Ein Carl Schmitt der Literaturwissenschaft und die Rechtstheorie: Hans Robert Jauß

Dieser Eintrag und die Fortsetzungen wurden gelöscht, weil sie zusammen in der Zeitschrift RECHTSTHEORIE gedruckt werden.

Jetzt erschienen: Klaus F. Röhl, Literaturwissenschaft und Rechtstheorie, Rechtstheorie 51, 2020, 413-432.

Ähnliche Themen

Diszipliniert Foucault: Mehr Anschlüssse als bei der Deutschen Bahn

Die große Anschlussfähigkeit Foucaults rührt daher, dass er weit- und scharfsichtig Stichworte in die Welt gesetzt hat, an die sich mehr oder weniger überall, wo heute Gesellschaftskritik geübt wird, anknüpfen lässt. Da er nach seiner Distanzierung von der kommunistischen Partei politisch nicht eindeutig festzulegen ist, können Autoren aus allen wissenschaftlichen und politischen Lagern ihr eigenes Werk adeln, indem sie sich auf Foucaults Autorität berufen, ohne konkrete Aussagen übernehmen zu müssen. [1]Wie z. B. Susanne Baer, Juristische Biopolitik: Das Wissensproblem im Recht am Beispiel »des« demografischen Wandels, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 181-201.

Die Foucaultphilie [2]Der Eintrag vom 4. 4. 2012 zeigt, wo ich diesen Ausdruck gelernt habe. der Kulturwissenschaften ist manifest. Es liegt auch auf der Hand, dass man sich in epistemologische Debatten auf Foucault berufen kann. [3]Dazu der Eintrag vom 9. 3. 2015: Diszipliniert Foucault: Wahrheiten für Juristen. Die Kritik an der klassischen Philosophie, die seit Descartes das Subjekt als Quelle des Wissens behandelt, und an der traditionellen Soziologie, die das handelnde Subjekt voraussetzt, speist sich auch aus Texten Foucaults, in denen gezeigt wird, wie das Subjekt seine Identität aus diskursiven Praktiken gewinnt. Die Analyse des Sexualitätsdispositivs durch Foucault selbst hat in Feminismus und Queer-Theorie ein großes Echo bei der Dekonstruktion von »Geschlecht« gehabt. Die Disziplinargesellschaft formt nicht nur soziales Verhalten, sondern schon den Körper und ist damit Anknüpfungspunkt für eine »Soziologie des Körpers« [4]Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, 2004; Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, 2005. Der Begriff der Sicherheitsgesellschaft ist (nicht erst) durch Terrorismus und die NSA-Affäre zum Thema geworden. Die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität sind ein beliebtes Sprungbrett in die Kritik des Neoliberalismus. Aus den »Technologien des Selbst« wird »Das unternehmerische Selbst«. [5]Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 5. Aufl. 2013 (2007). Die »Genealogie« des historisch-politischen Diskurses seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, die bis zum nationalsozialistischen Staatsrassismus geführt wird, ist ein beinahe obligatorischer Anknüpfungspunkt der Rassismuskritik.

Für Juristen bieten Foucaults Analysen der Unterwanderung des Rechts durch Behandlung und Prävention Anregung zur Kritik. [6]Dazu ausführlich Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, S. 119-163. Aktuell ist gerade wieder das Verhältnis von Psychiatrie und Justiz. Man wundert sich nur, dass der Machtanspruch der Humanwissenschaften, den Foucault so kritisch im Blick hatte, heute eigentlich kein Thema mehr ist. Er benutzte historisches Material und konzentrierte sich auf große Diskurse, die mit Hilfe der Humanwissenschaften geführt wurden. Der naive Foucault-Leser erwartet nun, dass dieser oder jener seinem Vorbild folgt. Das ist aber wohl nur hinsichtlich des nächstliegenden Themenfeldes, nämlich für das Femina-Dispositiv geschehen. Andere naheliegende Themenfelder wären heute Umweltschutz, Tierschutz oder Energiewende. Nirgends scheinen sich der Wille zur Wahrheit und der Wille zur Macht so zu verbinden, wie aktuell im der Diskussion um den Klimawandel. Aber die zeitgenössischen Humanwissenschaftler beteiligen sich lieber direkt an den einschlägigen Diskursen, als dass sie die Diskurse »archäologisch« und »genealogisch« analysieren.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Wie z. B. Susanne Baer, Juristische Biopolitik: Das Wissensproblem im Recht am Beispiel »des« demografischen Wandels, in: Michelle Cottier u. a. (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 181-201.
2 Der Eintrag vom 4. 4. 2012 zeigt, wo ich diesen Ausdruck gelernt habe.
3 Dazu der Eintrag vom 9. 3. 2015: Diszipliniert Foucault: Wahrheiten für Juristen.
4 Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, 2004; Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, 2005.
5 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, 5. Aufl. 2013 (2007).
6 Dazu ausführlich Christian Schauer, Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, S. 119-163.

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Poikilophilie — die Homophobie der Humanities

Wenn man eine These promovieren will, braucht man einen irgendwie perzeptiv prominenten oder anreizenden Begriff. (Oft stellt sich dann heraus, dass der neue Begriff nur ein neues Kleid für alte Bekannte ist wie z. B. der Begriff Doxa bei Bourdieu.) In früheren Einträgen hatte ich meine Thesen von der Konvergenz wissenschaftlicher Sätze in den Humanities ausgebreitet. Eine weiter ausgearbeitete Version habe ich als Referat für die Tagung »Versprechungen des Rechts« der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen angemeldet. Nun suche ich noch nach einem griffigen Begriff, um auf meine Thesen aufmerksam zu machen.

Ausgelöst wurden sie u. a. durch die Annahme/Vermutung/Beobachtung, das aktuelle Ideal der Geistes- und Sozialwissenschaften bestehe in der Suche nach Vielfalt, während die Suche nach Konsonanzen, Übereinstimmungen oder Konvergenzen als langweilig oder gar als diskriminierend gelten. Diese Grundhaltung könnte man mit einem Begriff, der bisher nur in der Biologie gelegentlich verwendet wird, als Poikilophilie [1]Von griechisch ποικίλος = bunt und φιλíα = freundschaftliche Liebe. kennzeichnen. Aber dieser Benennung fehlt der Schwung. Warum nicht auf den Gegenbegriff zugreifen und den Humanities Homophobie vorhalten? Natürlich, der Begriff ist belegt. Aber gerade daraus gewinnt er seinen Reiz. [2]In Psychologie und Psychiatrie war es seit jeher üblich, Angststörungen als Phobien zu benennen. »Homophobie« war der ungewöhnlich erfolgreiche Neologismus des Psychologen George Weinberg. … Continue reading

Homophobie, also die Furcht vor – oder auch nur die uneingestandene Abneigung gegenüber – Gleichem oder Gleichartigem, ist, was ich den Geistes- und Sozialwissenschaften unterstelle, nämlich eine ausgeprägte irrationale Scheu, sowohl auf der Objektebene als auch auf der Metaebene der Wissenschaft nach Übereinstimmungen, Konsonanzen oder Konvergenzen zu suchen. Stattdessen huldigen sie der Poikilophilie. Vielfalt wird nicht bloß konstatiert, sondern konstruiert.

Die Thematisierung von Konvergenz hat natürlich – ebenso wie die Poikilophilie – einen normativen Überschuss. Er folgt aus der Vermutung, dass die einseitige Thematisierung von Vielfalt diese in einer Weise aufwertet, dass sie positiver Pluralität im Wege steht. Für die Unterscheidung von positiver und negativer Pluralität beziehe ich mich auf David Apter. Dazu mit Nachweisen im Eintrag Die Einfalt der Vielfalt vom 2. Oktober 2012.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Von griechisch ποικίλος = bunt und φιλíα = freundschaftliche Liebe.
2 In Psychologie und Psychiatrie war es seit jeher üblich, Angststörungen als Phobien zu benennen. »Homophobie« war der ungewöhnlich erfolgreiche Neologismus des Psychologen George Weinberg. (Society and the Healthy Homosexual, 1973. Insoweit habe ich mich mit der Konvergenz verschiedener Internetquellen zufrieden gegeben.) Da der zweite Wortbestandteil eindeutig griechischen Ursprungs ist und eben Angst oder Furcht bedeutet, liegt es nahe, auch die erste Worthälfte aus dem Griechischen abzuleiten, wiewohl griechisch-lateinische Mischbildungen als Fremdworte vorkommen. Das nächstliegende Beispiel ist die Homosexualität. Sexus steht im Lateinischen für das Geschlecht, und homo wäre der Mensch. Aber das »Homo« in dieser Wortbildung leitet sich vom griechischen ὅμοιος = gleich ab. Homophobie wäre also die Furcht vor – oder auch nur die uneingestandene Abneigung gegen – Gleichem oder Gleichartigem.

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Nachträge zu älteren Postings

Ich halte mich an die Regel, Postings nachträglich nicht mehr zu ändern. Eine Ausnahme gilt für offenbare Unrichtigkeiten im Sinne von § 319 ZPO. Ohne besondere Kennzeichnung werden Außerdem die Einträge In eigener Sache VIII: Veröffentlichungen sowie In eigener Sache VII: Blogroll und Linkliste. geändert. Sonst werden inhaltliche Änderungen und Ergänzungen als Nachträge ausgewiesen. Eine Reihe davon habe ich in diesem Eintrag zusammengestellt.

