Rasse als soziale Züchtung

Es ist heuchlerisch, den Rassenbegriff zu vermeiden, wenn man sich gegen Rassismus wenden will. Ein Workshop im Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (von dem ich nur aus einer Pressenotiz erfahren habe) widmet sich am 10. Februar dem Rassenbegriff. Das ist für mich Anlass, noch einmal ausführlich aus der Anthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer zu zitieren, die dieser 1977 unter dem Titel » Die gesellige Natur des Menschen« veröffentlich hatte.

Mayers Rede von der Rassen als »sozialer Züchtung« wird manchen abstoßen, wiewohl sie in der Sache antirassistisch ist.

»Die soziale Veranlagung der recenten Menschheit dürfte im Wesentlichen als gleichartig angesehen werden können. Zwar finden wir bei ethnologischen Beobachtungen sehr große Unterschiede in den Sozialstrukturen und damit auch in den sozialen Verhaltensweisen. Es ist bisher aber nirgends gelungen, diese Unterschiede aus Rassenunterschieden abzuleiten, während sie sich ziemlich mühelos historisch-soziologisch erklären lassen. … Selbst wenn wir gewisse Populationen als rassisch einheitlich bestimmt betrachten, so sind doch die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population immer viel größer als die Unterschiede zwischen den rassisch bestimmten Populationen.« (S. 14)

»Die älteren Versuche der Rassenanthropologen, die verschiedenartigen Gestaltungen, wie wir sie in Sozialformen und Sozialverhalten bei Natur- und Niederkulturvölkern vorfinden, aus Rassenunterschieden abzuleiten, überzeugen nicht. Sozialformen wirken ihrerseits züchtend und bringen verschiedenartige Typen von Menschen hervor. Hirtenkrieger (Massai) und Feldbauern (Bantu) sehen heute zweifellos verschieden aus, aber die verschiedenen Typen sind das Züchtungsergebnis verschiedener Lebensweisen.« (S. 71f)

»Der Kulturzustand der rezenten Menschheit ist überaus verschieden. In ihrer Jugendsünden Maienblüte hat die junge Wissenschaft der Genetik im Seitenzweig der Rassenlehre diese Kulturunterschiede rassenpsychologisch erklären wollen. Heute ist Mode, die Möglichkeit von Rassenunterschieden prinzipiell zu leugnen. Naturwissenschaftlich ist dies ebenso töricht, wie der vormalige Hochmut der Europäer, welche historisches Glück mit ihrer angeblich so vorzüglichen Rasse fehlerklärten. Die Menschen sind nun einmal nicht gleich, weil es Gleichheit in der lebendigen Natur nicht geben kann. Aber nüchterne Beobachtungen belehren uns darüber, daß diese problematischen Unterschiede nicht ausreichen, um die wirklich vorhandenen Kulturunterschiede zu erklären, so daß man von einer relativen Gleichheit der Menschen ausgehen kann. Alle Rassen sind auf allen Gebieten lernfähig, die Lernfähigkeit ist allerdings teilweise bedingt durch die von Generation zu Generation gesteigerten Traditionsvorteile.« (S. 90)

»Die Befähigung junger Jurastudenten auf afrikanischen Hochschulen, mit den Denkmitteln der englischen Präjudizienjurisprudenz umzugehen, kann einen deutschen Professor mit Neid erfüllen.« (S. 91)

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Satire, Fake News und Hate Speech

Heute ein Zwischenruf aus meinem Notizbuch. Vor zwei Jahren schon hatte ich einen Eintrag zur Ästhetik der Satire angekündigt. Was ich mir dazu notiert hatte, betraf eher deren Geschmacklosigkeit.

Wo endet die Freiheit des ästhetischen Urteils? Wo beginnt ästhetische Diskriminierung oder gar ästhetischer Rassismus? Diese Frage richtet sich auch an die so beliebte Satire, zumal wenn sie Bilder einsetzt. Bilder haben per se eine stärkere ästhetische Anmutung als Sprache. Die HeuteShow im ZDF nutzt die Möglichkeit der digitalen Bildbearbeitung für Effekte, die, würden sie sprachlich ausformuliert, unter der Gürtellinie träfen. Hier ein noch relativ harmloses Beispiel aus der Heute-Show vom 20. 11. 2020:

Personen werden mit ihren Gesichtszügen, Bewegungen oder anderen Äußerlichkeiten in einer Weise vorgeführt, für die despektierlich noch ein mildes Attribut darstellt. Beliebte Gags sind ungewöhnliche Perspektiven, Zeitlupe oder Wiederholungen kurzer Ausschnitte, welche die Betroffenen als Trottel erscheinen lassen. Rechtlich ist das, jedenfalls wenn Prominente betroffen sind, alles nicht greifbar. Ein Schüler, der auf Facebook oder Instagram das leicht entstellte Bild einer Mitschülerin auf einer Schnecke reiten ließe, wie die HeuteShow die Bundeskanzlerin, bekäme Ärger wegen Cybermobbing.

Ich habe das Kabarett einst sehr geschätzt. Es gibt immer wieder Comedians, denen es gelingt, die Probleme der Welt elegant und geistreich aufzuspießen. Der originale Wortwitz etwa eines Olaf Schubert schafft echtes Vergnügen. Die Karikaturen von Greser & Lenz haben ihren eigenen Stil und stechen oft in faule Diskursknoten. Aber es gibt gute und schlechte Satire.

Die Satire muss sich auch ihrerseits ein Geschmacksurteil gefallen lassen. Das Kabarett war einmal Kleinkunst (mit Betonung auf der zweiten Silbe). Man erinnert sich mit Vergnügen an die Münchener Lach- und Schießgesellschaft, an die Berliner Stachelschweine oder an das Düsseldorfer Kommödchen. Und natürlich an Georg Kreisler mit seinem Schlager »Geh’ ma Hundevergiften im Park«[1]. Satire ist jedoch weithin zu einem Massenprodukt geworden. Witz und Eleganz werden durch Lautstärke und Grobheiten ersetzt. Spezialität der Heute Show sind billige Bildmanipulationen. Ihre Satire zeichnet sich durch eine Pseudoästhetik der Häme aus. Damit setzt sie Maßstäbe für die Social Media und für die Alltagswelt. Der kurze Weg von Karikatur und Comedy zu Fake News und Hate Speech führt über verzerrte Gesichter sowie verkürzte und verfremdete Wort- und Bildzitate.

Nachtrag: Von den Medien, die für sich Seriosität in Anspruch nehmen, zeichnet sich neben der Heute Show besonders das relativ neue elektronische Medium The Pioneer von Gabor Steingart aus. Dort wird fast jede Ausgabe mit einem Deepfake prominenter Personen eingeleitet.


[1] So hatte die Satire-Zeitschrift Kot & Köter das bekannte Taubenlied umgedichtet, was ihr ein Ermittlungsverfahren eintrug.

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Zurück zur »Natur der Sache«

Mit dem Eintrag vom 27. 4. 2021 hatte ich eine Reihe zum dem von mir so genannten natural turn begonnen (Die Natur der Sache als Schlüssel zur Interdisziplinarität). Die Reihe hatte ich nach 15 Fortsetzungen unterbrochen, um mich auf das Analogiethema zu konzentrieren. Das hat länger gedauert als vorhergesehen. Nach insgesamt 17 Fortsetzungen habe ich das Thema endlich (für mich) abgeschlossen. Wenn ich nun auf die »Natur der Sache« zurückkomme, will ich nicht wieder da anfangen, wo ich aufgehort habe (nämlich bei einem Referat der Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer), sondern das Thema schnell zu einem Ende bringen. Ich knüpfe an an den Eintrag vom 10. Oktober 2021 Eine Anthropologie für den Natural Turn.

Anthropologie ist aus der Mode gekommen. Das liegt an dem ungeheuren Mißbrauch, der unter diesem Titel in der Nazizeit getrieben wurde. Das gilt insbesondere für die biologisch Anthropologie. Immerhin gibt es seit 1977 in Leipzig ein Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthro-pologie (dessen Direktor Svante Pääbo 2022 den Nobel-Preis für seine paläogenetischen For-schungen erhalten hat).

Viele erwarten von der Anthropologie Hinweise auf ein naturalistisches Verhaltensprogramm des Menschen. Doch biologische und evolutionäre Anthropologie haben insoweit die Erwartungen bisher enttäuscht. Über die klassischen phänomenologisch-philosophischen Arbeiten von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen ist man nicht hinausgekommen. Allgemein akzeptiert wird die Aussage Arnold Gehlens, der Mensch sei ein Mangelwesen, das heißt, sein Verhalten sei nicht durch angeborene Instinkte festglegt, sondern werde von Kultur bestimmt. Diese Unbestimmtheit drückt auch Plessners berühmte Formel von der Plastizität des Menschen aus. Näher am Recht war die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers. Sie überragt vieles, was zum Thema geschrieben worden ist.

Zur Einordnung ist hier an die Diskussion zu erinnern, die vor bald einem Menschenalter der Ethologe Konrad Lorenz durch seine Forschungen (an Stichlingen) über angeborene Verhaltensweisen ausgelöst hat. Damals kam es darauf an zu akzeptieren, dass Menschen eben nicht durch angeborene Verhaltensweisen programmiert sind, sondern erst durch Kultur lebensfähig werden. Das musste vor allem die Kriminologie lernen. In den USA war sie schon länger zur Kriminalsoziologie geworden. In Deutschland betrieb Mayer die Ablösung von der Kriminalbiologie, sozusagen im Umkehrschluss zur Verhaltensforschung (Ethologie) von Tinbergen, Lorenz, Eibl-Eibesfeld und anderen. Das geschah zunächst 1962 aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform in der Programmschrift »Strafrechtsreform für heute und morgen«. 1977 folgte eine komplette Sozialanthropologie: »Die gesellige Natur des Menschen«. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe besonders den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungs­verwahrten galt. Dieses Buch ist nicht mehr rezipiert worden, wiewohl es in seinen Sachaussagen moderner und umsichtiger war als die Soziologie seiner Zeit. Ein Grund dafür sind die zahlreichen »qualitativen« Beobachtungen, die sich zu einem Teil einer außerordentlichen historischen und literarischen Bildung und zum anderen Teil dem bewussten Erleben fast des ganzen 20. Jahrhunderts verdanken

Es liegt nahe, das opus magnum von Ernst-Joachim Lampe heranzuziehen, das die »Historiogenese« des Rechts mit dem ganzen Instrumentarium wissenschaftlicher Akribie aufarbeitet (und dabei Mayers Texte ignoriert). Aber auch Lampes Buch führt in der Sache nicht über Mayer hinaus. Lampe betrachtet die Rechtsgeschichte als evolutionäres Geschehen. Das bringt die Gefahr mit sich, Zustände, die man ex post als Ergebnis der Evolution beobachtet, auf Entwicklungstendenzen zurückzuführen. Das wird zum Zirkelschluss, denn Evolution ist ungerichtet.

