Wie bei Gericht, so im Krankenhaus

Meine ersten Erlebnisse in der Justiz hatte ich als Referendar und später als Richter. Da gehörte ich dazu, war sozusagen Insider, und (fast) alles, was dort geschah, erschien mir sinnvoll, funktional und bald auch selbstverständlich. Selbstverständlich auch, dass man bemüht war, den »Kunden« freundlich und mit Hilfestellungen zu begegnen. Auch als ich später einmal als Kläger bei Gericht war, wusste ich, worauf ich mich einließ, und es war beinahe ein Vergnügen auszuprobieren, wie die Justiz als Dienstleister arbeitet. Zwar hatte ich aus der Rechtssoziologie gelernt, dass das Gerichtserlebnis für den Normalbürger durchaus verstörend sein kann, dass er die Kommunikation vor Gericht als asymmetrisch empfindet, dass ihm viele Justizroutinen als bürokratisch und dem eigenen Anliegen unangemessen erscheinen, dass er sein Problem in Schriftsätzen und Gerichtstexten nur schwer wieder erkennt und dass er sich als Person zum Vorgang verdinglicht und nicht gebührend gewürdigt fühlt. Aber dieses Wissen blieb doch als bloß kognitives relativ »kalt«. Nun habe ich gerade ein Krankenhauserlebnis hinter mir. Auch wenn der Ausgang am Ende nicht unerfreulich war, hatte ich doch gewisse Probleme, mit der Einschränkung der Selbstbestimmung zurechtzukommen, die mir im Krankenhaus widerfuhr. Das mag leichter fallen, wenn man wegen akuter krankheitsbedingter Einschränkungen Hilfe braucht. Fühlt man sich jedoch subjektiv beweglich und leistungsfähig, ist fremde Autorität nicht gewohnt und hat vielleicht selbst einige autoritäre Züge entwickelt, dann ähnelt die Krankenhauserfahrung in mancher Hinsicht dem, was vermutlich Laien im Gericht erleben.

Schon bei der Anamnese bleiben von dem eigenen Narrativ nur noch Symptome. Mit dem Ablegen der bürgerlichen Kleidung verliert man ein Stück seiner Autonomie. Mit dem Patientenarmband erhält man seine Nummer. Es hilft ein bißchen, dass Armband als All-Inklusive-Ticket zu interpretieren. Das lenkt den Blick auf die ausnahmslos freundliche und zugewandte »Bedienung« durch Ärzte, Pfleger und Schwestern. Aber mit der Fesselung an Kabel und Schläuche kommen Ohnmachtsgefühle auf. Aus Erlebnissen und Gefühlen werden Messwerte. Man wird vom Subjekt zum Objekt des Geschehens. Gegen die in weiße oder violette Kittel und freundlich wohlwollende Bestimmtheit verpackte Autorität gibt es keine Selbständigkeit und schon gar keinen Widerstand. Auch funktionale Autorität bleibt Autorität. Dem rechtssoziologisch verbildeten Patienten hilft der Gedanke an die Gerichtserlebnisse von Laien oder gar, was er früher mal über totale Organisationen gelernt hat, um Abstand von der Situation zu gewinnen, indem er sich auf eine externe Beobachterposition zurückzieht. Er muss freilich registrieren, dass er sich nicht in jedem Augenblick fest genug in der Hand hat, um die Beobachterposition durchzuhalten. Das schmerzt.

So registriert der Beobachter mehr und mehr Parallelen zur Justiz. Computer und Formulare überall. Bürokratische Routinen zu Hauf. Auch wenn sie konkret funktionslos sind, werden sie durchgezogen, so wenn auch der gehfähige Patient zur Untersuchung in einer anderen Abteilung im Bett von zwei ansehnlichen Schwestern über mehrere Stockwerke und lange Gänge hin und zurück durch das Haus geschoben wird. Der Geschobene macht sich in Gedanken selbständig, hat er doch früher schon einmal gesehen, wie im Unterschoss eines anderen Krankenhauses Rollwagen mit Essensportionen automatisch ihren Weg zu den Stationen fanden, und erst kürzlich gelesen, dass BMW und Daimler in der Lage sind, PKW fahrerlos in Parkhäuser einfahren zu lassen. Nun überlegt er, ob er lieber schwesternlos von Geisterhand durch das Gebäude geschoben werden würde.

Die Abschlussbesprechung mit den Ärzten entspricht etwa der Verkündung und der mündlichen Begründung des Urteils. Die schriftliche Begründung geht als Arztbrief am Patienten vorbei an den Hausarzt. So lernt der Patient weiter an seiner Rolle als postulationsunfähiger Laie. Wenn er den Arztbrief doch zu Gesicht bekommt, liest sich der sich wie die Mängelbeschreibung eines Gebrauchtwagens, und der Betroffene versteht, was Verdinglichung heißt, nämlich die Herauslösung von Körper und Sinnen mit ihren Funktionen aus seiner ganzheitlichen Lebenswelt. Am Ende hilft das Entfremdungserlebnis des Krankenhausaufenthalts dem rechtssoziologisch informierten Beobachter vielleicht, Empathie für die Entfremdung zu entwickeln, die Laien bei Gericht erleben. Viel eher sollte ihn umgekehrt das Wissen um die unvermeidliche Asymmetrie solcher Begegnungen stark gemacht haben, das Krankenhauserlebnis zu ertragen. Hat es aber nicht.

Nachtrag vom 29. Juli 2019: Auf eine ärztliche Nachfrage, was man denn besser machen könne, lautet die Anwort: Wenig. Die besseren Ärzte wissen um die Erlebnisse der Patienten. Darauf kommt es an. Die meisten Ärzte sind besser. Es gibt nun einmal Sachzwänge. In der Erinnerung bleibt dann doch beim Patienten eher als Gesamteindruck,  dass sich noch nie so viele Menschen um ihn bemüht haben. Hoffentlich kann man Ähnliches auch von der Justiz sagen.

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