Zu den offenbaren Unrichtigkeiten zählen auch fehlerhafte Links. Neuerdings benutze ich (auf Vorschlag von Sascha Foerster) das Plugin Broken Link Checker, dass automatisch nach fehlerhaften Links sucht. Sie erscheinen dann durchgestrichen. Der Broken Link Checker hat bisher 92 fehlerhafte Links gefunden. Alle zu berichtigen ist viel Arbeit und kann nur nach und nach geschehen.


Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt

Anscheinend wird Rsozblog gelegentlich gelesen. Jedenfalls bin ich aus dem Niedersächsischen Justizministerium auf die Einträge zur Mediation angesprochen und gebeten worden, am dem nächsten Konfliktmanagementkongress in Hannover teilzunehmen. Es handelt sich immerhin um den 12. Kongress dieser Reihe. Das ist Anlass, die Internetseite mit einigen Daten über die Vorläufer mitzuteilen: http://www.km-kongress.de/.
Der (mir unbekannte) Verband Integrierte Mediation unterhält eine gut gemachte Internetseite.

Teilverfassungen
Zu dem von Vesting und Korioth herausgegebenen Band »Der Eigenwert des Verfassungsrechts« [1]Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011. hat Verena Frick in PVS 54, 2013, 363-365, eine Besprechung veröffentlicht, die ich durchgehend für angemessen halte. Sie hebt hervor, dass die These von dem Verlust der Einheit der Verfassung zugunsten bereichsspezifischer Teilverfassungen »der (system-)theoretischen Präferenz des Herausgebers Vesting geschuldet« sei. Ich würde es noch deutlicher sagen: Es handelt sich um Begriffssoziologie, nämlich um ein systemtheoretisches Konstrukt (das in Teubners »Verfassungsfragmenten« von 2012 seine Vollendung gefunden hat).

Eine Konvergenztheorie des Wissens

Die Serie von fünf Einträgen zur Konvergenz des Wissens habe ich zur Vorbereitung für eine Veröffentlichung überarbeitet. Bei Interesse, vielleicht sogar Diskussionsinteresse, übersende ich auf Anforderung (klaus.f.roehl at rub.de) die Datei nach aktuellem Stand.

Social Engineering – da war doch noch was?
Hier noch einige Fundstücke:
Linus J. McManaman, Social Engineering: The Legal Philosophy of Roscoe Pound, St. John’s Law Review 33, 1958, 1-47.

Das Schweizer Institut für Rechtsvergleichung in Lausanne wird in der Einleitung zu einer zweibändigen Jubiläumspublikation mit dem Titel »Legal Engineering and Comparative Law« (Genf 2009) von der Herausgeberin und Direktorin des Instituts Eleanor Cashin-Ritaine wie folgt vorgestellt:

Lawyers at the Institute have, thus, perfected over the years a specific methodology, essentially in private law, that takes into account all sources of law, and allows for the creation of abstract legal structures that fulfil particular functional and practical purposes. This (re-)engineering of legal concepts and legal sources has given the scientific team in Lausanne a rare technical competence where both the scientific aspects of legal reasoning are taken into account and the complex practical issues are addressed in a pragmatic client-oriented manner. As a result, the phrase “legal engineering in comparative law” seems to describe in a very accurate way the scientific activity of the Swiss Institute of Comparative Law.

Im Internet habe ich aus diesem Band noch gefunden:
J. M. Smits, Legal Engineering in an Age of Globalisation.


Das Recht ist keine Ware

Zum »Wettbewerb der Rechtsordnungen« mit Nachweisen vgl. Moritz Renner, Zwingendes Recht, 2011, S. 67-69. Renner kommt zu dem Schluss:»

»Von einem vollständigen Regulierungswettbewerb zwischen den Nationalstaaten kann damit letztlich weder mit Blick auf die unterschiedlichen Rechtsordnungen noch mit Blick auf verschiedene Gerichtsstände die Rede sein. Zugleich zeigen aber die Konvergenzbewegungen etwa im europäischen Gesellschaftsrecht deutlich, dass die nationalen Gesetzgeber sich durchaus als Wettbewerber begreifen und auch als solche agieren. Es liegt damit die Vermutung nahe, dass hier zwar kein institutioneller Wettbewerb besteht, der unmittelbar mit dem Wettbewerb auf Produktmärkten analogisierbar wäre, wohl aber ein Ideen- und Reputationswettbewerb, der allerdings notwendigerweise mehr durch politische als durch ökonomische Ziele der Anbieter motiviert ist.« (S. 68 f.)

Outsourcing der Gesetzgebung

Literaturhinweis:
Martin Döhler, Gesetzgebung auf Honorarbasis?– Politik, Ministerialverwaltung und das Problem externer Beteiligung an der Gesetzgebung Rechtsetzungsprozessen, Politische Vierteljahresschrift 53 , 2012, 181-210.
Klaus Meßerschmidt, Private Gesetzgebungshelfer – Gesetzgebungsoutsourcing als privatisiertes Regulierungsmanagement in der Kanzlerdemokratie?, Der Staat 2012, Der Staat 2012, Vol. 51, No. 3: 387–415.

Paradoxologen unter sich. Anmerkungen zu Amstutz/Fischer-Lescano (Hg.), Kritische Systemtheorie

Andreas Fischer-Lescano vindiziert die »Kreationsrechte« für »Kritische Systemtheorie« für Rudolf Wiethölter [2]Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie, S. 13-37, S. 14 Fn. 4. In einem Zeitalter, in dem man für Plagiate aller Art, auch für Ideenplagiate, so empfindlich geworden ist, sollte die Urheberschaft Poul Kjaer zugerechnet werden. Sein Aufsatz »Systems in Context. On the Outcome of the Habermas/Luhmann-Debate« (Ancilla Juris, 2006, 66-77) endet:

»In sum, one outcome of the Habermas/Luhmann debate is that the late Habermas’ discourse theory can be regarded as a normative superstructure to Luhmann’s descriptive theory of society. But a second is that, beyond the tendency to the two theoretical complexes’ convergence, a complete fusion, through the development of a fully fledged inter‐systemic“ and „critical“ systems theory, could provide a viable basis for further theoretical development. Such a theory might provide an optimal frame for the continuing reformulation of legal theory.«

Immerhin wird Kjaer von Fischer-Lescano in Fn. 3 erwähnt.

Überflüssige Literatur

Schöner Titel, nichts dahinter: Heinz-Dieter Assmann/Frank Baasner/Jürgen Wertheimer (Hg.), Normen, Standards, Werte – was die Welt zusammenhält, Baden-Baden 2012.

Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus

Der so genannte liberale Paternalismus ist inzwischen zu einem allgemeinen Diskussionsthema geworden; vgl. z. B.
Corinna Budras, Der Vormund, FamS vom 10. 2. 2015
Werner Mussler, Ausgeschubst. Die Probleme mit dem liberalen Paternalismus, FAZ Wirtschaftsblog vom 11. 4. 2012
Cass Sunstein, einer der beiden Patentinhaber, war im Januar persönlich zu einer Konferenz in Berlin. Daher war Nudging ausführlich Thema auf verfassungsblog.de.
Unter den deutschen Ökonomen hat sich besonders Jan Schnellenbach um das Thema bemüht. Näheres dazu auf seiner Webseite, wo die folgenden Titel heruntergeladen werden können:
Neuer Paternalismus und individuelle Rationalität: eine ordnungsökonomische Perspektive, List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 40, 2014, 239-257
Nudges and Norms: The Political Economy of Soft Paternalism, European Journal of Political Economy 28, 2012, 266-277
Wohlwollendes Anschubsen: Liberaler Paternalismus und seine Nebenwirkungen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 12, 2011, 445-459
Some Notes on the Nudge: The Political Economy of Libertarian Paternalism in Democratic Societies (May 27, 2011). Verfügbar bei SSRN: http://ssrn.com/abstract=1854670.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011.
2 Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie, S. 13-37, S. 14 Fn. 4

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Der Kampf ums Recht – ein großartiges Tagungsmotto, nicht ganz verschenkt

Mitte Januar erschien der Call for Papers für den Dritten Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen, der unter dem Titel »Die Versprechungen des Rechts« vom 9.-11.September 2015 in Berlin stattfinden soll. Das war für mich Anlass, den Tagungsband der vorangegangenen Veranstaltung [1]Josef Estermann (Hg.), Der Kampf ums Recht. Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung, Wien 2013. zur Hand zu nehmen, die 2011 in Wien stattfand (und an der ich nicht teilgenommen habe). Das wunderbare Generalthema der Tagung »Der Kampf ums Recht« war natürlich eine Anspielung auf Rudolf von Iherings berühmten Traktat »Kampf um‘s Recht« von 1872. [2]Über die Webseite von Gerhard Köbler (Innsbruck) findet man den Originaltext Iherings und ebenso den des vorausgegangenen Vortrags mit demselben Titel..

Erwartungsvoll habe ich zunächst den Eröffnungsvortrag von Peter Koller »Der Kampf um Recht und Gerechtigkeit: Soziologische und ethische Perspektiven« gelesen – und war enttäuscht, denn der Vortrag ergeht sich in einer Ihering-Schelte und läuft auf eine Philippika gegen den »neoliberalen Kreuzzug gegen den Wohlfahrtsstaat« hinaus. Damit verfehlt er den heute relevanten rechtssoziologischen Gehalt von Iherings Text.

