Begriffssoziologie IV: Der Schauplatz der Regime-Kollisionen

Die von den Funktionssystemen der Gesellschaft geprägten Konfliktlagen spiegeln sich im Rechtssystem als »Regime-Kollisionen«. Wo konkret kommen die Konflikte an die Oberfläche? Wo werden sie ausgetragen? Fischer-Lescano und Teubner [1]Regime-Kollisionen, 2006. geben im zweiten Teil ihres Buches sechs Beispiele, die sie ausführlich und anschaulich darstellen. Das geschieht allerdings nicht mit dem Ziel einer soziologischen Analyse, sondern um (normative) Vorschläge für ein Kollisionsrecht zu machen, das den Anforderungen des Weltrechtssystems Rechnung trägt. Vom Inhalt her sind diese Vorschläge beachtlich. An wen sie sich richten und wie sie sich durchsetzen sollen, bleibt dagegen vage:
»Die verbindliche Letztentscheidung wird ersetzt durch die Vielheit von Beobachtungspositionen in der Gesellschaft, die sich wechselseitig rekonstruieren, aneinander anschließen, beeinflussen, beschränken, kontrollieren, zu Neuerungen provozieren, aber eben nicht gemeinsam kollektive Entscheidungen über substantielle Normen fällen.« (S. 66)
Man fragt sich, ob der (system-)theoretische Aufwand dafür notwendig war. Immerhin verhilft er dazu, die auftretenden Kollisionslagen aus drei verschiedenen Perspektiven (»Lesarten«) zu betrachten. Die erste Perspektive ist die juristische, die zweite die politische und die dritte betrifft den »Rationalitätenkonflikt«. Zu kurz kommt dabei, obwohl immer wieder erwähnt, der gesellschaftliche Druck durch die Akteure der Zivilgesellschaft und die Medien. Zu kurz kommt aber auch die »Eigenrationalität« der Nationalstaaten.
Der äußere Schauplatz der Konflikte zeigt sich aus der juristischen oder der politischen Perspektive. Rechtssoziologie setzt am besten bei der juristischen Perspektive an. Sonst läuft sie Gefahr, zur Politikwissenschaft zu werden.
Die Rede von den »Regime-Kollisionen« ist insofern irreführend, als die vielen transnationalen Rechtsregimes nur selten untereinander in Konflikt geraten. Beispiele für Kollisionen zwischen Privatregimes untereinander sind nicht zu finden. Die Privatregimes geraten am ehesten mit nationalen Rechten in Konflikt. Aus einer Pressemeldung vom 18. 2. 2008:
»Der Weltfußballverband Fifa hat Spanien mit dem Ausschluss von der Europameisterschaft und der Champions League gedroht. Wenn die Madrider Regierung ihre Einflussnahme auf den Fußball nicht stoppe, werde der spanische Verband RFEF aus dem Weltverband ausgeschlossen, sagte Fifa-Präsident Joseph Blatter in der spanischen Hauptstadt. Dies hätte zur Folge, dass Spanien nicht an der EM in Österreich und der Schweiz teilnehmen könnte und die spanischen Vereine aus der Champions League und dem Uefa-Pokal ausgeschlossen würden.
Der Anlass der Drohung Blatters ist eine Anordnung der spanischen Regierung, wonach alle Sportverbände, die sich nicht für die Olympischen Spiele in Peking qualifiziert haben, vor dem Sommer eine neue Führung wählen sollen. Dies gilt auch für den Fußballverband. Die Fifa könne notfalls innerhalb von sechs Stunden den Ausschluss Spaniens beschließen, warnte Blatter. ›Wir haben da mehr Macht als die Vereinten Nationen.‹ «
Der wichtigste Austragungsort sind nach wie vor die Gerichte der territorialen Rechtssysteme, zu denen inzwischen auch die EU zählt. Wenn es hart auf hart geht, müssen sich die Privatregimes dem offiziellen Recht beugen. So hat der Europäische Gerichtshof durch sein Bosman-Urteil das Transfersystem des Profifußballs und sog. Ausländerklauseln wegen Unvereinbarkeit mit dem Freizügigkeitsgrundrecht gekippt. Bemerkenswert ist daran, dass der Konflikt nicht auf die »Eigenlogik« des Sportsystems zurückgeht, sondern erst die Ökonomisierung des Sportbetriebs Kollisionen mit Grundrechten und auch mit dem Wettbewerbsrecht auslöst.
Ein Beispiel, in dem ein Nationalstaat, unterstützt von gesellschaftlichen Gruppen sich im Interesse des Gesundheitssystems gegen das Wirtschaftssystem stark gemacht hat, bildet der Fall Hazel Tau vs. Glaxo and Boehringer. [2]Belinda Beresford, The Price of Life. Hazel Tau and Others vs GlaxoSmithKline and Boehringer Ingelheim: A Report on the Excessive Pricing Complaint to South’s Africa’s Competition Commission, … Continue reading
Die weltweite Aids-Epidemie traf in den 1990er Jahren besonders die Entwicklungsländer, weil sie keine wirksame Prävention organisieren konnten und die von den großen Pharmakonzernen angebotenen Medikamente für die Erkrankten unerschwinglich waren. In Hazel Tau vs. Glaxo and Boehringer machten die Kläger geltend, dass die Beklagten die Preise übermäßig hoch angesetzt hätten, so dass den Kranken der Zugang zu diesen Medikamenten verschlossen sei. Gefordert wurde ein Verbot überhöhter Preise, die Feststellung, dass alle Kranken, die wegen der hohen Preise keine Medikamente erhalten konnten, Schadensersatzansprüche hätten, und die Festsetzung einer Strafe gegen die Unternehmen. Am Ende einigten sich die Parteien über die Erteilung einer Produktionslizenz an südafrikanische Unternehmen.
Häufig wählen zivilgesellschaftliche Gruppen nationale Gerichte, um das Wirtschaftssystem zurückzudrängen, und nicht selten sind sie dabei erfolgreich, so auch im bekannten Neem-Baum Fall [3]Shalini Randeria, Transnationalisierung des Rechts. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure, WZB-Mitteilungen Heft 101, September 2003, 19-22..
Ein Netzwerk von NGOs aus Indien, Europa und Nordamerika klagte erfolgreich gegen den amerikanischen Chemiekonzern W. R. Grace und das US-Landwirtschaftsministerium wegen »Biopiraterie«. Das Patent des Schädlingsbekämpfungsmittels aus dem Öl von Samen des indischen Neem-Baums wurde schließlich durch das Europäische Patentamt in München wegen fehlender Neuheit widerrufen. Das allerdings nicht, weil ein aus Indien als Zeuge herbeigerufener Bauer das Gericht davon überzeugt hätte, dass das patentierte Verfahren zum traditionellen Wissen seiner Landsleute gehörte, und auch nicht, weil dem Chemiekonzern »Biopiraterie« und »intellektueller Kolonialismus« vorgeworfen wurde. Das Gericht stützte sich vielmehr auf die Aussage eines indischen Fabrikanten, dessen Firma seit 1995 dasselbe Produkt in einem ähnlichen Verfahren in Indien herstellte.
Wenn der weltweite Patentschutz angestammte Kulturtechniken in die Illegalität abdrängt, ist der »Rationalitätenkonflikt« nicht so einfach zu erkennen. Daher haben Teubner und Korth noch eine extrasystemische zweite Fragmentierung des Weltrechts eingeführt, nämlich diejenige »zwischen dem formalen Recht der Moderne und den gesellschaftlich eingebetteten Rechtsordnungen indigener Gesellschaften«. [4]Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative … Continue reading
Konflikte entstehen auch zwischen den völkerrechtlich installierten Regimes auf der einen Seite und Staaten oder – in dem folgenden Beispiel – der EU auf der anderen.
1998 entschied das WTO-Berufungsgremium über die Klage der USA gegen das EU-Importverbot für hormonbehandelte Rindfleischprodukte und setzte der EU ein Ultimatum, um seine Märkte für hormonbehandeltes Fleisch zu öffnen. Gegen diesen Schiedsspruch protestierten eine Reihe von NGOs (die Nord-Süd-politische Initiative, German Watch, das Agrarbündnis, ein Zusammenschluss von 20 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, und das Forum Umwelt & Entwicklung, die Arbeitsplattform von über 40 deutschen Verbänden und Organisationen aus den Bereichen Umwelt und Entwicklung). Sie wiesen auf den dringenden Reformbedarf der WTO hin und forderten die EU-Kommission und den EU-Agrarministerrat auf, das Importverbot auf keinen Fall aufzuheben. Stattdessen solle die EU notfalls Ausgleichszahlungen an die USA in Kauf nehmen und auf eine Reform der WTO-Verträge drängen. Tatsächlich ist die EU dem Schiedsspruch der WTO nicht nachgekommen und wird daher seitdem von den USA legal mit Handelssanktionen belegt. Nunmehr behauptet die EU, mit einer neuen Richtlinie über das Verbot der Verwendung bestimmter Stoffe mit hormonaler bzw. thyreostatischer Wirkung in der tierischen Erzeugung sowohl die Risikobewertung als auch die wissenschaftlichen Nachweise erbracht zu haben, so dass die Strafzölle von den USA und Kanada aufgehoben werden müssten, was wiederum von den USA und Kanada bestritten wird. Die EU hat daher ihrerseits eine Überprüfung ihrer Richtlinie durch die WTO beantragt.
Eine Konfliktlage dieser Art behandeln Fischer-Lescano und Teubner mit dem Streit, den 1997 eine neues Patentgesetz in Brasilien auslöste, indem es die Produktion von Nachahmermedikamenten (sog. Generika) erlaubte unter der Voraussetzung, dass die Gesundheit der Bevölkerung durch eine Epidemie bedroht und die Preise der Medikamente auf dem Weltmarkt zu hoch seien. Juristisch beteiligt waren hier amerikanische Pharmakonzerne als Patentinhaber und die USA, die sich völkerrechtlich auf das Patentrechtsregime der WTO berief. Auf dieser völkerrechtlichen Ebene wurde der Streit am Ende durch Ausnahme und Auslegungsregeln zum TRIPS-Abkommen beigelegt, die Entwicklungsländern in größerem Umfang gestatten, Zwangslizenzen anzuordnen und Generika in Entwicklungsländer ohne eigene Produktionsstätten zu exportieren. Auch hier fällt es nicht schwer, Wirtschaft und Gesundheit als »konfligierende Rationalitäten« zu identifizieren. Fischer-Lescano und Teubner fassen ihre Analyse zusammen:
»Insgesamt zeigen die Maßnahmen, dass das wirtschaftlich geprägte WTO-Regime über die Integration eines gesundheitsbezogenen Prinzips einer Limitierung der eigenen Logik intern zu reformulieren beginnt. Dies stellt einen Kompatibilisierungsmodus dar, der es dem Entscheidungssystem erlaubt, innerhalb der eigenen wirtschaftsrationalen Perspektive eine responsive Außenbeziehung aufzubauen und externe Rationalitäten als Rahmenbedingungen der eigenen Logik zu rekonstruieren. Über einen solchen Re-entry kollidierenden Rechts ins eigene Recht können Systemkollisionen in die quaestio juris übersetzt werden …« [5]Regime-Kollisionen, 2006, 86.
Das ist eine elaborierte Beschreibung der Vorgänge, die die eigentlich interessante Frage ausspart: Warum ist hier der Einbau von Gemeinwohlüberlegungen gelungen, die an vielen Stellen des neuen Weltrechts so sehr vermisst werden? Die Richtung, in der die Antwort zu suchen ist, soll die Figur der Konstitutionalisierung weisen. Dazu vielleicht später.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Regime-Kollisionen, 2006.
2 Belinda Beresford, The Price of Life. Hazel Tau and Others vs GlaxoSmithKline and Boehringer Ingelheim: A Report on the Excessive Pricing Complaint to South’s Africa’s Competition Commission, 2003.
3 Shalini Randeria, Transnationalisierung des Rechts. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure, WZB-Mitteilungen Heft 101, September 2003, 19-22.
4 Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137-168.
5 Regime-Kollisionen, 2006, 86.