Mayers Pointe liegt in der These, dass es Reste biologisch angelegter Verhaltenstendenzen geben mag, dass sich aber Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist gegen die Natur stellen können, wie das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Er ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt. Mehr ist von Anthropologie nicht zu erwarten.

Die Fortsetzung wird einen Umweg über den material turn nehmen.

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Ist die Analogie als juristische Methode überflüssig?

Man unterscheidet bekanntlich Gesetzesanalogie und Rechtsanalogie. Mit der Gesetzesanalogie werden bestimmte einzelne Regelungen auf einen ähnlichen Fall übertragen. Bei der Rechtsanalogie wird zunächst aus einer Mehrzahl vorhandener Vorschriften ein Prinzip herauspräpariert und dieses sodann auf den von den Ausgangsbestimmungen nicht erfassten Fall erstreckt. Paradebeispiel der Rechtsanalogie ist die Ableitung der allgemeinen Unterlassungsklage aus den §§ 12, 862, 1004 BGB. Es handelt sich dabei um eine normative Induktion. Das las man schon bei Enneccerus-Nipperdey.[1]

Eine deontische Logik scheitert bekanntlich nicht an Jörgensens Dilemma.[2] Die Subsumtion ist als Deduktion gültig, da sie als erste Prämisse einen Normsatz verwendet und damit einen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen vermeidet. Entsprechendes – ich bin versucht zu sagen, Analoges – gilt auch für die normative Induktion, da hier aus singulären Normsätzen ein allgemeinerer Normsatz gefolgert wird. Die Rechtsanalogie läuft auf Rechtsgewinnung durch systematische Auslegung hinaus – und ist damit als spezifische juristische Methode überflüssig.

Die Gesetzesanalogie geht davon aus, dass zwei Fälle ungleich, aber ähnlich sind und deshalb die Rechtsfolgen von Fall A auf Fall B übertragen werden können oder müssen. Wie entdecken Juristen die Ähnlichkeit zwischen den vom Gesetz ungleich behandelten Fällen? Die Strukturmerkmale für die Feststellung der Ungleichheit sind im gesetzlichen Tatbestand »enkodiert«. Die Ähnlichkeit wird daraus erschlossen, dass die ungleichen Fälle jedenfalls in einigen Tatbestandsmerkmalen übereinstimmen oder dass mehrere Tatbestandsmerkmale phänomeno­logisch dem Vergleichsfall ähnlich sind. Die Rechtfertigung des Analogie­schlusses folgt dann aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 I GG. Als Vermittlungselement dienen der (Schutz-)Zweck des Gesetzes und als dessen Kehrseite die gleichartige Interessenlage.

Fall A: Fall B ≈ Schutzzweck: Interessenlage

In dem Vergleichszeichen ≈ steckt der Gleichheitssatz. Das ist Pseudologik, die nicht weiterhilft. Sie legt aber den Gedanken nahe, dass auch die Gesetzesanalogie als spezifische Methode überflüssig sei. An ihrer Stelle kann man direkt auf das allgemeine Gleichbehandlungsgebot zurückgreifen. Die Schwachstelle der Analogie, das heißt die Stelle, an der das entscheidende Werturteil gefällt werden muss, ist die Feststellung der (relevanten) Ähnlichkeit. Hier wird entschieden, dass die ungleichen Fälle in einem »höheren« Sinne gleich sind. Es wird ein Strukturmerkmal hinzugefügt, durch das die ungleichen Kandidaten in eine höhere Gattung aufrücken und insoweit gleich werden. Das BVerfG hat 1979 den nur für alleinstehende Frauen mit eigenem Haushalt gewährten Hausarbeitstag für unvereinbar mit Art. 3 II GG erklärt, weil die Regelung gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau verstieß.[3] Ohne die speziellen Vorschriften des Art. 3 II 1 und III hätte man auch mit einer Analogie arbeiten können, und tatsächlich argumentiert das Gericht, als ob die Gewährung eines Hausarbeitstages für Männer aus einer Analogie abzuleiten sei. Das zeigt: Für die Analogie ist mindestens dort kein Platz, wo spezielle Gleichbehandlungsregeln greifen.

Man zögert für einen Augenblick, die Gesetzesanalogie mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG ganz abzulösen. Die Hürde kommt vermutlich daher, dass man den Gleichheitssatz in der Regel als Waffe gegen diskriminierende Beschränkungen von Individuen im Blick hat. Art. 3 GG steht im Grundrechtsteil der Verfassung und wird für die Durchsetzung von Grund- und Bürgerrechten in Anspruch genommen. Die Probleme, die mit der Gesetzesanalogie gelöst werden, sind jedoch meist sehr viel trivialer. Die Suche nach »Analogie« in der Rechtsprechungsdatenbank JURIS ergab am 10. 3. 2022 27.553 Treffer. Da geht es etwa um die Gewerbesteuerbefreiung ambulanter Pflegedienste oder um die Anrechnung ehrenamtlicher Tätigkeiten auf die Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Da beruft sich niemand auf Art. 3 GG. Doch die Anwendung des Gleichheitssatzes funktioniert genau wie eine Analogie. Stets geht es darum, Objekte, die an sich verschieden sind, unter einem bestimmten Gesichtspunkt als gleich oder ungleich zu vergleichen.[4] Man stellt also zunächst Ungleichheit fest und sucht dann nach Ähnlichkeiten, um am Ende die Ungleichheit durch Ähnlichkeit zu überwinden.

»Treating relevantly similar cases similarly is a fundamental aspect of rationality. Any application of a general principle or rule—whether in logic, morality, law, or administration—requires that we have a sense of which cases are relevantly similar and merit similar treatment.«[5]

Ein Zitat aus einer sprachwissenschaftlichen Arbeit zur Analogieforschung legt den Gedanken, nahe, dass die Analogie der große Gleichmacher sein könnte:

»Die sprachwissenschaftlichen Definitionen der Analogie stimmen darin überein, daß sie als Tendenz (Ausgleichungstrieb) zwischen zwei begrifflich assoziierten Wörtern (semantische A.) oder einander entsprechenden Wortformen (formale A.) wirksam sei und auf eine lautliche Annäherung (Uniformierung) abziele.«.[6]

Der Gedanke beruht zwar auf einem Kurzschluss, ausgelöst durch das Stichwort »Uniformierung«, lässt sich aber doch nicht einfach von der Hand weisen.

Die Analogie, wie sie hier erörtert wurde, ist anderes und mehr als Nachahmung, nämlich ein gedanklicher Prozess, an dessen Ende etwas Neues steht. Was Analogie als Nachahmung von der Analogie als produktivem Argument unterscheidet und was beide verbindet, wäre ein Thema für sich. Immerhin geht es in beiden Fällen um Ähnlichkeit, und de facto führt auch Nachahmung selten oder nie zu einer bloßen Kopie. Indessen führt das Zitat in die Irre, wenn man nicht bedenkt, dass die antiken Grammatiker ἀναλογία zusammen mit ἀνωμαλία als Gegenbegriff verwendeten, um so zu erklären, dass Wortbedeutung und sprachliche Formen oft uneinheitlich verwendet werden. So galt die korrekte Verwendung einer Vokabel oder einer Flexionsform als analog, die abweichende dagegen als anomal. In der Kontroverse der alten Grammatiker um Analogie und Anomalie[7] stand Analogie also für Uniformität im Sinne eines einheitlichen Sprachgebrauchs.

Der Gleichheitssatz des Art. 3 GG ruft jedermann auf, Ungleichheiten zu konstatieren, um sodann nach Ähnlichkeiten zu suchen, so dass im Ergebnis Ungleiches gleich behandelt werden kann. Wo  immer Menschen einen anderen als Träger von Rechten wahrnehmen, die ihnen selbst versagt sind, mögen die Rollen, an welche die Berechtigung geknüpft ist, noch so verschieden sein, lässt sich stets behaupten, dass die Beteiligten jedenfalls als Menschen gleich sind und die Situation mithin trotz unterschiedlicher Rollen so ähnlich ist, dass Gleichbehandlung geboten sei. Damit erweist sich die Analogie im Recht am Ende doch als Gleichmacher.

Was folgt aus alledem für die Jurisprudenz? Wenig, was man dort nicht schon wusste. Aber der Ausflug in die Interdisziplinarität war interessant, ähnlich wie ein Museumsbesuch.


[1] Ludwig Enneccerus/Hans Carl Nipperdey, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 1. Band: Allgemeine Lehren, Personen, Rechtsobjekte, 14. Aufl., 1952, S. 210.

[2] Pavel Holländer, Rechtsnorm, Logik und Wahrheitswerte. Versuch einer kritischen Lösung des Jörgensenschen Dilemmas, 1993; Jörgen Jörgensen, Imperatives and Logic, Erkenntnis 7, 1937/38, 288-296.

[3] Beschluss vom 13. November 1979 1 BvR 631/78, BVerfGE 52, 369.