Geärgert habe ich mich, weil Koller über »Meriten und Schwächen von Iherings Traktat« redet. Was Ihering am Zustand des damals aktuellen Privatrechts auszusetzen habe, erscheine »vor dem Hintergrund der damals virulenten Sozialen Frage doch ziemlich lächerlich«. Seine Beispiele reflektierten »eher die Klassenvorurteile seines großbürgerlichen Milieus als die drängenden sozialen Konflikte seiner Zeit.« Seine »Thesen enthalten richtige Einsichten, die nicht nur im Kontext des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Rechtsdenkens innovativ und originell waren, sondern auch heute noch eine gewisse Aktualität besitzen; aber sie haben in der Form, wie sie von Ihering ausgeführt wurden, auch einige nicht unerhebliche Mängel.« (S. 17). So darf man mit Texten von Zeitgenossen umgehen, nicht jedoch mit einem klassischen Text, der bald 150 Jahre alt ist. Sicher war Ihering alles andere als ein Sozialist. Aber seine Ausführungen öffnen das Recht in vollem Umfang dem sozialistischen Programm der Politiker August Bebel und Wilhelm Liebknecht und des Juristen Anton Menger, die Koller als leuchtende Gegenbeispiele anführt.

»In allen solchen Fällen nun, wo das bestehende Recht diesen Rückhalt am Interesse findet, gilt es einen Kampf, den das Neue zu bestehen hat, um sich den Eingang zu erzwingen, ein Kampf, der sich oft über ganze Jahrhunderte hinzieht. Den höchsten Grad der Intensität erreicht derselbe dann, wenn die Interessen die Gestalt erworbener Rechte angenommen haben. Hier stehen sich zwei Parteien gegenüber, von denen jede die Heiligkeit des Rechts als Wahlspruch in ihrem Panier führt, die eine die des historischen Rechts, des Rechts der Vergangenheit, die andere die des ewig werdenden und sich verjüngenden Rechts, des Urrechts der Menschheit auf stets neues Werden … . Alle großen Errungenschaften, welche die Geschichte des Rechts zu verzeichnen hat: die Aufhebung der Sklaverei, der Leibeigenschaft, die Freiheit des Grundeigentums, der Gewerbe, des Glaubens u. a. m., sie alle haben erst auf diesem Wege des heftigsten, oft Jahrhunderte lang fortgesetzten Kampfes erstritten werden müssen, und nicht selten bezeichnen Ströme von Blut, überall aber zertretene Rechte den Weg, den das Recht dabei gewandelt ist. Denn ›das Recht ist der Saturn, der seine eigenen Kinder verspeist‹; das Recht kann sich nur dadurch verjüngen, daß es mit seiner eigenen Vergangenheit aufräumt.« (Ihering, wie Fn. 2, S. 68)

Das war ein rechtssoziologischer Freibrief für eine soziale Revolution.

Koller entnimmt Iherings Text zwei rechtssoziologische und die

»rechtsethische These, dass es moralische Pflicht aller Einzelnen ist, zur Aufrcchterhaltung einer den sozialen Frieden sichernden Rechtsordnung nach Kräften beizutragen, indem sie die Durchsetzung ihrer Rechte im Wege der zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten erstreiten.« (S. 17)

Diese These bezieht sich u. a. auf folgende Aussagen Iherings:

»Der Kampf ums Recht sei eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst, denn das Recht sei ›die moralische Existenzialbedingung der Person, die Behauptung desselben ihre moralische Selbsterhaltung‹. Es komme daher einem moralischen Selbstmord gleich, die Missachtung des eigenen Rechts durch Andere zu dulden. Jhering illustriert diese These am Beispiel des Bauern, der sein Eigentum um jeden Preis verteidige, weil es Grundlage oder Produkt seiner Arbeit sei. Er konstatiert jedoch mit Bedauern den Unwillen vieler Menschen, ihr Eigentum nach Kräften zu verteidigen, weil die sittliche Grundlage dieses Rechts immer mehr unterhöhlt werde: ›wo jeder Rest von der sittlichen Idee des Eigenthums abhanden gekommen ist, kann freilich von einem Gelühl der sittlichen Pflicht der Vcrtheidigung desselben nicht mehr die Rede sein; für den Eigenthumssinn, wie er in Jedem lebt, der sein Brod im Schweisse seines Angesichts verdienen muss. fehlt es hier an jeglichem Verständniss. …– der Communismus gedeiht nur in jenem Sumpfe, in dem die Eigenthumsidee sich völlig verlaufen hat. an ihrer Quelle kennt man ihn nicht.‹ [3]Ihering-Zitate in der oben angeführten Ausgabe S. 91 ff.« (Koller S. 16)

Gegenüber der normativen Verpackung, mit der Ihering den Kampf ums Recht versieht, wäre ich eher noch distanzierter als Koller. Ich sehe nicht, dass es überhaupt eine moralische Pflicht zur rechtsförmigen Durchsetzung von Rechten geben könnte. Doch es wirkt wie ein kleiner Seitenhieb, wenn man Ihering nicht etwas vollständiger zitiert, denn dann lässt sich sein Text durchaus als Kritik kapitalistischen Eigentums verstehen.

»Nur durch die dauernde Verbindung mit der Arbeit kann sich das Eigentum frisch und gesund erhalten, nur an dieser seiner Quelle, aus der es unausgesetzt sich von neuem erzeugt und erfrischt, zeigt es sich klar und durchsichtig bis auf den Grund als das, was es dem Menschen ist. Aber je weiter der Strom sich von dieser Quelle entfernt und abwärts in die Regionen des leichten oder gar mühelosen Erwerbs gelangt, desto trüber wird er, bis er endlich im Schlamm des Rörsenspiels und des betrügerischen Aktienschwindels jede Spur von dem, was er ursprünglich war, verliert. An dieser Stelle, wo jeder Rest der sittlichen Idee des Eigentums abhanden gekommen ist, kann freilich von einem Gefühl der sittlichen Verpflichtung der Verteidigung desselben nicht mehr die Rede sein; für den Eigentumssinn, wie er in jedem lebt, der sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muß, fehlt es hier an jeglichem Verständnis.« [4]Ihering a. s. O. S. 93f.

Wichtiger sind die rechtssoziologischen Thesen. Die erste, die Koller herauspräpariert,

»besagt, dass das Recht, um den sozialen Frieden zu garantieren, einen dynamischen Prozess der Konfliktaustragung zwischen sozialen Gruppierungen und einzelnen Personen organisiert, der sich nach Maßgabe der bestehenden Machtverhaltnisse in den generellen Regeln der Rechtsordnung niederschlägt, deren effektive Verwirklichung aber die ständige Bereitschaft der Einzelnen erfordert, auf die Beachtung und Wahrung ihrer Rechte gegenüber Anderen zu pochen.« (S. 17)

So formuliert ist die These blass, krumm, schief und hohl. Sie ist blass, wenn man die starken Worte Iherings daneben hält. Sie ist krumm, weil sie nur den Teil von Iherings Text aufnimmt, der sich mit der Durchsetzung subjektiver Rechte befasst. Sie ist schief, weil sie viel positivistischer als Ihering selbst davon ausgeht, dass es Rechte gibt, die in einem geordneten Verfahren durchgesetzt werden können. Und sie ist hohl, weil sie die zeitgemäß pathetischen Fomulierungen zur Pflicht der Menschen, ihre Rechte zu wahren, nicht von den handfesten Ausführungen zur Bedeutung eines überschießenden Rechtsgefühls oder Gerechtigkeitssinns zu trennen vermag.

Koller referiert die einschlägigen Aussagen Iherings, um daraus die zweite rechtssoziologische These abzuleiten:

»Die Durchsetzung privater Rechte im Wege privatrechtlicher Prozesse gestalte sich dabei keineswegs nur als ein reines Rechenexempel, ›bei dem Vortheile und Nachtheile auf beiden Seiten gegen einander abgewogen werden und darnach der Entschluss bestimmt wird‹, weil bei vielen dieser Prozesse ›der Wert des Streitobjects ausser allem Verhältnis steht zu dem voraussichtlichen Aufwand an Mühe. Aufregung, Kosten‹. Was Menschen dazu treibe, solche Prozesse zu fiihren, sei entgegen der vorherrschenden Ansicht nicht ihre ›Processsucht‹, sondern ihr ›Rechtsgefühl‹: ›Nicht das Interesse ist es, das den Verletzten antreibt, den Process zu erheben, sondern der moralische Schmerz über das erlittene Unrecht; nicht darum ist es ihm zu thun, bloss das Object wieder zu erlangen […], sondern darum, sein Recht zur Anerkennung zu bringen.‹ « (S. 15)

Er extrahiert daraus eine zweite rechtssoziologische These Iherings, die These nämlich,