Ähnliche Themen

Der Dioxinskandal in der Rechtssoziologie

Nein, in der Rechtssoziologie gibt es keinen Dioxinskandal. Aber man fragt sich doch, was Soziologie und Rechtssoziologie zur Sache zu sagen haben. Mir sind die Wortmeldungen bisher wohl entgangen. Aber mir ist der Artikel »Die sieben Mythen im Dioxinskandal« von Winand von Petersdorff in der FamS vom 21. Januar 2011 S. 29 aufgefallen [1]Er ist im Internet nur für Abonnenten oder gegen 2,00 EUR zugänglich., und zwar deshalb, weil er mit einem soziologischen Theoriebrocken einsetzt: Dem »Mythos«, die industrielle Landwirtschaft sei schuld, hält der Autor entgegen: »Wir haben es mit einem Phänomen der Alltagsökonomie zu tun: der Arbeitsteilung. Die Landwirtschaft ist, wie die Lebensmittelproduktion und die gesamte Wirtschaft, inzwischen höchst arbeitsteilig organisiert, bis zum Endprodukt mischen viele mit. Und manche panschen.« Die öffentliche Diskussion um den Dioxinskandal wird von der Kritik an dem bisherigen System der Selbstkontrolle der Futtermittelindustrie und dem Ruf nach einer verdichteten unmittelbaren Staatskontrolle beherrscht. Die Implementation und Effektivität staatlicher Kontrollen ist jedoch ein Problem. Deshalb liegt es nahe nach Alternativen zu suchen. Viele sehen die Alternative im »Bauern von nebenan« Von Petersdorff bezweifelt – wohl mit gutem Grund –, dass der Bauer von nebenan so viel sicherer sei und meint, »auch Großbetriebe haben gewaltige Anreize, dass ihre Produkte sauber und gesund bleiben. Die Lebensmittelketten werfen sie gnadenlos aus dem Sortiment, ein kleiner Skandal kann das Ende bedeuten.« Und am Ende heißt es zu dem Vorwurf, die kapitalistische Profitgier sei schuld: »Die Gier nach dem schnellen Geld gibt es überall, gleichzeitig können Lebensmittelskandale Betriebe von heute auf morgen ruinieren. Das ist ein echter Anreiz, sauber zu bleiben. … das marktwirtschaftliche System sorgt dafür, dass Übeltäter aus dem Markt fliegen, die belastete Futtermittelfirma ist inzwischen insolvent.« Da denkt man an den guten alten Äquivalenzfunktionalismus. Es klingt plausibel, dass der Markt jedenfalls dann, wenn die Skandalisierung durch die Medien gewährleistet ist, die Panscher bestraft. Aber nicht alles, was plausibel erscheint, muss auch funktionieren. Deshalb ist eine empirische Prüfung angezeigt. Das wäre doch vielleicht ein schönes Dissertationsthema.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Er ist im Internet nur für Abonnenten oder gegen 2,00 EUR zugänglich.

Ähnliche Themen

In eigener Sache IV: Wo bleibt die Interaktivität?

Das Web 2.0 kam mit dem Versprechen der Interaktivität. Ich kann nicht wirklich beurteilen, wie es allgemein um die virtuelle Interaktivität im Internet bestellt ist. Es gibt einige Superstars wie Wikipedia [1]Auch bei Wikipedia ist die Aktivität anscheinend nicht ganz befriedigend; dazu Ralf Zosel, Wer macht mit im Web 2.0?, LAWgical, 17. 12. 2008. Facebook oder Bildblog. Aber unter Wissenschaftsblogs habe ich noch keinen gefunden, der wirklich zum Diskussionsforum geworden wäre. (Ich hoffe natürlich jetzt auf Gegenbeispiele.) Bei den sehr viel zahlreicheren Jurablogs (Blawgs) steht es, ausgenommen den Beck-Blog, etwas, aber nicht viel besser. Auch auf den Webseiten der organisierten Rechtssoziologie, die ja gleichfalls zum Mitmachen einladen, kann ich keine nennenswerte Interaktivität beobachten. Der Content wird im Großen und Ganzen vom Webmaster beigebracht.
Ich bin selbst kein sehr aktiver Blog-Leser und schreibe auch keine Kommentare zu anderen Blogs. Aber nach meiner Beobachtung sind die Kommentare auch jenseits der Wissenschaftsblogs kaum so zahlreich, wie die Autoren es sich erhoffen, und ihre Qualität lässt vielfach zu wünschen übrig. Oft handelt es sich um bloße Exklamationen. Am besten funktionieren noch konkrete Hilferufe etwa nach dem Muster: Wie mache ich eingetrocknete Schuhcreme wieder weich? Anscheinend gibt es auf dieser alltagspraktischen Ebene viele hilfsbereite Menschen, die ihr Wissen gerne zur Verfügung stellen.
Insbesondere alles, was das Internet und seine Technik betrifft, erfreut sich regen Interesses. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Weblog mit der irreführenden Adresse http://stadt-bremerhaven.de/. Das Blog hält, was es im Untertitel »Caschy Blog –Software und jede Menge Tipps & Tricks« verspricht. Das Blog hat täglich über 6.000 Besucher, monatlich fast eine Viertelmillion und annähernd eine Million Seitenaufrufe. Und auch jede Menge Kommentare, die sich auch hier allerdings meistens auf Beifallskundgebungen beschränken. Aber auch Internetseiten, die Meinungen außerhalb des Mainstreams verbreiten, etwa die Seiten von Klimaskeptikern oder Islamkritikern, können einige Interaktivität verzeichnen.

