Denkmalschutz für die Ehe

»Ehe nach Bedarf« ist ein Text von Antje Schrupp überschrieben, der bescheiden als Kommentar daherkommt. Ich kenne keinen Text, der die Situation von Ehe und Familie angesichts der Entkoppelung von Geschlecht, Sexualität und Generativität so luzide, kurz und knapp darstellt. Das gelingt durch eine Besinnung auf die historische Funktion der Ehe als einer Verantwortungsgemeinschaft für Kinder und rückwärts gewandt dann vielleicht auch für die Alten.

»Beim heutigen Stand von Geburtenkontrolle und Reproduktionstechnologie ist die Frage, wer mit wem schläft und wer wen liebt, tatsächlich Privatsache, die die Gesellschaft und den Staat nichts angeht. Mit der Frage, wer für wen sorgt und wer mit wem eine verantwortliche – auch ökonomische – Lebensgemeinschaft eingeht, hat sie nicht mehr notwendigerweise etwas zu tun.« (Schrupp S. 12)

Das ist sicher richtig. Keine Privatsache ist dagegen die Frage, wer Kinder in die Welt setzt, denn der Staat ist mindestens subsidiär dafür verantwortlich, dass die Kinder gedeihen.

Nun kann man schwerlich die Zeugung von Kindern genehmigungspflichtig machen. Aber der Staat kann durchaus Lebensgemeinschaften privilegieren, die sich für die Pflege und Erziehung der Kinder verantwortlich fühlen. Diese Lebens­gemeinschaft war bisher die Ehe. Schrupp weist auf die alternativen Formen hin, die sich als Sorgegemeinschaften für Kinder anbieten. Welche der Alternativen sich auf Dauer durchsetzen kann und welche als Milieublüte verwelkt, welche sich im Blick auf das Kindeswohl als hinreichend beständig und konfliktfrei erweist, ist allerdings noch offen. Wenn man der Auffassung ist, dass Kinder nicht in staatlichen Heimen, sondern in einer »verantwortlichen Lebens­gemeinschaft« aufwachsen sollten, hat die heterosexuelle Liebesehe die Vermutung der unvor­denklichen Bewährung für sich. Die Tauglichkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe für die Kindererziehung bleibt umstritten. Das Thema ist so heikel, man auch empirischen Untersuchungen nicht traut.[1] Das Modell der alleinerziehenden Mutter schneidet, nach den zahlreichen Hilferufen zu urteilen, schlecht ab. Die anderen Modelle warten noch auf ihre empirisch überprüfte Bewährung.

Die Funktionstauglichkeit der Lebensgemeinschaft für Sorgezwecke ist freilich ein trauriges Kriterium. Art. 6 I GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates. 1949 verstand man darunter die heterosexuelle Ehe und die daraus entspringenden Kinder. Alleinerziehende Mütter und nichteheliche Kinder wurden in Art. 6 IV und V besonders bedacht. Seither haben sich die Familienformen so sehr gewandelt, dass für eine subjektiv historische Auslegung des Grundgesetzes kein Raum mehr ist. Daher kommt ein anderer Gedanke ins Spiel. Die traditionelle Ehe ist ein immaterielles Kulturerbe. Dazu bedarf es keiner Anerkennung der UNESCO oder irgendjemandes sonst. Die Ehe ist zu groß, um sie mit dem Skatspiel und dem Narrengericht zu Grosselfingen in eine Liste aufzunehmen. Sie verdient mindestens so viel Pflege wie andere Kulturdenkmäler. Das Denkmal ist allerdings durch § 1353 I 1 BGB n. F. schon eingerissen. Den Originalzustand könnte auch das BVerfG nicht mehr wieder herstellen. Pflegen wir also jedenfalls den Rest, die lebenslange Liebesgemeinschaft, übrigens gar keine schlechte Voraussetzung für die Funktionalität als Verantwortungsgemeinschaft auch für eine Familie.

Nachtrag vom 9. 2. 2021: Zwei jüngere Veröffentlichungen machen sich für neue Familienmodelle stark:

Almut Peukert/Julia Teschlade/Christine Wimbauer/Mona Motakef/Elisabeth Holzleithner, Elternschaft und Familie jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit, 2020;

Christine Wimbauer, Co-Parenting und die Zukunft der Liebe. Über post-romantische Elternschaft, 2021.

Auf den ersten Blick habe ich den Eindruck von Interessentenwissenschaft. Da wären publication disclosure statements angebracht.

