nur ein einfaches Gesetz. Deshalb sollte die Frage nach der Selbstbezüglichkeit des Reformgesetzes und ihrer Konsequenzen für die beiden Änderungen getrennt betrachtet werden.

Was zunächst die Verfassungsänderung betrifft, so ist davon auszugehen, dass diese in dem in den Art. 236ff der Verfassung vorgeschriebenen Verfahren erfolgt ist. Für den geänderten Art. 190 Nr. 5 gibt es in der Verfassung selbst keine besondere Festschreibung, die mit Art. 79 GG vergleichbar wäre. Gegen das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für Plenarentscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ist auch sachlich kaum etwas einzuwenden. Aber als Gedankenspiel kann man natürlich erwägen, mit welcher Mehrheit der Gerichtshof entscheiden müsste, wenn er isoliert über die Wirksamkeit der Änderung des Art. 190 Nr. 5 befinden wollte.

Zunächst gäbe es da schon einmal die Hürde, ob der Verfassungsgerichtshof überhaupt berufen ist, über die Wirksamkeit von Verfassungsänderungen zu urteilen, denn nach Art. 188 Nr. 1 der Verfassung erstreckt sich seine Kompetenz nur auf »die Vereinbarkeit der Gesetze und der völkerrechtlichen Verträgen mit der Verfassung«. Überspringt man diese Hürde, indem man auch ein verfassungsänderndes Gesetz für überprüfbar hält, stellt sich die nächste Hürde mit der Frage, wie die Verfassungswidrigkeit begründet werden könnte. Die Venedig Kommission bringt European and international standards ins Spiel.[7] Diesen fraglos interessanten Gesichtspunkt lasse ich aus. Ohne den Rückgriff auf eine höhere übernationale Rechtsebene könnte man mit der Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts arbeiten, indem man geltend machte, dass das neue Mehrheitserfordernis ein übergeordnetes Prinzip der Verfassung, nämlich die Funktion des Verfassungsgerichts, verletze. Sieht man einmal davon ab, dass diese Erwägung sehr schwach ist, so stellt sich dann wirklich die Frage, ob die Entscheidung nach altem oder neuem Recht zu treffen wäre.

Vorab ist festzuhalten, dass das Reformgesetz sofort in Geltung gesetzt worden ist. Daher käme es weiter darauf an, ob verfassungswidrige Gesetze ipso jure als nichtig anzusehen sind, so dass der Verfassungsgerichtshof ihre Verfassungswidrigkeit nur festgestellt, oder ob erst diese Feststellung das verfassungswidrige Gesetz vernichtet. Aus der Logik des Stufenbaus der Rechtsordnung folgt eigentlich das so genannte Nichtigkeitsdogma. Der Verstoß eines Gesetzes gegen die Verfassung hat danach ipso jure und ex tunc die Nichtigkeit der Norm zur Folge. Es bedarf dazu keiner vorgängigen Entscheidung des Verfassungsgerichts.

Die Lehre von der Ipso-jure-Nichtigkeit steht allerdings keineswegs außer Streit. Die automatische Nichtigkeit kann dazu führen, dass Lücken gerissen werden, die gravierender sind als die vorläufige Geltung des verfassungswidrigen Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht begegnet diesem Problem mit der so genannten Unvereinbarkeitserklärungen. In der Theorie versucht man, diese Urteilspraxis mit der Lehre von der Nichtigerklärung zu rechtfertigen. Sie besagt, dass ein verfassungswidriges Gesetz nicht ipso jure und ex tunc nichtig ist, sondern erst durch rechtsgestaltendes Urteil des Verfassungsgerichts ex nunc vernichtet wird.

Die theoretische Grundlage der Verfassungsgerichtsbarkeit hatte eigentlich die Stufenbaulehre von Adolf Merkl und Hans Kelsen geliefert, indem sie zeigte, dass Rechtssetzung, auch wenn sie durch den Gesetzgeber erfolgt, Rechtsanwendung ist und insoweit von einem Gericht kontrolliert werden kann. Auf den ersten Blick scheint die Lehre von der Nichtigerklärung mit der Stufenbautheorie unvereinbar zu sein. Doch wenn logische Widersprüche auftauchen, kann man sie durch die Einführung von Zusatzannahmen ausräumen. Das hat in diesem Falle kein geringerer als Kelsen selbst getan. Aus der Tatsache, dass eine Verfassung ein Normenkontrollverfahren vorsieht, wollte Kelsen folgern: »Die sogenannten ›verfassungswidrigen‹ Gesetze sind verfassungsmäßige, aber in einem besonderen Verfahren aufhebbare Gesetze«[8]. Er baute damit in die Verfassung eine zusätzliche Norm ein, die besagt, dass verfassungswidrige Gesetze gültig sind, bis sie von dem zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden. In Österreich ist diese Theorie geltendes Verfassungsrecht.

Für unser Problem bedeutet das: Folgt man der Nichtigkeitslehre, so ist klar, dass die Entscheidung über die Geltung des Reformgesetzes mit einfacher Mehrheit erfolgen kann, wenn es denn verfassungswidrig ist. Verlangt man dagegen eine konstitutive Nichtigerklärung, liegt die Sache weniger klar. Wenn verfassungswidrige Gesetze gültig sind, bis sie von dem zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden, müsste eigentlich für das Normenkontrollverfahren die qualifizierte Mehrheit des Reformgesetzes verlangt werden. Wenn man dieses Ergebnis nicht als Argument gegen die Vernichtbarkeitslehre ausreichen lässt, kann man noch nach einer ungeschriebenen übergeordneten Norm suchen. Man denkt vielleicht an eine Regel, dass Vorschriften grundsätzlich nicht selbstbezüglich angewendet werden dürfen. Aber eine solche Regel gibt es nicht, und sie wäre auch nicht zu begründen. Wenn etwa eine Satzung vorsieht, dass alle Änderungsbeschlüsse mit einfacher Mehrheit zu treffen sind, so besteht kein Bedenken, dass mit einfacher Mehrheit beschlossen wird, dass künftig nur noch mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen sei. Die gesuchte Regel könnte nur eingeschränkt besagen, dass die Normenkontrolle nicht durch Selbstbezüglichkeit der zu kontrollierenden Norm präjudiziert werden darf. Das wäre der Fall, wenn das neue Mehrheitserfordernis eine Vernichtung des Reformgesetzes verhinderte. Aber auch dazu müsste man sich zunächst wieder über die Verfassungswidrigkeit des Reformgesetzes einig sein. Es gibt also keine logisch klare Lösung. Man muss sich entscheiden.

Was die Entscheidung über das Reformgesetz vom 22. Dezember 2015 als einfaches Gesetz betrifft, liegen die Dinge kaum einfacher. Die Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtshofs steht außer Frage. Das Gesetz ist ayuch insoweit ohne Aufschub in Kraft getreten, verlangt also eigentlich seine sofortige Anwendung. Hier ist die materielle Frage nach der Verfassungsmäßigkeit etwas leichter zu beantworten. Allerdings fehlt es auch insoweit an einem klaren Verfassungsverstoß. Die Verfassungsmäßigkeit lässt sich nur aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Details der Reform begründen, die dazu führen, dass der Gerichtshof praktisch lahm gelegt wird.

Unterstellt also, das Reformgesetz wäre deshalb verfassungswidrig, stellt sich die Situation ähnlich wie hinsichtlich der Änderung des Art. 190 Nr. 5 dar. Folgt man dem Nichtigkeitsdogma, ist das Gesetz mit seiner Regelung des Quorums und der Geschäftsordnung unanwendbar. Folgt man dagegen der Lehre von der Vernichtbarkeit, stellt sich wieder die Frage, ob seine Anwendung an der Selbstbezüglichkeit scheitern muss. Und erneut ist die Antwort vom Ergebnis abhängig.

Eine Komplikation entsteht noch daraus, dass die Verfassungsänderung und die Reform des Verfahrens getrennt zu beurteilen sein könnten. Die Art. 190 Nr. 5 betreffende Verfassungsänderung und die Änderung des einfachen Rechts aus Art. 197 scheinen formell in einem Gesetz zusammengefasst worden zu sein.[9] Damit stellt sich für den Fall, dass man die Verfassungsänderung als solche für zulässig hält, analog § 139 BGB die Frage nach Gesamtnichtigkeit oder Teilnichtigkeit des Gesetzes. Die Änderung der Mehrheitsregel nach Art. 190 Nr. 5 ist wohl ein selbständiger Teil des Reformpakets, der für sich Bestand haben kann. Das hätte zur Folge, zwar eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich, das neue Quorum dagegen unbeachtlich wäre. Wenn also zwei Drittel der beteiligten Richter einfachgesetzliche Vorschriften des Reformgesetzes für nichtig erklären, dann sind sie nichtig. Auf das Quorum kommt es nicht an und auch nicht auf die Beachtung des neuen Gebots der Entscheidung nach der Reihenfolge des Eingangs. Ein Verstoß dagegen könnte wohl ohnehin nur einen für die Wirksamkeit der Entscheidung unerheblichen Verfahrensfehler begründen.

Nach alledem ist letztlich gar keine Stellungnahme zur Problematik selbstbezüglicher Vorschriften notwendig.

PS: Ein Tweet von Christian Boulanger verweist darauf, das sich das Rad in Polen schon weiter gedreht hat

[1] Stellungnahme der Venedig Kommission Nr. 33.

[2] Ebd. Nr. 39.

[3] Ebd. Nr. 41.

[4] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 108ff.

[5] Der Artikel ist im selben Jahr auf Deutsch erschienen: Nomic: ein Spiel, das die Rückbezüglichkeit im Rechtswesen auslotet, Spektrum der Wissenschaft, August 1982, 8-13. Das Nomic-Spiel hatte Peter Suber erfunden. Er hatte es damals noch nicht veröffentlicht, aber mit Hofstadter diskutiert. Suber veröffentlichte sein Buch »The Paradox of Self-Amendment« erst 1990. Vgl. auch von Suber den kurzen Lexikon-Artikel Self-Reference in Law, 1999.

[6] Ein analoges Problem stellt sich auch ganz trivial im Vertragsrecht. Häufig wird in Verträgen, die nach dem Gesetz formlos abgeschlossen werden können, Schriftform vereinbart, die insbesondere auch für Änderungen des Vertrages gelten soll. Kaum weniger häufig werden dann doch formlos neue Abreden getroffen, so dass die Frage entsteht, ob die Schriftformklausel auf sich selbst anwendbar ist oder ob sie mündlich, eventuell sogar konkludent, aufgehoben werden kann Näher Florian Wagner-von Papp, Die privatautonome Beschränkung der Privatautonomie, AcP 205, 2005, 342; Micha Bloching/Daniel Ortloff, Schriftformklauseln in der Rechtsprechung von BGH und BAG, NJW 2009, 3393-3397.