[4] Konrad Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR NF 38 , 1951/52, 167-224, S. 172.

[5] Trudy Govier, A Practical Study of Argument, 7. Aufl. 2014, S. 320..

[6] So zitiert Karl-Heinz Best, Probleme der Analogieforschung, 1973, gleich eingangs (in kritischer Absicht) aus dem  Sprachwissenschaftlichen Wörterbuch von Johann Knobloch (1961ff, S. 111f).

[7] Vgl. Karl-Heinz Best, Probleme der Analogieforschung, 1973, S.  13ff.

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Analogie, Casus und Regula

Wenn der eingangs zitierte Levi und viele andere das Fallrecht des Common Law als institutionalisierte Analogiebildung erklären, so rufen sie damit die alte Frage nach dem Verhältnis von casus und regula[1] in Erinnerung. Vom Fallrecht des klassischen Rom unterscheidet sich das Common Law dadurch, dass es explizit Präjudizien als verbindlich deklariert. Für das Common Law ist umstritten, ob die Präjudizienbindung durch Analogie oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie[2] nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Die Analogiker dagegen sehen in der Anwendung eines Präjudizes die unmittelbare Übernahme der Rechtsfolge in einem hinreichend ähnlichen Fall.

Hier noch einmal das Levi-Zitat:

»The basic pattern of legal reasoning is reasoning by example. It is reasoning from case to case. It is a three-step process described by the doctrine of precedent in which a proposition descriptive of the first case is made into a rule of law and then applied to a next similar situation. The steps are these: similarity is seen between cases; next the rule of law inherent in the first case is announced; then the rule of law is made applicable to the second case.« (An Introduction to Legal Reasoning, University of Chicago Law Review 15, 1948, 501-574, S. 501f.)

Sieht man genauer hin, ist die Formulierung ambivalent. Einerseits wird dem Präjudiz eine Regel entnommen, die auf den neuen Fall angewendet wird. Andererseits ist der neue Fall ein »ähnlicher« Fall. Auf Ähnlichkeit kommt es aber nicht mehr an, wenn man eine Regel hat. So ist denn heftig umstritten, ob die Präjudizienbindung nur durch Fallvergleich oder durch die Übernahme einer im Präjudiz implizit enthaltenen Regel realisiert wird. Anhänger der Regeltheorie nehmen an, dass man einem Präjudiz nur dadurch folgen kann, dass man die ratio decidendi, das holding des Präzedenzfalles, zur Regel = Rechtsnorm abstrahiert und auf den neuen Fall anwendet. Mit einer Formulierung von Robert Alexy:

»Die Verwertung eines Präjudizes bedeutet die Verwertung der der präjudiziellen Entscheidung zugrunde liegenden Norm.« [3]

Das ist der Standpunkt der Analogieskeptiker, die keine reine oder originäre Analogie akzeptieren.

Die traditionelle Auffassung geht jedoch dahin, dass ein unmittelbarer Fallvergleich grundsätzlich möglich ist. Prüfstein ist das »nackte« Urteil, das heißt ein Urteil nur mit Tatbestand ohne Begründung. Auch ein »nacktes« Urteil taugt zum Präjudiz. Urteilsgründe braucht man nur, wenn der aktuelle und der Altfall nicht gleich erscheinen. Dann liegt es ähnlich wie bei einem Gesetz, dass sich von seinem Wortlaut her nicht zweifelsfrei anwenden lässt. Dann muss das Gesetz ausgelegt und analog muss das Präjudiz interpretiert werden. Es kommt also darauf an, ob die Fälle gleich oder nur ähnlich sind. Der Analogieskeptiker wird geltend machen: Schlechthin gleiche Fälle gibt es nicht. Keine zwei Objekte sind völlig gleich und ebenso wenig weisen zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit auf. Er schließt daraus, dass die Unterscheidung zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos. Analogiker wie z. B. Weinreb erwidern: Die Fähigkeit, Muster zu erkennen, und so zwischen passend und unpassend, gleich und ungleich zu unterscheiden, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden.  Auch beim Menschen ist die Fähigkeit zur Mustererkennung eine angeborene Kompetenz. Sie wird an unendlich vielen Beispielen trainiert und befähigt zur Unterscheidung von gleich, ähnlich und verschieden. Psychologen sprechen vom mappping der zu vergleichenden Situationen. Dem mapping entspricht der Fallvergleich der Jurisprudenz.

Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Daher sei hier noch einmal an die Kontroverse zwischen Fritjof Haft und Arthur Kaufmann erinnert. Für Haft war der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation«.[4] Er wandte sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich« (S. 156f). Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt (S. 160). Auch Arthur Kaufmann sah im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie«.[5] Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wandte sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient.

Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Kaufmann stützte sich auf einen ungewöhnlich engen Subsumtionsbegriff, so dass er praktisch nicht mehr zwischen gleich und ähnlich, Subsumtion und Analogie unterscheiden konnte. Als subsumierbar unter ein Gesetz akzeptierte Kaufmann nur Zahlbegriffe. Jede andere Anwendung einer Regel fordert nach seiner Auflassung eine »Gleichsetzung«, die er als Analogie einordnete (S. 25). Subsumtion war für Kaufmann gleichbedeutend mit Deduktion. Damit verwendete er den Subsumtionsbegriff in dem engen Sinne, der in der formalen Logik maßgeblich ist. Juristen nutzen den Subsumtionsbegriff aber meistens in einem weiteren Sinne, der eine »kleine« Auslegung einschließt. Kaufmanns enger Subsumtionsbegriff hat einen (zu) weiten Analogiebegriff zur Folge, der die Realität der Musterkennung durch menschliche und künstliche Intelligenz verfehlt. Kognitive Neuroinformatik ist heute imstande, auch komplexe Verkehrssituationen eindeutig zu identifizieren.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man den juristischen Begriff der Subsumtion als Kategorisierung im Sinne der kognitiven Psychologie versteht und zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne (externen) Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung. Wenn die Objekte verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie als kognitives (internes) Muster ist wohl Vergleichsmaßstab, aber noch keine (Rechts-)Norm. Erst wenn es darum geht, zwei Fälle trotz Verschiedenheit als ähnlich gleichzusetzen, braucht man einen weiteren Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für Gleichheit liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit. Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary (5. Aufl. 1979, S. 425) definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy[6]).

Regeln müssen mit Gattungsbegriffen ausgedrückt werden, die ebensowenig scharf sind wie die kognitiven Muster des Vergleichens. Nicht nur im Alltag unterscheidet man zwischen gleich, ähnlich und verschieden. Auch künstliche Intelligenz kann Muster als gleich identifizieren und ähnliche herausfiltern. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. Das gilt nicht nur für identische, sondern auch für gleiche Objekte unabhängig davon, ob Alltagsbegriffe oder Fachtermini als Kategorien dienen. Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich fordert, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses für die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Immerhin ist der Altfall ist abgeschlossen. Man darf nicht mehr nach Umständen fragen, die dem Erstgericht nicht bekannt waren. Dagegen ist der neue Fall noch offen. Man kann immer noch nach ergänzenden Tatbestandselementen suchen, die einen Unterschied machen. Dennoch bleibt ein vorjuristischer, sozusagen ontologischer Fallvergleich möglich. Die Jurisprudenz würde auf ein wichtiges Element ihrer Urteilskraft verzichten, wenn sie sich nicht zutraute, zwischen Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit zu differenzieren.

Es geht um die Frage, ob ein Gleichheitsurteil möglich ist, ohne dass man den Sinn und Zweck einer Regel bemühen muss. Unser Alltagsrealismus spricht für eine positive Antwort, ist aber wenig beweiskräftig, auch wenn die Epistemologie unter Berufung auf so prominente Autoren wie W. V. Quine einen naturalized turn verzeichnet (o. XXX). Zum Alltagsrealismus tritt der professionell geschulte Realitätssinn hinzu. Dem kann man, wie Brożek[7] und Schauer (S. 88)[8] von vornherein mit Skepsis begegnen. Doch wer mit dem Recht nicht grundsätzlich auf Kritikfuß lebt, wird die Herausbildung von professionellen kognitiven Mustern nicht als Defizit, sondern (mit Weinreb[9]) als Gewinn verbuchen.

»… the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is informed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decision being made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.«

Juristische Expertise bietet keine Garantie, aber eine gute Chance, sich bei Vergleichen (beim mapping oder distinguishing) auch Charakteristisches und Relevantes zu konzentrieren und Neben­säch­liches und Gleichgültiges auszuschalten. Es hilft, sich an die Relationstechnik (Gutachtentechnik) zu erinnern, die der Referendar in der Zivilstation beim Landgericht lernt. Dafür ist ein Tatbestand anzufertigen, der alle potenziell rechtlich relevanten Umstände aufführt, aber auch nur diese. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob die Umstände am Ende entscheidungsrelevant sind. Meist fällt es nicht schwer, eine Vielzahl von Umständen für irrelevant zu befinden. Ob der Kläger vor dem Vertragsschluss Rührei oder Müsli gefrühstückt hat ist dann ebenso unerheblich wie seine Haarfarbe.

In vielen Fällen liegt das Gleichheitsurteil auf der Hand. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel, wiewohl man eine Regel formulieren könnte, die gleiche Fälle dieser Art, und nur diese erfasst. Die Begriffe dieser Regel wären vollständig konstituiert durch ihre frühere Anwendung. In dieser Regel erschöpft sich das holding des Präjudizes.

So klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer, aber auch nicht ganz selten. Es gibt viele Standardsituationen. Eine Abtreibung ist eine Abtreibung, ist eine Abtreibung. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Variationen (früh – spät, nach Vergewaltigung, Gesundheitsgefahr für die Mutter, Wahrscheinlichkeit eines kranken Kindes).