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[1] Das gilt für die Untersuchung von Mark Regnerus, How Different Are the Adult Children of Parents Who Have Same-Sex Relationships? Findings from the New Family Structures Study, Social Science Research 41, 2012, 752-770. Regnerus, der aus einem katholisch-christlichen Umfeld kommt und zunächst religionssoziologisch gearbeitet hat, hat mit der Studie von 2012 über die Entwicklung von Kindern, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwuchsen, heftige Kontroversen ausgelöst. Seither gilt er in LGBT-Kreisen als Anti-Gay-Researcher. Eine Nachuntersuchung der von Regnerus benutzten Daten durch Cheng und Powell kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede nur gering seien (Simon Cheng/Brian Powell, Measurement, Methods, and Divergent Patterns: Reassessing the Effects of Same-Sex Parents, Social Science Research 52, 2015, 615-626). Zum Thema Joachim-Müller Jung, Leben Kinder homosexueller Partner schlechter?, FAZ vom 22. 11. 2018.

 

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Tannhäuser als Völkerschau in Bayreuth

Der diesjährige »Tannhäuser« in Bayreuth hat mich einen langen Abend an den Fernseher gefesselt. Die Musik war berauschend, Venus und Elisabeth waren umwerfend. Der Titelheld zwischen zwei begehrenden Frauen – das war ein starker neuer Akzent, den der unvorbereitete Hörer begreifen konnte, ohne dass es des Quickies zwischen Elisabeth und Wolfram bedurft hätte. Die Wartburg in Gestalt des Hügels als Gegenüber des Venusbergs – auch das eine hübsche Idee. Und schließlich die Split-Level Darbietung der beiden Hügel – brachte Abwechslung und Witz, auch wenn ich einige Zitate erst ex post mit Kritikerhilfe entschlüsseln konnte. Ein Zitat hat die Kritik freilich nicht benannt, die Performance eines Schokoladenkuchens als Dragqueen und das Narrenspiel eines Zwerges als Aktualisierung von Hagenbecks Völkerschau. Oder war das gar kein Zitat?

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Wie bei Gericht, so im Krankenhaus

Meine ersten Erlebnisse in der Justiz hatte ich als Referendar und später als Richter. Da gehörte ich dazu, war sozusagen Insider, und (fast) alles, was dort geschah, erschien mir sinnvoll, funktional und bald auch selbstverständlich. Selbstverständlich auch, dass man bemüht war, den »Kunden« freundlich und mit Hilfestellungen zu begegnen. Auch als ich später einmal als Kläger bei Gericht war, wusste ich, worauf ich mich einließ, und es war beinahe ein Vergnügen auszuprobieren, wie die Justiz als Dienstleister arbeitet. Zwar hatte ich aus der Rechtssoziologie gelernt, dass das Gerichtserlebnis für den Normalbürger durchaus verstörend sein kann, dass er die Kommunikation vor Gericht als asymmetrisch empfindet, dass ihm viele Justizroutinen als bürokratisch und dem eigenen Anliegen unangemessen erscheinen, dass er sein Problem in Schriftsätzen und Gerichtstexten nur schwer wieder erkennt und dass er sich als Person zum Vorgang verdinglicht und nicht gebührend gewürdigt fühlt. Aber dieses Wissen blieb doch als bloß kognitives relativ »kalt«. Nun habe ich gerade ein Krankenhauserlebnis hinter mir. Auch wenn der Ausgang am Ende nicht unerfreulich war, hatte ich doch gewisse Probleme, mit der Einschränkung der Selbstbestimmung zurechtzukommen, die mir im Krankenhaus widerfuhr. Das mag leichter fallen, wenn man wegen akuter krankheitsbedingter Einschränkungen Hilfe braucht. Fühlt man sich jedoch subjektiv beweglich und leistungsfähig, ist fremde Autorität nicht gewohnt und hat vielleicht selbst einige autoritäre Züge entwickelt, dann ähnelt die Krankenhauserfahrung in mancher Hinsicht dem, was vermutlich Laien im Gericht erleben.