[7] Ebd. Nr. 43.

[8] Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 278.

[9] Vgl. Stellungnahme der Venedig Kommission Nr. 30.

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Alles ist politisch. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« IV

Dies ist die vierte Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2] Sie sind inzwischen reichlich abgestanden, sozusagen nur noch Trockenfrüchte, gesammelt aus den ersten beiden Kapiteln von Teil III »Die Ermächtigung des Eigenen«.

Zur Erinnerung noch einmal der Tenor des Buches: Der alte und auch der moderne Liberalismus haben eigentlich ein moralisches Anliegen. Sie fordern Freiheit, um den Menschen ein sittliches Handeln zu ermöglichen. Als Mittel wählen sie die Form subjektiver Rechte. Deren entscheidendes Merkmal besteht darin, das Ob und das Wie ihrer Inanspruchnahme den Berechtigten zu überlassen. Das Recht kümmert sich nicht um deren Motive, sondern nimmt ihren Willen als Tatsache hin. So verschwindet die Moral aus dem Recht. Das Ergebnis ist die amoralische bürgerliche Gesellschaft.[3] Auf Plattdeutsch: Das bürgerliche Recht will sittlich sein, stellt sich aber selbst ein Bein, weil es die Inhalte den Rechtsbürgern überlässt, die tun und lassen können, was sie wollen, solange sie sich nicht wechselseitig in die Quere kommen. Und so auf Franfurterisch: »Der Liberalismus ist die Verdrängung oder Verdeckung des Widerspruchs, des bürgerlichen Rechts – des Widerspruchs zwischen der Form der subjektiven Rechte und den moralischen Gründen ihrer Etablierung.« (255)

Teil III bietet manche Trivialitäten. »Ein Recht ist eine normative Macht: eine Handlungsmöglichkeit, die gegen andere normativ gesichert ist.« (177) Klar. Subjektive Rechts sind mehr als der bloße Reflex einer bestehenden normativen Ordnung (178). Geschenkt. »Subjektive Rechte sind nicht deshalb subjektiv, weil ein Subjekt sie hat, sondern genau umgekehrt, weil sie ein Subjekt hervorbringen.« (178f, 196) Das ist ein schönes Henne-und-Ei-Problem. Aber es ist natürlich richtig, dass die Menschen einmal Hühnersuppe bevorzugen und ein anderes Mal Rührei.[4] Das gilt analog für die Frage, ob das Klagerecht aus dem subjektiven Rechts abzuleiten ist oder ob umgekehrt das subjektive Recht aus der actio (228ff). »Ermächtigung durch subjektive Rechte bedeutet Politisierung und Privatisierung: Privatisierung als Politisierung, Politisierung als Privatisierung.« (179). Das läuft auf eine Nullhypothese hinaus.

Die Kapitel 8 und 9 von Teil III sind von Interesse, weil M. sich dort ausführlicher auf die Rechtstheorie einlässt. Gewährsleute sind Savigny und Windscheid, Jellinek und Kelsen, Carl Schmitt und Dworkin, Hegel und Foucault. Das alles geschieht, um zu erklären, dass das bürgerliche Recht bloßer »Schein« ist, nämlich »die falsche Verwirklichung des modernen selbstreflexiven Rechts« (175).

Die Selbstreflexion des bürgerlichen Rechts ist verzerrt, weil sie »in die Form subjektiver Rechte gekleidet ist«[5] (175) …Die Figur der subjektiven Rechte besetzt die empiristische Position des Gegebenen mit dem Subjekt. … Das bürgerliche Recht macht das Nichtrechtliche zu dem ihm in letzter Instanz Vorgegebenen, indem es das Gegebene als das Eigene des Subjekts versteht. … der Positivismus der subjektiven Rechte macht also das Wollen des eigenen zur autoritativen Tatsache … [von der] alle normative Setzung ausgehen muß« (176). So wird die kantische Idee vom normativen Eigenwert der Privatautonomie umgedreht.

Der direkte Angriff auf das Subjekt folgt erst in Kapitel 9 (197-207). Dort wird es sozusagen dekonstruiert, indem M. erstens mit Hilfe Foucaults seine historische Kontingenz aufzeigt, und zweitens auf die soziale Formierung des Subjekts hinweist. Ein historischer Umbruch im 17. Jahrhundert führte dazu, dass individuelle Entschei-dungen als letzte Grundlage für die Wahl von Zielen und Zwecken, also für eine Wertwahl, akzeptiert wurden. M. zitiert Foucault[6]:

»Was der englische Empirismus … wohl zum ersten Mal in der abendländischen Philosophie beschreibt, ist ein Subjekt …, das als ein Subjekt individueller Entscheidungen erscheint, die zugleich nicht weiter zurückführbar und unübertragbar sind.«

Der Witz der Sache ist aber nun, so M. (204ff), nicht einfach ein naturrechtlicher Dualismus, der das Subjekt mit seiner Autonomie und seinen Rechten als etwas unverfügbar Vorrechtliches akzeptiert. Vielmehr ist es das positive Recht selbst, welches die Form des subjektiven Rechts nicht bloß als fakultative Rechtstechnik einsetzt, sondern als Ermächtigung an jeden Einzelnen, »seine Entscheidungen auf die unhintergehbare Tatsache seines eigenen Wollens zurückzuführen« (207). So ganz habe ich den Unterschied zu der naturrechtlichen Version nicht verstanden. Vielleicht handelt es sich darum, dass das positive Recht die Rechtssubjektivität nicht als Wert, sondern als Tatsache voraussetzt. Vielleicht geht es auch darum, dass die naturrechtliche Version eine intrinsische Beschränkung mit sich führt, der der positivistischen »Naturali-sierung« des Eigenwillens fehlt. Darauf deutet der Abschnitt über das Eigentum (207ff).

Jedenfalls gilt: »Was das Subjekt will, gewinnt seine Geltung aus der Tatsache, daß es dies will. Das macht den spezifisch juridischen Individualismus aus …« (215). Das ist trefflich gesagt. Fraglich ist nur, ob diese Beschreibung nicht überholt ist. Anscheinend erleben wir gerade wieder einen historischen Umbruch. Der äußert sich etwa in einer »sozialen Reformulierung des Begriffs der Autonomie«[7] oder in juridischem Paternalismus, der dem »Eigen-willen« Grenzen zieht. Diese neuen Entwicklungen werden jedoch ausgespart, wiewohl sie M. natürlich geläufig sind.

Das lebende Individuum ist keine Monade, die absolut autonome Entscheidungen trifft. Man wird gerne zustimmen, wenn M. sich selbst zitiert (201):

»Die Sittlichkeit und die Autonomie des Wollens gibt es nur in dialektischen Prozessen, in denen sich Individuen zugleich subjektivieren und sozialisieren; das sittliche selbständige Wollen vollzieht sich nicht im Individuum, sondern zwischen dem Individuum und dem Sozialen.«

Aber das Individuum ist auch keine Marionette, die an den Fäden ihrer sozialen Rollen zappelt. Viele Leser würden daher wohl von der alten Autonomie etwas retten wollen.

Was Foucault beschrieb, ist die Akzeptanz der Subjektivität von Werturteilen. David Hume, auf den Foucault sich bezog, wird gewöhnlich als derjenige genannt, der als erster auf die Differenz von Sein und Sollen und damit auf die Werturteilsproblematik verwiesen hat. Sie ist philosophisch zum Hintergrund des Freiheitsbegriffs geworden. Sie ist Basis ebenso der Willenstheorie des Privatrechts wie der Demokratietheorie des Verfassungsrechts. M. kritisiert die bedingungslose Akzeptanz individueller Wahlentscheidungen durch das Recht als Verdrängung oder Privatisierung des Sozialen (200), als letztlich unmoralische »Naturalisierung« des »Eigenwillens«. Solche Kritik setzt die Möglichkeit voraus, sich einer Moral zu versichern. Dafür hat M. ein einfaches Rezept: »Sittliche Gehalte, das Gute oder die Güter, sind keine Produkte von individuellen Präferenzen, sondern existieren objektiv, in sozialen Praktiken.« (200) Man kann das Werturteilsproblem auf diese Weise mit dem eigenen Werturteil überspielen. Das ist schon deshalb keine Lösung, weil hinreichend universale und detaillierte »soziale Praktiken« als Ersatz nicht in Sicht sind.

Warum nicht umgekehrt? Soziale Praktiken sind die Produkte individueller Präferenzen. Wieso darf man sich nicht analog zu der »merkwürdigen Mechanik, die den homo oeconomicus als individuelles Interessensubjekt innerhalb einer Gesamtheit funktionieren lässt, die ihm entgeht und die dennoch die Rationalität seiner egoistischen Entscheidungen begründet«[8], das Individuum des Liberalismus als Moralsubjekt (homo moralis) vorstellen, das im Schwarm vieler Subjekte das Gute bewirkt? Wenn das moralisch Gute sich aus der Aggregation der individuellen Präferenzen ableitet, darf keine vorgängige Moral auf diese Präferenzen Einfluss nehmen. Die Menschen dürfen gar nicht moralisch handeln, weil gerade ihr amoralisches Handeln der Erkenntnisgrund für die Moral ist.[9]

Soweit die Theorie. Für die Praxis stellt sich dem Leser natürlich die Frage, ob die Form des subjektiven Rechts wirklich unmoralische Folgen nach sich zieht oder ob sie nicht übersubjektiven Zielen gesamtgesellschaftlicher Nützlichkeit dient. Aber »natürlich« gilt diese Frage seit Marx als beantwortet.

In Kapitel 8 (177-196) soll der »Mechanismus rechtlicher Ermächtigung« erklärt werden, »durch den das bürgerliche Recht das Subjekt … als Instanz der Autorität hervorruft« (176). Die »Ermächtigung« durch subjektive Rechte ist für M. rechtstechnisch nur eine »Erlaubnis«. Sie schafft keine neuen Handlungsmöglich-keiten – die sind vorrechtlich schon da –, sondern grenzt durch Verbote die Zonen möglicher Handlungen voneinander ab. »Deshalb gilt – nur – hier, daß alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist.« (180)

Im juristischen Sprachgebrauch ist eine Erlaubnis die partielle Aufhebung eines Verbots. [10] Vorrechtliche Handlungs-möglichkeiten, die nicht verboten sind, sind nicht erlaubt, sondern freigestellt. Aber das betrifft nur die Sprachregelung. Schwieriger ist die Sachfrage, wie es gelingt, subjektive Privatrechte »aus dem negativen Akt des Erlaubens, was nicht verboten ist« (189) zu erklären, und ob diese Erklärung für Eigentum und Vertrag als Kernbezirke des Privatrechts ausreicht.