Fällt die Kategorisierung von Fällen als gleich »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion zweifelhaft aus, dann allerdings muss ein weiterer Vergleichsmaßstab her. Aber da hilft keine einzelne Regel. Eine Regel deckt entweder nur den Altfall oder nur den Neufall. Für eine Analogie, welche ähnliche Fälle gleichstellt, benötigt man eine Norm, die beide Fälle einschließt. Erst eine weiter gefasste Norm kann herangezogen werden, um die verschiedenen Fälle als hinreichend ähnlich gleichzusetzen. Es stehen also drei Regeln zur Wahl. Dann gilt es zu begründen, welche Regel den Vorzug verdient. Zur Begründung einer Regel dienen in erster Linie ihr Zweck und als Kehrseite ihre Folgen. Damit setzt ein Wechselspiel von Fallvergleich, Regelbildung und Begründung ein. Das nackte holding ist ein theoretischer Grenzfall. Man geht davon aus, dass sich die Richter bei ihrem Urteil etwas gedacht haben, und das fließt bei der »hermeneutischen« Rekonstruktion[10] des Präjudizes ein. Die relevante Ähnlichkeit ergibt sich aus der Begründung der Norm. Aber es bleibt dabei, dass auch der unmittelbare (phänomenologische) Fallvergleich die Wahl der Regel mitbestimmt. Fallvergleich und teleologische Überlegungen wirken zusammen.[11] Die bloße Ähnlichkeit der Fälle gibt Anlass, auf den Zweck der im Präjudiz ausgedrückten Regel zurückzugehen, denn der Zweck kann die Gleichsetzung per Analogie stützen, weil er zeigt, welche Ähnlichkeit relevant ist. Auch wenn man nicht so weit geht, wie Fritjof Haft mit der Ansicht, der Einzefall trage die richtige Lösung allein in sich, so weckt doch der Fall eine starke Intuition, die sich nicht ganz unterdrücken lässt.


[1] Dazu 2015 drei Einträge auf Rsozblog.de: Casus und Regula; Die Hellenismuskontroverse; Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«.

[2] Zu diesen zählen u. a. Larry Alexander, Constrained by Precedent, Southern California Law Review 63, 1989, 1-64; Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, 2008; Ronald M. Dworkin, In Praise of Theory, Arizona State Law Journal 29, 1997, 353-376, S. 371: »An analogy is a way of stating a conclusion, not a way of reaching one, and theory must do the real work.«; Melvin Aron Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 83f: »Reasoning by analogy differs from reasoning from precedent and principle only in form. … Cases are not determined in the common law simply by comparing similarities and differences.«; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 2003 [1978],  S. 161, 186; Richard A. Posner, Overcoming Law, 1995, S. 177, 519f; Kent Greenawalt, Law and Objectivity, 1992, S. 200; Peter Westen, On »Confusing Ideas«: Reply, Yale Law Journal 91, 1982, 153-1165, S. 1163: »One can never declare A to be legally similar to B without first formulating the legal rule of treatment by which they are rendered relevantly identical.«; Frederick F. Schauer, Playing by the Rules, A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-Making in Law and Life, 1991; ders., Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009 (S. 85ff).

[3] Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 336.

[4] Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161, S. 153.

[5] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. VI.

[6] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics, Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. S. 936, 983, 1006.

[7] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[8] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer. A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S.88.

[9] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 59f.

[10] Ralf Poscher, The Hermeneutics of Legal Precedent, SSRN 2022, 4042864.

[11] Weinreb S. 60ff.

 

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Relevante Ähnlichkeit

Will man Fragen beantworten oder gar Probleme mit einer Analogie lösen, so hilft nicht jede Ähnlichkeit. Es kommt auf relevante Ähnlichkeiten an.[1] Der Relevanzbegriff ist allerdings kaum schärfer als derjenige der Ähnlichkeit.[2] Der Relevanz kommt man jedoch auf die Spur, wenn man die Beispiele für (mögliche) Analogien nicht abstrakt ansieht, sondern mit den Augen unterschiedlicher Betrachter, die jeweils ihre eigenen Fragen stellen.

Aristoteles wollte bei der Bildung seines Beispiels zeigen, was Sprache leisten kann. Mit Dionysos und Ares hatte er zwei Götter und Söhne des Zeus vor Augen, also zwei gleiche Objekte. Vor Augen hatte er aber auch die verschiedenen Attribute, den einen Gott mit Becher, den anderen mit Schild. Gleichheit und Ungleichheit zusammen ergibt Ähnlichkeit. In dieser Situation, so zeigt Aristoteles uns mit seinem Beispiel, können die Attribute als Ersatz für die Namen dienen.

Den Besucher der Antikenabteilung des Museums, der nebeneinander zwei Vasen mit figürlichen Darstellungen erblickt, bewegt die Frage, wen die Figuren darstellen könnten. Er wird zunächst Gleichheit konstatieren: Auf beiden Vasen sind Figuren aus der Mythologie abgebildet. Dann wird er nach Unterschieden suchen und bemerken, dass beide Figuren einen anderen Gegenstand in der Hand tragen. Nun erscheinen ihm die Figuren nicht länger als gleich, sondern nur noch als ähnlich. Wenn sein Vorwissen ausreicht, wird er mit Hilfe der Attribute aus seinem Vorwissen die Namen der dargestellten Figuren erschließen.

Der Aristoteles-Übersetzer will einen passenden Ausdruck für die Vokabel φιάλη finden, mit der Aristoteles den Becher des Dionysos bezeichnete. Der Übersetzer weiß, dass Dionysos im Bild meistens mit dem κάνθαρος, dem zweihenkligen Weinbecher, dargestellt wurde. Gigon übersetzte daher mit »Becher«, Fuhrmann dagegen mit »Schale«, vielleicht, um sprachlich eine Ähnlichkeit der unterschiedlichen Attribute zum Ausdruck zu bringen, die vielleicht schon Aristoteles im Sinn hatte, hat doch ein Schild umgedreht die Form einer Schale (und im Deutschen kommt die passende Alliteration hinzu). Anstelle des Bechers hätte Aristoteles auch den Thyrsos wählen können. So hat jeder einen anderen Blick auf die Dinge. Was als Ähnlichkeit wahrgenommen wird, liegt im Auge des Betrachters.

Für das »Auge des Betrachters« nutzen Psychologie, Soziologie und Linguistik das Konzept des Framing.[3] Frames sind kognitive Strukturen, die Wissen über bestimmte Phänomene oder Situationen ad personam bündeln. Diese Rahmung hängt von der Position (dem Aspekt) des Fragers ab und bestimmt damit dessen Definition der Situation. Damit schließt sich der Kreis zum Mapping und Encoding. Eine komplexe Situation wird subjektiv durch eine Auswahl konkreter Merkmale strukturiert, die als handlungsleitende Rahmung die Wahrnehmung lenkt. Merkmale, die im frame nicht enkodiert sind, bleiben draußen vor. Unberücksichtigt bleiben so im Beispiel des Aristoteles etwa die verschiedenen Mütter der beiden Zeus-Söhne, aber auch deren weitere Attribute.

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Zwischen zwei beliebigen Objekten gibt es praktisch immer Unterschiede und ebenso Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeiten wahrgenommen werden können. Jedes Mapping einer Situation, das durch das die Enkodierung von Merkmalen und Relationen die Erkennung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden möglich macht, lässt viele Merkmale unberücksichtigt. Was verschieden, gleich oder ähnlich ist, ist relativ zum frame desjenigen, der die Antwort auf eine von ihm gestellte Frage sucht. Gelegentlich springen Ähnlichkeiten aber auch unabhängig von bestimmten Problem- oder Fragestellungen ins Auge.

In vielen Situationen bietet der Rechtsstandpunkt einen Bezugsrahmen, der sich gegenüber anderen Rahmungen (wirtschaftlicher Standpunkt, politischer Standpunkt, Interessenstandpunkte) abgrenzen lässt. Der Rechtsrahmen kann jedoch zerfallen, wenn eine Analogie herangezogen werden soll, um ihn auszufüllen. Weinreb versucht zu beruhigen mit der These, dass juristische Ausbildung und Praxis zu einem einheitlichen Urteilsvermögen verhelfen:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them (…) that some similarities count for the matter at hand and others do not.« [4]

Brozek ist kritisch.[5]

»I find Weinreb’s conception problematic for one simple reason: he offers no structural account of analogical reasoning and the fact that we do (and often successfully) use analogies on daily basis is not a strong argument to the effect that analogy can serve as justification in rational legal discourse.«

Volle Skepsis gegenüber dem Ähnlichkeitsurteil der Juristen formuliert Schauer, wenn er schreibt:

» … lawyers do not select analogies that they will believe will not lead someone – judge or jury – to the conclusion that they are advocating, and judges do not select analogies that they believe will not help the reader of an opinion see the wisdom in heir conclusion.«[6]

Ich bin hin- und hergerissen. Deshalb will ich Weinreb ausführlicher zitieren.

»Although no rule dictates a decision, in the manner of a deductive argument, the choice of which analogy to prefer is not like the flip of a coin. Just as her common sense, the accumulation of ordinary experience, tells Edna that it makes no difference how much cranberry juice costs or whether it is imported, a lawyer or judge relies on his knowledge and experience of law. The greater his experience in the particular area of law, the more likely is it that the analogy he chooses will be convincing to others (just like Edna’s advice [der darin bestand, sie solle den roten Saftflecken mit dem gleichen Mittel bekämpfen wie einen Rotweinflecken], to Mary would be more convincing if Edna had a degree in food chemistry). The choice is iformed also by a broad understanding of what is relevant to the sort of decisionbeing made – a matter of liability (Adams) or regulation or business or individual rights – and broader still, what generally ›counts‹ in law.« (S. 59f)

»Without having any general rule or principle to work with, we often can tell with reasonable assurance what is likely to be relevant, because we have had more or less similar experiences, of how things work. Sometimes experience fails us. Who would have thought that the mold that forms on brad and other foods would be the source of an invaluable medicine? But over the lare range, our experience is ordely and serve us well.« (S. 122)

»The coherence and stability of a legal order is an analog of the orderliness of nature. The Analogy is not complete because our knowledge of the natural order depends on the overriding premise that its regularities are part of an objective reality that is there to be discovered. Regularities of the legal order , on the other hand, are the product of human design and have to be constructed. Nevertheless, in an ongoing legal order, they enable us to subject analogies in the law to the ordinary demands of substantive reasonableness, in light of what we know.