Schon bei der Anamnese bleiben von dem eigenen Narrativ nur noch Symptome. Mit dem Ablegen der bürgerlichen Kleidung verliert man ein Stück seiner Autonomie. Mit dem Patientenarmband erhält man seine Nummer. Es hilft ein bißchen, dass Armband als All-Inklusive-Ticket zu interpretieren. Das lenkt den Blick auf die ausnahmslos freundliche und zugewandte »Bedienung« durch Ärzte, Pfleger und Schwestern. Aber mit der Fesselung an Kabel und Schläuche kommen Ohnmachtsgefühle auf. Aus Erlebnissen und Gefühlen werden Messwerte. Man wird vom Subjekt zum Objekt des Geschehens. Gegen die in weiße oder violette Kittel und freundlich wohlwollende Bestimmtheit verpackte Autorität gibt es keine Selbständigkeit und schon gar keinen Widerstand. Auch funktionale Autorität bleibt Autorität. Dem rechtssoziologisch verbildeten Patienten hilft der Gedanke an die Gerichtserlebnisse von Laien oder gar, was er früher mal über totale Organisationen gelernt hat, um Abstand von der Situation zu gewinnen, indem er sich auf eine externe Beobachterposition zurückzieht. Er muss freilich registrieren, dass er sich nicht in jedem Augenblick fest genug in der Hand hat, um die Beobachterposition durchzuhalten. Das schmerzt.

So registriert der Beobachter mehr und mehr Parallelen zur Justiz. Computer und Formulare überall. Bürokratische Routinen zu Hauf. Auch wenn sie konkret funktionslos sind, werden sie durchgezogen, so wenn auch der gehfähige Patient zur Untersuchung in einer anderen Abteilung im Bett von zwei ansehnlichen Schwestern über mehrere Stockwerke und lange Gänge hin und zurück durch das Haus geschoben wird. Der Geschobene macht sich in Gedanken selbständig, hat er doch früher schon einmal gesehen, wie im Unterschoss eines anderen Krankenhauses Rollwagen mit Essensportionen automatisch ihren Weg zu den Stationen fanden, und erst kürzlich gelesen, dass BMW und Daimler in der Lage sind, PKW fahrerlos in Parkhäuser einfahren zu lassen. Nun überlegt er, ob er lieber schwesternlos von Geisterhand durch das Gebäude geschoben werden würde.

Die Abschlussbesprechung mit den Ärzten entspricht etwa der Verkündung und der mündlichen Begründung des Urteils. Die schriftliche Begründung geht als Arztbrief am Patienten vorbei an den Hausarzt. So lernt der Patient weiter an seiner Rolle als postulationsunfähiger Laie. Wenn er den Arztbrief doch zu Gesicht bekommt, liest sich der sich wie die Mängelbeschreibung eines Gebrauchtwagens, und der Betroffene versteht, was Verdinglichung heißt, nämlich die Herauslösung von Körper und Sinnen mit ihren Funktionen aus seiner ganzheitlichen Lebenswelt. Am Ende hilft das Entfremdungserlebnis des Krankenhausaufenthalts dem rechtssoziologisch informierten Beobachter vielleicht, Empathie für die Entfremdung zu entwickeln, die Laien bei Gericht erleben. Viel eher sollte ihn umgekehrt das Wissen um die unvermeidliche Asymmetrie solcher Begegnungen stark gemacht haben, das Krankenhauserlebnis zu ertragen. Hat es aber nicht.

Nachtrag vom 29. Juli 2019: Auf eine ärztliche Nachfrage, was man denn besser machen könne, lautet die Anwort: Wenig. Die besseren Ärzte wissen um die Erlebnisse der Patienten. Darauf kommt es an. Die meisten Ärzte sind besser. Es gibt nun einmal Sachzwänge. In der Erinnerung bleibt dann doch beim Patienten eher als Gesamteindruck,  dass sich noch nie so viele Menschen um ihn bemüht haben. Hoffentlich kann man Ähnliches auch von der Justiz sagen.

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Neue Ideen zum Klimaschutz müssen her

Das Kohlendioxidregime wird es nicht bringen. Neue Ideen zum Klimaschutz müssen her. Freitags ist da bisher Fehlanzeige. Daher hier einige Vorschläge. Sie mögen absurd erscheinen. Ihr Ziel hätten sie erreicht, wenn sie bessere Gegenvorschläge auslösten als die Förderung der Elektromobilität.

Mineralwasserverbrauch minimieren: Pro Kopf verbraucht jeder Einwohner in Deutschland über 150 Liter Mineralwasser. Welcher Aufwand an Flaschen, Kästen und Transport. Leitungswasser tut es auch. Daher muss Mineralwasser wie Sekt besteuert werden.

Hundeplage beseitigen: In Deutschland gibt es elf Millionen Hunde, auf der Welt wohl über eine halbe Milliarde. Die fressen und fressen und … und … .