M. holt zunächst unter Berufung auf Max Weber aus der »Erlaubnis« eine faktische Ermächtigung heraus. Die Erlaubnis begründe entsprechende Erwartungen und sei damit »produktiv«. Dürfen sei Können (194f). Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, wieso die Freistellung möglicher Handlungsweisen eine Ermächtigung bildet. Diese Betrachtungsweise wird aber plausibel, wenn man die implizite oder explizite Freistellung von Handlungen als performativen Akt versteht. Das ist es wohl, was an anderer Stelle (z. B. S. 180) Naturalisierung genannt wird. Soweit die faktische Seite.

Die rechtstheoretische Seite der Angelegenheit diskutiert M. mit Georg Jellinek, der gegen die liberale Deutung des Privatrechts als Erlaubnis geltend machte, das ganze Privatrecht erhebe sich auf Basis des öffentlichen[11]. M. meint, Jellinek habe sich selbst nicht richtig verstanden (183). Das soll heißen, Jellinek sei nicht radikal genug gewesen, weil er das Privatrecht neben dem öffentlichen habe stehen lassen und damit dessen öffentliche und politische Dimension noch nicht voll erkannt habe; das sei erst Kelsen gelungen indem er die Rechtserzeugungsfunktion und die damit gegebene Politizität subjektiver Rechte herausgestellt habe.

Für »die negative, privatrechtsliberale Definition der rechtlichen Ermächtigung – nur als Erlaubnis – « zitiert M. Jellinek mit den Sätzen: »Wenn die Privatrechtsordnung die wirtschaftlichen Verkehrsverhältnisse regelt, so fügt sie der freien Bewegung des Individuums gegenüber den anderen keineswegs ein neues Moment hinzu. Die Rechtsverhältnisse waren als Lebens-verhältnisse schon längst vorhanden, bevor sie einer rechtlichen Normierung unterworfen wurden.« In der Tat erscheint Jellinek hier inkonsequent. Er vergisst für einen Moment sein »Argument gegen den Privatrechtsliberalismus, das besagt, dass die Rechtsordnung dem erlaubten natürlichen Können in der Gestalt des rechtlichen Könnens noch etwas hinzufügt.« (181) Das wird deutlicher wenn man das Jellinek-Zitat um einen Satz verlängert: »Auch wenn ein anderes privatrechtliches Institut vom Staate geschaffen wird, so enthält diese Schöpfung doch nur die Gestattung, dass der individuelle Wille sich nach einer neuen Richtung betätige. Die Rechtsordnung erkennt die betreffenden Handlungen als erlaubt an, d. h. sie gestattet, dass der individuelle Wille nach gewissen Richtungen seine natürliche Freiheit gebrauche.«[12] Das passt nicht zu Jellineks These, dass es kein (privatrechtliches) Dürfen ohne (öffentlich rechtliches) Können gebe.

Hier geht es nicht um Text und Thesen Jellineks, sondern um M.s »Kritik der Rechte«. Letztere fällt aber bis zu einem gewissen Grade in sich zusammen, wenn Jellineks Theorie von der öffentlichen rechtlichen Basis des Privatrechts die Operation moderner Rechtssysteme zutreffend beschreibt, was M. letztlich nicht in Abrede stellt. Dann bleibt nämlich für die bloße Erlaubnis zur Betätigung der natürlichen Freiheit wenig Raum.

Wenn M. sich für den Charakter des subjektiven Rechts als bloße Freistellung auf Hegel beruft (179f), so trifft er wohl das Selbstverständnis des Privatrechtsliberalismus, aber nicht die Operationsweise des modernen Rechts. Subjektive Privatrechte lassen sich nicht aus der bloßen Freistellung eines Handlungsraums und seiner Absicherung durch Verbote in Verbindung mit dem Gleichheitssatz erklären. Das Problem liegt darin, dass die Verbote, die eine Freiheitssphäre schützen, entgegen der kantischen Idee nicht aus dem Begriff der Freiheit abgeleitet werden können[13]. Aus einer Freiheit = Freistellung folgen (logisch) keine Rechte gegen oder Pflichten von Dritten. Die rechtliche Umhegung der Freiheit ergibt sich erst aus (rechts-)politischen Entscheidungen, die zwangsläufig mehr oder weniger distributive und paternalistische (Neben-)Wirkungen haben.[14] Als Raum bloßer Erlaubnis bleibt nur, was durch Strafrecht und das Recht der unerlaubten Handlung indirekt geschützt ist. Für diesen Raum negativer Freiheit hat H. L. A. Hart[15] den Begriff des protective perimeter geprägt. Der Raum des bürgerlichen Privatrechts mit seinen subjektiven Rechten ist dagegen vollständig durch öffentlich rechtlich verantwortete Institutionen ausgestaltet.

100 Jahre nach Jellinek fällt es leicht zu sagen, dass das Privatrecht nicht bloß erlaubt, sondern die Möglichkeiten rechtlichen Könnens umfassender gestaltet. Alle relevanten Handlungsmöglichkeiten haben eine institutionelle Basis, an der immer auch Recht beteiligt ist. Zwar ermächtigen die Institutionen des Privatrechts zu rechtlichem Können für weitgehend unbestimmtes Dürfen. Insofern bleibt es bei der »Erlaubnis des Beliebens« (195), das heißt, rechtliches Dürfen wird nicht durch externe Moral oder Vernunft vorgegeben. Aber das »Belieben« muss das Nadelöhr oder Scheunentor rechtlichen Könnens passieren. Eine Kritik der subjektiven Rechte kann daher nur unmittelbar bei der Rechtspolitik ansetzen, die das Tor mehr oder weniger geöffnet hat. Es macht dagegen wenig Sinn, die »immanente Politizität der subjektiven Rechte« (189) zu beklagen.

»Man wird selten eine klare Definition des Politischen finden«, sagte Carl Schmitt.[16] Für M. sind politisch »Rechte zur Rechtsveränderung, zur Veränderung des Rechts als des normativ gültigen« (190, 226f). Die These von der »Rechtserzeugungs-funktion« des Privatrechts gehört zum Grundbestand der Rechtstheorie. Verträge und Gestaltungsrechte fügen sich mit ohne weiteres in den Stufenbau der Rechtsordnung ein. Aber sie unterscheiden sich von den »eigentlichen« Rechtsquellen dadurch, dass sie nur konkret-individuelle Rechtsnormen begründen oder verändern, die unbeteiligten Dritten gegenüber keine Verpflichtungs-, sondern nur eine Tatbestandswirkung haben. M. bleibt eine Erklärung schuldig, wieso private Rechtssetzung »für alle gültig« (190) sein soll. Kelsen ist dafür kein guter Beleg, denn er sieht die Rechtsetzungsfunktion bei Privatrechten gerade im Gegensatz zu den eigentlich politischen Rechten[17]. Der Satz, »daß jeder Adressat von Rechten der Möglichkeit, also seiner Berechtigung nach Mitautor des Rechts ist« (191), hat deshalb einen großen rhetorischen Überschuss. Alles Recht ist politisch. Das ist uns schon so oft versichert worden, dass die Aussage trivial geworden ist. Wenn man mit Jellinek und Kelsen auch subjektive Privatrechte im öffentlichen Recht begründet sieht, dann haben sie quasi per definitionem politischen Charakter.

Die politische Qualität der subjektiven Rechte hat sogar »doppelte Gestalt« (189), weil diese Rechte die staatsbürgerliche Mitwirkung immanent voraussetzen. Dadurch »gewinnt der Begriff des Politischen … einen Doppelsinn, der die Idee und Wirklichkeit der bürgerlichen Politik bestimmt (und zerreißt).« (190) Wo steckt hier der Doppelsinn, in der Begriffsbildung des Beobachters oder in den Köpfen der Beobachteten?

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift »Hauptsache Moral, welche ist egal«.

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Für den eiligen Leser reicht die Zusammenfassung S. 248-253.

[4] Bei Luhmann heißt das Variation der Semantik. Den Wechsel von einer Pflichtensemantik zur Rede von subjektiven Rechten erklärt Luhmann damit, dass Rechte seiner Zeit ein unerfüllte Desiderat waren (Subjektive Rechte: Zum Umbau des Rechtsbeußtseins für die moderne Gesellschaft, in: Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, 1981, 45-104.

[5] Das wird in Endnote 4 auf S. 438 als Luhmann-Zitat ausgewiesen (a. a. O. Fn.  4 S. 84). Der ganze Satz Luhmanns lautet:»Die Inklusion der Bevölkerung in das Gesellschaftssystem muß auf neue Formen gebracht werden, und dies Desiderat wird in die Form subjektiver Rechte gekleidet, weil es noch nicht realisiert ist.« Luhmann hat also an dieser Stelle ein anderes Thema. Er betont den Wechsel der Semantik von Pflichten zu Rechten. Luhmanns Deutung der Figur des subjektiven Rechts passt überhaupt nicht zu M.s Argumentation, denn Luhmann geht es darum, »daß [die Rechtsentwicklung] allgemeine, gesellschaftlich fundierte Normen zur Rechtsfigur des subjektiven Rechts abstrahiert«. Dieses Luhmann-Zitat hat aus dem »Recht der Gesellschaft« hat M. in die Endnote verbannt.

[6] Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, 2004, S. 373 (Vorlesung 11 vom 28. März 1979).

[7] Christoph Menke, Subjektive Rechte und Menschenwürde . Zur Einleitung, Trivium 3, 2009, Rn. 4 [http://trivium.revues.org/3296].

[8] Foucault a. a. O. S. 382.

[9] Das Argument stammt nicht von mir. Aber ich weiß nicht mehr, von wem ich es gelernt habe.

[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 46: »Allein diese Erlaubnis ist rein negativ, ihr ganzer Effekt konsumiert sich in der Aufhebung eines Verbots.« Dagegen verwendet der an anderer Stelle von M. angeführte Robert Alexy »Erlaubnis« auch im Sinne von Freistellung (Theorie der Grundrechte, 1985, Kap. 4 II, in der Suhrkampausgabe S. 206ff.), betont aber, dass es sich um eine »schwache« Erlaubnis handelt.