»dass die einzelnen ihre – oft ja keineswegs bestimmten und unzweifelhaften – Rechte in der Regel nicht bloß in Verfolgung ihrer eigenen Interessen, sondern um der Gerechtigkeit willen verteidigen«,

bezweifelt, ob diese These empirisch zutrifft,

»Obwohl im Allgemeinen den Gerechtigkeitspflichten prinzipieller Vorrang vor partikularen Interessen zukommt, pflegen die Menschen in ihrem realen Handeln zwischen beiden abzuwägen statt sich ausschließlich von dem einen oder dem anderen Motiv leiten zu lassen. Allerdings behalten die partikularen Eigeninteressen häufig die Oberhand, weil sie meist stärker motivieren als die schwache Stimme von Moral und Gerechtigkeit.« (Koller S. 18)

und belegt seine Zweifel durch einen Verweis auf »Koller 2005« (S.22). Aus Iherings »Rechtsgefühl« wird »um der Gerechtigkeit willen«. Das führt in die Irre. Es kann ja wohl nur um die Durchsetzung einer subjektiven Gerechtigkeitsvorstellung gehen. Man kann sich zwar vorstellen, dass eine Partei den Rechtsweg aus rein strategischen Überlegungen der Interessendurchsetzung wählt. [5]Ein Beispiel mit Wikipedia-Rang SLAPP = Strategic lawsuit against public participation. [http://en.wikipedia.org/wiki/Strategic_lawsuit_against_public_participation] Das mag etwa für die so genannten Repeat Player gelten. Aber für One Shotter, an die Ihering wohl in erster Linie gedacht hat, lässt sich der Gang zur Gericht, vor allem aber dessen Fortsetzung bis zum bitteren Instanzenende, in vielen Fällen nicht als rational choice erklären, sondern nur aus einer überschießenden Motivation, die daher rührt, dass die Partei den Konflikt als Wertkonflikt um Wahrheit und Recht führt. [6]Locus classicus Vilhelm Aubert, Competition and Dissensus: Two Types of Conflict and of Conflict Resolution, Journal of Conflict Resolution 7, 1963, 26-42. Im Rechtsstreit werden subjektive Wahrheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen als objektiv gültig in Anspruch genommen, und daraus wächst eine rational choice übersteigende Energie. Das ist ein »Rechtsgefühl«, das mit Gerechtigkeit, wie sie sich der akademische Bobachter vorstellt, wenig zu tun hat. Es motiviert immer wieder dazu, dass nicht unbedingt zweckrationale Anstrengungen als Kampf ums Recht das Recht verändern. [7]Dazu passt etwa Eike Frenzel, Organe der Verfassungsrechtspflege (Freiburg Law Student Journal. Jubiläumsausgabe, Dezember 2011, S. … Continue reading

Gerichtliche Verfahren haben vielfach verfahrensexterne Ziele und Wirkungen. [8]Armin Höland, Wie wirkt Rechtsprechung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 30, 2009, 23-46. So liegt die Pointe von Iherings Text darin, dass aus dem durchaus egoistischen Kampf für partikulare Interessen ein gemeinwohlverträgliches Recht entstehen kann. Wer mag, kann da eine Parallele zur unsichtbaren Hand des Marktes sehen. Wer aber gerade eine Attacke gegen den Neoliberalismus reitet, wird dafür kein Auge haben.

Natürlich war Ihering nicht auf dem Stand der Rechtssoziologie von heute. Deshalb ist es richtig, das Koller einige Umstände anspricht, welche die Chancen im Rechtskampf verzerren. Die verfahrensexternen Umstände werden in der Rechtssoziologie als Mobilisierung von Recht und Zugang zum Recht thematisiert, für die Charakterisierung der Kampfarena selbst und die Spielregeln spricht man von Erfolgsbarrieren oder erinnert an das nicht mehr ganz treffende Schlagwort von der Klassenjustiz. Wichtiger aber ist die Entwicklung neuer Waffengattungen für den Rechtskampf, die Ihering so nicht vorhersehen konnte, die sich aber nahtlos in sein Konzept einfügen. Zur stärksten Waffe sind die Menschenrechte geworden. Was in Deutschland als Konstitutionalisierung des Rechts auf den Begriff gebracht wird, ist bis zu einem gewissen Grade ein globales Phänomen. Wer gegen Rassismus und Diskriminierungen kämpfen will, ist nicht unbedingt mehr auf konkrete Gesetze angewiesen, sondern kann allein mit der Behauptung einer Verletzung sein Recht einfordern. Seit der Entscheidung Brown gegen Board of Education of Topeka von 1954 ist der Rechtsstreit zum bevorzugten Kampfplatz für rassische und ethnische Minoritäten geworden, und in ihrem Windschatten haben sich auch andere Minderheiten, insbesondere solche mit abweichender sexueller Orientierung, Rechtsschutz gegen Diskriminierung erkämpft. Andere wirkungsvolle Waffen im Rechtskampf sind Popular-, Verbands- und Sammelklagen, cause lawyering sowie eine Infrastruktur von mehr oder weniger agressiven Rechtsschutz- und Rechtshilfeeinrichtungen auch der Zivilgesellschaft. Verbraucher- und Mieterschutz leben zu einem guten Teil von Prozessaktivitäten. Umweltschutzgesetze finden vor Gericht eigennützige und uneigennützige Verteidiger. Für Flüchtlinge ist der Kampf ums Recht oft das letzte Mittel gegen eine Abchiebung. So ist der Rechtsstreit – in den USA mehr noch als in Europa [9]Der Unterschied zeigt sich darin, dass einschlägige Untersuchungen in der Zeitschrift für Rechtssoziologie seltener sind als im Law and Society Review oder in Law and Social Inquiry, wo man in … Continue reading – zum Motor sozialen Wandels geworden.

Von den auf den Einleitungsvortrag folgenden 20 Beiträgen, die im Tagungsband abgedruckt sind, nehmen nach meinem Eindruck neun den Kampfgedanken Iherings mehr oder weniger (un-)deutlich auf, und zwar bis auf den Beitrag von Struck nicht auf der Ebene der Rechtsverfolgung, sondern für die Regelbildung, vor allem für die Gesetzgebung. Damit scheint das Generalthema der Tagung eher verschenkt zu sein. Aber das geht wohl nicht anders, wenn man eine solche Tagung organisiert. Legt man Wert auf eine große Teilnehmerzahl — es wurden wohl an die 150 Vorträge gehalten [10]Vgl. den Abstractband »Der Kampf ums Recht, Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung« 2011, herausgegeben von Christian Boulanger/Michelle Cottier/Josef … Continue reading – lässt sich die Themenwahl nicht steuern. Dafür war das wunderbare Tagungsthema ein gutes Motto.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Josef Estermann (Hg.), Der Kampf ums Recht. Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung, Wien 2013.
2 Über die Webseite von Gerhard Köbler (Innsbruck) findet man den Originaltext Iherings und ebenso den des vorausgegangenen Vortrags mit demselben Titel.
3 Ihering-Zitate in der oben angeführten Ausgabe S. 91 ff.
4 Ihering a. s. O. S. 93f.
5 Ein Beispiel mit Wikipedia-Rang SLAPP = Strategic lawsuit against public participation. [http://en.wikipedia.org/wiki/Strategic_lawsuit_against_public_participation]
6 Locus classicus Vilhelm Aubert, Competition and Dissensus: Two Types of Conflict and of Conflict Resolution, Journal of Conflict Resolution 7, 1963, 26-42.
7 Dazu passt etwa Eike Frenzel, Organe der Verfassungsrechtspflege (Freiburg Law Student Journal. Jubiläumsausgabe, Dezember 2011, S. 7-11[http://www.freilaw.de/organe-der-verfassungsrechtspflege/747): »Beschwerdeführer muss man nicht unnötig als Helden bezeichnen, aber indem sie – mit notwendigem Beharrungsvermögen bis hin zu signifikanter Querulanz – Verfahren notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht betreiben, erweisen sie sich als Förderer der Verfassung. … So wäre die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um viele Aspekte ärmer, wenn Wilhelm Elfes, Erich Lüth und Karl-Heinz Röber oder – in jüngerer Zeit – Kazim Görgülü, Irene Katzinger-Göth und Julia Kümmel nicht bis zum Bundesverfassungsgericht gezogen wären, von regelmäßig wiederkehrenden Beschwerdeführern wie Gerhart Baum sowie Caroline und Ernst-August von Hannover ganz zu schweigen«. Ich würde zu dieser Sammlung noch den Kohlepfennig BVerfGE 91, 186 hinzutun.
8 Armin Höland, Wie wirkt Rechtsprechung?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 30, 2009, 23-46.
9 Der Unterschied zeigt sich darin, dass einschlägige Untersuchungen in der Zeitschrift für Rechtssoziologie seltener sind als im Law and Society Review oder in Law and Social Inquiry, wo man in jedem Jahrgang mehrfach fündig wird.
10 Vgl. den Abstractband »Der Kampf ums Recht, Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung« 2011, herausgegeben von Christian Boulanger/Michelle Cottier/Josef Estermann/Elisabeth Holzleithner/Reinhard Kreissl/Stefan Machura/Wolfgang Stangl/Michael Wrase.

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Bei Bertelsmann wie üblich nur die halbe Wahrheit

Am 8. Januar 2015 veröffentlichte die Bertelsmannstiftung eine neue Ausgabe ihres Religionsmonitors mit der Überschrift »Muslime in Deutschland mit Staat und Gesellschaft eng verbunden«. [1]Dazu gibt es im Internet eine »Sonderwertung 2015 (Zusammenfassung)« sowie zusätzliche Buchpublikationen (die ich nicht zur Hand und also nicht gelesen habe). Die Ergebnisse werden wie folgt zusammengefasst.