Die Internetnutzer haben inzwischen wohl gemerkt, dass das Interaktivitätsversprechen pervertiert worden ist. In Wirklichkeit ist nicht die eigene Meinung gefragt. Gefragt ist vielmehr die unbezahlte Zulieferung von Inhalten, mit denen sich der Seiteninhaber schmücken oder die er gar vermarkten kann.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Auch bei Wikipedia ist die Aktivität anscheinend nicht ganz befriedigend; dazu Ralf Zosel, Wer macht mit im Web 2.0?, LAWgical, 17. 12. 2008.

Ähnliche Themen

U.S. Supreme Court als Lachende Justitia

Der U.S. Supreme Court ist das am besten durchforschte Gericht der Welt. Eine neuere Untersuchung von prominenten Autoren geht der Hypothese nach, dass die Anwälte, die in der mündlichen Verhandlung mehr Fragen über sich ergehen lassen müssen als der Gegner, ihren Fall eher verlieren. [1]Epstein, Lee, Landes, William M. and Posner, Richard A., Inferring the Winning Party in the Supreme Court from the Pattern of Questioning at Oral Argument (August 2009). University of Chicago Law … Continue reading Noch wichtiger als die Zahl der Fragen soll der Wortreichtum sein, mit dem die Fragen serviert werden. Das wiederum soll sich aus unterschiedlichen Strategien richterlichen Verhaltens erklären. In einer legalistisch genannten Strategie geht es dem fragenden Richter um die Aufklärung des Sachverhalts. Realistisch wird dagegen eine Strategie genannt, die auf dem Umweg über Fragen an die Anwälte die Richterkollegen beeinflussen will. Diese Strategie ist anscheinend Ersatz dafür, dass unter den Richtern keine intensive Beratung stattfindet. Der Effekt ist erheblich. In 2.952 Fällen gewannen 62 % der Beschwerdeführer. Wenn der Gegner häufiger befragt wurde, erhöhte sich die Quote um 16 %. Wenn umgekehrt Fragen häufiger an den Beschwerdeführer gerichtet wurden, sank dessen Erfolgsquote von 62 auf 50 %, also um 19 %.
Schon vor fünf Jahren gab es wohl eine Studie von J. D. Wexler [2]Laugh Track. The Green Bag. 9.1, 59-61 – habe ich nicht gelesen.. Nun hat Ryan A. Malphurs 60 Verhandlungen am Supreme Court beobachtet, die Tonbänder von 71 mündlichen Verhandlungen abgehört und Protokolle der Verhandlungen aus den Jahren 2006 und 2007 durchgesehen. Es handelt sich um Wortprotokolle, die tatsächlich, ähnlich wie bei uns manche Protokolle aus dem Bundestag, an einschlägigen Stellen »Gelächter« notieren. Malphurs meint am Ende, dass dem Lachen eine bedeutende kommunikative und soziale Funktion zukomme, weil Richter und Anwälte damit die institutionellen, sozialen und intellektuellen Abgrenzungen so in den Griff bekämen, dass jedenfalls für kurze Zeit Gleichheit im Gerichtssaal hergestellt werde. [3]Ryan A. Malphurs, “People Did Sometimes Stick Things in my Underwear”. The Function of Laughter at the U.S. Supreme Court, Communication Law Review, 10, 2010, 48-75.
» The audience’s laughter was dramatic and often returned visitors from their daydreams to the Court’s argument. Laughter also visibly diminished tension between justices and lawyers, commonly relieving heated moments. A brief joke or pun could easily displace building tension, and the justices’ stern appearance would relax in their laughter.«
Der Artikel ist lang, aber die Lektüre teilweise ganz vergnüglich. Zunächst gibt es eine Einführung in die Theorie des Lachens und des Humors. Das ist doch eine echte Bereicherung für die Rechtssoziologie. Es folgt eine kurze Zusammenfassung bisheriger Untersuchungen über die Relevanz der mündlichen Verhandlung für die Entscheidung. So ganz nebenher erfährt man, dass alle Tonaufnahmen und Protokolle der Verhandlungen und die Entscheidungen auf der Webseite http://www.oyez.org/ verfügbar sind.
Und dann wird also aufgelistet, wie oft jeder Richter gelacht hat, worüber und über wen. Es gibt freundliches und bösartiges Lachen, aber anscheinend mehr freundliches. Durch freundliches Lachen werden die Statusunterschiede zwischen Richtern und Anwälten ausgeglichen und man kann damit sogar unverfänglich auf Fehler aufmerksam machen. Doch anscheinend sind es nur die Richter, die Lachen und zum Lachen herausfordern dürfen. Aber das liegt wohl daran, dass die Anwälte ständig wechseln, so dass sich ihr Lachverhalten kaum beobachten lässt. Und was, wenn die Anwälte nicht mitlachen?
Wie dem auch sei: Die Mikrosoziologie des Verfahrens steht vor großen Aufgaben.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Epstein, Lee, Landes, William M. and Posner, Richard A., Inferring the Winning Party in the Supreme Court from the Pattern of Questioning at Oral Argument (August 2009). University of Chicago Law & Economics, Olin Working Paper No. 466. Bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1414317.
2 Laugh Track. The Green Bag. 9.1, 59-61 – habe ich nicht gelesen.
3 Ryan A. Malphurs, “People Did Sometimes Stick Things in my Underwear”. The Function of Laughter at the U.S. Supreme Court, Communication Law Review, 10, 2010, 48-75.

Ähnliche Themen

In eigener Sache III: Weiter über Wissenschaftsblogs

Man unterscheidet zwischen Wissenschaftlerblogs und Wissenschaftsblogs. Wissenschaftlerblogs sind solche, in denen Wissenschaftler von ihren persönlichen Erfahrungen im Beruf berichten. Sie kommen der alten Idee des Weblog als persönliches Tagebuch am nächsten. Aber es ist wissenschaftlich doch nur begrenzt relevant, wenn wir etwa von einer Physikerin erfahren, welche Schwierigkeiten es bereitet, nach der frühen Rückkehr an den geliebten Arbeitsplatz weiterhin den Säugling zu stillen. Auch die größere Restmenge der Wissenschaftsblogs kreist thematisch eher um die Wissenschaft herum, als sich ins Zentrum zu begeben. Nicht wenige wenden sich an das allgemeine Publikum und bieten ihm Nachrichten aus der Wissenschaft und über die Wissenschaft. Andere haben sich darauf verlegt, wissenschaftliches Standardwissen, dass an sich keinen Neuigkeits- und damit Nachrichtenwert hat, für das Publikum aufzubereiten. Und dann gibt (oder gab) es noch die Prominentenblogs wie die von Becker und Posner, Dahrendorf und Etzioni.
Wissenschaftsblogs i. e. S. richten sich an die Fachgemeinschaft. Auch das geschieht mit unterschiedlichen Akzenten. Die meisten betätigen sich als Scanner, die aus verschiedenen Medien die neuesten Nachrichten aufsammeln oder auf neue einschlägige Publikationen hinweisen. Blogs, die versuchen, eigene Inhalte anzubieten, sind die Ausnahme. Wissenschaftliche Inhalte lassen sich heute kaum noch im Alleinbetrieb produzieren. Daher handelt es sich bei den wenigen produktiven Blogs fast ausnahmslos um Gemeinschaftsblogs. Anders als in den USA werden sie in Deutschland von Forschungsinstituten betrieben.
Von diesen und anderen Ausnahmen abgesehen ist die große Masse aller Weblogs von ziemlich trauriger Qualität. Nur wenige schaffen es, ansehnliche Inhalte zu präsentieren und einen relevanten Bekanntheitsgrad zu erreichen.
Nach wie vor hat das Internet das Odium des Selbstverlags. Viele Disziplinen sind dazu übergegangen, nur noch Beiträge als »wissenschaftlich« zu akzeptieren, die bestimmte Evaluationsverfahren durchlaufen haben. Für juristische Veröffentlichungen gilt immer noch der traditionelle Verlag als Qualitätsgarantie. Auch wenn man heute gegen einen entsprechenden Druckkostenzuschuss jedes Manuskript veröffentlichen kann, so bildet doch der Zuschuss als solcher immer noch eine Barriere, die eine gewisse Autoselektion zur Folge hat. Kurzum: Das Weblog wird, jedenfalls von der Wissenschaft im deutschsprachigen Raum bisher nicht als adäquates Publikationsmedium akzeptiert. Damit passt zusammen, dass die Universitätsrechenzentren, die den Wissenschaftlern Kapazitäten für ihre statischen Internetseiten zur Verfügung stellen, bisher in der Regel nicht in der Lage oder nicht bereit sind, Weblogs zu hosten. Soweit mir bekannt, wird nur an der FU Berlin das Bloggen der Mitarbeiter aktiv gefördert.