[11] System S. 82. Vgl. auch S. 10: »Ohne öffentliches Recht kein Privatrecht.«

[12] System S. 45f.

[13] Marietta Auer, Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant. Eine Analyse im Lichte der Rechtskritik Hohfelds, AcP 208, 2008, 584-634. Auer beruft sich dafür mit J. W. Singer und Duncan Kennedy auf Hohfelds analytisches Schema der Rechte. Das folgt aber einfacher aus der Figur der Freistellung im traditionellen Normenquadrat.

[14] Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, 56ff.

[15] H.L.A. Hart, Legal Rights, in: ders., Essays on Bentham, 1982, S. 180ff. Harts Beispiel: Meine Freiheit, mir den Kopf zu kratzen, ist zwar nicht durch direkte Verpflichtungen anderer, mich gerade daran zu hindern, gesichert, aber doch durch einen Kranz allgemeiner Verhaltenspflichten, etwa die Pflicht, körperliche Angriffe zu unterlassen.

[16] Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien., 3. Aufl. der Ausg. von 1963, 1991, S. 21.

[17] Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 144.

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Dies ist die zweite Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2]

In der Einleitung unter der Überschrift »Marx‘ Rätsel« wird die Grundthese des Buches formuliert: Die bürgerlichen Revolutionen der Moderne waren der Akt eines politischen Gemeinwesens, ihr Ziel die Gleichheit, ihr Mittel die Form der Rechte, deren Träger keine politischen, sondern private Subjekte sind. Das Ergebnis ist die Entpolitisierung der Gesellschaft (7f). Der Liberalismus, der auf seine guten moralischen Absichten verweist, ist, wie Marx formulierte, nur zu »vulgärer Kritik« imstande. Die wahre Analyse des bürgerlichen Rechts ist nicht historisch, sondern ontologisch. Der moderne Umbruch des Rechts ist ein Umbruch in der Ontologie der Normativität (S. 11). Man kann die bürgerliche Erklärung gleicher (subjektiver) Rechte nicht funktional nach ihren »Gehalten, Zwecken und Wirkungen« begreifen, wenn man nicht zuvor deren Form verstanden hat, denn »diese Form ist nicht neutral« (9). Sie bringt normativ »vor und außernormative Faktizität« hervor (10). Faktisch heißt, »dem politischen Gemeinwesen vorgeordnet und entzogen« (9), oder, was dasselbe ist, die »Naturalisierung des Sozialen« (10) Diesen Vorgang kann das bürgerliche Recht in seiner Selbstreflexion nicht begreifen. Es fällt daher in sich zusammen, nachdem M. den Zusammenhang aufdeckt hat. Das führt zu einer »neuen Revolution der Rechte«, einem »Recht der Gegenrechte« (13).

Die Kritik der Rechte setzt an bei deren moralisch hohler Form. Dazu wird im ersten Teil des Buches eine historische Kontrastfolie aufgespannt. Idealtypisch werden uns mit Hilfe von Aristoteles und Cicero das griechische und das römische Recht vorgestellt. Das »Modell Athen« sei auf Erziehung zur Tugend angelegt gewesen, das »Modell Rom« auf die zwangsweise Durchsetzung der Vernunft (65ff). In Athen und Rom war die Rechtswelt, so scheint es,  noch in Ordnung, denn Rechte seien dort eigentlich nur Reflexe eines moralischen Universums gewesen. »Ein Recht hat man nach dem Maß der Gerechtigkeit und daher nur auf Gerechtes; das Recht des einzelnen ist sein gerechter Anteil.« (47)

Für den Umbruch zur Moderne steht das Modell London, personifiziert zuerst durch Hobbes, dann durch Locke.

»In der Form bürgerlicher Rechte bleibt der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand anwesend, ja wird der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand zur Geltung gebracht. Die Gewährleistung des Vor- und Außerrechtlichen, also des Natürlichen, wird zur Wesensbestimmung des Rechts.« (S. 55)

Für das moderne Recht gilt: »Das Gesetz ist nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander.« (58) Mit anderen Worten: Das moderne Recht ist darauf zugeschnitten, durch Determination von Rechtsansprüchen Sphären der Willkürfreiheit voneinander abzugrenzen. Es ist egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit werden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen.

Da haben wir ein Paradox: Die neuzeitliche Form der Rechte »verklammert Normativität und Faktizität, ohne die Normativität in Faktizität aufzulösen. … Rechte berechtigen – nur – Natürliches.« (S. 63) »Dabei heißt ›natürlich‹ vor- oder außerrechtlich; natürlich sind alle Handlungen, die nicht an der Normativität des Rechts ausgerichtet sind.« (S. 90) Paradox wird das nur durch die Mehrdeutigkeit, in der hier von Normativität geredet wird. Rechtsnormen, die für Ansprüche in bestimmten Grenzen Beachtung fordern, sind für M. nicht wirklich normativ, soll heißen, sie sind nicht substantiell moralisch. Schon an dieser Stelle fragt sich der Leser, ob nicht auch hinter der rechtlichen Garantie für die nur durch die Rechte anderer gebundene Wahrnehmung von Handlungs-möglichkeiten eine substantielle Moral stecken könnte.

Gerne zustimmen wird man der Zurückweisung des »liberalen Dualismus«, das heißt der naturrechtlichen Annahme von subjektiven Rechten, die Vorrang vor dem objektiven Recht beanspruchen. (24ff).[3] Der Dualismus kommt erst auf, wenn die naturrechtlichen Inhalte nicht als gelebter und selbstverständlicher Bestand positiven Rechts Geltung haben, sondern als kontingent reflektiert werden. Von diesem Augenblick an geht es um unterschiedliche Rechtsbegriffe. Von einem positivistischen Standpunkt aus ist »das natürliche Recht vor dem Recht ein Scheinrecht« (25). Im System des positiven Rechts sind objektives und subjektives Recht nur noch zwei Seiten derselben Medaille. Nicht so für M. Auch für das moderne Recht gelte der Vorrang der (subjektiven) Rechte, und zwar wegen deren radikal neuer Form (29).

»Die Sicherung der Rechte des einzelnen wird zur neuen Funktionsbestimmung des Rechts überhaupt.« (31) Das sei eine »Revolution im Begriff des Rechts« die den »Primat des Anspruchs [subj. Recht] vor dem Gesetz [=obj. Recht]« begründe (31). Funktion soll hier heißen, dass es »im Recht [nur noch] um die normative Sicherung natürlicher, das heißt, vorrechtlich bestehender, dem Recht vorhergehender und vorgegebener Strebungen und Handlungen geht« (32). Worum denn sonst, möchte man fragen? Das wäre ja die Superautopoiese, wenn es im Recht um die Sicherung des Rechts ginge. Für das moderne Recht ist auch Moral etwas Vorrechtliches. Die Operationsweise des Philosophen besteht hier in der Verwendung unterschiedlicher Rechtsbegriffe. Anders wäre der Satz, das Recht habe nur noch die Aufgabe des Schutzes und der Sicherung rechtlicher Ansprüche (32), tautologisch. »Die Operationsweise des Rechts besteht in der Legalisierung des Natürlichen.« (33) Das klingt, als ob alles Natürliche legalisiert werde. Als Mittel wirkt »die funktionalen Totalisierung des Anspruchs«, was wohl heißen soll, das alles Recht letztlich als Privatrecht organisiert ist. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass M. nur das halbe Recht im Blick hat, ein Eindruck, der sich im Fortgang verstärkt. Aber der Eindruck ist falsch, denn M. meint, was er sagt.

An Thomas Hobbes‘ Begründung der staatlichen Souveränität findet M. deren immanente Grenze wichtig, den von Carl Schmitt so genannten Todeskeim (73ff), den Schmitt in dem Vorbehalt der inneren Glaubens- und Gedankenfreiheit gegenüber dem Leviathan hatte entdecken wollen. Dem Liberalismus, so meint M., diene der Gesinnungsvorbehalt als Verzicht auf eine sittliche Inanspruch-nahme. Deshalb sei »das souverän herrschende Recht … aus innerer Konsequenz zu dem Recht geworden, dessen Wesen die Erlaubnis oder Befugnis« sei (S. 80). Recht in der Zeit nach Hobbes »legalisiert« und sichert damit das »Natürliche«, nämlich die willkürliche Verfolgung individueller Interessen (S. 89). Allerdings ist die »rechtliche Erlaubnis [nur] eine Freigabe des Urteilens.« (S. 82) Das heißt: »Die Gesetze stellen die Gründe ihrer Befolgung frei.« (S. 83) Damit verzichtet das Recht auf einen moralischen Anspruch. Diesen Verzicht findet M. bei Kant wieder, wenn dieser Ethik und Recht danach unterscheidet, dass das Recht äußeres Handeln vorschreibt (S. 84ff).

Kant sage, weil das Recht äußerlich sei, müsse es das Innere freigeben. Dieser Schluss sei aber unrichtig oder zirkulär, denn tatsächlich hätten das griechische und das römische Rechtsregime »erziehend oder unterdrückend« auch auf das Innere eingewirkt. Die Freiheitserlaubnis des modernen Rechts folge deshalb nicht direkt aus der Äußerlichkeit des Rechts, sondern aus dessen Selbstreflexion: Das moderne Recht deute sich so, dass es die Freiheit der Willkür – die im weiteren Verlauf des Buches als Eigenwille angesprochen wird – erlaube (S. 87). Ihre normative Begründung sei mit Karl Marx letztlich nur in der Idee der Gleichheit zu suchen (345).