»Die hier lebenden Muslime orientieren sich in ihren Einstellungen und Lebensweisen stark an den Werten in der Bundesrepublik. Das allerdings nimmt die Mehrheitsbevölkerung kaum wahr. Sie steht dem Islam zunehmend ablehnend gegenüber. Für die hier lebenden Muslime bedeutet das Ausgrenzung und Belastung.«

Die Bertelsmann-Veröffentlichung fand in der Presse große Aufmerksamkeit und wurde durchgehend affirmativ wiedergegeben. [2]Z. B. … Continue reading

In den WZB Mitteilungen Nr. 132 vom Dezember 2013 berichtete Ruud Koopmans unter dem Titel »Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit im europäischen Vergleich« über die SCIICS-Studie (Six Country Immigrant Integration Comparative Survey) des WZB zu Einwanderern und Einheimischen in sechs europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden, für die 2008 9.000 Personen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund und eine einheimische Vergleichsgruppe befragt wurden. In der Zusammenfassung heißt es:

»Fast die Hälfte der in Europa lebenden Muslime findet, dass es nur eine gültige Auslegung des Koran gibt, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollen und dass religiöse Gesetze wichtiger sind als weltliche. Anhand dieser Indikatoren zeigt eine WZB-Studie in sechs Ländern, dass der religiöse Fundamentalismus unter Muslimen deutlich weiter verbreitet ist als unter Christen. Der Befund ist insofern besorgniserregend, als mit religiösem Fundamentalismus ein erhöhtes Maß an Fremdgruppenfeindlichkeit einhergeht.«

Irgendwie passt das nicht zusammen.

Die WZB-Studie hat damals keine vergleichbare Presseöffentlichkeit gefunden. Immerhin hat der Fernsehsender 3sat sich jetzt daran erinnert und am 9. Januar 2015 über die Veröffentlichung von Koopmans berichtet und dazu die von der Bertelsmann-Stiftung als Ansprechpartner genannte Soziologin Yasemin El-Menouar interviewt. Ihre Stellungnahme läuft darauf hinaus, man dürfe für die aktuellen Probleme nicht die Religion als solche, also nicht den Islam, verantwortlich machen. Da hatte sie noch nicht den Artikel von Samuel Schirmbeck »Die Linke im Muff von tausend Jahren« lesen können, der erst am 19. Januar in der FAZ erschien. [http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/linke-verweigern-diskussion-ueber-islam-und-gewalt-13377388.html]. Schirmbeck zitiert Soheib Bencheikh, damals Großmufti von Marseille, mit dem Satz:

»Die Angst vor dem Islam ist vollkommen berechtigt. Im Namen dieser Religion werden die schrecklichsten Verbrechen begangen. Im Namen dieser Religion geschieht derzeit eine ungeheure Barbarei. Wenn die Menschen Angst vor dem Islam haben, so ist das völlig normal. Auch wenn ich kein Muslim wäre, würde ich mich fragen, was das für eine Religion ist, auf die sich Verbrecher berufen.«

Schirmbeck spricht von einer »Schutzmauer zwischen Islam und Islamismus, die in jeder deutschen Talkshow zum Thema Islam immer wieder aufs Neue errichtet« werde. Auch die Bertelsmann-Stiftung gehört zu den Mauerbauern.

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Eine Konvergenztheorie des Wissens (4. Fortsetzung)

Gründe 66-80
Das Internet als Konvergenzmaschine

66. Das Internet steht hier als Kürzel für alle Möglichkeiten der elektronischen Dateinspeicherung und Verarbeitung. Für den Konvergenzeffekt wichtiger als das Jedermann-Internet sind vermutlich elektronische Zeitschriften und andere professionelle Datenbanken, die zwar in der Regel über das Internet erreicht werden, aber keinen freien Zugang anbieten.

67. »Medial gespeichertes und kommuniziertes Wissen gibt es in enormer Quantität, aber von sehr unterschiedlicher Qualität. Die Wissenschaften, aber auch Philosophie, Staat oder Religion haben sich über Jahrhunderte bemüht, Ordnung in das aufbewahrte Wissen zu bringen – mit unterschiedlichen Ansprüchen und unterschiedlichem Erfolg. Qualitätssicherung kann durch religiöse, politische oder rechtliche Entscheidung erfolgen. Das Gesetz ist im Prozeß der Rechtsprechung zu interpretieren, aber es darf von dieser nicht mißachtet werden. Das ist eine politische Entscheidung. Inkonsistenzen der Bibel sind als Emanationen des göttlichen Willens hinzunehmen. Das ist eine theologische Entscheidung. In den Wissenschaften gibt es andere entwickelte Mechanismen der Qualitätssicherung, etwa durch klare Abgrenzung des Geltungsbereichs aufgestellter Behauptungen, durch die Angabe intersubjektiv überprüfbarer Entscheidungsverfahren oder durch prüfbare Nachweise. Trotzdem ist auch die Wissenschaft nicht frei von Bedingtheiten und Befangenheiten. Kulturelle Traditionen und Rücksichten, der paradigmatische Kontext wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlichen Denkens oder die Fixierung zulässiger Methoden bilden neben den auch vorhandenen, autoritären Aspekten wissenschaftlicher Schulen Schranken für eine globale, zeitlich unbeschränkte Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens. Betrachten wir den Stand der Qualitätssicherung in den unterschiedlichen Medien, so können wir angesichts ihrer Resultate letztlich nur resignieren. Es mag in einzelnen wissenschaftlichen oder rechtlich abgesicherten Bereichen gelungen sein, Wissen nach Qualitätsstandards aufzubereiten, eine allgemein akzeptierte, interkulturelle Qualitätssicherung des Wissens gibt es jedoch nicht. Und selbst in den scheinbar gesicherten Arealen der Wissenschaft herrscht ein munterer Pluralismus, der neben Sympathie und wechselseitiger Hilfe auch Abneigung, Mißgunst und Boshaftigkeit kennt, also Emotionen, die der Qualitätssicherung gelegentlich im Wege stehen.« [1]Wolfgang Coy, turing@galaxis.comII, in: ders./Martin Warnke (Hg.), HyperKult, 2005, 15-32, S. 17f. Im Netz als Vortragsmanuskript von 1997 unter dem Titel »Überall & gleichzeitig. Informatik, … Continue reading

68. Konvergenz ist keine Garantie für Qualität, wird aber mangels Alternative zum Qualitätsersatz.

69. Das Internet erzeugt im Unterschied zu dem spontan, methodisch oder im Diskurs erreichten Konsens Konvergenz durch Akkumulierung.

70. Die traditionelle Konvergenzmaschine war die Synopse. Sie war und ist leistungsfähig, bleibt aber doch in der Regel das Werk einzelner Autoren und hängt insofern an deren Kompetenzen und Kapazitäten. Das Internet macht Konvergenzen und – weniger effektiv – Divergenzen ohne (viel) subjektive Wissensarbeit kenntlich.

71. Im »Web of Science« zeigen und verstärken sich die Konvergenzen durch Zitationsanalysen und andere bibliometrische Daten wie Impact Factor und Hirsch-Index.

72. »Hypertextsysteme erscheinen als eine Möglichkeit, intertextuelle Bezüge, die bis dahin latent waren, in manifeste Bezüge – in Links eben – zu überführen und damit Strukturen nachzuzeichnen, die quer zu den linearen Syntagmen die verschiedenen Texte immer schon verbinden.« [2]Hartmut Winkler, Docuverse, 1997, S. 43f. Diese Möglichkeit hängt nicht davon ab, ob es möglich sein wird Hypertext-Maschinen zu programmieren [3]Dazu kritisch Winkler a. a. O. S. 44ff.

73. Ein Schritt zur Konvergenz liegt in der Anonymisierung des Wissens, das heißt, in seiner Ablösung von Autoren und Autoritäten. [4]Zur Bedeutung der Autorschaft bei wissenschaftlichen Texten vgl. Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft, Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, 2009. Das Netz trägt mindestens auf dreierlei Weise zur Anonymisierung bei, nämlich erstens durch die Schwierigkeiten einer schulgerechten Zitation [5]Eine schulgerechte Zitation von wissenschaftlichen Texten hat wohl grundsätzlich zwei Ziele. Das erste und wichtigere ist die Vermeidung von und der Schutz vor Urheberrechtsverletzungen und … Continue reading, zweitens durch die Fülle der Texte, die den eigentlichen Urheber oft nicht mehr erkennen lässt [6]Das zeigt das Beispiel der Wissenskugel oben bei Nr. 20., und drittens natürlich durch unbekümmertes Copy and Paste.

74. Weiter in Richtung Konvergenz wirkt das zunehmende Desinteresse an der Genese von Wissen, das durch die Kombination von Informationsflut und Medienbeschleunigung getrieben wird. Damit gehen vielfältige Divergenzen etwa verschiedener Textversionen bestimmter Autoren, an denen sich die Wissenschaft abarbeitet, verloren.

75. »Na klar stimmt das, ich hab’s aus dem Netz«. [7]Überschrift von Stefan Weber in der FAZ Nr. 104 vom 6. 5. 2009 S. N3. Vgl. dazu den Eintrag vom 14. 4. 2010. Gemeint ist damit die Autorität des Netzes als Wissensquelle. So wie das gedruckte Buch hat auch das Netz per se Autorität, die auf alle darin auffindbaren Propositionen durchschlägt. Diese Autorität tritt aber mehr und mehr in den Hintergrund, erstens weil es inzwischen zum Allgemeinwissen gehört, dass im Internet viel Unsinn zu finden ist, und zweitens, weil das Internet zu fast jeder Frage nicht bloß eine, sondern mehrere Antworten herausgibt. Von den Antworten sind viele irrelevant, oft zeigt sich Übereinstimmung, nicht selten auch Divergenz.