Ähnliche Themen

Begriffssoziologie III: Die bunte Welt der Subsysteme

Die Welt der Subsysteme ist unordentlich und bunt. [1]Dieses Posting setzt die Beiträge vom 25. 11. und vom 22. 12. 2010 fort.
Wenn von autonomen Subsystemen der Gesellschaft die Rede ist, sind meistens die großen Funktionssysteme der Gesamtgesellschaft, also heute, der Weltgesellschaft, gemeint. Als Subsysteme werden aber auch Elemente angesprochen, mit denen eine sekundäre Differenzierung dieser Funktionssysteme beschrieben wird wie im politischen System (nach Luhmann) Politik i. e. S., Verwaltung und Publikum oder im Rechtssystem Justiz, Anwaltschaft und Rechtswissenschaft. Eigentlich müsste man von Subsubsystemen oder Subsystemen 2. Ordnung sprechen.
Bunt ist die Welt der Subsysteme wegen ihrer Diversität: die Wirtschaft oder das Recht, Staaten oder Verträge, Gerichte oder Unternehmen, politische Parteien oder Familien und vieles andere mehr werden als Subsysteme in Anspruch genommen. Die Buntheit resultiert zum Ersten daraus, dass sich die Subsysteme auf verschiedenen Ebenen tummeln. Sie ist zum Zweiten das Resultat unterschiedlicher Differenzierungsprinzipien. Subsysteme können sowohl aus segmentärer wie aus funktionaler Differenzierung entstehen. Ja, eigentlich braucht es gar kein Differenzierungsprinzip: Oft entstehen »ganz ephemere, triviale kurzfristige System/Umwelt-Unterscheidungen ohne weiteren Formzwang … Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme.« [2]Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 812. (Also auf zum Schwimmkurs!) Und zum Dritten: Als Systemtypen kommen Funktionssysteme, Interaktionssysteme und Organisationsysteme in Betracht.
Abstrakt fällt es nicht schwer, Subsysteme zu definieren. Es handelt sich, wie bei allen sozialen Systemen, um eine spezifische Verknüpfung von sozialen Strukturen, die soziale Ereignisse autonom, das heißt entsprechend ihren eigenen Regeln interpretiert und bearbeitet. Über einen eigenen Systemcode verfügen Subsysteme zweiter und niedrigerer Ordnung nicht. Sie nutzen den Systemcode des übergeordneten Funktionssystems, haben für dessen Zuteilung aber ihr eigenes Programm. Und einige dürfen auf den Systemcode anderer Funktionssysteme schielen. [3]Luhmann, GdG 841. Strukturen und Ereignisse können gleichzeitig mehreren Systemen angehören. Gilt das auch für Subsysteme?
Konkret bleibt oft unklar, ob Systeme oder soziale Elemente ohne Systemeigenschaft gemeint sind. Wenn Elemente der Funktionssysteme benannt werden, ist die Rede von sozialen Bereichen, Organisationen, Institutionen, Netzwerken, Projekten, Diskursen, Regimes und anderen mehr. Wenn immer ein Element in systemtheoretischem Zusammenhang als autonom bezeichnet wird, dann ist vermutlich ein echtes System gemeint. Das gleiche gilt, wenn dem Element strukturelle Kopplungen zugeschrieben werden. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die globalen Rechtsregimes, die von Fischer-Lescano und Teubner [4]Regime-Kollisionen, 2006. behandelt werden, Systemeigenschaft haben. Selbstverständlich ist das nicht; den Produktionsregimes hat Teubner die Systemeigenschaft abgesprochen [5]Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5 ,1999, 7-26, hier zitiert nach der Internetfassung S. 2..
Der Schubladendenker fragt sich, wie die Welt der Subsysteme geordnet ist. Man könnte an eine pyramidenförmige Ordnung mit der Weltgesellschaft an der Spitze denken. Sie »zerfiele« dann in zwölf oder mehr Funktionssysteme (Subsysteme 1. Ordnung). Jedes Funktionssystem wiederum gliederte sich kaskadenförmig in Subsysteme 2., 3. … n. Ordnung. Solchen Modellen begegnet man in betriebswirtschaftlich orientierten Organisationsanalysen. Die Antwort auf die Ausgangsfrage ist dennoch negativ. Im Jargon würde man sagen: Die Subsysteme entwickeln sich »polyzentrisch« und »heterarchisch«.
Der Schubladendenker fragt weiter: Subsysteme sind Elemente eines Systems. Aber sind alle Elemente des Systems Subsysteme oder jedenfalls Elemente von Subsystemen? Oder umgekehrt: Gibt es in der Gesellschaft systemfreie (soziale) Elemente?
Am meisten erfahren wir bei Luhmann über die Systemeigenschaft von Organisationen [6]A. a. O. S. 826 ff.. Danach sind Organisationen »autopoietische Systeme auf der operativen Basis von Entscheidungen … Sie produzieren Entscheidungen aus Entscheidungen und sind in diesem Sinne operativ geschlossene Systeme.« [7]A. a. O. S. 830. Ihre Systemgrenze ist die Mitgliedschaft, und auch die beruht auf einer Entscheidung.
Organisationen brauchen »nicht mit Bezug auf die Einheit des Gesellschaftssystems eingerichtet sein. Sie können ohne gesellschaftlichen ›Systemzwang‹ frei entstehen, und es gibt zahllose Organisationen (man nennt sie oft irreführend ›freiwillige‹ Vereinigungen oder Assoziationen), die sich keinem der gesellschaftlichen Funktionssysteme zuordnen.« [8]A. a. O. S. 840.. Handelt es sich da noch um Subsysteme? Immerhin: »Unbestreitbar bilden sich jedoch, wenn nicht die meisten, so doch die wichtigsten und größten Organisationen innerhalb der Funktionssysteme und übernehmen damit deren Funktionsprimate.« [9]A. a. O. S. 840f. Aber kein Funktionssystem kann komplett zur Organisation werden. »Erziehung gibt es immer auch außerhalb von Schulen und Hochschulen. … Und selbstverständlich werden die Organisationen des Rechtssystems, vor allem die Gerichte, nur dann in Anspruch genommen, wenn außerhalb der Organisation [aber innerhalb des Rechtssystems] stattfindende Kommunikation über Recht und Unrecht dies ratsam erscheinen lässt.« [10]A. a. O. S. 841.
Damit habe ich es hoffentlich bis zum Seepferdchen gebracht und werde nicht mehr im Meer der Subsysteme ertrinken.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dieses Posting setzt die Beiträge vom 25. 11. und vom 22. 12. 2010 fort.
2 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 812.
3 Luhmann, GdG 841.
4 Regime-Kollisionen, 2006.
5 Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5 ,1999, 7-26, hier zitiert nach der Internetfassung S. 2.
6 A. a. O. S. 826 ff.
7 A. a. O. S. 830
8 A. a. O. S. 840.
9 A. a. O. S. 840f.
10 A. a. O. S. 841.

Ähnliche Themen

In eigener Sache II: Veröffentlichungen 2010

Bevor ich mit der Reflexion über Wissenschaftsblogs fortfahre, will ich zu Jahresbeginn meine Veröffentlichungen aus dem Vorjahr anführen. Doch zunächst noch eine kleine Trouvaille. Im Eintrag vom 8. Januar 2010 hatte ich bedauert, keinen neuen Kandidaten für meine Blogroll gefunden zu haben. Gesucht hatte ich aber nur nach einschlägigen deutschsprachigen Wissenschaftsblogs. Nun bin ich in den USA auf »Balkinization« gestoßen. Der Blog wird betrieben von Jack M. Balkin – daher der im ersten Augenblick irritierende Name des Blogs – , einem Verfassungsrechtler an der Yale Law School, der dort einem Information Society Project vorsteht und sich in seinen Veröffentlichungen vielfach mit den rechtlichen Konsequenzen des digitalen Zeitalters befasst. Auch mit seinen weiteren Arbeiten ist Balkin für die Grundlagendisziplinen des Rechts interessant. Sein Blog »Balkinization« ist ein Gemeinschaftsblog, an dem mehrere Autoren mitschreiben, die aus Rechtssoziologie, Rechtstheorie und der Ökonomischen Analyse des Rechts bekannt sind, darunter Brian Tamanaha und Marc Tushnet. Und last not least: »Balkinization« verdrängt in meiner Blogroll das Beck-Blog vom ersten Platz. [1]Ja, und dann bin ich noch auf das Blog »Sternstunden der Soziologie« gestoßen. Es handelt sich anscheinend – ich finde auf der Seite nicht die üblichen Informationen über den Betreiber – um … Continue reading
Und nun meine Veröffentlichungen aus 2010:
Reform der Justiz durch Reform der Justizverwaltung,
in: Hoffmann-Riem, Wolfgang (Hg.): Offene Rechtswissenschaft. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Hoffmann-Riem mit begleitenden Analysen. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 1279–1319.
Crossover Parsival,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 91-100.
Die Macht der Symbole,
in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden: Nomos, S. 267-299.
(Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln,
in: Ulrich Dausendschön-Gay/Christine Domke/Sören Ohlhus (Hg.), Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern, Berlin: De Gruyter, S. 281-311.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Ja, und dann bin ich noch auf das Blog »Sternstunden der Soziologie« gestoßen. Es handelt sich anscheinend – ich finde auf der Seite nicht die üblichen Informationen über den Betreiber – um eine vom Campus-Verlag gestützte Seite zur Werbung für den von Neckel u. a. herausgegebenen (verdienstvollen) Reader gleichen Namens. Dagegen wäre nichts einzuwenden. Ich betreibe ja selbst mein Blog »Recht anschaulich« als Begleitseite zum Buch auf der Webseite des Verlegers von Halem. Aber ein Blog ist das bisher nicht. Vielmehr werden nur die Reaktionen der Leser abgefragt. Und da gibt es tatsächlich einige.