Intelligent demonstrieren: Am Fronleichnamswochenende werden in Aachen und im Rheinischen Braunkohlerevier 20.000 Demon­stranten erwartet. Polizeikräfte aus ganz NRW und Bundes­polizei werden im Einsatz sein. Krankenhäuser und Rettungsdienste in Aachen und rundherum stehen mit doppelter Besetzung in Bereitschaft. Und natürlich müssen die meisten Demonstranten erst einmal anreisen. Ich kann das alles nicht in Kohlendioxidäquivalente umrechnen. Aber es werden nicht wenige sein. Es ist an der Zeit, dass die Jugend sich intelligentere, ressourcenschonendere Methoden der Demonstration einfallen lässt.

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Der Kanzlersturz in Österreich führt zu Hans Kelsen

Ein Staat ohne Regierung ist ein Problem. Dem beugt das Grundgesetz in Art. 67 dadurch vor, dass es ein Mißtrauensvotum gegen den Bundeskanzler nur in Verbindung mit der Wahl eines Nachfolgers zulässt. Die Österreichische Bundesverfassung löst das Problem in Art. 71 dadurch, dass der Bundespräsident eine Interimsregierung bestellt. Art 71 lautet:

»Ist die Bundesregierung aus dem Amt geschieden, hat der Bundespräsident bis zur Bildung der neuen Bundesregierung Mitglieder der scheidenden Bundesregierung mit der Fortführung der Verwaltung und einen von ihnen mit dem Vorsitz in der einstweiligen Bundesregierung zu betrauen. Mit der Fortführung der Verwaltung kann auch ein dem ausgeschiedenen Bundesminister beigegebener Staats­sekretär oder ein leitender Beamter des betreffenden Bundesministeriums betraut werden. Diese Bestimmung gilt sinngemäß, wenn einzelne Mitglieder aus der Bundes­regierung ausgeschieden sind. Der mit der Fortführung der Verwaltung Beauftragte trägt die gleiche Verantwortung wie ein Bundesminister (Art. 76).«

Dieser Artikel entspricht bis auf eine redaktionelle Änderung, die einen Nebensatz zum Hauptsatz und höhere Bemte zu Staatssekretären und leitenden Beamten macht, dem Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, das als Kelsen-Verfassung geläufig ist.[1]

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[1] Thomas Olechowski, Hans Kelsen und die österreichische Verfassung, Aus Politik und Zeitgeschiche 34-35/2018.

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Großvater, warum sind die alle so böse auf den Kühnert?

Gute Frage des 11-jährigen Enkels. In der aktuellen Diskussion wird Kühnerts vielleicht etwas differenzierterer Standpunkt auf ein einfaches Entweder-Oder heruntergebrochen. Dann ist man dafür oder vor allem dagegen. Begründungen scheinen überflüssig zu sein. Es ist doch selbstverständlich. Enteignungen, können nicht funktionieren. Nun ja, das ist wohl am Ende wahr. Aber erklärt das einmal den Enkelkindern. Da kann man sich nicht einfach auf Erfahrungen mit der DDR berufen. Die aktuelle Diskussion scheint zu unterstellen: Die Antwort ist so schwierig. Das versteht ihr sowieso nicht. So geht es mit vielen großen politischen Themen. Glauben, nicht fragen! Auch das ist wohl richtig: eine konsequent deliberative Demokratie dürfte ebenso scheitern wie der konsequente Sozialismus. Und trotzdem: ohne immer neue Erklärungsversuche werden Politik und Medien als elitär oder abgehoben wahrgenommen – mit den bekannten Folgen.

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»Recht anschaulich« jetzt online verfügbar

Nachdem das Buch beim Verlag vergriffen ist, hat der Verleger, Herbert von Halem, großzügig eine Datei zur Verfügung gestellt, die wir nunmehr hier frei zugänglich ins Internet stellen dürfen.

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Die Zeit des Biofeminismus ist gekommen

Ökofeminismus kennt man. Aber Biofeminismus kennt selbst Google nicht. Bisher gibt es ihn nur als Schreckgespenst der Geschlechterforschung.

»Vor allem in medialen und politischen Diskursen zum nachhaltig niedrigen Geburtenniveau in Deutschland, insbesondere der sogenannt deutschstämmigen Bevölkerung, greift trotz einer inzwischen weit ausgereiften Theoriebildung zu Geschlecht als sozialer Konstruktion die Betonung der ›Natürlichkeit‹ der Geschlechterdifferenz um sich.«[1]

Biofeminismus geht von der Natürlichkeit der Geschlechterdifferenz aus. Er wendet sich damit gegen das Dogma vom Geschlecht als sozialer Konstruktion. Biofeminismus wendet sich nicht gegen die grundlegende Einsicht vom Geschlecht als einer sozialen Rolle. Aber Gender gehört eben doch nur zur zweiten Natur des Menschen, die auf dem biologischen Geschlecht als der ersten Natur aufbaut. Zum biologischen Geschlecht gehört »natürlich« auch, dass es nicht immer eindeutig ist.