Die Frage liegt nahe, ob das wirklich die Selbstdeutung des modernen Rechts ist oder nicht vielmehr M.s Fremddeutung. Nach der üblichen Lesart gewährleistet das subjektive Recht die Möglichkeit der freien Entfaltung der Person in materieller wie in ideeller Hinsicht und damit den Rahmen für »die guten Zwecke des Liberalismus …: Würde, Autonomie, Selbstbestimmung usw.« (9). In einer Formulierung Savignys[4]: »Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert.«. Das mag noch der längst dekonstruierte autonomiebasierte Rechtsbegriff der ersten Moderne[5] sein. Wenn man die Willenstheorie etwas tiefer hängt, so reflektiert sie immer noch die rationale Unentscheidbarkeit moralischer Fragen und verlangt dafür individuelle Gewissensentscheidungen. Das ist ein hoher normativer Anspruch. Die »Freiheit der Willkür« ist nur die Kehrseite dieses Angebots. Solche Überlegungen prallen an M.s Argumentation ab. An die Stelle von Autonomie oder Gewissens-entscheidung tritt der mit Hilfe Foucaults »empirisch« von Urteil und Kritik gestrippte »Eigenwille«, der als psychisches Faktum zählt, nicht aber wegen seiner moralischen Qualität (197ff). Erneut die Frage, warum dem Eigenwillen die moralische Qualität abgehen soll, die dem (von mir so genannten) Statuswillen zugesprochen  wird, der in den festen Hierarchien Athens und Roms die Basis der für eine gerecht Verteilung bildete. Nun gut, das liberale Recht war nicht sehr erfolgreich mit seiner Moral (oder Ethik). Aber waren Athen und Rom erfolgreicher?[6]

S. 88 folgt ein Zwischenergebnis, dem man abstrakt beipflichten möchte. »Das moderne Recht erzieht nicht mehr, sondern es diszipliniert.« Foucault lässt grüßen. Die »Differenz von Innen und Außen« etabliert sich »im Individuum (das dadurch zum Subjekt wird)«. Wenn da nur nicht die Hintergrundthese stünde, »daß das [moderne] Recht keinen normativen Anspruch an das Sein, die Ontologie des Rechtssubjekts« stelle (S. 88). Wieso sind Erziehung (Modell Athen) und Unterdrückung (Modell Rom) normativ, Disziplinierung aber nicht? Hier fällt wieder auf, wie M. »das Sittliche« und »das Vernünftige« des griechischen bzw. des römischen Modells anspricht, ohne deren Realität als Modelle guten und glücklichen Lebens zu betrachten. Das schöne Aristoteles-Zitat auf S. 209 zur Mitbenutzung des Eigentums war seinerzeit nicht mehr oder weniger symbolische Deklamation als heute Art. 14 Abs. 2 GG. Moderne Arbeitssklaverei ist kaum schlimmer als die antike Leibeigenschaft. Die vom modernen Recht geforderte äußere Disziplinierung im Sinne eines neminem laedere ist da schon ein gewisser Fortschritt.

Auf dem Wege dahin gibt es Überlegungen, die zum Grundbestand der Rechtstheorie gehören. Das gilt zunächst für die Überlegung, dass die Erfindung des subjektiven Rechts im Privatrecht eine Dynamik entfaltet hat, die im Verlauf das subjektiv-öffentliche Recht zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen. M. teilt allerdings die von Hegel und Savigny bis zu H. H. Rupp vertretene Auffassung, die Figur des subjektiv öffentlichen Rechts sei eine falsche Übertragung zivilrechtlicher Konstruktionen. Nur zur Erinnerung: Die Begründung subjektiver Rechte gegen den Staat scheint an der Vorstellung vom Staat als Quelle des objektiven Rechts zu scheitern mit der Folge, dass der Staat als Rechtsschutzgewährender und -verpflichteter ein- und dieselbe Person wäre. Da zum Recht ein unabhängiger Richter gehört und ein Richter per definitionem unabhängig zu sein hat, der Staat aber Richter in eigener Sache wäre, wären subjektive Rechte gegen den Staat paradox. Befriedigend formulieren lassen sich Problem und Lösung aber mit der Vorstellung, dass es sich logisch (auf der Satzebene) um ein (unlösbares) Rekursivitätsproblem handelt, dass der Staat praktisch aber kein monolithisches Gebilde ist, sondern sich aus mehreren »Gewalten« und vielen Funktionsträgern zusammensetzt, die sich wechselseitig beobachten und durch Rückkoppelungsprozesse in der Schwebe halten. Deshalb ist es richtig, dass die aus dem Privatrecht stammende Figur des subjektiven Rechts hat eine Dynamik entfaltete, die ihren Ursprung weit hinter sich gelassen hat. Die Dynamik ist mit der Akzeptanz des subjektiv öffentlichen Rechts aber längst nicht erschöpft. Doch das ist nicht, was M. interessiert. Ihm kommt es darauf an, dass subjektiv öffentliche Rechte auch nur verkleidete Privatrechte sind.

Iherings Interessentheorie liest M. als Reformulierung seiner Deutung vom Primat des Anspruchs. Die normative Kraft subjektiver Rechte knüpfe daran, »daß Personen Interessen haben« (62). Das ist plausibel, obwohl das Individualinteresse nur der Normalfall ist, aber kein Essentiale des subjektiven Rechts bildet. M. zitiert Jellinek mit dem Satz »Wille und Interesse oder Gut gehören daher im Begriffe des Rechts nothwendig zusammen.« Den nächsten Satz Jellineks übergeht er. Der Satz lautet: »Nicht aber müssen der Träger des auf das Interesse gerichteten Willens und der Destinatär des Interesses identisch sein.«[7] Damit hatte Jellinek den Begriff des subjektiven Rechts weit geöffnet. Es hat zwar noch ein Jahrhundert gedauert, bis die darin liegenden Möglichkeiten zur Entwicklung des Rechtsbegriffs ausgeschöpft wurden. Heute bereitet es jedoch keine Schwierigkeiten mehr, den Begriff des subjektiven Rechts für die Organisation der Wahrnehmung öffentlicher Interessen durch staatliche Stellen und durch Gruppierungen der Zivilgesellschaft heranzuziehen. M.s Analyse des subjektiven Rechts ist damit auf halber Strecke stehen geblieben.

Der Kontroverse zwischen Interessentheorie (Ihering) und Willenstheorie (Savigny, Windscheid) bringt M. auf den Nenner, diese Theorien hätten entgegengesetzte Naturbegriffe (92); der einen gehe es um die »Ermöglichung von Interessen«, der anderen um die »Erlaubnis der Willkür«, zwei »einander strukturell entgegengesetzte Weisen der Legalisierung des Natürlichen«, die in der modernen Form der Rechte beide gegenwärtig seien (95). Bei der rechtlichen Ermöglichung müsse das Recht die Interessen als Grundtypen des natürlichen Strebens bestimmen. An dieser Stelle erinnert sich der Leser daran, wie Marietta Auer[8] besonders herausstellt, dass Kants wunderbare Formel von der Freiheit, die ihre Grenzen an der Freiheit anderer findet, inhaltsleer ist und von hoher oder fremder Hand ausgefüllt werden muss. Darin steckt die »Bestimmung« der Interessen, die Voraussetzung für deren »Ermöglichung« ist. Es meldet sich die Frage, ob nicht in dieser Bestimmung der Interessen ein Stück Politik und vielleicht gar Moral stecken könnte.

Bei der rechtlichen Erlaubnis gehe es darum, die Willkür unter Absehung von Gründen zu legalisieren. Deshalb müsse die Erlaubnis inhaltlich unbestimmt bleiben. »In ihrer modernen Form sichern Rechte zugleich Interessen und Willkür.« Doch weil die Erlaubnis der Willkür das natürliche Streben unbestimmt lässt, während »die Ermöglichung von Interessen voraussetzt, daß das Recht das natürliche Streben bestimmt« arbeiten »die Sicherung von Interessen und der Willkür gegeneinander«. Darin besteht die »doppelte Performanz« der »Legalisierung des Natürlichen« im modernen Recht. »Aufgrund der Form der Rechte entfaltet sich die Einheit des modernen Rechts nur im Gegeneinander sich ausschließender Leistungen. Dieses Gegeneinander bildet die spezifisch moderne Gestalt des ›Kampfs um’s Recht‹ (Rudolf von Ihering).« (97)

Übersetzt man das »Gegeneinander« mit dem Gegensatz von objektivem und subjektivem Interessenbegriff, dann kann man vielleicht sagen: Ihering sah das Interesse als objektiv gegeben, während Savigny und Windscheid mangels einer Grundlage zur Beurteilung objektiver Interessen auf die Selbstbehauptung des Interesses (Bedürfnis) durch Willensentschluss abstellten. Damit erklärt sich mir aber noch nicht, warum sich »in der modernen Form des Rechts … die Sicherung von Interessen und der Willkür gegeneinander« richten, ja einander ausschließen sollen (97). Ich hätte vielmehr angenommen, dass beides wunderbar zusammenstimmt, denn die Willkür der Rechtsausübung ist das Korrektiv dafür, dass letztlich kein Dritter, weder Rechtsphilosoph noch Gesetzgeber, sondern nur der Betroffene selbst seine Interessen kennt. Aber das hat M. nicht gemeint. Das Gegeneinander läuft vielmehr auf die permanente Auseinandersetzung zwischen Privatautonomie und sozialen Rechten hinaus, denn die rechtliche Bestimmung von Interessen bedeutet die Bestimmung eines »Vermögens sozialer Teilhabe«. Das führt im weiteren Verlauf zu einem auf den ersten Blick vielleicht überraschenden Ergebnis:

»Die soziale Kritik ist Teil des politischen Kampfes im bürgerlichen Recht, Rechtskritik ist in der bürgerlichen Gesellschaft eine Strategie in der Rechtsbegründung: Das bürgerliche Recht ist wesentlich herrschaftskritisches Recht.« (S. 301)

Aber die Sache hat einen Haken. »Die bürgerliche Kritik (oder Selbstkritik) des Rechts« hat nicht verstanden, worum es (M.) geht (305). Doch das führt heute zu weit. Fortsetzung nicht garantiert.

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift »Hauptsache Moral, welche ist egal«.

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Damit ist die Sache freilich noch nicht ganz zu Ende. Gerade die positivrechtliche Form der subjektiven Rechts öffnet es für den rights talk oder rights discourse – mir fehlt der passende deutsche Ausdruck –, mit dem an vielen Fronten neue subjektive Rechte eingefordert werden, nicht immer ganz erfolglos.

[4] Savigny, System, Bd. 1, S. 331. Zur »moralontologischen« Fassung des modernen Begriffs der Rechtsperson Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 15ff. Sie meint, Hugo Grotius habe noch »ein in seinen Grundlagen normatives System geschaffen … in dem subjektive Individualrecchte gerechtfertige Güter- und Handlungszuweisungen begründeten. Dagegen habe »der Mensch als moralische Person« im System von Hobbes keinen Platz gehabt, sei jedoch spätestens von Kant wieder als solche eingesetzt worden.

[5] Auer a. a. O. S. 6.