In short, support for the analogy on which an analogical legal argument depends is found in its legal context, or, more simply, in the law itself. Those who insist, that there is no basis for validating a legal argument except by deduction or induction suppose that lawyers and judges make their argument in a vacuum, as if they have no more reason to choose one analogy over another than would a visitor from Mars who was asked to explain why the lawn is wet.« (S. 125)

Und noch einmal vollständiger von S. 127:

»The legal knowledge and experience that lawyers and judges bring to the facts of a case tell them … that some similarities count for the matter at hand and others not. Their ability to make such distinctions is no more mysterious in the one case than it is in the other. If a legal analogy cannot be put to the test in the same way that a practical analogy can, it is nevertheless subject to tests of consistency and coherence with rules of law that together indicate the relevance of particular facts to the issue in question, although neither individually nor collectively do they prescribe conclusively for the specific situation.«

Weinreb findet in der Fähigkeit, situationsadäquat Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit wahrzunehmen, eine jedem Menschen angewachsene Kompetenz.[7]

»Ther is no question, however, that the ability is acquired very early and that it cannot be assimilated or reduced to deductive reasoning, because deductive reasoning depends on it.«

Dazu bezieht sich Weinreb auf W. V. Quine, bei dem zu lesen ist [8]:

»A standard of similarity is in some sense innate.«

Das Zitat stammt aus dem berühmten Aufsatz »Natural Kinds« (dort S. 274), in dem Quine dem Induktionsproblem mit einem realistischen Gattungsbegriff auf die Spur kommen wollte. Auch daraus sei ausführlicher (von S. 272) zitiert:

»For surely there is nothing more basic to thought and language than our sense of [similarity]; our sorting of things into kinds. The usual general term, whether a common noun or a verb or an adjective, owes its generality to some resemblance among the things referred to. Indeed, learning to use a word de pends on a double resemblance: first, a resemblance between the present circumstances and past circumstances in which the word was used, and second, a phonetic resemblance between the present utterance of the word and past utterances of it. And every reasonable expectation depends on resemblance of circumstances, together with our tendency to expect similar causes to have similar effects. The notion of a kind and the notion of similarity or resemblance seem to be variants or adaptations of a single notion. Similarity is immediately definable in terms of kind; for, things are similar when they are two of a kind. The very words for ›kind‹ and ›similar‹ tend to run in etymologically cognate pairs. Cognate with ›kind› we have ›akin‹ and ›kindred‹. Cognate with ›like‹ we have ›ilk‹. Cognate with ›similar‹ and ›same‹ and ›resemble‹ there are ›sammeln‹ and ›assemble‹, suggesting a gathering into kinds. We cannot easily imagine a more familiar or fundamental notion than this, or a notion more ubiquitous in its applications. On this score it is like the notions of logic: like identity, negation, alternation, and the rest. And yet, strangely, there is something logically repugnant about it. For we are baffled when we try to relate the general notion of similarity significantly to logical terms. One’s first hasty suggestion might be to say that things are similar when they have all or most or many properties in common.«

Was folgt aus alledem? Anscheinend gibt es so etwas wie einen Naturalized Turn in Epistemology (Chase Wrenn im der Routledge Handbook of Social Epistemology, 2019). Die Epistemologie kann den Alltagsrealismus doch nicht ganz ingnorieren. Es kommt auf die Suchrichtung an. Wenn man eine Matter of Question im Kopf hat und nach Ähnlichkeiten sucht, findet man nur relevante Ähnlichkeit. Fragt man dagegen nach Gleichheit, vergleicht man also zwei Objekte, so drängen sich auch natürliche (ontologische) Ähnlichkeiten auf.


[1] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[2] Brewer (wie Fn. 5) S. 933.

[3] Für die philosophische Argumentationstheorie baut Harald Wohlrapp auf dieses Konzept: wie Fn. 24 und ausführlich in: The Concept of Argument. A Philosophical Foundation, 2014, S. 175ff. .

[4] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 127.

[5] Bartosz Brożek, Analogy in Legal Discourse, ARSP 94, 2008, 188-201, S. 193.

[6] Frederick Schauer, Thinking Like a Lawyer, A New Introduction to Legal Reasoning, 2009, S. 88.

[7] S. 114ff.

[8] Willard van Orman Quine, Natural Kinds, in: Essays in Honor of Carl G. Hempel,1969. Ich zitiere nach dem Abdruck in: Jaegwon Kim/Daniel Z. Korman/Sosa (Hg.), Metaphysic. An Anthology, 2012, 271-280, S. 272.

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Analogie als Prozess

Die Überlegung, was am Anfang einer Analogie stehen könnte, nämlich die »Matter in Question«, deutet darauf hin, dass die Folgerung am Ende das Ergebnis eines gedanklichen Prozesses sein muss, den man in seinen verschiedenen Stadien beschreiben kann.

Der gedankliche Prozess beginnt mit der Identifizierung eine Ausgangssituation, für die eine Erklärung gesucht, eine Frage zu beantworten oder ein Problem zu entscheiden ist. In juristischem Zusammenhang geht es stets darum, eine Norm zu finden, die eine Rechtsbehauptung stützen könnte. Brewer spricht von der analogy-warranting rule und liefert gleich eine Abkürzung mit (AWR).[1]

Im zweiten Schritt folgt die Suche nach Vergleichssituationen, die als Beispiel oder Vorbild dienen und damit zur Basis der Analogie werden können. In juristischem Zusammenhang geht es darum, einen bereits durch Gesetz oder Präjudiz geregelten ähnlichen Fall zu finden.

Im dritten Schritt wird ein Mapping der Ausgangssituation und der Vergleichssituation auf Ähnlichkeiten und Unterschiede angestellt. In juristischem Zusammenhang geht es darum, den Tatbestand der Vergleichssituation und den Tatbestand der Ausgangssituation zu vergleichen, also um einen Fallvergleich.

Im vierten Schritt werden die Merkmale oder Relationen identifiziert, die das Ausgangsproblem lösen könnten, wenn sie vom Vergleichsfall auf den Ausgangsfall übertragen würden. In juristischem Zusammenhang ist dieser Schritt schon mit dem ersten Schritt erledigt. Zu übertragen wäre die Rechtsfolge der Norm, die den Vergleichsfall regiert.

Im fünften Schritt wird nach Gründen gesucht, die für oder gegen die Übertragung sprechen. In juristischem Zusammenhang ist hier die wichtigste Arbeit zu leisten. Dabei wird man wiederholt auf den dritten Schritt zurückgeworfen, weil Ähnlichkeiten und Unterschiede in Abhängigkeit von den Gründen wahrgenommen werden.

Der sechste und letzte Schritt ist dann die Entscheidung für oder gegen den Analogieschluss.

Brozek fasst die ersten vier Schritte als Heuristik zusammen, den funften und sechsten als Abwägung.

Brewers Abhandlung ist weitgehend als Verteidigung der Analogie als eines selbständigen Arguments rezipiert worden. Dagegen macht Weinreb mit guten Gründen geltend, Brewer lege tatsächlich der Analogie nur als Heuristik einen Eigenwert bei. Alle weiteren Schritte, mit denen die durch die Analogie entdeckte Regel bestätigt oder verworfen werden, liefen auf eine Kombination von induktiven und deduktiven Argumenten hinaus.[2] Es lohnt sich indessen, noch einmal auf das heuristische Anfangsstadium zurückzukommen, das Brewer als Abduktion einordnet. Mit Peirce kann man davon ausgehen, dass die Auffindung von brauchbaren Erklärungen für neue Probleme am besten dem Wissenschaftler gelingt, der im Allgemeinen mit dem Problembereich vertraut ist. Analog gilt das auch für normative Analogien. Was am Anfang die Qualität der Abduktion bestimmt, könnte am Ende nach der Durchmusterung der konduktiven Argumente noch einmal für das abschließende Werturteil für oder gegen die Analogie wichtig werden. Die juristische Expertise überbrückt mit Hilfe der Analogie den dezisionistischen Rest der Entscheidung.


[1] Scott Brewer, Exemplary Reasoning: Semantics. Pragmatics, and the Rational Force of Legal Argument by Analogy, Harvard Law Review 109, 1996, 923-1028, S. 962.

[2] Lloyd L. Weinreb, Legal Reason. The Use of Analogy in Legal Argument, 2. Aufl., 2016, S. 109.

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Analogie und »Matter in Question«

Viele Überlegungen zur Struktur der Analogiebildung gehen davon aus, dass Analogiebildung mit der Wahrnehmung einer Problemsituation beginnt, im Rechtsdenken also etwa mit der Wahrnehmung einer Lücke. In der Argumentationsliteratur wird Analogiebildung als ein Verfahren zur Gewinnung von Schlussfolgerungen behandelt. Am Anfang steht eine Frage, ein Streitpunkt, ein Problem, ein Ausgangsfall, bei Wohlrapp in einem englischen Text »matter in question«[1]. Es ist aber denkbar, dass erst die Feststellung einer Ähnlichkeit auf Fragen und Probleme hinführt. Einem Touristen etwa, der eine fremde Stadt besichtigt, fällt auf, dass dort viele Gebäude einander ähnlich sehen. Der Besucher eines Museums bemerkt Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kunstwerken. Die Ähnlichkeit wird zunächst auf der Ebene phänomenologischer Betrachtung konstatiert. Erst ex post stellen sich Fragen ein. Man bemerkt einen Menschen, der einem Bekannten frappierend ähnelt und fragt sich: ist das Verwandtschaft oder eine Laune der Natur. Einige Autoren sprechen insoweit von figurativen[2] Analogien, die keine bestimmte Frage beantworten. Explanatorische Analogien sollen allein dem besseren Verständnis dienen.[3] Ein berühmtes Beispiel ist der Vergleich von Strom mit Strom, also Elektrizität mit einem Fluss:

»Did you ever stop to think how words mold science and make it what it is? The scientists who first described electricity as a ›current‹ forever shaped science in this field. It then quite naturally began seriously to be assumed that electricity was something that flowed through wires as water flows between riverbanks. Naturally then it had a potential rate of flow influenced by the resistance it met. One term followed another and soon this cloud of symbols veiled the mystery of electricity and we felt that we completely understood.«[4]

Die Fähigkeit, Gleichheit, Verschiedenheit und Ähnlichkeit zu konstatieren und daraus Schlüsse zu ziehen, ist eine menschliche Basiskompetenz, die sich von früher Kindheit an entwickelt. Zuerst werden nur Attribute unterschieden. Dann auch Funktionen und Kausalitäten und damit Strukturen. So entwickelt sich die Fähigkeit zu weiterführenden Analogien.