Gegen die Übertreibungen des Konstruktivismus formiert sich Widerstand. Drei Koryphäen der deutschen Soziologie, Thomas Luckmann, Hans-Georg-Soeffner und Georg Vobruba, kleiden ihn in eine Anekdote[2]:

»Brecht beschreibt … einen großen Philosophenkongress in China, auf dem es darum ging, ob der Gelbe Fluss wirklich oder nur in den Köpfen existiert. Man hat drei Tage diskutiert und dann ist leider eine große Überschwemmung gekommen und hat alle Philosophen ersäuft. Darum konnte die Frage nie endgültig geklärt werden.«

In der Wissenschaftstheorie ist von einem neuen philosophischen Realismus = Neorealismus die Rede, in den Kulturwissenschaften von einem material turn. Eine neophänomenologische Soziologie, die sich u. a. auf Alfred Schütz beruft, sucht nach dem ­sozial­ontologischen Fundament von Sozialität.[3] Für die Soziologie spricht Kneer, allerdings in kritischer Absicht, von Post­konstruktivismus.[4] Ich zögere nicht, den Biofeminismus als postkonstruktivistisch zu charakterisieren, auch wenn es hinter den Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann kein Zurück gibt. Für eine begriffliche Befreiung aus der konstruktivistischen Umklammerung könnte der Begriff der zweiten Natur hilfreich sein, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, aber dennoch nicht vollkommen zu entnaturalisieren.[5]

Biofeminismus in diesem Sinne gibt es bisher nicht. Aber viele rufen danach. Biofeminismus muss allerdings von vornherein in einer Weise begründet werden, die einer Okkupation durch falsche Freunde vorbeugt. Die wirksamste Verteidigung ist nach wie vor die Differenz von Sein und Sollen. Die Berufung auf die Natur kann Manches erklären, aber Weniges rechtfertigen. Juristen wissen um die Problematik des Arguments aus der Natur der Sache.

Ich will gerne gestehen, dass dieser Eintrag meinen Unmut über die Publikumsbeschimpfung in dem eingangs angeführten Text zum Ausdruck bringt. Dennoch handelt es sich nicht um einen verspäteten Aprilscherz. Die Zeit des Biofeminismus ist gekommen. Aber es grenzt schon an einen Witz, dass ein Jurist, zudem ein Mann, den Biofeminismus ausruft.

Nachtrag vom 29. 4. 2019: Google ist nicht so klug wie (oder klüger als?) gedacht. Erst im Kontext von »Biofeminismus« auf Rsozblog findet Google den »Bio-Feminismus« mit Bindestrich im Titel einer Rezension von Heike Kahlert von 2013: Bio-Feminismus – die (Re-)Produktion populärwissenschaftlichen Geschlechterwissens in und durch Medien. Rezension zu Lou-Salomé Heer, »Das wahre Geschlecht«. Der populärwissenschaftliche Geschlechterdiskurs im Spiegel (1947 – 2010), Zürich 2012. Frau Kahlert ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie/Soziale Ungleichheit und Geschlecht and der Ruhr-Universität und hat vermutlich den Call for Papers formuliert, aus dem ich eingangs zitiert habe.

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[1] So beginnt der Call for Papers für den Workshop »Die Organisation von Familie, Generativität und Geschlecht zwischen Re-Naturalisierung und Vergesellschaftung«, der vom 6.- 8. November 2019 an der Ruhr-Universität stattfinden soll.

[2] »Nichts ist die Wirklichkeit selbst.«, Soziologie 44, 2015, 211-234, S. 234.

[3] Robert Gugutzer, Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie, Zeitschrift für Soziologie 46, 2017, 147-166.

[4] Georg Kneer, Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern, Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, 5-25.

[5] Gedanke und Formulierung nach Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

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Zum Vielfaltsbarometer 2019 der Bosch Stiftung