[6] Mit der Kritik der Moderne vor dem Hintergrund einer idyllischen Vormoderne steht M. nicht allein. Deshalb ist hier ein Hinweis auf die Selbstkritik der zweiten Moderne angebracht, wie sie von Auer (2014, S. 46ff) referiert und rezipiert wird. Eine seit Hegel und Marx zentrale Kritik geht dahin, dass die Moderne den Einzelnen von der Familie abtrennt, indem sie ihn ins Erwerbsleben zwingt, die Familie zerstört und als Kehrseite dem Einzelnen den sozialen Rückhalt nimmt (Auer S. 77). Doch nach der Realität der vormodernen Familie jenseits des Adels, der Stände und der Bauern wird nicht ernsthaft gefragt. Die Lebensgüter waren ungleich verteilt. Das Leben überhaupt war kurz und mühsam, die reale Möglichkeit von Hunger und Durst, Elend und Schmerz nicht weniger beklagenswert als nach der bürgerlichen Revolution.

[7] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44. Ebd. S. 71 heißt es noch deutlicher: »Das positive Recht kann aber den Kreis der formellen Interessen beliebig verengen oder erweitern. Im letzteren Fall bildet nicht einmal das materiell subjektive Interesse für seine Gewährungen eine unübersteigbare Grenze, so daß selbst dort, wo ein Individualinteresse gar nicht vorliegen kann, trotzdem ein geschützter Anspruch geschaffen zu werden vermag.«

[8] Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 55ff, 59.

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Hauptsache Moral, welche ist egal. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte«

Nun habe ich endlich doch noch Christoph Menkes »Kritik der Rechte«[1] von Anfang bis Ende gelesen. In diesem und – vielleicht – in weiteren Einträgen will ich festhalten, wie ich das Buch missverstanden habe.[2]

Die Rechte, die hier kritisiert werden, sind die subjektiven Rechte, die das moderne Recht charakterisieren. Vorab die Kernaussagen des Buches stark verkürzt: »Das bürgerliche Recht … berechtigt, und ermächtigt dadurch, den einzelnen dazu, nach seinem Belieben zu wollen und zu handeln. … Das Wollen des einzelnen zählt, worin auch immer sein Gehalt besteht; das subjektive Recht entkoppelt die rechtliche Macht des einzelnen von der Tugend oder der Vernunft, an die das traditionelle Recht seine Chance zur Durchsetzung band.« (196) »Der Grund aller Entgegensetzungen und Widersprüche, die im bürgerlichen Recht aufbrechen, ist … die Form der subjektiven Rechte.« (306) »In ihrer modernen Form sichern die Rechte zugleich Interessen und Willkür.« (97) »[Das Recht] muß definieren, was ein Interesse ist, welche Interessen es gibt und wann sie verwirklicht sind … Da Willkür das Vermögen der Wahl unter Absehung von Gründen ist, kann das Recht sie nur legalisieren, indem es sie nicht bestimmt.« (95) Diese »Doppelperformanz« des bürgerlichen Rechts führt zwar zur laufenden Selbstkritik mit dem Ergebnis von sozialen Reformen, die aber wiederum nur Ausbeutung und Zwang durch das Privatrecht befestigen. Die Selbstkritik des bürgerlichen Rechts hat nicht verstanden, worum es geht: Die moderne Form der Rechte ist in sich paradox (355). Hat man das mit M. begriffen, kommt die Revolution von selbst. Sie äußert sich freilich nicht in Gewalt, sondern in einer »Revolution des Urteilens« und in »Gegenrechten«.

Die Lektüre des Buches war durchaus angenehm. Anders als das Zitat am Ende des Eintrags vom 2. Februar 2016 befürchten ließ, ist der Text frei von sprachlichen Kontorsionen. Im Gegenteil, er besticht durch die Eleganz der Darstellung. Das Layout entspricht eher einem literarischen als einem wissenschaftlichen Werk. Die Sätze, wenn auch nicht immer ihre Aussage, sind klar und durchsichtig. Wiederholte Wiederholungen und Zusammen-fassungen bilden ein Stilelement, als ob dem Leser damit Argumente und Thesen eingehämmert werden sollen. Dem senilen Leser erleichtert dieser performative Stil die Lektüre. Ein Stilbruch ist die Grafik auf S. 304. Lästig ist die Wiedergabe der Anmerkungen als Endnoten. Vermisst werden Sachregister und Literaturverzeichnis.

Das Buch ist in vier Teile und fünfzehn durchgezählte Kapitel gegliedert. Außerhalb der Gliederung stehen die Einleitung und ein Schluss über »Recht und Gewalt«.[3] In Exkursen, die im Layout als solche erkennbar sind, setzt M. sich mit alten und postmodernen Autoren auseinander. Jeder Exkurs ist ein kleines Meisterstück der Darstellung, und sie alle tragen zur Verdeutlichung der Argumentation bei.

Warum ist so viel über das subjektive Recht gedacht und geschrieben worden? Auf der Oberfläche geht es um ein Definitionsproblem. Der Begriff des subjektiven Rechts wird mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet mit der Folge, dass man nicht selten aneinander vorbeiredet. Auf der einen Seite steht ein sehr weiter Begriff, der Rechtspositionen im Sinne absoluter Rechte (Eigentum, Persönlichkeitsrecht, Grundrechte) ebenso einschließt wie Gestaltungsrechte und Forderungen. Auf der anderen Seite steht ein enger technischer Begriff, der unter subjektiven Rechten nur klagbare Ansprüche versteht. Hinter der Kontroverse um den richtigen Begriff des subjektiven Rechts steckt das Dauerproblem der Rechtsphilosophie, nämlich die Frage, wieweit die Geltung des Rechts von seinem Inhalt abhängig ist. Gehört es zum Begriff des subjektiven Rechts, dass es gerecht ist, sei es, dass es ein (berechtigtes) Interesse schützt, sei es dass es im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit Gegenleistung oder Restitution bildet, sei es, dass es im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit Bedürfnisse zufrieden stellt? Oder genügt es, auf die Willensmacht des Rechtsträgers abzustellen? Im Hintergrund steht Karl Marx’ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Daran knüpft M. an mit der These, das subjektive Recht habe nicht gleiche Rechte für alle, sondern nur die »Gleichheit der Form der Rechte« gebracht (7).

Es handelt sich um eine relativ junge Problematik. In ursprünglichen Verhältnissen war in allen Rechtsbeziehungen Reziprozität im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit eingebaut. So wie heute noch der Käufer meistens sieht oder weiß, was er für sein Geld bekommt, waren alle Rechtsbeziehungen mehr oder weniger konkrete Tauschbeziehungen. Im modernen Recht ist die Gegenseitigkeit nicht mehr zu erkennen. Für sich betrachtet erscheint das subjektive Recht daher oft als ein ungerechtes Recht. Mit den Worten Luhmanns:

Ein Professor, der sich überarbeitet hat, wird nicht in der Universität wiederhergestellt, sondern im Sanatorium. Den Bau von Freibädern bezahlen nicht diejenigen, welche die Flüsse verunreinigen. Die Unfallopfer werden nicht in die Autofabriken gebracht, die Atombombe nicht auf die Physiker geworfen, die randalierende Jugend wird nicht von ihren Eltern und Lehrern niedergeknüppelt. Es muss mithin in erheblichem Umfang Mechanismen der Problemüberwälzung und eines indirekten Folgenausgleichs geben. Diese Umleitung wird durch abstrakte Medien wie Macht und Geld zu verbindlichen Entscheidungen getragen. … Juristisch ließe sich ein solcher indirekter Ausgleich ohne die Figur des subjektiven Rechts kaum organisieren.[4]

Viele sind heute der Ansicht, das subjektive Recht sei als »modernes« individualistisches Konzept überholt und müsse durch kommunitäre Vorstellungen ersetzt werden. Vielleicht sind wir sogar schon auf dem Wege dorthin. Dagegen steht die »rights explosion«[5] oder »rights revolution«[6] im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die auf die Positivierung der Menschenrechte zurückgeht und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.

Es gibt hier also ein großes Thema. Daher ist es nicht überraschend, dass das M.s Buch in Akademie und Medien auf Resonanz gestoßen ist.[7] M. entwickelt seine Kritik weitgehend in einer Diskussion mit der Rechtstheorie, wie sie im 19. Jahrhundert von Savigny, Ihering und Windscheid und später von Georg Jellinek und Kelsen auf den Weg gebracht wurde. Das war für mich der Grund, dem Buch so viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Rezensionen in den Medien fallen eher zurückhaltend aus. Sie halten dem Buch einen hohen Abstraktionsgrad und mangelnde Verständlichkeit vor, suchen vergeblich nach der angekündigten »neuen Revolution der Rechte« und sehen »großes Theoriekino«. In der Akademie wird die Qualität eines geisteswissenschaftlichen Textes wird an der Elaboration der Darstellung gemessen. Davon haben Auer und Möllers sich leiten lassen. Auer findet die »Kritik der Rechte« eindrucksvoll[8] und Möllers sogar furios. Er meint, »Menkes Buch [sei] von einer geradezu berückenden systematisch-begrifflichen Geschlossenheit. … die begriffliche Rigorosität [schaffe] ein neues eigenes Argument«[9]. Bis zu einer Kritik der Kritik dringen die Kritiker nicht vor. Das war aber in den für die SZ und die FAZ geschriebenen Rezensionen auch nicht zu erwarten. Hilfreich war deshalb die parallele Lektüre von Marietta Auers 2014 erschienener Monographie »Der privatrechtlichen Diskurs der Moderne«.

In der Form betreibt M. eine Begriffsphilosophie, die Juristen an die Begriffsjurisprudenz erinnert. Dabei helfen offene Allgemeinbegriffe wie Subjekt und Macht, Revolution und Krise, Naturalisierung, Materialismus und Positivität, Privatisierung und Politisierung sowie für die Metaebene Selbstreflexion, Dialektik und Ontologie. Aus den anscheinend beschreibenden oder analytischen Begriffen werden normativ aufgeladene Ergebnisse abgeleitet. Das funktioniert besser noch als bei der alten Begriffsjurisprudenz, weil die Begriffe so gegriffen werden, dass sie in sich oder in Kombination Widersprüche ergeben. Aus Widersprüchen lassen sich beliebige Schlussfolgerungen ziehen.

Dieser Umgang mit den Begriffen ist unhistorisch und unsoziologisch, denn er unterstellt, dass die Welt den Begriffen folgt, und nicht umgekehrt. M.s Begriffswelt führt ein Eigenleben. Sie lässt in der Schwebe, ob die Ideengeschichte des Liberalismus von Locke bis Rawls begrifflich analysiert oder ob die Wirkungsgeschichte dieser Ideen nachvollzogen werden soll. Entwicklung und Konflikte der Gesellschaft werden aus Begriffen rekonstruiert. Auf Luhmannesisch gesagt, M.s Begrifflichkeiten invisibilisieren die Realität des modernen Rechts.