76. Das Anwortspektrum des Internet ist von der Suchstrategie des Nutzers abhängig. Wie trennt man die Spreu vom Weizen? Von Pirolli und Card stammt die Theorie der optimalen Futter- bzw. Informationssuche (Information Foraging). [8]Peter Pirolli/Stuart K. Card, Information Foraging, Psychological Review 106, 1999, 643-675; Peter Pirolli, Information Foraging Theory. An Adaptive Interaction with Information, Oxford University … Continue reading Dazu bieten die Informationswissenschaften Theorien und empirische Forschung, die vielleicht weiter helfen. [9]Z. B. Yvonne Kammerer, Separating the Wheat from the Chaff: The Role of Evaluation Instructions. User Characteristics, and the Search Interface in Evaluating Information Quality During Web Search, … Continue reading

77. Die Technik der Internetsuchmaschinen führt zu einer Positivauslese, weil häufiger angeklickte Webseiten einen besseren Rang erhalten und so bei weiteren Suchvorgängen bevorzugt angeboten werden.

78. Technisch gehen in Datenbanken keine abweichenden Inhalte verloren. Grundsätzlich kann alles wiedergewonnen werden. Praktisch gibt es aber auch eine Negativauslese, mit der Folge, dass selten nachgefragte Webseiten bei den Suchmaschinen zurückgestellt werden, bis sie niemand mehr nachschlägt.

79. Medienumbrüche führen zu einer »natürlichen« Auslese. Gedruckt wurde nur noch, was relevant und zutreffend erschien. Auch die Dauerarchivierung von Büchern durch Digitalisierung bringt Verluste. Nach der Digitalisierung sieht es auf den ersten Blick anders aus. Aber die digitalen Medien veralten. Sie müssen im Abstand von etwa einem Jahrzehnt umkopiert werden, um lesbar zu bleiben. Dabei wird wiederum bewusst oder unbewusst eine Auswahl getroffen.

80. Inzwischen sind viele, wenn nicht die meisten wissenschaftlichen Bücher eingescannt und bei Google Books aufrufbar. Zwar gibt es immer nur Bruchstücke des Buches zu lesen. Die Suchfunktion durchsucht jedoch auch die nicht abrufbaren Seiten und zeigt die Stichwörter dann mit einem kurzen Kontext auf dem Bildschirm an. Sie findet oft mehr Stichwörter als im Stichwortverzeichnis angegeben. [10]Von dieser Möglichkeit habe ich in dem Eintrag vom 20. 11. 2014 (bei Fußnote 21 und 25) Gebrauch gemacht. Im Register des »Handbuchs Wissenssoziologie« kommt »Konvergenz« nicht vor. Google … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Wolfgang Coy, turing@galaxis.comII, in: ders./Martin Warnke (Hg.), HyperKult, 2005, 15-32, S. 17f. Im Netz als Vortragsmanuskript von 1997 unter dem Titel »Überall & gleichzeitig. Informatik, Digitale Medien und die Zukunft des Wissens«.
2 Hartmut Winkler, Docuverse, 1997, S. 43f.
3 Dazu kritisch Winkler a. a. O. S. 44ff.
4 Zur Bedeutung der Autorschaft bei wissenschaftlichen Texten vgl. Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft, Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, 2009.
5 Eine schulgerechte Zitation von wissenschaftlichen Texten hat wohl grundsätzlich zwei Ziele. Das erste und wichtigere ist die Vermeidung von und der Schutz vor Urheberrechtsverletzungen und Plagiaten. Das andere Ziel ist die Kenntlichmachung der Genealogie von Ideen. Darauf verweist der Quellenbegriff. Für beide Ziele ist es mehr oder weniger notwendig, dass die Zitation das Zitat reproduzierbar macht. Die Reproduzierbarkeit hängt allerdings nicht allein von der Zitation, sondern auch vom Medium ab. Texte in Büchern und Zeitschriften sind relativ stabil, Texte im Internet dagegen sind relativ änderbar und flüchtig. Dagegen soll angeblich die Angabe des Abrufdatums helfen, tut sie aber nicht. Technische Mittel wie die Internetdienste Webcite oder Internet Archive sind unpraktisch und auch nicht verlässlich. Das Medium regiert auch die äußere Gestalt der Zitation. Bücher und Zeitschriften sind mit den üblichen Zitierweisen dank des ausgefeilten Katalogsystems erstaunlich gut auffindbar. In der Regel wird bei der Zitation zuviel des Guten getan. Erscheinungsort und Verlag, sind, jedenfalls bei inländischen Büchern, überflüssig, ähnlich bei Zeitschriften die Angabe des Jahrgangs. Das beweist ihr weitgehendes Fehlen dieser Angaben in den Nachweisen der juristischen Literatur. Verlags- und Jahrgangsangaben sind daher vor allem ein Indiz für die Qualität der Quelle. Übervollständige Zitationen dienen vielen Autoren vielleicht auch dazu, die Sorgfalt ihrer Arbeitsweise zu demonstrieren. Sie belasten dagegen die Lesbarkeit und Ästhetik des Textes. Das gilt verstärkt für die URL von Internettexten. In Internettexten selbst werden die URL von Internetquellen das vielfach als Hyperlink versteckt. Bisher gibt es keine praktikable Möglichkeit, Hyperlinks unmittelbar aus gedruckten Quellen aufzurufen. Das Eintippen oder Einscannen der URL ist nicht sehr attraktiv und in der Regel auch überflüssig, weil die Quelle sich einfacher ergugeln lässt. Unter diesen Umständen wird die Kehrseite der Zitationspflicht immer wichtiger, die darin besteht, den Autor vor Plagiatsvorwürfen zu schützen.
6 Das zeigt das Beispiel der Wissenskugel oben bei Nr. 20.
7 Überschrift von Stefan Weber in der FAZ Nr. 104 vom 6. 5. 2009 S. N3. Vgl. dazu den Eintrag vom 14. 4. 2010.
8 Peter Pirolli/Stuart K. Card, Information Foraging, Psychological Review 106, 1999, 643-675; Peter Pirolli, Information Foraging Theory. An Adaptive Interaction with Information, Oxford University Press 2007.
9 Z. B. Yvonne Kammerer, Separating the Wheat from the Chaff: The Role of Evaluation Instructions. User Characteristics, and the Search Interface in Evaluating Information Quality During Web Search, 2011; dies./Peter Gerjets, Quellenbewertungen und Quellenverweise beim Lesen und Zusammenfassen wissenschaftsbezogener Informationen aus multiplen Webseiten, Unterrichtswissenschaft 42, 2014, 7-23.
10 Von dieser Möglichkeit habe ich in dem Eintrag vom 20. 11. 2014 (bei Fußnote 21 und 25) Gebrauch gemacht. Im Register des »Handbuchs Wissenssoziologie« kommt »Konvergenz« nicht vor. Google Books zeigt von diesem Band zwar keine Textseiten, gibt aber auf Nachfrage Auskunft, dass der Begriff auf sechs Seiten des Buches erscheint, zeigt allerdings nur drei von sechs Suchergebnissen (S. 553, 768 und 771.

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Travelling Models IX: Codes und Cödchen und ein Vorreiter des Neuen Realismus

Rottenburgs eigene Zutat zu dem mit der Wanderschaft von Token oder Modellen verbundenen Übersetzungs- bzw. Transformationsprozess ist der »Metacode als Sprache der Übersetzungsketten und Aushandlungszonen« (2002 S. 227, 232). Er soll die Differenz zwischen verschiedenen kulturellen Bezugsrahmen überbrücken, die eine direkte Verständigung oder Übersetzung erschwert, wenn nicht gar verhindert. [1]Diese Lehre hat Rottenburg zuerst im 6. Kapitel der Monographie von 2002, Weit hergeholte Fakten, S. 213 ff) entwickelt und danach mehrfach mit kleinen Variationen wiederholt: Code-Wechsel. Ein … Continue reading

Ein universeller Kontingenzperspektivismus bildet das Fundament der Kulturwissenschaften. Danach ist alles Wissen und damit alles Verstehen perspektivisch. Die Perspektive ist das Produkt der Kultur und deshalb so verschieden wie diese. Eine objektive Perspektive gibt es ebenso wenig wie die eine Wahrheit. Wir müssen mit multiplen Wirklichkeiten leben.

Zu jeder Kultur gehört ein eigener Code (cultural code), der als eine Art Grammatik die Dinge zusammenhält und eine Weltsicht vermittelt. So lautet das Glaubensbekenntnis der Kulturwissenschaften und damit wohl auch der meisten Ethnologen. Zum Code wird alles, was als selbstverständlich, natürlich und unvermeidlich erscheint, wiewohl es doch kontingent ist. Logozentrismus, Objektivismus, Phallogozentrimus, heterosexuelle Matrix, Ethnozentrismus, Eurozentrismus, (methodologischer) Etatismus und Nationalismus und die diversen binären Codes der sozialen Systeme – wir sind von Codes umzingelt.

An der Vorstellung eines kulturellen Codes festzuhalten wird schwierig, wenn man, wie die Kulturwissenschaften im Allgemeinen und wohl auch die Ethnologie, auf die Beschreibung oder auch nur Benennung ganzheitlicher Kulturen verzichtet. Heute sind alle Kulturen Hybride, die sich durch Anwachsung (accretion) laufend verändern (Rottenburg 1996 S. 213). Was anwächst, sind fremde Ideen und Artefakte. Sie diffundieren nicht einfach und werden auch nicht bloß als ein neuer Flicken eingesetzt, sondern sie durchlaufen einen Transformationsprozess. Für das, was dabei herauskommt, sind in der Literatur Kennzeichnung wie Hybridisierung, Kreolisierung, McDonaldisierung oder Glokalisierung geläufig. Solche Begriffe suggerieren eine falsche Einheitlichkeit der Kultur. Das Ergebnis bildet viel eher ein Flickwerk aus oft nur lose zusammenhängenden und manchmal gar widersprüchlich erscheinenden Teilen. Die Folge ist, dass es Kollektiven wie Individuen an einer konsolidierten Weltsicht fehlt. Es gibt nicht den einen kulturellen Code, sondern viele Codes und Cödchen.