Es bleibt keine Wahl. Die Welt muss sich mit der Vielfalt arrangieren, die die Globalisierung mit sich gebracht hat. Moralische Appelle bringen wenig. Hilfreich ist die Umwertung der mehr oder weniger negativ besetzten Diskriminierungsmerkmale zu positiv belegten Merkmalen gesellschaftlicher Vielfalt, wie sie sich mit dem Bakke-Urteil des US-Supreme Courts von 1978 anbahnte. In dem Verfahren Bakke v. Regents of University of California wehrte sich ein weißer Amerikaner namens Bakke dagegen, dass er nicht zum Medizinstudium zugelassen worden war, weil im Zulassungs­verfahren letztlich Zusatzpunkte für nicht-weiße Bewerber den Ausschlag gaben. Das Gericht bestätigte die vom Kläger schon in der Vorinstanz erkämpfte Zulassung zum Studium und äußerte sich grundsätzlich positiv über die Vereinbarkeit der so genannten affirmative action mit der Equal Protection Clause der Verfassung. In der Begründung gab es jedoch keine Übereinstimmung. Richter Powell hob in seinem Votum als maßgeblichen Grund für das Quotensystem der Universität das Streben nach einer ethnisch gemischten Studentenschaft (ethnic diversity) hervor, nicht dagegen die Bevorzugung farbiger Studienbewerber als Nachteilsausgleich für eine diskriminierte Minderheit.[1]

Längst hat auch die Wirtschaft Diversität als Produktivitätsfaktor entdeckt. Es ist daher kein Zufall, dass jetzt die Bosch Stiftung das in der Jacobs Universität Bremen erarbeitete Vielfaltsbarometer 2019 vorlegt. Das kommt zwar als wissenschaftliche Untersuchung daher, zeichnet sich aber doch mit dem Grußwort des Bundespräsidenten und die Betonung von »Zusammenhalt« als Aktionsforschung aus. (Das muss kein Fehler sein.)

Was mich an dieser Untersuchung stört – aber das gilt für viele Äußerungen über Diversität –, ist die Einbeziehung des Geschlechts. Frauen und Männer sind keine Minderheiten. Die Probleme im Geschlechterverhältnis liegen anders als mit den Gruppierungen, welche die postmoderne Vielfalt ausmachen.

Die diagnostische Validität solcher Umfrageuntersuchungen ist nicht unproblematisch. Hinter den Fragen, die aus dem Anhang S. 110f zu entnehmen sind, scheint immer schon die Wunschantwort auf. Die absoluten Werte beschönigen daher wohl eher. Aber die Relationen mögen stimmen. Eine Relation ist auffällig, nämlich die relativ geringe Toleranz für religiöse Diversität. Juristisch liegt hier zurzeit ein Diskussionsschwerpunkt. Erlaubt sei da ein Gedankensprung zu der neuen Leibniz-Preisträgerin Ayelet Shachar, wenn sie von der Privatisierung von Diversität spricht[2], was im Klartext bedeutet, das Familienbeziehungen, insbesondere die Ehe, qua Religion das staatliche Recht unterlaufen. Der nächste Gedankensprung führt zum Kulturkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die obligatorische Zivilehe mit allen ihren Konsequenzen ist kein Auslaufmodell.

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[1]  Zum Urteil ausführlich Ulrich Beyerlin, »Umgekehrte Rassendiskriminierung« und Gleichbehandlungsgebot in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, ZöaRV 39, 1979, 496-554.

[2] Ayelet Shachar, Faith in Law? Diffusing Tensions Between Diversity and Equality, Philosophy & Social Criticism 36, 2010, 395-411.

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Vom Equal Pay Day zum Equal Life Day

Was man mit der Statistik alles anrichten kann: Am 18. März war Equal Pay Day. Für den 10. Dezember hat das Forum für Männerrechte vor bald drei Jahren den Equal Life Day ausgerufen, freilich ohne großes Echo.[1] Aber die Rechnung stimmt. Die Lebenserwartung von Männern liegt nach den jüngsten vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung veröffentlichten Daten bei 78,31, die von Frauen bei 85,20 Jahren. Frauen leben also fast fünf Jahre länger als Männer. Der Gender Life Gap hat sich zwar laufend verringert. Mit zunehmendem Alter reduziert sich zunächst die fernere Lebens­erwartung. Bei 65-Jährigen beträgt sie 3,22 Jahre. Noch ist nicht zu erkennen, ob und wann jemals ein Gleichstand erreicht sein könnte. Rechnet man die Lebenserwartung in Prozente um, so werden aus der Differenz von 4,91 Jahren 5,8 %. Bezogen auf die männliche Lebenserwartung wären es 6,3 %. Mit Frauen verglichen ist jedes Lebensjahr für Männer um 21 Tage kürzer. Aus Männersicht ist die Lebenserwartung der Frauen um 22 Tage höher. Daher der 10. Dezember als Equal Life Day. So kann man mit Zahlen jonglieren, die höchst interpretationsbedürftig sind.