Ähnliche Themen

In eigener Sache I: Über Wissenschaftsblogs

Weblogs sind ein Phänomen des Web 2.0. Gegenüber der ersten Generation der eher statischen Webseiten verfügen sie über zwei markante Eigenschaften.
1. Der Betreiber muss die Seite nicht mehr mühsam gestalten. Vielmehr stehen Content-Managementsysteme zur Verfügung, die ein fertiges Design anbieten und die das Eingeben von Inhalten (fast) so einfach machen wie die Textverarbeitung. Im Verein mit kostengünstigen Providern, die die notwendige Rechen- und Speicherkapazität auf ihren Servern günstig, teilweise sogar kostenlos, anbieten, sind Blogs zu einem Publikationsmedium für Jedermann geworden.
2. Der Betreiber eines Blogs kann die Eingabe von Inhalten durch alle Internetnutzer zulassen. Daraus ergibt sich die technische Möglichkeit der Interaktivität, die man vom Web 2.0 erwartet hat.
Weltweit gibt es über 100 Millionen Blog, von denen allerdings nur ein Teil aktiv ist. Darunter sind etwa 500.000 deutschsprachige Blogs. Davon sind vielleicht 200.000 aktiv. International ist das sehr wenig. In den Niederlanden soll es mehr Blogs geben als in Deutschland. [1]Dazu in Spiegel-Online: Warum Deutschland Blog-Hemmung hat. Vgl. auch »marcus« (Beckendahl), Die Deutsche Blogosphäre, 2009. Solche Zahlen sind aber höchst problematisch. [2]Dazu eine Anmerkung von Jan Schmidt, dem Pionier der deutschen Blogging-Forschung, der jetzt im Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg tätig ist. Schmidt verweist auf die … Continue reading
Man könnte erwarten, dass auch Wissenschaftler in großer Zahl zu Bloggern geworden wären, denn sie verfügen heute alle über die notwendige EDV-Kapazität und Kompetenz und sind notorisch publikationshungrig. Aber sie nutzen diese Chance kaum. Die Zahl der deutschen Wissenschaftsblogs dürfte in der Größenordnung von 2000 zu suchen sein.
Jurablogs (»Blawgs«) gibt es dagegen zu Hauf. Die Gründe liegen auch ohne viel Forschung auf der Hand. Die meisten Blogger sind Rechtsanwälte, die sich von dieser Art der Internetpräsenz Aufmerksamkeit und damit Mandanten erhoffen. Da Blogs als Marketing-Tool konkurrenzlos billig sind, kommt es kaum darauf an, ob sie ihren Zweck erfüllen.
Als Bloggingnovize hatte der Legal McLuhanite anfangs einigen Reflexionsbedarf. Beim Einstieg in das Thema halfen erfahrene Blogger. In der Wissenswerkstatt von Marc Scheloske fand sich eine ganze Serie von Postings über das Wissenschaftsblogging. Hilfreich war auch das Posting »Nische« von Christoph Bächtle, der selbst professionelle Dienste für die Wissenschafts-PR anbietet und dazu die Internetseite »Zeilenwechsel« mit integriertem Weblog betreibt. Beide konstatierten die jedenfalls in Deutschland sehr bescheidene Substanz an Wissenschaftsblogs. Sie wandten sich gegen das geringe Ansehen des Mediums, attestierten ihm große Möglichkeiten und sagten ihm eine erfolgreiche Zukunft voraus. Mit dem Wissenschafts-Café wollte Scheloske die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs vernetzen. Die Sammlung sollte alles erfassen, was »irgendwie« Wissenschaft im Munde führt. Bächtle meinte, in die Nische der Wissenschaftsblogs drängten immer mehr publikationswillige Menschen, die sich für Wissenschaftsthemen begeistern könnten. Aber daraus ist nicht viel geworden. Wissenschaftsblogs bewegen sich in Deutschland noch immer unter der Wahrnehmungsschwelle. Man muss sie nicht lesen, um am Wissenschaftsdiskurs teilzunehmen. Bei einem Schnelldurchlauf durch die Szene habe ich keine neuen Kandidaten für meine Blogroll gefunden.
Dennoch hat sich seit meinen Anfängen als Blogger etwas geändert. Das Blogging ist ein ganzes Stück aus der Schmuddelecke, in die man es bis dahin gestellt hatte [3]Hier einige Epitheta, mit denen es zuvor bedacht wurde (nach einer Zusammenstellung von Scheloske): Seichtes Alltagsgewäsch, eitle Selbstdarstellung, Tummelplatz anonymer Heckenschützen, Ort der … Continue reading, herausgekommen. Die FAZ hatte vor etwa zwei Jahren auch im redaktionellen Teil die Blogosphäre entdeckt, den Blogger Hendrik Wieduwilt engagiert und auf einen Schlag gleich zehn verlagseigene Blogs eingerichtet. Der C. H. Beck Verlag hat 2008 mit Ralf Zosel einen Mann aus dem Juristischen Internetprojekt in Saarbrücken eingestellt, der sich mit Jurawiki, als Autor des Blogs Lawgical und mit der Implementation eines juristischen Szenarios in Second Life einen Namen gemacht hatte. [4]Dazu mein Bericht von der Münchener Rechtsvisualisierungstagung 2008. Inzwischen betreibt der Verlag die blühende Beck-Community.
Im Übrigen haben die klassischen Verlage das Wissenschaftsblogging usurpiert. Den Anfang machte, wohl mit Unterstützung des Burda-Verlages, der Blog Iconic Turn. Es folgten Scilogs von Springer/Spektrum der Wissenschaft und Scienceblog von der Seed Media Group [5]Die war mir bisher unbekannt. Wer oder was dahinter steckt und wie sich das Unternehmen finanziert, habe ich so schnell nicht ermitteln können. Die Firma unterhält neben Scienceblog noch ein … Continue reading. Scilog ist ein Portal, das fast 70 Blogs in vier Themengruppen versammelt. Bei Scienceblog sind es, wenn ich richtig gezählt habe, 35 Themenblogs. Academics wird anscheinend von der Wochenzeitung »Die Zeit« getragen und befasst sich vor allem mit Karrierefragen. Aber auch diese Profiblogs blühen eher im Verborgenen. Iconic Turn welkte 2010 mit ganzen zwei Postings dahin, eines davon war die Vorstellung eines neuen, von Burda selbst herausgegebenen Buches. Scheloske ist anscheinend als Redakteur zu Scienceblog gewechselt und hat seine eigene Wissenswerkstatt eingestellt. [6]Letztes Posting im Juli 2010. Ohnehin war die Seite durch allerhand Designmätzchen unlesbar geworden. Ich habe sie aus meiner Blogroll gestrichen. Das Wissenschafts-Café beschränkt sich inzwischen fast ganz auf ein monatliches Blog-Ranking. Delikaterweise erscheinen da vor allem Blogs aus dem Scienceblog-Portal. Auch Scilog betreibt ein Blog-Ranking (und verwendet merkwürdigerweise dasselbe Kaffeebohnenbild »Wissenschaftsblogs Auslese 10« wie Wissenschafts-Café).
Heute nur noch zu einigen Äußerlichkeiten: Das Design vieler Blogs finde ich leseunfreundlich. Das liegt vor allem daran, dass der Bildschirm mit Information überladen wird. Ich hatte gelernt, ein Unterschied des Internet zur herkömmlichen Publikation bestehe darin, dass Inhalte in kleinere Einheiten heruntergebrochen werden, so dass sie auf dem Monitor Platz finden. Doch nur selten findet man auf dem Monitor einen einheitlichen Textblock. Stattdessen wird die Oberfläche vielfach zerstückelt. Eine obere Bildschirmleiste ist unverzichtbar und stört auch nicht. Meistens wird heute ein dreispaltiges Layout verwendet. Auch das ist bis zu einem gewissen Grade noch funktional, denn bei dem Querformat des Bildschirms wären durchgehende Zeilen über die ganze Breite schwerer zu lesen als ein schmalerer Textblock. Aber viele Blogger begnügen sich nicht mit einem sauberen, aus Lesbarkeit getrimmten Textblock, sondern schwelgen in Layout-Mätzchen, die jedenfalls mich als Leser nur abstoßen. Bei einem mehrspaltigen Layout ist es durchaus sinnvoll, die Sidebars auf der einen Seite für eine Übersicht über das Blog selbst (Suchfunktion, Überschriften der jüngsten Beiträge, verwendete Kategorien und »Archiv«) und auf der anderen Seite für Blogroll und Linkliste zu nutzen. Vielfach werden die Sidebars aber so vollgestopft, dass es Überwindung kostet, darin zu suchen. Eine Blogroll und die Linkliste sollten zehn Einträge nicht überschreiten. Ganz schlimm wird es, wenn Anzeigen hinzukommen. Beispiel für ein gelungenes Design ist für mich der schon erwähnte Zeilenwechsel von Bächtle. Aber dahinter steckt ein Kommunikationsprofi. (Fortsetzung folgt.)