Die Priorität von Frage oder Ähnlichkeit ist nicht immer klar. Ähnlichkeiten lösen Fragen aus. Fragen nehmen Einfluss darauf, ob und wo man Ähnlichkeiten findet. Übereinstimmungen, die als Ähnlichkeit erscheinen können, gibt es fast immer. Autos und Häuser haben Fenster gemeinsam. Vögel und Flugzeuge können fliegen. Kunstbilder und Herbstlaub sind farbig. Stühle und Menschen haben Beine. Deshalb werden sie aber normalerweise nicht als ähnlich wahrgenommen. Es scheint jedoch Ähnlichkeiten zu geben, die sich phänomenologisch mehr oder weniger aufdrängen. Anscheinend springt Ähnlichkeit eher ins Auge beim Vergleich von Attributen als beim Vergleich von Relationen.[5] Der Bundesfinanzhof hatte darüber zu befinden, ob Einkünfte aus der Vermietung eines in der die Luftfahrzeugrolle eingetragenen Flugzeugs ebenso zu behandeln seien wie Einkünfte aus der Vermietung von im Schiffsregister eingetragenen Schiffen.[6]  Da drängte das Attribut »Eintragung in ein öffentliches Register« die Analogie geradezu auf. Dagegen mag der Versuch, anonyme Umtriebe im Internet als »digitale Vermummung« in den Griff zu bekommen, zwar innovativ und einleuchtend erscheinen.[7] Die Relation »anonyme Kommunikation« ist aber doch vergleichsweise schwach.

Der Generalverdacht der Analogie-Skeptiker beruht darauf, dass keine zwei Objekte völlig gleich und ebenso wenig keine zwei Objekte gar keine Ähnlichkeit aufweisen. Sie schließen daraus, dass das Auffinden einer Ähnlichkeit schlechthin beliebig sei und die Analogie als selbständige Argumentation entsprechend wertlos.[8] Es fällt schwer, dieser Skepsis uneingeschränkt zu folgen. Die Fähigkeit, über Mustererkennung Gleichheit festzustellen, ist schon bei allen Wirbeltieren vorhanden, und Tiere sind auch schon in der Lage auf Ähnlichkeiten u reagieren.[9] Ähnlichkeiten drängen sich jedermann im Alltag ohne Anlass immer wieder auf. In psychologischen Tests werden relativ übereinstimmend Ähnlichkeiten erkannt. (Nicht nur) Künstler können ein Thema in Sprache Bild und Ton gezielt variieren, also Ähnlichkeiten herstellen, die dann auch in der Regel wiedererkannt werden. Wir können es nicht beweisen. Aber es gibt wohl doch eine objektivierbare Phänomenologie der relevanten Ähnlichkeit.


[1] Harald Wohlrapp, A New Light on Non-Deductive Argumentation Schemes, Argumentation 12, 1998, 341-350, S. 343.

[2] Bruce N. Waller, Classifying and Analyzing Analogies, Informal Logic 21, 2001, 199-218, S. 200.

[3] Douglas N. Walton, Informal Logic, 2. Aufl. 2008, S. 311; Manfred Kraus, Arguments by Analogy (and What We Can Learn about Them from Aristotle), in: Frans H. van Eemeren/Bart Garssen (Hg.), Reflections on Theoretical Issues in Argumentation Theory, 2015, 171-182, S. 172 mit Nachweisen, denen ich nicht nachgegangen bin.

[4] T. Swann Harding, Science at the Tower of Babel, Philosophy of Science 5, 1938, 338-353, S. 347.

[5] Robert L. Goldstone/Douglas L. Medin/Dedre Gentner, Relational Similarity and the Nonindependence of Features in Similarity Judgments, Cognitive Psychology 23, 1991, 222-262.

[6] BFH, Urteil vom 02. Mai 2000 – IX R 71/96 –, BFHE 192, 84.

[7] Timo Schwandner, Das digitale Vermummungsverbot – eine irreführende Analogie, ZRP 2019, 207-209; vgl. auch Hans-Christian Gräfe/Andrea Hamm, Anonymität im Internet, in: Franz X. Berger u. a. (Hg.), Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen, 2021, 251-286.

[8] Hier lässst sich Peirce zitieren, der mit Beispielen die Beliebigkeit von Ähnlichkeitsargumenten demonstrieren will (CP 2.634): »There is no greater nor more frequent mistake in practical logic than to suppose that things which resemble one another strongly in some respects are any the more likely for that to be alike in others. That this is absolutely false, admits of rigid demonstration; but, inasmuch as the reasoning is somewhat severe and complicated (requiring, like all such reasoning, the use of A, B, C, etc., to set it forth), the reader would probably find it distasteful, and I omit it. An example, however, may illustrate the proposition: The comparative mythologists occupy themselves with finding points of resemblance between solar phenomena and the careers of the heroes of all sorts of traditional stories; and upon the basis of such resemblances they infer that these heroes are impersonations of the sun. If there be anything more in their reasonings, it has never been made clear to me. An ingenious logician, to show how futile all that is, wrote a little book, in which he pretended to prove, in the same manner, that Napoleon Bonaparte is only an impersonation of the sun. It was really wonderful to see how many points of resemblance he made out. The truth is, that any two things resemble one another just as strongly as any two others, if recondite resemblances are admitted.«

[9] Keith James Holyoak/Paul Thagard, Mental Leaps, 1995, S. 40 ff: The analogical ape.

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Analogie und Beispiel III: Fallvergleich und Distinguishing

Jedermann steht ständig vor der Notwendigkeit, Handlungsentschlüsse zu fassen. Da kann jede Handlung, die er beobachtet, zum Vorbild oder Beispiel werden. Beispiele können als bloße Anleitung (Rezept) oder als Normvorschlag dienen. Einem Beispiel zu folgen heißt, die aus dem Beispiel ersichtliche Regel zu verwirklichen. Auch Beispiele, die nur eine Gebrauchsanleitung für einen Sacherfolg liefern, enthalten insofern eine Regel. Handlungen, die nicht als Vorbild gedacht sind, können doch als solches wirken. (Im Alltag ist das anscheinend bei schlechten Beispielen häufiger der Fall als bei guten.) Damit stoßen wir auf ein Henne-Ei-Problem, die Frage nämlich, was geht voraus, der Fall oder die Regel? Anders gefragt, dienen Präjudizien als Vorbild für Fälle oder als Quelle für Regeln?

Jede Bezugnahme auf ein Präjudiz fordert einen Fallvergleich. Der Fallvergleich ist eine wie selbstverständlich geübte juristische Praxis, die allerdings methodisch wenig reflektiert wird. Für Fritjof Haft ist der Fallvergleich »die zentrale juristische Operation«[1]. Haft wendet sich gegen die »Grundvorstellung, daß es dem Rechtsanwender vorgegebene Rechtsideen gebe, und daß diese in abstrakten Begriffen festgehalten werden könnten. … [Denn] Die Gerechtigkeit ist eine Sache des Einzelfalles. Der Einzelfall wird nicht an vorgegebenen Ideen gemessen. Er trägt die richtige Lösung allein in sich.«[2] Über eine »bewußt gestaltete Vergleichsfalltechnik« erfährt man von Haft freilich nicht viel mehr, als dass es sich um »rhetorisches Problem« handelt.[3] Auch Arthur Kaufmann sieht im Fallvergleich den zentralen Akt der Rechtsgewinnung, nämlich »die Gleichsetzung des zu entscheidenden Falles mit solchen Fällen, die der einschlägigen Norm sicher unterfallen, also eine Analogie«[4]. Der Fallvergleich erfolge im Lichte einer durch Abduktion gewonnenen Normhypothese. Kaufmann wendet sich damit ausdrücklich gegen die Auffassung von Haft, dass ein Fallvergleich ohne Norm oder Regel möglich sei, die als tertium comparationis dient. Indessen verdient weder die Position Hafts noch diejenige Kaufmanns Zustimmung. Hafts Regelnihilismus ist nicht akzeptabel. Ohne Abstraktionen könnten wir uns nicht durch die Welt bewegen. Es geht immer nur um den Grad der Verallgemeinerung. Gegen Kaufmann ist zu sagen: Auch ohne eine Rechtsnorm als Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich oder ähnlich sind. Wäre es anders, gäbe es keine Kategorisierung und damit keine Begriffsbildung.

Die Differenz zwischen Haft und Kaufmann verschwindet, wenn man zwischen gelingender und zweifelhafter Kategorisierung unterscheidet. Auch ohne Vergleichsmaßstab kann man feststellen, dass zwei Objekte gleich sind. Wenn sie verschieden sind, kann man immer noch Ähnlichkeit konstatieren, wenn einzelne Merkmale übereinstimmen. Die Kategorie ist noch kein Vergleichsmaßstab. Dieser tritt für den Vergleich zur Kategorie hinzu. Primärer Maßstab für die Ähnlichkeit bleibt die Kategorie, der versuchsweise zugeordnet wurde. Erst wenn es darum geht, Ähnliches trotz Verschiedenheit gleichzusetzen, braucht man eine Regel als Vergleichsmaßstab. Dann geht es nicht mehr um Ähnlichkeit an sich (ontische oder phänomenale Ähnlichkeit), sondern um relevante Ähnlichkeit.