»In order to bring an idea into a local cosmos from any part of the outside world, one has to use a cultural code. This presumes the existence of a deep structure which seems to be concealed within the motley and inconsistent patchwork of culture, like grammar in language. … However, and this is the decisive point here, it is not necessary to iinagine this cultural grammar as a uniform and genotypical code that determines the phenotypical surface. There is much to support the assumption that each culture has several mutually contradicting codes which are made available to individual people like alternative repertoires for thought. Each code has a different explanation of how the world is ordered, how you can recognize it, what you can do in it and what meaning results from it all, if any. Because of the contradictory nature of tbe various codes, it is not possible to completely deduce the patchwork of the cultural phenomena from them. The codes themselves are not unalterable either. As a result of these observations, we can only speak of a code – or rather the metacode – of a culture at all because the available choice of repertoires and their tangle of relations somehow differ from one culture to another.« [2]Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-2401996 S. 214.

Hier taucht zum ersten Mal der Begriff des Metacodes auf, wird aber noch nicht weiter expliziert.

Das Fehlen einer ganzheitlichen Weltsicht ändert nichts daran, dass bei der Entwicklungszusammenarbeit eben doch unterschiedliche Kulturen aufeinander stoßen oder jedenfalls »unter Bedingungen der Heterogenität« kooperiert werden muss, die »nicht nur im Bereich der Interessen [vorliegt], … sondern auch im Bereich des grundlegenden Orientierungswissens, das auf einer vorbewussten Ebene bereits Festlegungen über Semantik, Plausibilität, Evidenz, Kausalität, Relevanz, Legitimität und Ethos enthält« (2002 S. 232). Die konkreten Probleme, die daraus entstehen, hat Rottenburg in den »Weit hergeholten Fakten« von 2002 ausführlich beschrieben und analysiert. Dabei ging es um ein Projekt zur Reorganisation der Wasserversorgung in drei tansanischen Städten. Man kann diese Analyse als einen Betrag zur (rechtssoziologischen) Steuerungsdiskussion lesen, denn die Entwicklungszusammenarbeit liefere »ohne Zweifel den stärksten Beweis dafür …, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht nach Plan gesteuert werden kann.« (2002 S. 218). Das Steuerungszentrum – bei Rottenburg die Entwicklungsbank als »Rechen(schafts)zentrum« — ist auf »Information ohne Deformation zwecks Kontrolle auf Distanz« (S. 224) angewiesen, erhält seine Informationen aber erst aus zweiter, dritter oder gar vierter Hand, und jede »Übergabe« ist mit einer »Transformation bzw. Übersetzung« verbunden. Bei dem Entwicklungsprojekt, dass Rottenburg 2002 thematisiert, war ein zentrales Problem die »Listenautophagie«, das Phänomen nämlich, dass es nicht gelingen wollte, verlässliche Daten über die an die Wasserleitungen angeschlossenen Nutzer und ihren Verbrauch zu gewinnen. Hier macht anscheinend die fehlende Institutionalisierung bürokratischer Routinen, wie sie in Mitteleuropa anzutreffen ist, den Unterschied.

Anke Draude [3]Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 71-89. lobt Rottenburgs Buch wegen seiner Analyse der verschiedenen »Codes«, die in der Entwicklungszusammenarbeit verwendet werden, als ein gelungenes Beispiel kulturwissenschaftlich informierten Umgangs mit der »Kontingenzperspektive«. Das ist eine durchaus adäquate Würdigung. Ich habe jedoch – dieses Wortspiel sei erlaubt – eine andere Perspektive auf das Buch. Ich sehe darin und in den nachfolgenden Erläuterungen Rottenburgs zum »Metacode« Vorläufer [4]Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, haben es geschafft, den Neuen Realismus zu einem Medienhit zu machen. Sie haben sich vor die Presse gestellt und erklärt, im Jahr 2011, an einem Sommertag, um … Continue reading des Neuen Realismus. [5]Der »neue Realismus« verkündet den Ausstieg aus der Postmoderne. Das Medienereignis zeigt sich im Feuilleton (alles im Internet zugänglich): Die ZEIT hat 2014 eine Serie von sieben Artikeln zum … Continue reading

In den »Weit hergeholten Fakten« spielen die kulturellen Codes nur eine Nebenrolle. Vielmehr wird

»das Stück der Entwicklungszusammenarbeit mit zwei Skripten aufgeführt. Nach den Vorgaben des offiziellen Skriptes (unserem O-Skript) geht es darum, (neben Kapital und Technik) technisches Wissen zu übertragen, das soziokulturell neutral ist und per Training erworben werden kann (›Wie erneuere ich die Wicklung eines Elektromotors? ‹, ›Wie bediene ich die Tabellenkalkulation Excel?‹). Nach den Vorgaben des inoffiziellen Skriptes (unserem I-Skript) geht es hingegen darum, gerade solches Wissen zu übertragen, das die grundlegenden Formen menschlichen Zusammenlebens verändern soll (›Was darf marktwirtschaftlich geregelt werden?‹, ›Wie konstituiert sich politische Legitimität?‹, ›Wie ist der Loyalitätskonflikt zwischen Verwandtschaft und Gemeinwohl zu lösen?‹, ›Was heißt Verfahrensobjektivität?‹)). Bei der Aufführung des Stuckes kann man nun, je nach Situation, mal nach dem einen und mal nach dem anderen Skript spielen.« (2002 S. 2014 f.)

Nach dem O-Skript sind dem Empfänger Kredit, Technik und Know-how für eine »nachholende Modernisierung« zur Verfügung zu stellen. Das I-Skript, nach dem auch Lebensart herübergebracht werden soll, ist »inoffiziell«, weil es nicht dem »postkolonialen Emanzipationsnarrativ« (S. 215) entspricht, das einen souveränen Empfänger mit legitimem und relevantem lokalem Wissen postuliert, der nicht bevormundet werden darf. Alle Beteiligten verstehen und durchschauen das Rollenspiel mehr oder weniger gut mit der Folge, dass sie zur Wahrung ihrer Interessen strategisch zwischen den Skripten wechseln können. Auch die strategischen Absichten werden wechselseitig durchschaut mit der weiteren Folge, dass Misstrauen entsteht (S. 216). Es gibt allerdings noch ein drittes Spiel, in dem Vertrauen aufgebaut werden kann, nämlich das technische Spiel mit der »Leitdifferenz effektiv/ineffektiv« (S. 217). Es beruht

»auf dem naiven Realismus des Alltagsdenkens. Demnach können objektiv richtige Aussagen problemlos zwischen allen möglichen Bezugsrahmen zirkulieren, weil ihre Gültigkeit in der äußeren Realität gründet und folglich von allen Bezugsrahmen unabhängig ist. Das aber heißt, dass universell gültige Aussagen in einer universell gültigen Sprache formuliert sein müssen: in einem Metacode …« (S. 219f.)

Der »Alltagsrealismus« des Technischen Spiels liefert also den Metacode, der partiell eine Verständigung möglich macht.

»In den Aushandlungszonen der Entwicklungskooperation hat sich das Technische Spiel mit seinem Metacode als Handelssprache durchgesetzt.« (S. 234f; ähnlich 2003 167f)

Zur theoretischen Verankerung hebt Rottenburg das Verständigungsproblem auf eine epistemische Metaebene, ein geschickter Schachzug, um nach dem Verlust des Begriffs einheitlicher Kulturen dennoch mit großen Codes arbeiten zu können.

»Zum einen erweist sich das Dilemma der Differenz nur als weiterer Fall eines elementaren Paradoxes: Keine Weltbeschreibung – eben auch keine wissenschaftliche – kann außerhalb ihres Bezugsrahmens Gültigkeit beanspruchen, sofern der Beweis der Gültigkeit den Bezugsrahmen immer schon voraussetzt. Dessen ungeachtet operiert jede Weltbeschreibung mit Differenzen zu anderen Weltbeschreibungen, die sich gar nicht feststellen ließen, würde man nicht einen gemeinsamen, übergeordneten Bezugsrahmen unterstellen. Zum anderen fällt an dem Umgang mit dieser Paradoxie in der Entwicklungskooperation eine aufgeladene Sensitivität gegenüber den Differenzen der Bezugsrahmen auf.« (S. 236)

Dieser Ansatz wird 2003 näher ausgeführt. Rottenburg verzichtet auf den bei postmodernen Autoren verbreiteten (von mir so genannten) fundamentalistischen Antifundamentalismus. [6]Dessen Fehler besteht darin, epistemologische Positionen, die als solche ihre Berechtigung haben mögen, auf die operative Ebene des Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit übertragen. Im Übrigen ist … Continue reading Seine