Nachtrag vom 23. 2. 2021: Über Wissenschaftsblogs jetzt noch einmal ausführlich mein Beitrag für Barblog Über das (rechtssoziologische) Wissenschaftsblogging.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dazu in Spiegel-Online: Warum Deutschland Blog-Hemmung hat. Vgl. auch »marcus« (Beckendahl), Die Deutsche Blogosphäre, 2009.
2 Dazu eine Anmerkung von Jan Schmidt, dem Pionier der deutschen Blogging-Forschung, der jetzt im Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg tätig ist. Schmidt verweist auf die ARD-Online-Studie 2010.
3 Hier einige Epitheta, mit denen es zuvor bedacht wurde (nach einer Zusammenstellung von Scheloske): Seichtes Alltagsgewäsch, eitle Selbstdarstellung, Tummelplatz anonymer Heckenschützen, Ort der verlorenen Beißhemmung, Bühne für das geistige Prekariat, Debattierclub von anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten, Klowände des Internet.
4 Dazu mein Bericht von der Münchener Rechtsvisualisierungstagung 2008.
5 Die war mir bisher unbekannt. Wer oder was dahinter steckt und wie sich das Unternehmen finanziert, habe ich so schnell nicht ermitteln können. Die Firma unterhält neben Scienceblog noch ein zweites, ganz naturwissenschaftlich ausgerichtetes Blogportal www.researchblogging.org. Mit www.visualizing.org bietet sie ein Portal für die Visualisierung aller möglichen Themen an, was mich für »Recht anschaulich« interessieren sollte.
6 Letztes Posting im Juli 2010. Ohnehin war die Seite durch allerhand Designmätzchen unlesbar geworden. Ich habe sie aus meiner Blogroll gestrichen.

Ähnliche Themen

Wissen in (Inter-)aktion

Vor mir liegt der von Ulrich Dausendschön-Gay, Christine Domke und Sören Ohlhus herausgegebene Sammelband »Wissen in (Inter-)Aktion, Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern«, Berlin 2010. Da läge er nicht, wenn ich nicht selbst einen Beitrag beigesteuert hätte. [1](Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht … Continue reading Der Band ist aus einer Tagung im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld (ZiF) im November 2006 hervorgegangen und teilt die Probleme aller Tagungsbände. Die Tagung war für die Teilnehmer interessant. Aber lesen wird ihre Beiträge wohl kaum jemand. Wer würde dort gar rechtssoziologisch einschlägige Beiträge suchen? Bevor ich den Band im Regal zur letzten Ruhe bringe, will ich drei solcher Beiträge erwähnen mit dem Hinweis, dass nicht viel versäumt, wer sie nicht liest.
Die »Fälle« der Juristen haben es Soziologen, Ethnologen und Linguisten angetan. Die Konstitution des Sachverhalts (oder Konstruktion des Rechtsfalls) ist auch Gegenstand empirischer Forschung gewesen. Insbesondere eine Projektgruppe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte hat sich auf diesem Gebiet betätigt. (Der arme Universitätsjurist fragt sich, ob den Historikern die Geschichte ausgegangen ist.) Daraus sind verschiedene Veröffentlichungen hervorgegangen, insbesondere ein Sammelband herausgegeben von Jeannette Schmid/Thomas Drosdeck/Detlef Koch: Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt, Baden-Baden 1997. Der Beitrag von Kent D. Lerch zu dem eingangs genannten Sammelband (S. 225-247) fasst die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammen: Wissen oder Willkür? Zur Konstruktion des Rechtsfalls durch den Richter. Eigentlich ging es um ein interessantes und witziges Experiment, das mit einem fiktiven Arzthaftungsfall die vermutlich unterschiedliche Reaktion von 52 Richtern überprüfen sollte. Dazu wurde eine Prozess-Situation hergestellt, in der die Probanden den Fall von Anfang bis Ende durchspielen konnten. Sie konnten einen Verhandlungstermin bestimmen, Parteien, Zeugen und Sachverständige laden, Fragen stellen und Beweis erheben und sollten am Ende ihr Urteil fällen. Das Vorgehen der Richter war durchaus nicht einheitlich und auch ihr Urteil fiel nicht einheitlich aus, die Differenzen waren aber nicht dramatisch. Doch irgendwelche Determinanten, die das Verfahren in eine bestimmte Richtung gelenkt hätten, konnten nicht ausgemacht werden. Auffallend war nur eine Bevorzugung der Anspruchsgrundlage, die die arbeitsökonomisch den geringsten Aufwand verursachte. Da Verfahrens- und Urteilsvarianzen nicht auf systematische Einflüsse zurückgeführt werden konnten, konnte »nur noch der bloße Zufall als Erklärung herangezogen werden«. Im Grund eine schöne Bestätigung der richterlichen Arbeitsweise, insbesondere der sogenannten Relationstechnik.
S. 259-279 folgt ein zweiter Beitrag, der sich mit der Sachverhaltsrekonstruktion im Strafverfahren befasst: Ludger Hoffmann, Wissensgenerierung: der Fall der Strafverhandlung. Er bildet ein Beispiel dafür, wie Soziologen und Linguisten für ihre Mikroanalysen zunächst einen eindrucksvollen Begriffsapparat aufbauen und dann bei der Fallbearbeitung in erster Linie Trivialitäten anhäufen (müssen), um den Beobachtungsgegenstand in den Griff zu bekommen. Man lernt, wenn man es nicht schon weiß, dass es im Strafverfahren nicht um schlichte Tatsachenfeststellung und glatte Subsumtion geht. Aber verallgemeinerungsfähige Aussagen habe ich der Arbeit von Hoffmann nicht entnehmen können.
Der genannte Sammelband enthält – merkwürdigerweise an ganz anderer Stelle – noch einen weiteren Beitrag, der sich ethnographisch mit den Vorgängen im Strafverfahren befasst, und zwar mit »Konstruktion von Glaubwürdigkeit«: Stefan Wolff, Defensives Wissensmanagement im Strafverfahren (S. 71-90). Wir erfahren, dass die Glaubwürdigkeit eines Zeugen keine allgemeine Eigenschaft einer Person oder einer Aussage ist, sondern das Ergebnis voraussetzungsvoller Leistungen der Beteiligten, dass sich im Vollzug der Situation vor Ort ergibt. Auch hier erfährt man nichts aufregend Neues. Die als Frage formulierte These lautet: »Das deutsche Strafverfahren ist einerseits programmatisch auf die Ermittlung von Wahrheit ausgerichtet. Im Hinblick darauf könnte man erwarten, dass dem Gericht an einer möglichst breiten Wissensbasis für seine Entscheidungen gelegen ist. Andererseits fällt auf, dass die Beteiligten keineswegs jedes mögliche wissen in foro zur Kenntnis nehmen, dokumentieren oder berücksichtigen. Dem außen stehenden Beobachter drängt sich sogar gelegentlich der Eindruck auf, hier eine Form von strategischer Ignoranz beobachten zu können.« (S. 72) Was da konkret an Wissen ausgespart bleibt, sind Glaubwürdigkeitsgutachten, die von den Gerichten praktisch nur eingeholt werden, wenn es um Kinder oder Opferzeugen insbesondre bei Sexualdelikten geht. Dass solcher Verzicht kritisch sei, wird aber gar nicht behauptet. Zu unserer Überraschung erfahren wir nur dass »Gerichte die Vergangenheit grundsätzlich nur im Format des vorliegenden Falles [rekonstruieren]. Nur das, was zur Fallkonstruktion und Fallentscheidung nötig ist, wird in Betracht gezogen – mehr nicht.« Deshalb muss niemand diesen Beitrag lesen.
Der kritische Stachel, mit dem die Sozialwissenschaften einmal in der Rechtspraxis herumstocherten, ist anscheinend abgebrochen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 (Juristisches) Wissen über Bilder vermitteln, S. 281-311. Darin habe ich noch einmal meine Sicht als Legal McLuhanite zusammengefasst und die Gelegenheit wahrgenommen über die – nicht so recht geglückten – Klausurenexperimente im Projekt »Visuelle Rechtskommunikation« zu berichten.