Zieht man eine neue Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zur Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt[2] zu Rate, so sind Frauen die Gewinner auf dem Arbeitsmarkt. Politiker dürfen über den immer noch verbleibenden Abstand jammern. Wissenschaftler, die in die Klage einstimmen, haben ihre Lektion nicht gelernt, in diesem Falle das Gesetz von der Pfadabhängigkeit der sozialen Entwicklung. Martin Schröder hat kürzlich auf die Schwarzmalerei als déformation professionelle der Soziologen hingewiesen und als Beispiel den Gender Pay Gap genannt:

»Geschlechterungleichheit ist mittlerweile eines der großen soziologischen Themen. Doch wer reflektiert, warum heute ein (unbereinigter) Gender Pay Gap von etwas über 20 % ein enormes Forschungsfeld motiviert, während derselbe Gender Pay Gap noch Mitte der 1950er Jahre bei circa 80% und selbst 1990 bei circa 40% lag, ohne entsprechende Debatten auszulösen?«

Die Untersuchung der Bertelsmann Stiftung belässt es für die Interpretation der Zahlen nicht bei der individuellen Perspektive einzelner Frauen, sondern stellt auf den Haushaltskontext ab, das heißt also, auf die Familienverhältnisse. Da zeigt sich, dass alleinerziehende Mütter die größte Problemgruppe sind. Man darf wohl fragen, warum die Mütter ihre Kinder nicht häufiger den Vätern überlassen. Dass die Väter sie nicht wollen, ist keineswegs immer der Grund. Irgendwie scheint es doch eine besondere Affinität der Mütter zu ihren Kindern zu geben. Das war die Auffassung des Gesetzgebers hinter § 1626a II BGB a. F., die der EGMR aus Rechtsgründen nicht hat gelten lassen[3], die aber damit als Faktum nicht aus der Welt ist. Wer diese Auffassung nicht teilt, muss fragen, wieweit der Status der alleinerziehenden Mutter ein selbstgewählter ist mit der Folge, dass er keine besondere Unterstützung verdient.

In der Ehe und wohl auch in anderen Dauerpartnerschaften mit Kindern ist das Erwerbseinkommen der Männer höher. Solange die Partnerschaft funktioniert, haben die Frauen an dem Einkommen ihrer Männer Anteil. Bei einer Auflösung der Ehe schafft die Aufteilung des Zugewinns einschließlich der Versorgungsansprüche einen Ausgleich. Das kann man nur beklagen, wenn man das damit verbundene Familienbild ablehnt. Elisabeth Badinter hat vollkommen recht, wenn sie meint, die Mutterrolle nehme höchstens 15 Jahre des Lebens ein; es sei kurzsichtig, das gesamte Lebensschicksal darauf auszurichten.[4] Sie schließt ihren Essay mit dem Satz:

»Ich sage nicht, dass Nicht-Stillen ein Sieg für die Frauen ist. Was in meinen Augen zählt, ist die Entscheidungsfreiheit.«

Genau diese Freiheit wird jedoch unterlaufen, wenn equal pay das Ziel ist. Damit verbindet sich ein Druck, der das viel diskutierte Nudging als Kinderspiel erscheinen lässt. Überragendes Ziel sollte es dagegen sein, dass Frauen während der Zeit, in der sie die Mutterrolle wahrnehmen wollen, ihre Berufsqualifikation bewahren und den Anschluss an die Arbeitswelt behalten können. Das ist nicht nur notwendig, weil Ehegatten einander nach der Scheidung nicht mehr unterhaltspflichtig sind. Beruf ist nicht nur Einkommensquelle, sondern auch Lebensinhalt. Deshalb verdient die Möglichkeit, jederzeit voll in den Beruf einzusteigen, Priorität.

Nicht weniger interessant als das Erwerbseinkommen ist die Verteilung des Vermögens zwischen den Geschlechtern. Insoweit fehlen (mir) neuere Zahlen. Ich lege daher die Annahmen der Hans-Böckler-Stiftung von 2010[5] zugrunde. Danach gibt es auch einen deutlichen Wealth Gap. Auch die Vermögensunterschiede werden jedoch erst relevant, wenn sie im Haushaltskontext interpretiert werden. Dann ergibt sich beinahe zwangsläufig, dass der Mann als der formale Breadwinner formal auch Vermögensträger ist. Dann kommt es darauf an, ob und wie die Frauen während der Partnerschaft an dem Vermögen teilhaben und wo es nach dem Ende der Partnerschaft verbleibt. Auch hier gibt es den Ausgleichsmechanismus für Zugewinn und Versorgungsansprüche. Wegen ihrer längeren Lebenserwartung genießen die Frauen das mehr oder weniger gemeinsame Vermögen häufiger als Erben. Ohne genaue Beschreibung der Familienpraxis kommt man hier nicht weiter.[6] Im Gap-Modus formuliert ist das die Frage nach dem Gender Decision Making Gap.[7]