In der Sache führt M. einen Angriff auf den klassischen und ebenso auf den modernen Rechtsliberalismus. Er hält seinen Angriff für vernichtend. Daher sind alle, die der Ansicht sind, dass dieser Liberalismus die Basis ihres Staates und seiner Gesellschaft und auch die Basis der westlichen Welt bildet, zu einer Verteidigung des Liberalismus aufgerufen. Bisher ist der Aufruf ungehört verhallt. In der Akademie gehört es heute zum guten Ton, mit der Liberalismuskritik zu kokettieren, auch wenn man keine Alternative vorweisen kann.

Zu den subjektiven Rechten, denen die Kritik M.s gilt, gehören über das klassische Privatrecht hinaus die sozialen Teilhaberechte sowie die Grund- und Menschenrechte. Die Grundrechte wären ein guter Ausgangspunkt, um die praktischen Konsequenzen und die noch unausgeschöpften Möglichkeiten der Form des subjektiven Rechts in Augenschein zu nehmen. Diese Möglichkeiten hatte schon der von M. ausgiebig rezipierte Georg Jellinek angelegt, wenn er sagte, dass »Wille und Interesse oder Gut … im Begriffe des Rechts [nicht] nothwendig« zusammengehören, und wenn er das Recht darüber hinaus von der Betroffenheit individueller Interessen überhaupt befreite[10]. Was daraus geworden ist, deutet die von M. geschätzte Feministin Wendy Brown an, wenn sie vom Ortswechsel vieler sozialer Bewegungen von der Straße in den Gerichtssaal spricht[11]. Aber M.s Analyse, die dem Begriff des subjektiven Rechts eine innere Widersprüchlichkeit attestiert, verbaut sich den Blick für die Möglichkeiten, die in der Form des subjektiven Rechts stecken.

Durch die Betonung der Begriffsarbeit und die eingehende Auseinandersetzung mit der analytischen Rechtstheorie wirken die Thesen des Buches analytisch und verstecken ihre Normativität. M. kritisiert das moderne Recht, weil »das Gesetz … nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander« ist. Das moderne Recht sei egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit würden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen (S. 59). Auer meint, »die Rückkehr zu einem sittlichen Rechtsverständnis im Sinne der Vormoderne« habe M. bei seiner Kritik »natürlich« nicht im Sinn. Was dann, fragt sich der Leser, wenn ihm von dem »neuen Recht« auch nur eine Form vorgestellt wird?

Auer lobt, M. habe seine Thesen historisch verankert. Doch er hat sich mit Athen und Rom einen bequemen Ankergrund ausgesucht. Sehr viel steiniger ist die nationalsozialistische ebenso wie die international-sozialistische Rechtserneuerung. Beide haben die Entwicklung noch einmal zurückgedreht, indem sie subjektive Rechte mit einer objektiven Bindung versehen haben, die von M.s Sittlichkeitsbegriff gedeckt ist, der verlangt, »daß die Inanspruchnahme der Rechte durch ein geteiltes Ethos reguliert ist« (S. 272).

Ein zentrales Element der Moderne und damit auch des Liberalismus ist die Skepsis gegenüber moralischer Gewissheit. Sie wird von M. nicht gewürdigt. Daher wirkt die Emphase, mit der er immer wieder den Verlust der Sittlichkeit im Recht beklagt, wie eine Einladung an das einzige zeitgenössische Recht, das durchgehend moralisch verankert ist, nämlich an die Scharia (= Modell Riad).

Diese meine Kritik der Kritik verlangt nach näherer Begründung. Eine Fortsetzung ist deshalb geplant, aber noch nicht gesichert.

[1] Christoph Menke, Kritik der Rechte, Suhrkamp, Berlin 2015, 485 S. 29,95 EUR..

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original.  Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Zu diesem Schluss bereits der Eintrag vom 2. Februar 2016 Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen?.

[4] Niklas Luhmann, Zur Funktion der »subjektiven« Rechte, JbRSozRTh 1, 1970, 321/327 f.

[5] Robert A. Licht, Old Rights and New (The Rights Explosion), Washington, D.C., 1993.

[6] Bruce A. Ackerman, The Civil Rights Revolution, Cambridge, Mass., 2014; Charles R. Epp, The Rights Revolution. Lawyers, Activists, and Supreme Courts in Comparative Perspective, Chicago 1998; Michael Ignatieff, The Rights Revolution, Toronto 2000; Cass R. Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the Regulatory State, Cambridge, Mass., 1993; Samuel Walker, The Rights Revolution. Rights and Community in Modern America, New York 1998.

[7] Marietta Auer, Sittlichkeit ist halt perdu, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10;  Hannah Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, Deutschlandradio Kultur am 11. 12. 2015; Christoph Fleischmann, Rezension, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Christoph Möllers, Jenseits des Eigenwillens, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Tom Wohlfahrt, Die Möglichkeit der Rechte, Blogbeitrag vom 26. 1. 2016.

[8] Das ist ein bißchen überraschend, denn M. folgt keineswegs der Devise Auers, »die soziale Praxis ernst zu nehmen« (Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 5).

[9] Möllers a. a. O.

[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44, 71.

[11] Wendy Brown, Die Paradoxien der Rechte, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011,  454-473, S. 454. In diese Richtung deutet auch Möllers, wenn er auf »vielen um Emanzipation kämpfenden Gruppen [hinweist], die erst durch die gemeinsame Einforderung von Rechten politisch vergemeinschaftet wurden.«

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Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands Teil II

Soweit ging es um den Rechtsschöpfungsprozess (jurisgenerative process) in einer, wie Cover sagt, imaginären Welt, in der sich das Recht allein aus dem »hermeneutischen Impuls« – the human need to create and interpret texts –, entwickeln würde. Das ergibt ein idyllisches Bild:

»Law would develop within small communities of mutually committed individuals who cared about the text, about what each made of the text, and about one another and the common life they shared. Such communities might split over major issues of interpretation, but the bonds of social life and mutual concern would permit some interpretive divergence.« (S. 40)

Aber:

»the jurisgenerative principle by which legal meaning proliferates in all communities never exists in isolation from violence. Interpretation always takes place in the shadow of coercion. And from this fact we may come to recognize a special role for courts. Courts, at least the courts of the state, are characteristically ›jurispathic‹.« (S. 40)

Es gibt zu viel Recht, und dem begegnen die Gerichte, indem sie gewaltsam ein Recht anerkennen und die anderen Rechte vernichten.

»Modern apologists for the jurispathic function of courts usually state the problem not as one of too much law, but as one of unclear law. The supreme tribunal removes uncertainty, lack of clarity, and difference of opinion about what the law is. This statist formulation is either question begging or misleading.« (S. 42)

Kommentatoren[1] verstehen diese Stelle als implizite Ausein-andersetzung mit gängigen Theorien über die richterliche Rechtsfindung. Doch Cover begnügt sich damit, die richterliche Tätigkeit in Zweifelsfällen als eine negative zu behaupten: law-killing statt law making[2]. Das klingt nach Super-Hobbes.

Auf jeden Fall handelt es sich um eine Schlüsselstelle in Covers Text. Sie erweckt den Eindruck, als ob Gewalt erst mit den Gerichten in die Welt kommt. Diesem Eindruck tritt Cover zwar im nächsten Abschnitt entgegen. Doch Beweislast und Gewichte sind jetzt verteilt. Cover spielt mit dieser Ambivalenz, um das plurale Recht aufzuwerten. Das plurale Recht ist das eigentliche Recht. Richter sind nicht Pathologen des Rechts, sondern selbst pathologisch.

Immerhin bleibt ein Argument für die Aufwertung pluralen Rechts. Seine Bildung geht mit Engagement (commitment) einher (S. 45).[3] Einige Interpretationen sind gar mit Blut geschrieben (S. 46). Und es ist gelebtes Recht. (Dagegen müssen Richter ihr Recht nicht selbst »leben«.) Damit ändert sich für Cover die Wertung des zivilen Ungehorsams, stammt er doch aus einer jurisgenerative community out of which legal meaning arises the integrity of a law of its own (S. 47). Und daraus folgen unvermeidbar Konflikte mit dem staatlichen Recht.

»Commitment, as a constitutive element of legal meaning, creates inevitable conflict between the state and the processes of jurisgenesis.« (S. 46)

Die Richter machen sich die Sache nicht leicht, dennoch,

»all judges are in some way people of violence« (S. 47).

Dramatischer noch kommt dieser Aspekt zwei Jahre später in »Violence and the Word« zur Sprache.

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. … A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur.«

Gewalt ist nicht genug. Folter kommt hinzu, und die beginnt schon mit der Befragung im Verfahren.[4] Es ist ja richtig, dass wir die Justizverlierer gerne vergessen. Doch selbst unter dem Eindruck der in den USA noch immer aktuellen Todesstrafe, angesichts der Tatsache, dass in Gefängnissen Gewalt an der Tagesordnung zu sein scheint (und auch noch in der Zeit nach Guantanamo) sind das starke Worte; sie werden mehr durch historische als durch aktuelle Beispiele unterfüttert. Für Cover sind die Verlierer auch der modernen Justiz alle kleine Märtyrer.[5] Er fügt allerdings hinzu:

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

So differenziert Covers weitere Ausführungen auch sein mögen: der Ton macht die Musik, und der Ton ist sehr laut.[6]

Zurück zu »Nomos and Narrative«. Die injustice of official law gilt für Cover als ausgemacht, wenn die community sich in Law-Review-Artikeln eine Gegenmeinung gebildet hat (S. 47). Es ist die committed action, die (echtes) Recht von bloßer (Rechts)-Literatur unterscheidet (S. 49). Wer sich für sein Recht engagiert, für den ist die Gewalt des Staates ein bloßes Faktum:

»If there is a state and if it backs the interpretations of its courts with violence, those of us who participate in extrastate jurisgenesis must consider the question of resistance and must count the state’s violence as part of our reality.« (S. 53)

Bemerkenswert, dass Cover hier in die Wir-Aussage überwechselt. Und noch einmal:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office.« (S. 53)

Versöhnlich heißt es aber weiter »judges are also people of peace«. Sie kleiden ihr Tun, damit es nicht als nackte Gewalt erscheint, ihrerseits in Narrative wie das vom Gesellschaftsvertrag oder vom Wohlfahrtstaat (S. 54). Bei der Ausübung ihrer Tätigkeit distan-zieren sie sich mit Narrativen über richterliche Unabhängigkeit mehr oder meist weniger von der Exekutive, die unmittelbar über die Gewalt verfügt. Hier leuchtet eine kleine, versöhnende Vision auf:

»It is possible to conceive of a natural law of jurisdiction. In elaborating such a law … a judge might appeal to narratives of judicial resistance …. He might thus defend his own authority to sit in judgment over those who exercise extralegal violence in the name of the state. In a truly violent, authoritarian situation, nothing is more revolutionary than the insistence of a judge that he exercises such a ›jurisdiction‹ – but only if that jurisdiction implies the articulation of legal principle according to an independent hermeneutic … «

In den Folktales of Justice knüpft Cover daran wieder an, um in der jüdischen Tradition nach Narrativen vom mutig unabhängigen Richter zu suchen. Ein modernes Beispiel eines solchen Narrativs mit der »gesture of speaking truth to power« findet er dort am Ende im Russell-Tribunal zum Vietnam-Krieg.