Ähnliche Themen

Begriffssoziologie II: Sektorielle Differenzierung des globalen Rechts

Dieses Posting setzt den Beitrag vom 25. 11. 2010 fort. Man kann es als Kritik des Buches, »Regime-Kollisionen, Zur Fragmentierung des globalen Rechts« von Andreas Fischer-Lescano und Gunther Teubner (Frankfurt a.M. 2006) lesen.
Die systemtheoretische Analyse behauptet für das neue Weltrecht, verglichen mit den Rechten territorialer Rechtsordnungen, eine neue Qualität. Es ist eine gängige Argumentationsstrategie, die Gegenposition, von der man seine Entdeckung abheben will, kontrastreich darzustellen. Man darf deshalb kritisch fragen, ob die Unterschiede wirklich so groß sind. Der Antwort kommt man näher, wenn man den Vergleich zwischen den traditionellen territorial begrenzten Rechtssystemen und den neuartigen Rechtsphänomenen der Globalisierung konsequent in den systemtheoretischen Rahmen stellt. Dieser Rahmen wird leicht verlassen, wenn nicht zwischen dem Weltrecht im engeren Sinne und einem Weltrecht im weiteren Sinne unterschieden wird. Das Weltrecht i. e. S. besteht aus der Menge der neuartigen globalen Rechtsbildungen. Das Weltrecht i. w. S. ist alles Recht der Weltgesellschaft unter Einschluss auch der territorialen Rechte der Staaten. Das Weltrecht i. e. S. ist das neue Weltrecht. Das Weltrecht i. w. S. ist das ganze Weltrecht.
Systemtheoretisch geht es um die Frage nach der Reichweite des Weltrechts und nach seiner Binnenstruktur. Wenn wir von einem einzigen Weltrechtssystem ausgehen, dann umfasst es nicht bloß das neue, sondern das ganze Weltrecht. Die Binnenstruktur des Weltrechtssystems kann man unter dem Gesichtspunkt seiner Einheit oder unter dem Aspekt seiner Differenzierung betrachten. Die Einheit des Systems stützt sich auf seinen Recht/Unrecht-Code. Aber zum Systemcode gehören auch Programme, die die Zuteilung der Kommunikationen zu den Codewerten steuern. Und da scheint es an einem einheitlichen Programm für das ganze Weltrecht zu mangeln. »Die Einheit des Weltrechts [gründet sich] nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen«. [1]Regime Kollisionen S. 34. Das ist freilich keine Besonderheit des neuen Weltrechts. Auch für die nationalen Rechtssysteme gilt, dass sie ihre Einheit allein aus der Verknüpfung von Rechtsoperationen beziehen, die man prozessual nennen mag oder auch nicht. Die hierarchische Ordnung dagegen betrifft nur den Innenbereich der nationalen Systeme. Im Außenverhältnis, und damit auch im Verhältnis untereinander, gibt es keine Hierarchie. Der Zusammenhang zwischen den nationalen Rechtsordnungen ist also nicht stärker als derjenige zwischen den »thematisch-funktionalen« Rechtsregimes.
Es geht auch gar nicht um die innere Ordnung der nationalen Rechtssysteme, sondern um die Frage, wie sich diese in die Weltgesellschaft einfügen. Wenn insoweit Hierarchie als Differenzierungsmodus ausscheidet, bleiben vor allem die segmentäre Differenzierung. Sie bedeutet die Gliederung in prinzipiell gleiche Teilsysteme. Die Gliederung der Welt nach dem Prinzip der Territorialität ist daher eine segmentäre. Offen bleibt, ob es sich dabei um eine primäre Differenzierung oder um eine Zweitdifferenzierung handelt.
Die Antwort gibt Luhmann: »Die Weltgesellschaft ist, soweit es um Systemdifferenzierung geht, durch einen Primat funktionaler Differenzierung gekennzeichnet.« [2]RdG 572. Daneben besteht »die segmentäre Zweitdifferenzierung des weltpolitischen Systems in »Staaten«. [3]RdG 582. Das bedeutet, dass die Gliederung in nationale Rechte nicht länger eine primäre segmentäre Differenzierung bildet. Nach der Entstehung der funktional differenzierten Weltgesellschaft hat die territoriale Gliederung nur noch die Bedeutung einer segmentären Zweitdifferenzierung. Die nationalen Rechtssysteme sind nur noch Subsysteme des Weltrechts.
Quer dazu liegt eine andere Zweitdifferenzierung des Weltrechtssystems, die nur das neue Weltrecht erfasst, nämlich eine sektorielle Differenzierung nach Regelungskomplexen.
»Die Gesellschaftsfragmentierung schlägt in der Weise auf das Recht durch, dass eine erfolgsorientierte politische Regulierung unterschiedlich strukturierter Gesellschaftsbereiche eine Parzellierung von issue-spezifischen Policy-Arenen erfordert, die sich ihrerseits stark juridifizieren. Damit wird die traditionelle Binnendifferenzierung nach dem Prinzip der Territorialität in relativ autonome nationale Rechtsordnungen überlagert von einem sektoriellen Differenzierungsprinzip: der Differenzierung des Weltrechts nach transnational einheitlichen Rechtsregimes, die ihre Außengrenzen nicht territorial, sondern issue-spezifisch definieren und einen globalen Geltungsanspruch erheben. Dabei ist zu betonen, dass es nicht darum geht, die alte Differenzierung in nationale Rechtsordnungen abzulösen. Niemand behauptet, dass der Nationalstaat in Prozessen der Globalisierung abgeschafft wird, auch wenn dies von Sympathisanten des Nationalstaates immer wieder unterstellt wird. Es geht nicht um Ersetzung einer Binnendifferenzierung durch die andere, sondern um die Überlagerung zweier unterschiedlicher Prinzipien: territorial-segmentäre und thematisch-funktionale Differenzierung.« [4]Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, 2007, Internetfassung S. 10; ähnlich dies., Regime-Kollisionen, 2006, 36.
Ein »sektorielles Differenzierungsprinzip« gehört nicht zum vertrauten Katalog der Differenzierungsformen der Systemtheorie. [5]Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 613) nennt vier solcher Formen: (1) Segmentäre Differenzierung; (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) Stratifikatorische … Continue reading Das sehen natürlich auch Fischer-Lescano und Teubner:
»Die Trias segmentärer, hierarchischer und funktionaler Differenzierung scheint hier nicht zu funktionieren. Weder sind die globalen Rechtsregimes als gleichartige Segmente anzusehen, noch sind sie untereinander hierarchisch aufgebaut, noch folgen sie den Kategorien der gesellschaftsweiten Funktionssysteme.« [6]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 37.
Dass die Sektorenbildung für transnationale Rechtsregimes nicht der Einteilung der gesellschaftsweiten Funktionssysteme folgen soll, liegt nicht auf der Hand. Immerhin sprechen Fischer-Lescano/Teubner von einer »thematisch-funktionalen Differenzierung« [7]Regime-Kollisionen, S. 37., und die Nähe etwa der lex mercatoria zum Wirtschaftssystem oder der lex sportiva zum System des Sports ist auffällig. Die Zuordnung ist nicht immer so klar. Aber es nicht zu übersehen, dass viele Rechtsregimes enge Bindungen zu einem Funktionssystem haben. Das gilt nicht nur für die Privatregimes, sondern auch für die meisten völkerrechtlich gestützten Regelungskomplexe. Nur so lässt es sich erklären, dass sich die »Bereichslogiken« in die Rechtsregimes hinein verlängern und zu Regime-Kollisionen führen.
Warum die globalen Rechtsregimes, anders als die nationalen Rechtssysteme, nicht als gleichartige Segmente angesehen werden könnten, wird von Fischer-Lescano und Teubner nicht begründet. Es handelt sich um prinzipiell gleichartige Strukturen, und das genau ist das Kriterium für segmentäre Differenzierung. Mit der Erfindung einer neuen Differenzierungsform ist nichts gewonnen. Die sektoriell genannte Differenzierung der Rechtsregimes kann man ohne weiteres als eine segmentäre einordnen. Und zwar handelt es sich auch insoweit um eine segmentäre Zweitdifferenzierung. Denn die Regimes sind ihrerseits Subsysteme des Weltrechts: Die Regimes werden als Systeme behandelt: Sie verfügen intern über die Autonomie begründende Reflexivität ihrer Rechtsbildungsprozesse. Ihnen wird eine Eigenlogik zugeschrieben und sie gehen strukturelle Kopplungen ein. Man könnte allenfalls fragen, welchem Code die Rechtsregimes gehorchen, dem allgemeinen Rechtscode oder einem regimespezifischen? Zieht man hier wieder die Parallele zu den nationalen Rechtssystemen, ist die Antwort klar. So wie die territorial begrenzten Rechtssysteme nicht über einen territorial geprägten, sondern nur über den allgemeinen Rechtscode verfügen, beziehen die transnationalen Rechtsregimes ihre Systemidentität nicht aus einem themenspezifischen, sondern nur aus dem allgemeinen Rechtscode. Wie sich daneben die Bindung zwischen den Rechtsregimes und ihren Muttersystemen systemtheoretisch konstruieren lässt, steht auf einem anderen Blatt.