Die juristischen Kategorien für die Gesetzesanalogie liefern die Tatbestandmerkmale einer Norm. Wenn die Kategorisierung = Subsumtion misslingt, weil nicht alle, sondern nur einige Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, geht es nicht länger um Gleichheit, sondern um Gleichsetzung aufgrund von Ähnlichkeit.[5] Die Ungleichsetzung entspricht dem distinguishing im Common Law. Black’s Law Dictionary[6] definiert: »To point out an essential difference.« Für Scott Brewer handelt es sich dabei um eine umgekehrte Analogie (disanalogy).[7] Das Problem steckt im essential. Offen bleibt, ob die Fälle als solche verglichen werden oder ob ein fallexterner Vergleichsmaßstab anzulegen ist.

Soll nicht auf eine Norm, sondern auf ein Präjudiz abgestellt werden, kann man nicht selten Gleichheit der Fälle konstatieren. Wurde dem Käufer eines Audi mit Dieselmotor des Baujahrs 2008 Schadensersatz zugebilligt, weil der Motor des Typs EA189 mit einer so genannten Schummel-Software ausgerüstet war, so liegt der Fall des Käufers eines anderen Audi mit diesem Motor, der nunmehr seinerseits Ersatz fordert, gleich. Für das Gleichheitsurteil bedarf es keiner Regel. Aber so klar ist das Gleichheitsurteil nicht immer. Die Kategorisierung von Fällen als gleich fällt »analog« zur Kategorisierung qua Subsumtion oft zweifelhaft aus. Dann allerdings muss ein Vergleichsmaßstab her. Als solche dient die Regel, die dem Präjudiz entnommen wird.

Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Sprachphilosophen mit einer »analogen« Problematik kämpfen und sich dazu an der Jurisprudenz orientieren. So überlegt Jasper Liptow, ob »sich unsere Praxis sprachlicher Verständigung aus philosophischer Perspektive in gewinnbringender Weise nach dem Modell einer (stark idealisierten) Praxis der Rechtsprechung verstehen lässt, nämlich des Fallrechts (case law)« [8]. Hintergrund ist die Kontroverse, ob zur Erklärung sprachlicher Verständigung von Idiolekten, also der Privatsprache einzelner Sprecher, oder besser von Soziolekten, also vom regelhaften Sprachverhalten menschlicher Gemeinschaften auszugehen ist. Liptow selbst optiert für den Idiolekt als Ausgangspunkt, weil sich die Individualität sprachlichen Verhalten nur damit vertrage. Aus dieser Sicht wären Sprachnormen nicht konstitutiv für die sprachliche Verständigung, sondern nur sekundäres Hilfsmittel.

»Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen. Insofern sie als das Verstehen einer gemeinsamen Sprache konzipiert wird, verfehlt sie diesen Zweck immer dann, wenn andere in ihren Sprachgewohnheiten – ihren Idiolekten – von dem abstrakten Ideal abweichen.… Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person.« (Liptow S. 5, 11)

Liptow geht von einem »Fallrechts-Modell sozialer Praxis« aus, das von Robert Brandom »in einem ganz anderen Kontext« entwickelt wurde, nämlich zur der von ihm semantisch pragmatistisch genannten These, »daß der Gebrauch von Begriffen ihren Gehalt bestimmt, d. h. daß Begriffe keinen Gehalt außer dem haben können, der ihnen durch ihre Verwendung verliehen wird«[9]. Brandom charakterisiert dieses Modell damit,

»daß es ausschließlich auf Fällen beruht. Es ist keine Auslegung von expliziten Grundrechten, Regeln oder Prinzipien. Es gibt hier nur eine Abfolge von Anwendungen von Begriffen auf aktuelle Gruppen von Tatsachen. … Der Gehalt der Begriffe, die der Richter anwenden muß, ist vollständig konstituiert durch die Geschichte ihrer früheren tatsächlichen Anwendungen … Es ist diese Tradition, gegenüber welcher der Richter verantwortlich ist. Der Gehalt dieser Begriffe wurde vollständig durch ihre faktische Anwendung konstituiert.«[10]

Für die an dieser Stelle erörterte Frage, ob Gleichheit und Ähnlichkeit von Fällen auch ohne Rücksicht auf eine Regel oder Norm beurteilt werden kann, helfen die Überlegungen Brandoms aber nicht weiter. Was in seinem von Hegel bestimmten Kontext die »Begriffe« sind, sind im juristischen Kontext eben die Regeln. Brandom geht es darum, wie aus einer Kette von Fällen Regeln entstehen, wiewohl doch der Richter den Vor-Fall als Präjudiz verwerfen könnte. Seine Erklärung mit der »reziproke[n] Autorität« vergangener, aktueller und künftiger »Begriffsverwendungen« könnte im Abschnitt über »Casus und Regula« hilfreich werden. Für den aktuellen Zusammenhang entnehme ich Liptows Aufsatz aber nur, dass die Sprachphilosophie mit dem Gegensatz von Idiolekt und Soziolekt vor einem »analogen« Problem steht wie die Jurisprudenz mit der Frage, ob Fall oder Regel den Ausgangspunkt bilden. Wählt man analog zum Idiolekt den Fall als Ausgangspunkt und zieht man die Analogie mit Liptows Hilfe aus, so verhält es sich entsprechend der »radikalen Übersetzung« im Sinne von Quine und Davidson. Die Analogie funktioniert auf der Basis von Tatsachen, die ohne Regel zugänglich sind, nämlich auf einem Fall.

An Davidson knüpft auch Ralf Poscher in einem neuen Text über »The Hermeneutics of Legal Precedent«. Er stellt auf die intentionalistische Konzeption Davidson zu Meinung und Bedeutung ab, den er wie folgt zitiert:

»So in the end, the sole source of linguistic meaning is the intentional production of tokens of sentences«.

Davidson habe jedoch hinzugefügt, dass Bedeutung und Interpretation nicht auf konventionelle Sprache angewiesen seien. Wenn es um Präjudizien gehe, die selbst kein holding oder keine Regel formulierten, so müsse dennoch »hermeneutisch« nach der Intention der Entscheider gefragt werden.

Meine These lautet hier, dass ein Fallvergleich mindestens vorläufig ohne Hilfe einer Regel möglich ist. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir Personen, Gegenstände oder Örtlichkeiten, die wir einmal wahrgenommen haben, auch ohne Anlass wiedererkennen. In der Informatik spricht man vom One-Shot-Learning, das etwa dazu verhilft, ein bestimmtes Gesicht oder eine Stimme zu identifizieren. Praktisch wird dabei eine existente Kategorisierung nur durch zusätzliche Merkmale verfeinert. Nicht immer lässt sich auf diese Weise unterscheiden, ob ein identisches oder nur ein gleiches Objekt erkannt wird.

Schwieriger als der Vergleich von kompakten Objekten ist der Vergleich von komplexeren Situationen, wie ihn der Fallvergleich, der die Heranziehung eines Präjudizes rechtfertigen soll, in der Regel fordert. Auch »Situationen« können nur mit Hilfe von Begriffen = Kategorien beschrieben werden. Situationen lassen sich verhältnismäßig einfach kategorisieren, wenn man nur auf einzelne perzeptiv prominente Merkmale abstellt, z. B. auf die Beteiligten (Mann, Frau, zwei, viele), auf den Streitgegenstand (Geld, Beziehung, Politik) oder den dem Orts- und Zeitbezug. Solche Kategorisierung dient im Vorfeld des Gerichtsprozesses die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist nicht von vornherein teleologisch, sondern – wenn man so will – ontologisch. Sie könnte auch für statistische Zwecke genutzt werden oder für die Zusammenstellung einer Stichprobe in der Sozialforschung[11]. Aber singuläre Merkmale machen noch keinen »Fall«. Wenn es um den Tatbestand eines Präjudizes geht, wird es insofern schwierig, als der Fall keine schlechthin objektive Einheit bildet. Was als Fall definiert wird, ist ein interessengeleiteter Ausschnitt aus der Welt. In juristischem Zusammenhang erhält der Fall seine Konturen aus vorhandenen oder gewünschten Regeln, aus Urteilstatbeständen und Klagevorbringen. Doch auch insoweit scheint mir ein vorjuristische, sozusagen ontologischer Fallvergleich nicht ausgeschlossen zu sein.

Wie würde künstliche Intelligenz (KI) den Fallvergleich übernehmen? KI hat keinen direkten Zugriff auf die Semantik und damit auf den intensionalen Gehalt eines Begriffs. KI arbeitet vielmehr extensional, das heißt, es werden Merkmale bestimmt, anhand derer sich die Fälle erkennen und unterscheiden lassen. Je mehr Merkmale benutzt werden, je spezifischer sie definiert werden, um so genauer wird eine Situation = Fall erkannt. Die Schärfe der Fallerkennung scheint also von der Spezifizierung der Merkmale abzuhängen, z. B. ob als Merkmal Tier oder Säugetier gewählt wird. Werden die Merkmale jedoch (zu) eng und scharf gewählt, so fallen (zu) viele Kandidaten aus dem Raster. Daher muss auch KI verfahren wie der Mensch im Alltag. Der bildet mit einer begrenzten Anzahl von Merkmalen ein »Konzept«. Dazu abstrahiert er von konkreten Gegenständen und Personen, Ereignissen und Handlungen. So entstehen »Typen«. Kelle/Kluge beziehen sich (S. 84) dazu (ungenau) auf Alfred Schütz. Diesen Bezug nehme ich als Wegweiser in die (Mundan)-Phänomenologie. Das bedeutet in meinem Zusammenhang, auch neue Aufgaben werden zunächst mit dem Vorrat an symbolischen Konstruktionen = Konzepten in Angriff genommen, die man in seiner Lebenswelt gewonnen hat.