Nomos and Narratives beschließt ein Abschnitt, der doch noch die Verdienste des imperial law, für das Staat und Richter stehen, würdigt (S. 60ff).

»But the Temple has been destroyed – meaning is no longer unitary; any hermeneutic implies another.«

Deshalb muss eine übergreifende Rechtsordnung für Frieden sorgen. Aber einen neutralen Standpunkt gibt es dafür nicht.

»Judges are like the rest of us. They interpret and they make law.« (S. 67).

Die Wortgewalt Covers hat mich nicht davon überzeugt, dass Gewalttätigkeit das hervorstechende Merkmal staatlichen Rechts sei. Ohnehin hätte dieses Attribut keine direkten Konsequenzen. Ebenso wenig überzeugt sie mich von der Qualität gesellschaft-lichen Rechts. Seine Aufwertung gesellschaftlichen Rechts macht vor Kelsens Räuberbanden keinen Halt. Auch fundamentalistische Religionen, rassistische oder mafiöse Zirkel haben ihren Nomos, und Cover bietet keinen Maßstab, um diesen den Respekt zu verweigern.[7] Wenn eine Stellungnahme zu zivilem Ungehorsam gefordert ist, ziehe ich Martin Krieles nüchterne Stellungnahme[8] vor.

Richtig und wichtig bleibt freilich, dass es keine hermeneutisch überlegene Position für staatliche Rechtsanwender gibt (S. 42). »The judge [is] armed with no inherently superior interpretive insight« (S. 54). Richter sind nicht per se klüger als alle anderen. Insofern ist es sicher richtig zu sagen, dass staatliches Recht dem »gesellschaftlichen« nicht a priori überlegen ist. Aber diese Einsicht ist eher trivial. Wem Gott ein Amt gibt, dem mag er auch Verstand geben. Richterämter werden nicht von Gott vergeben. Richtig und wichtig ist ferner, dass Gerichte selten oder nie normative Ideen neu erfinden, sondern stets nur eine Auswahl unter dem Normmaterial treffen, dass an sie herangetragen wird. Aber die Kür ist keine gewaltsam-willkürliche Vernichtung der Alternativen, sondern eine bedachte Wahl. Nur ein imperial law, das an die Stelle einer Interpretation aus Leiden und Leidenschaft eine Interpretation aus distanzierter Vernunft jedenfalls versucht, hat die Chance, die positive Pluralität zu gewährleisten, die Cover in eine Fußnote verbannt hat.

Richard K. Sherwin, der Cover als einen in der Wolle gefärbten Illiberalen kritisiert, der romantischem Märtyrertum das Wort rede, will dann doch noch eine Lehre ziehen:

»In light of the foregoing critique, perhaps Cover’s most valuable contribution may be put as follows: Only after reencountering (or, if we are fortunate, by anticipating) the chaotic violence spawned by radically opposing beliefs do we come to appreciate (perhaps even strongly enough to practice) the wisdom of liberal constraint. Repulsing the chaos of polynomial fecundity on the one side and totalitarian belief on the other, liberalism finds the bounds within which untrammeled discourse may safely flourish.«[9]

Covers Rückgriff auf jüdische Rechtstradition ist in meinem Refereat zu kurz gekommen. Mit Absicht. Vorläufig sei dazu auf die kundige und ausgewogene Würdigung von Suzanne Last Stone verwiesen.[10]

 

[1] Wie Franklin G. Snyder, Nomos, Narrative, and Adjudication: Toward a Jurisgenetic Theory of Law, William and Mary Law Review 40, 1998, 1623-1729, S. 1629, 1634.

[2] Snyder S. 1624.

[3] In einer Fußnote bezieht Cover sich dazu auf Heidegger, Sein und Zeit. Wenn man allerdings so verallgemeinernd Interpretation und Engagement zusammenbindet, entsteht die Frage, was plurale Interpretation von richterlicher unterscheidet.

[4] Violence and the Word, S. 1603.

[5] Violence and the Word, S. 1604.

[6] Auf die m. E. missglückte Argumentation mit dem Milgram-Experiement (S. 1613ff) hatte ich schon hingewiesen.

[7] Snyder, Nomos, Narrative, and Adjudication, 1627; Richard K. Sherwin, Law, Violence and Illiberal Belief, The Georgetown Law Journal 78, 1999, 1785-1835, S. 1831.

[8] Recht und Ordnung, ZRP 1972, 213-218. Schon zuvor hatte Kriele einen Weg über Anthroposophie und Katholizismus zum Mystiker eingeschlagen. Darüber berichtet er auf seiner Webseite http://www.martinkriele.info/. Literarisch und als Rechtswanwalt hat er sich für kleinere Religionsgemeinschaften und Sekten eingesetzt. Er würde jetzt wohl auch Gefallen an den Texten Covers finden.

[9]A. a. o. S. 1835.

[10] In Pursuit of the Counter-Text: The Turn to the Jewish Legal Model in Contemporary American Legal Theory, Harvard Law Review 106, 1993, 813-894.

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Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands

Im Eintrag vom 2. Februar habe ich mit kritischem Unterton aus Texten von Robert M. Cover zitiert. Nun gibt es Anlass, etwas ausführlicher auf Covers Texte einzugehen. Im Eintrag vom 1. Dezember 2015 hatte ich am Ende auf eine neue Veröffentlichung von Marietta Auer hingewiesen: Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz[1]. Auer deutet die Freirechtlehre von Kantorowicz als »interpretativen Rechtspluralismus«. Bemer-kenswert wird diese These durch ihre Begründung mit Hilfe rabbinischer Interpretationskultur. Diese These fordert zur Stellungnahme heraus.

Solche Stellungnahme braucht einige Vorbereitung. Auer findet den »Schlüssel« zu ihrer These »in der von der Rechtswissenschaft erst kürzlich wiederentdeckten Tradition des jüdischen Rechts, deren Fruchtbarkeit für das Verständnis der Normen- und Interpretationskonflikte im multipolaren Rechtspluralismus der Gegenwart seit einiger Zeit erkannt« werde (S. 789). Als Gewährsmann dient ihr vor anderen Robert M. Cover. Deshalb will ich mich hier zunächst auf dessen Texte einlassen.

Robert M. Cover (1943-1986) hält in den USA Zitierrekorde, ist in Deutschland aber nur Kennern vertraut. Continue reading

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Begriffe, Konzepte, Konzeptionen und »essentially contested concepts«

Hier ein kleiner Baustein für die Allgemeine Rechtslehre [1]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.: Früher war ein Konzept im Deutschen eigentlich nur der Entwurf (eines Textes). Heute redet man auch in wissenschaftlichen Texten (nach unserem Eindruck zunehmend) von Konzepten und Konzeptionen. Dabei wird nach unserem Sprachgefühl die »Konzeption« – gerade umgekehrt wie im Englischen – eher in weiterem Sinne verwendet.

In den USA unterscheidet man zwischen »concepts« und »conceptions«. Lawrence B. Solum erläutert die Unterscheidung in seinem Legal Theory Lexicon: »Concept« bezeichnet einen relativ allgemeinen Begriff. Das Musterbeispiel ist Gerechtigkeit. Aber man kann auch an Schuld, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Rechtswidrigkeit, Kausalität, Irrtum und viele andere Begriffe denken. »Conception« dagegen ist eine spezielle Theorie über den Inhalt des allgemeinen Begriffs, etwa die Interpretation von Gerechtigkeit als ausgleichende Gerechtigkeit oder als soziale Gerechtigkeit, oder Vorsatztheorie und Schuldtheorie für den Rechtsirrtum im Strafrecht. »Conceptions« sind (umstrittene) inhaltliche Ausfüllungen des allgemeineren Begriffs. Man kann also »concept« mit »Begriff« und »conception« mit »Theorie übersetzen.

Eine besondere Klasse bilden die essentially contested concepts, eine Begriffsschöfung von Walter B. Gallie [2]Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167-198; ders., Philosophy and the Historical Understanding, 1968, 157-191.. Gemeint sind sehr allgemeine Begriffe mit normativem Gehalt, die ein Themenfeld abdecken, deren Inhalt aber notorisch umstritten ist. Beispiele sind Demokratie und Rechtsstaat, Gleichheit. Wir werden diese Begriffsbildung für die Einordnung des notorisch umstrittenen Rechtsbegriffs nutzen.

Nachtrag vom 15. 10. 2016: Ein »Handout zum Jugendhilfetag Frankfurt (Oder) 2010« zeigt ein anderes Verständnis der Begriffe, wie es in der (Sozial-) Politik gebräuchlich ist: Ein Konzept ist danach ein »theoretisch wie empirisch gut begründeter Handlungsplan«. Die Konzeption dagegen ist einerseits » ein fließender Prozess. Sie umfasst die gesamte konzeptionelle Arbeitsphase – im Gegensatz zur Organisations- oder zur Realisierungsphase.« Andererseits versteht man unter Konzeption die alles prägende Leitidee eines Plans. Beispielsweise bemängeln die Kommentatoren der einschlägigen Medien gern, dass in der Gesundheitsreform keinerlei Konzeption stecke.« [3]Als Quelle wird auf einen Blogeintrag auf Konzeptionerblog von 2006/2007 verwiesen. Den Eintrag finde ich nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.
2 Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167-198; ders., Philosophy and the Historical Understanding, 1968, 157-191.
3 Als Quelle wird auf einen Blogeintrag auf Konzeptionerblog von 2006/2007 verwiesen. Den Eintrag finde ich nicht.

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