Es ist offensichtlich, dass die globalen Rechtsregimes untereinander nicht hierarchisch verknüpft sind. Daraus folgt indessen nicht, dass sie nicht intern hierarchisch strukturiert wären. Zum politikwissenschaftlichen Regimebegriff gehört die proliferation of tribunals: Ein Regime geht typisch mit ausformulierten Regeln und Verfahren einher. Oft gehört zu den Verfahren auch eine gerichtsähnliche Instanz. Tatsächlich ergibt auch die systemtheoretische Detailanalyse der diversen Rechtsregimes, dass diese intern hierarchisch aufgebaut sind. [8]Teubner beschreibt etwa die innere Struktur der Codes of Conduct transnationaler Unternehmen als hierarchisch (Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen?, 2010, 14). Daraus wird sogar ein besonderes Thema, nämlich die Selbstkonstitutionalisierung der Rechtsregimes. Ein hierarchischer Aufbau im engeren Sinne wäre nicht einmal notwendig, wenn nur eine einzige Letztentscheidungsinstanz besteht, wie es bei den privaten Regimes der Fall ist, wenn die Normierungen nur eine Schiedsgerichtsklausel enthalten Daher spricht die Existenz von 125 gerichtsähnlichen Entscheidungsinstanzen für das neue Weltrecht ebenso wenig gegen die Einheit des Weltrechtssystems wie die Existenz von 196 Staaten mit eigenen Rechtssystemen.
Es bleibt die Frage, wie diese Rechtsregimes koordiniert sind, wenn nicht hierarchisch. Die Antwort von Fischer-Lescano und Teubner heißt: Heterarchisch durch Interlegalität. Aber im Grunde ist die Frage falsch gestellt, jedenfalls wenn man die territoriale und die sektorielle Differenzierung parallel betrachtet. Dann wäre die Analogie zur nationalstaatlichen Hierarchie innerhalb der einzelnen Regimes zu suchen. Die Koordination zwischen den transnationalen Rechtsregimes liegt dann auf der gleichen Ebene wie diejenige zwischen den nationalen Rechtssystemen. Daher passt die Antwort »heterarchisch durch Interlegalität« auf beide.
Die Parallelisierung von transnationalen Rechtsregimes und territorialen Rechtssystemen lässt sich weiter führen. Der sachliche Beitrag der Systemtheorie zur Beobachtung der Globalisierung des Rechts liegt darin, dass die Fragmentierung des Rechts aus dem Gegeneinander der gesellschaftlichen Funktionssysteme erklärt wird. Aber das ist im Vergleich mit den territorialen Rechtssystemen keine Besonderheit. Die Funktionssysteme nehmen auf territoriale Grenzen keine Rücksicht, und so leiden die nationalen oder territorialen Rechte unter deren »Expansionsdrang« und ihren konkurrierenden »Eigenrationalitäten« nicht weniger als die transnationalen Rechtsregimes. Tatsächlich hatte Teubner auch innerhalb der nationalen Rechtssysteme eine der Fragmentierung des globalen Rechts entsprechende »Polykontexturalität« ausgemacht.
»Der Ultrazyklus zwischen dem Recht und den gesellschaftlichen Teilsystemen »führt dazu, daß das Recht sich immer stärker pluralisiert und fragmentiert, weil es sich in gesellschaftliche Abhängigkeiten begibt, seine dogmatische und konzeptuelle Einheit zugunsten einer ›postmodernen‹ Vielheit der Rechtsdiskurse aufgibt.« [9]Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; 25.
Wenn die nationalen Rechte die Folgeprobleme besser im Griff haben, so liegt das weniger an ihrer hierarchischen Binnenstruktur, sondern eher an ihrer Allzuständigkeit, daran, dass sie, anders als die transnationalen Rechtsregimes, nicht thematisch begrenzt sind.
Das Auftauchen autonomer Privatregimes, so erfahren wir, führe zum »Zusammenbruch der klassischen Rechtsnormenhierarchien« [10]Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48.. Das ist eine rhetorische Dramatisierung. Im Weltrecht hat es bisher keine »klassische Rechtsnormenhierarchie« gegeben, die zusammenbrechen könnte, und die Hierarchien der nationalen Rechte werden durch das neue Weltrecht nicht unmittelbar tangiert. Aber natürlich kann man fragen, wie die Funktion der Hierarchie im Weltrecht ausgefüllt wird.
»Was aber tritt an die Stelle einer Rechtsnormenhierarchie? – die Differenz Zentrum /Peripherie. Während im Zentrum des Rechts die Gerichte stehen, setzt sich die Peripherie autonomer Rechtsregimes aus politischen, ökonomischen, organisationalen religiösen Normierungskomplexen zusammen, die an der Grenze des Rechts zu autonomen Gesellschaftssektoren stehen, dennoch aber integraler Bestandteil des Rechtssystems selbst sind. Wieder ist es die Fragmentierung der Weltgesellschaft, die neue Bruchlinien, nun zwischen dem Rechtszentrum, der Rechtsperipherie und den gesellschaftlichen Umwelten des Rechts erzeugt. An den Kontaktstellen der Rechtsperipherie zu den autonomen Gesellschaftssektoren formieren sich plurale Rechtsbildungsmechanismen: standardisierte Verträge, Vereinbarungen professioneller Verbände, Routinen formaler Organisation, technische und wissenschaftliche Standardisierungen, habituelle Normalisierungen, informelle Konsense von NGOs, Medien und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten.« [11]Ebenda S. 48.
Die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie bezieht sich nicht auf die Beziehung von Elementen eines Systems untereinander, sondern auf deren Stellung im System. Gerichte haben eine zentrale Stellung im Rechtssystem ähnlich wie Krankenhäuser im Gesundheitssystem oder Universitäten im Wissenschaftssystem. Im Weltrecht, so verstehe ich das letzte Zitat, rücken die Gerichte aus dem Zentrum des Systems an die Peripherie. Welche Gerichte, die nationalen Gerichte oder die Entscheidungsinstanzen der transnationalen Rechtsregimes? Eigentlich können nur die letzteren gemeint sein, denn die nationalen Gerichte sind definitionsgemäß weit von den »pluralen Rechtsbildungsmechanismen« des transnationalen Rechts entfernt, gehören sie doch einer anderen Systemkategorie an. So verstanden ist die Aussage nicht besonders aufregend. Dass es auf der globalen Ebene an einer übergreifenden Gerichtshierarchie fehlt, wird niemand in Abrede stellen. Allerdings ist der Kontrast zur territorialen Ebene nicht so stark, wie er rhetorisch aufgebaut worden ist. Auch im Nationalstaat gibt es all die Phänomene, die Fischer-Lescano und Teubner »an den Kontaktstellen der Rechtsperipherie« ausgemacht haben, wenn auch vielleicht nicht in der gleichen Intensität.
Richtig und wichtig ist an der systemtheoretischen Konzeption die Beobachtung, dass transnationales Recht sich weitgehend themenspezifisch entwickelt hat. Aber eine besondere Kollisionsanfälligkeit des neuen Weltrechts folgt allein daraus nicht. Die Kollisionsneigung soll vielmehr aus der Nähe der transnationalen Rechtsregimes zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen resultieren. Die Tatsache solcher Affinität muss man wohl akzeptieren. Doch wo sind die Konflikte? Dieser Frage soll ein weiterer Beitrag nachgehen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Regime Kollisionen S. 34.
2 RdG 572.
3 RdG 582.
4 Fischer-Lescano/Teubner, Fragmentierung des Weltrechts, 2007, Internetfassung S. 10; ähnlich dies., Regime-Kollisionen, 2006, 36.
5 Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 613) nennt vier solcher Formen: (1) Segmentäre Differenzierung; (2) Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, (3) Stratifikatorische Differenzierung, (4) funktionale Differenzierung.
6 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 37.
7 Regime-Kollisionen, S. 37.
8 Teubner beschreibt etwa die innere Struktur der Codes of Conduct transnationaler Unternehmen als hierarchisch (Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen?, 2010, 14).
9 Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; 25.
10 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48.
11 Ebenda S. 48.

Ähnliche Themen