Wenn also eine neue Aufgabe in Gestalt eines Fallvergleichs zu lösen ist, dann probiert man die Lösung zunächst mit unabhängig von dieser Aufgabe schon vorhandenen Konzepten. Zwar sind die Konzepte in Juristenköpfen immer schon mit Normvorstellungen angereichert. Dennoch besteht wohl grundsätzlich die Möglichkeit eines ontologischen oder besser phänomenologischen Fallvergleichs. Erst wenn es um die Gleichsetzung von bloß ähnlichen Fällen geht, kommt eine Regel oder deren Zweck ins Spiel.


[1] Fritjof Haft, Falldenken statt Normdenken, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.), Der deutsche Sprachgebrauch, Bd. II, 1981, 153-161, S. 153.

[2] Haft S. 156f.

[3] Haft S. 160.

[4] Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogie, Erkenntnis, Dezision, Macht, 1999, S. VI.

[5] Zutreffend sagt Kaufmann daher an anderer Stelle, dass ein striktes Analogieverbot auf ein Interpretationsverbot hinausläuft (Analogie und »Natur der Sache«, 1965, S. 4).

[6] 5. Aufl. 1979, S. 425.

[7] Brewer S. 936 + S. 983 +S. 1006.

[8] Jasper Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis, in: Friedrich Müller (Hg.), Politik, (Neue) Medien und die Sprache des Rechts, 2007, 55-69, S. 1. Ich zitiere nach einem im Internet verfügbaren Manuskript; daher die abweichenden Seitenangaben.

[9] Robert Brandom, Pragmatistische Themen in Hegels Idealismus, Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, 1999, 355-381.

[10] A. a. . S. 377f.

[11] Udo Kelle/Susann Kluge, Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung, 2. Aufl., 2010.

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Analogie und Beispiel II: Defeasability

Beispiele drängen sich auf. Beispiele kann man suchen.

»Es gibt zwei Arten von Beispielen: Eine besteht darin, frühere Ereignisse zu erzählen, die zweite darin, selbst etwas zu erdichten.«[1]

Es war bereits davon die Rede, wie Trudy Grovier hypothetische Vergleichsfälle als (originäre) A-Priori-Analogien behandelt. Lawrence B. Solum hat mit einem Artikel seines Legal Theory Lexicon aufgezeigt, dass und wie Juristen mit hypothetischen Fällen argumentieren.[2] Der Artikel ist so lebhaft, kurz und präzise, dass ich besser die Lektüre empfehle als den Inhalt zu referieren.

Solums Lexikon-Artikel regt dazu an, mit Extrembeispielen die sogenannte defeasibility of rules zu demonstrieren. Das hat insofern mit dem Analogieproblem zu tun, als Analogie-Skeptiker für sich in Anspruch nehmen, es könne und müsse stets erst ein Prinzip abgeleitet werden, um den Ausgangsfall zu beurteilen. Erneut sollte ich dazu besser auf einen fremden Text verweisen. Da es insoweit aber nur um einen Ausschnitt geht und der Text von André Juthe [3]im Original englisch ist, versuche ich mich mit einer Paraphrase.

Juthe seinerseits nutzt ein Beispiel von Govier:[4]

»Lorenzo, Chairman der in finanziellen Schwierigkeiten befindlichen Eastern Airlines, sucht beim dem Konkursgericht Schutz vor seinen Gläubigern. Das sei etwa so, als ob ein junger Mann, der seine Eltern ermordet hat, um Milde bittet, weil er ein Waise sei. Denn Lorenzo habe in den letzten drei Jahren wertvolle Vermögenswerte von Eastern verschleudert und berufe sich nun auf Mittellosigkeit, weil Eastern Geld verliere.«

Govier skizziert den Gedankengang wie folgt:

(1) Ein junger Mann tötet seine Eltern, und bittet um Gnade, weil er nun Waise ist.

(2) Der Chairman von Eastern Airlines (Lorenzo) vernichtet die wichtigsten Vermögenswerte der Firma, nd beruft sich auf die Zahlungsunfähigkeit der Firma, , der er die ihre wichtigsten Vermögenswerte entzogen hat, und bittet und Schutz vor den Gläubigern.

(3) Der junge Mann verdient keine Gnade.

(4*) Niemand, der sich selbst in eine schwierige Situation gebracht hat, verdient Milde oder Schutz.

(5) Lorenzo verdient keinen Schutz vor seinen Gläubigern.

Juthe stellt nicht in Frage, dass die Analogie plausibel ist, bezweifelt aber die Kraft des duduktiven Arguments. Die Generalisierung in (4*) sei nämlich durchaus problematisch. Dafür genüge es nicht, die Fälle von Lorenzo und von dem Mann, der seine Eltern umbrachte, in allen relevanten Einzelheiten zu bedenken. Man müsste auch die relevanten Umstände aller (hypothetisch) denkbaren einschlägigen Fälle berücksichtigen. (4*) könnte leicht ausgehebelt werden mit dem Beispiel von rauschgiftabhängigen Jugendlichen oder Menschen, bei denen dumme kleine Fehler schwere Folgen nach sich ziehen. Vielleicht würde (4*) besser lauten: Niemand, der durch eigene unmoralische Handlungen sein eigenes Unglück herbeiführt, verdient Gnade. Aber diese Regel kann wiederum durch den Fall in Frage gestellt werden, dass ein nicht sehr schwerwiegender Moralverstoß sehr gravierende Folgen hat. Das Prinzip müsste also lauten: »Niemand, der unmoralische Handlungen sein eigenes Unglück herbeiführt, verdient Gnade, es sei denn, die Unmoral wiegt nicht schwer und die Folgen sind gravierend. Aber dann muss spezifiziert werden, was unter schwerwiegender Unmoral zu verstehen und welche Folgen gravierend sind. Man könnte dann sicher wieder Gegenbeispiele finden, welche diese Definitionen als unzureichend erweisen, z. B. den Fall, dass sich jemand eine schwerwiegende unmoralische Handlung begeht, dann aber bereut, was er getan hat und ein neues Leben beginnt. Erst danach treffen ihn die schweren Folgen seiner Handlung. Als Gegenbeispiel könne ferner vielleicht der Fall dienen, dass auch Unbeteiligte unter den schweren Folgen leiden. Eine allgemeine Regel, die mit dem Ziel formuliert wird, für Gegenbeispiele immun zu sein, müsste also alle Ausnahmefälle berücksichtigen.

Juthe folgert aus solchen Überlegungen, dass es ausgeschlossen sei, Analogien auf Induktion und Deduktion zurückzuführen, weil die Umstände, die im Fallvergleich berücksichtigt werden, für eine Generalisierung nicht ausreichen. Träfe das zu, so taugten Regeln wenig oder gar nichts. Tatsächlich »funktionieren« sie aber. So führen die Überlegungen zur Analogie zu einem der großen Standardthemen der Rechtstheorie, nämlich auf das Unbestimmtheitsheorem.

Zu praktisch jeder Rechtsnorm, die zur Anwendung in Betracht kommt, lassen sich Einschränkungen oder Ausnahmen finden oder erfinden. Das ist in der prinzipiellen Unvollständigkeit des Rechts begründet. Um dieses Phänomen herum ist unter dem Titel Defeasibilaty eine ebenso umfangreiche wie überflüssige Diskussion entstanden. Es geht um das Grundphänomen jeder Begriffsbildung. Begriffe abstrahieren von konkreten Objekten. Sie stellen Verallgemeinerungen dar. Das gilt selbstverständlich auch für Regeln aller Art und damit für Rechtsnormen. Verallgemeinerungen erweisen sich aber immer wieder als konkretisierungsbedürftig. Mit einem Beispiel aus einem Kongressvortrag von Giovanni Sartor: Tweety ist ein Vogel. Vögel können fliegen. Aber Tweety ist ein Pinguin, der nicht fliegen kann. Die (allgemeine) Regel gilt anscheinend nicht ausnahmslos. Aber das ist nur die Kehrseite der Unschärfe der Begriffe. Man kann auch sagen, die Regel gilt nur prima facie oder als Vermutung, solange sie nicht durch zusätzliche Informationen eingeschränkt wird. Die allgemeine Regel bildet einen Standard für den Normalfall (default rule), wenn nicht Gründe für eine Ausnahme ersichtlich sind.

Nur durch Verallgemeinerungen bekommt man die Komplexität der Welt halbwegs in Begriff. Man muss dafür bereit sein, sich unter Umständen eines Besseren belehren zu lassen. Das ist eine Trivialität, und deshalb sollte das umfangreiche Schrifttum über Defeasibility im Recht unter Ockhams Razor fallen. Wer sich davon überzeugen möchte, dass sie nicht weiter führt, mag einen der folgenden Titel zur Hand nehmen: Leonard G. Boonin, Concerning the Defeasibility of Legal Rules, Philosophy and Phenomenological Research 36, 1966, 371-378; Carsten Bäcker, Rules, Principles, and Defeasibility, ARSP Beiheft 119, 2010, 79-91, sowie Jordi Beltrán Ferrer/Giovanni Battista Ratti (Hg.), The Logic of Legal Requirements: Essays on Defeasibility, 2012; Francesca Poggi, Defeasibility, Law, and Argumentation: A Critical View from an Interpretative Standpoint, Argumentation 35, 2021, 409-434, sowie vier Beiträge im Schwerpunktheft Nr. 1/2022 der Zeitschrift »Rechtsphilosophie« zum Thema »Defeasable Normative Reasoning«.


[1] Aristoteles, Rhetorik, 1393a, übersetzt von Gernot Krapinger, 1999.

[2] Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon 003: Hypotheticals, 2021.

[3] André Juthe, Argument by Analogy, Argumentation 19, 2005, 1-27, S. 20f.

[4] Trudy Govier, Analogies and Missing Premises, Informal Logic 11, 1989, 141-152, S. 143.

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