Interessant bleibt vor allem die Frage, ob Frauen in der Arbeitswelt diskriminiert werden. Allgemein wird angenommen, dass viele Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer. Diese Annahme liegt dem Entgelttransparenzgesetz von 2017 zugrunde. Sie ist freilich nicht belegt. Bei Tariflöhnen und Beamtengehältern gibt es keine Unterschiede. Die Statistik besagt nur, dass Frauen bei gleicher formaler Qualifikation noch 7 % weniger verdienen als Männer.[8] Das kann viele Gründe haben, etwa die Wahl des Arbeitgebers, eine Selbstselektion hinsichtlich des Berufsfeldes, fehlende Berufspraxis oder fehlendes Karriereinteresse. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist vermutlich in erster Linie ein Karriereproblem, das heißt, dass Frauen beim Aufstieg in höher bezahlte Positionen Schwierigkeiten haben. Das ist schlimm genug. Aber auch insoweit sollte man nicht mehr mit pauschalen Zahlen hantieren. Es braucht eine genauere Beschreibung der Mechanismen, die sich als Karriereschwellen erweisen.[9] Wenn Frauen dann einmal ein bestimmtes Level erreicht haben, dann scheint sie nichts mehr zu bremsen.[10]

Letztlich bleibt der entscheidende Grund für den beruflich-wirtschaftlichen Abstand zwischen den Geschlechtern das Familienbild, an dem sich noch immer die Mehrheit der Paare mit Kindern orientiert. Es mutet der Mutter eine stärkere Rolle bei der Kindererziehung zu, die durch Karriereverzicht erkauft wird. Man kann das freilich auch positiv formulieren: Mütter fühlen sich eher zur Kindererziehung berufen und lassen ihren Männern bei der Karriere den Vortritt. Viele Paare scheinen damit glücklich zu sein, ein Glück, dass der Zeitgeist ihnen nicht mehr gönnen will. Der Zeitgeist wird geprägt durch den Feminismus- und LGBT-Diskurs, an dem sich in erster Linie Autoren beteiligen, die als Person aus der heterosexuellen Matrix und damit aus dem traditionellen Familienschema herausfallen.

Nachtrag: In einem Leserbrief an die FAZ vom 18. 3. 2023 beanstandet Dr. Dr. Maren Krohn, in der Berichterstattung werde meist das nicht bereinigte gender pay gap von 18 % erwähnt, der bereinigte Wert von 7 % gehe unter: »Aber selbst dieser Wert basiert auf Rechentricks. Die Berechnung erfolgt nach EU-Vorgaben. Der gesamte öffentliche Dienst geht nicht ein. Hier wird gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt. Kleinbetriebe unter zehn Beschäftigten gehen nicht ein, also kleine Familienbetriebe entfallen. Fischerei, Forst- und Landwirtschaft, also die schlecht bezahlten Männerberufe, entfallen.«

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[1] Das »Forum« ist inzwischen geschlossen, angeblich weil die Diskussion sich auf andere Kanäle verlagert hat.

[2] Timm Bönke/Astrid Harnack/Miriam Wetter, Wer gewinnt? Wer verliert?, Bertelsmann Stiftung 2019.

[3] Urteil vom 3. 12. 2009 – Zaunegger.

[4] Elisabeth Badinter, Der Konflikt. Die Frau und die Mutter, 2010 [Le conflit, 2010].

[5] Böckler Impuls Ausgabe 16/2010: Vermögen: Frauen fallen weiter zurück.

[6] Eine solche Beschreibung für Doppelverdiener bieten Wolfgang Ludwig-Mayerhofer/Jutta Allmendinger/Andreas Hirseland/Werner Schneider, The Power of Money in Dual-Earner Couples, Acta Sociologica 54, 2011, 367-383.

[7] Vgl. Fernanda Mazzotta/Anna Papaccio/Lavinia Parisi, Household Control and Management Systems and Women Decision Making within the Family in Europe, 2017.

[8] Vgl. die Gesetzesbegründung BT Drucksache 18/11133.

[9] Solche Studien gibt es durchaus in größerer Zahl. Hier nur ein neues Beispiel aus der Wissenschaft: Sophie E. Acton u. a., The Life of P.I. Transitions to Independence in Academia 2019, bioRxiv Preprint.

[10] Lisa A. Hechtmann u. a., NIH Funding Longevity by Gender, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 115, 2018, 7943-7948.

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