»These besteht nun darin, dass hier insbesondere Letztbegründungen für die Wahrheit von Aussagen bzw. für die Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit eingeklammert und durch formale Evidenzverfahren ersetzt werden. … Zu diesem Zweck braucht man in erster Linie einen Metacode, der für sich in Anspruch nimmt, jenseits der diversen partikularen Kulturcodes zu stehen und unmittelbar mit der äußeren Wirklichkeit verbunden zu sein. Analog der Handelssprache der Märkte muss dieser Metacode alle unbedingt notwendigen Informationen übermitteln und alle überflüssigen und störenden Wissensbestände zum Verschwinden bringen.
Die pragmatische und provisorische Einigung auf den einen Metacode verschiebt die Aufmerksamkeit von der Frage der korrespondenztheoretischen Gültigkeit einzelner Aussagen, die sich gegenüber einer externen Realität zu bewähren hätten, auf die Frage der Anschlussfähigkeit der Aussagen untereinander. Das Problem externer Referenz wird somit zugunsten des Problems transversaler Referenz in den Hintergrund verschoben. In einer anderen Sprache formuliert: Das Verfahren bekommt Priorität gegenüber der Sache, um die es geht.« (S. 167f)

Ausgangspunkt ist die »Paradoxie« des Letzbegründungsproblems:

»Die Annahme der einen und erreichbaren Wirklichkeit geht mit der Annahme einher, dass es den einen Metacode geben muss, in dem sich die eine Wirklichkeit unverzerrt abbilden lässt. Die Annahme des Metacodes bedeutet wiederum, dass alle übrigen vorfindbaren Codes Kulturcodes sein müssen. Ohne die Unterscheidung zwischen dem einen universellen Metacode und den vielen partikularen Kulturcodes wäre die Annahme der einen Realität nicht aufrecht zu erhalten, denn unterschiedliche Kulturcodes entwerfen unterschiedliche Realitäten. Wer nun aber umgekehrt an der Behauptung multipler Realitäten festhält, ist selbst wieder darauf angewiesen, auf den einen Metacode zu rekurrieren, der die Behauptung der vielen Realitäten überhaupt erst ermöglicht. Damit ist die Aussage also wieder unterlaufen.« (2003 S. 154)

Der Metacode ist »eine Antwort auf die Frage, weshalb man die Annahme der einen Wirklichkeit nicht bestreiten kann, ohne selbst auf diese zurückzugreifen.« Der Ausweg ist ein Als-Ob-Realismus, wie ihn Hans Vaihinger vorgezeichnet hat. Wenn freilich jemand ohne viel Federlesens diese Position einnimmt [7]Wie wir in der Allgemeinen Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 139., bleibt das irrelevant. Um Beachtung zu finden, muss man die Lösung elaborieren und ihr durch Einbettung in einen Forschungszusammenhang Autorität verschaffen. Genau das ist Rottenburg gelungen. Seine Elaboration des wissenschaftstheoretischen Problems wird dadurch akzeptabel, dass sie sich gekonnt des kulturwissenschaftlichen Vokabulars bedient. Sie gewinnt an Überzeugungskraft, weil sie nicht auf der grünen Wiese der Theorie gepflückt, sondern in Auseinandersetzung mit einem praktischen Problem gewachsen ist.

In der Wissenschaft stehen sich prinzipiell der »Code der Repräsentation von Wirklichkeit« und der »Code der performativen Hervorbringung« (2003 S. 155.), also Realismus und Konstruktivismus gegenüber.

»Wenn zwei oder mehr Parteien um Problem- und Lösungsdefinitionen streiten, müssen sie sich auf Aussagen verständigen und beschränken, die sie gemeinsam überprüfen können.« [8]S. 155f.

Da es hoffnungslos wäre, zwischen Realismus und Konstruktivismus zu entscheiden, muss eine provisorische Lösung her, die das ausweglose Basisproblem umgeht.

»Das bedeutet, dass sie sich unter Vorbehalt auf Wahrheitskriterien und Realitätsdefinitionen einigen müssen, die sie für den Zweck und die Dauer ihrer Kooperation im Prinzip gelten lassen.« (2003 S. 156.)

Das ist dann der Metacode, der »der Kontroverse über die eine oder die vielen Wirklichkeiten aus dem Weg … gehen« soll (S. 165.). Dieser Metacode verwende einen Als-Ob-Realismus, der sich von dem »echten« Realismus dadurch unterscheidet, dass man immer wieder Anlass nehmen kann, davon abzurücken.

Auch ein bloß provisorischer Realismus kann der Differenz von Sein und Sollen nicht ganz ausweichen. Doch auch dafür gibt es eine undogmatische Lösung, indem die deskriptive und die normative Rede jeweils zum Sprachspiel erklärt werden. (2003 S. 171)

Rottenburg vergleicht den Metacode mit dem, was bei Gericht geschieht.

»Gerichtliche Aushandlungsprozesse lassen diesen allgemeinen Tatbestand besonders deutlich hervortreten: Man streitet vor Gericht zwar um die Wahrheit, doch bei der Austragung des Streits müssen vorher festgelegte Argumentationsmuster befolgt werden, um überhaupt geordnet streiten zu können. … Nicht der unmittelbare Wahrheitsgehalt steht im Vordergrund, sondern formale Kriterien der Gültigkeitsbestimmung von Beweismitteln.« (2003 S. 168; vgl. auch 2012 S. 497).

Wieweit der Vergleich von Metacode und prozessualer Wahrheit [9]Vgl. zu diesem Begriff die schon nicht mehr ganz neue Arbeit von Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Eine Untersuchung zur prozessualen Wahrheit unter besonderer Berücksichtigung der … Continue reading trägt, müsste allerdings noch näher untersucht werden. Zwei Unterschiede fallen sogleich auf. Erstens ist die prozessuale Wahrheit kraft Gesetzes institutionalisiert. Und zweitens teilen nicht nur die meisten Juristen, sondern auch andere Prozessbeteiligte als »perspektivische Objektivisten« die Vorstellung einer materiellen Wahrheit.

Analoges gilt auf der operativen Ebene der Entwicklungszusammenarbeit. Man braucht »einen Metacode, der für sich in Anspruch nimmt, jenseits der diversen partikularen Kulturcodes zu stehen« (S. 167). Der Metacode soll vorläufig und provisorisch die unterschiedlichen kulturellen Codes überbrücken, damit die Wanderschaft von Modellen überhaupt in Gang kommt (S. 214f).

Die Praktiker der Entwicklungshilfe entwickeln eine spezifische Form von Metacode, die sie befähigt, zwischen globalisiertem Wissen, das nach dem Code der Objektivität organisiert ist, und kulturell spezifischem Wissen hin und her zu springen (2012 S. 483). Sie können sich im Hinblick auf ein konkretes Projekt über Kriterien der Objektivität einigen, reflektieren aber gleichzeitig über ihr Tun und können in einem anderen Kontext ganz anders reden (2012 S. 490). Je nach der Aushandlungssituation denken und reden sie so oder so (2012 S. 401). Ähnlich trägt der Metacode im Entwicklungshilfediskurs der Rationalitätsforderung der Geberseite Rechnung, behält sich aber vor, über deren Relativität zu reflektieren.

Dieser Metacode ist also eine Art skeptischer oder vorläufiger Realismus.

Was bleibt an substantiellen kulturellen Codes, die man doch eigentlich in Entwicklungsländern erwartet? Über die » Bedingungen der Heterogenität«, über die vorbewussten »Festlegungen über Semantik, Plausibilität, Evidenz, Kausalität, Relevanz, Legitimität und Ethos« erfahren wir wenig. Rottenburg stimmt nicht in die postkoloniale Kritik »epistemischer Gewalt« [10]Vgl. Sebastian Garbe, Deskolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie, Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2013. ein, durch die nicht-westliche Wissensformen trivialisiert und für ungültig erklärt würden. Er widerspricht vielmehr der Auffassung, in der Entwicklungszusammenarbeit sei »der Code der Objektivität die Tarnmaske für die Hegemonie der ›Geber‹ … [die am Ende] dafür verantwortlich ist, dass lokale Gesichtspunkte nicht zum Zug kommen und die Sache deshalb scheitern muss« [11]2002 S. 213. Lokales Wissen und kultureller Code hindern die Empfänger anscheinend nicht, die westliche Weltsicht kognitiv zu rezipieren, damit strategisch umzugehen und so partikulare Interessen zu verfolgen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diese Lehre hat Rottenburg zuerst im 6. Kapitel der Monographie von 2002, Weit hergeholte Fakten, S. 213 ff) entwickelt und danach mehrfach mit kleinen Variationen wiederholt: Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174; Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, 2005, 259-274; On Juridico-Political Foundations of Meta-Codes, in: Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, 2012, 483-500. Das ganze Buch unter http://www.edition-open-access.de/studies/1/25/index.html. Die angeführten Arbeiten Rottenburgs werden im Text nur mit Jahr und Seite zitiert.
2 Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-2401996 S. 214.
3 Anke Draude, Der blinde Fleck der Entwicklungstheorie, 2007, S. 71-89.
4 Maurizio Ferraris und Markus Gabriel, haben es geschafft, den Neuen Realismus zu einem Medienhit zu machen. Sie haben sich vor die Presse gestellt und erklärt, im Jahr 2011, an einem Sommertag, um 13.30 Uhr in Turin sei es geschehen. Beim gemeinsamen Mahl sei ihnen die Eingebung gekommen, dass das Zeitalter eines neuen Realismus angebrochen sei. Ferraris veröffentlichte 2012 ein »Manifesto del nuovo realismo« und Gabriel landete 2013 den Bestseller »Warum es die Welt nicht gibt«. Beide zusammen veranstalteten 2013 in Bonn eine Tagung zum Thema, bei der es ihnen gelang, einige große Namen der zeitgenössischen Philosophie zu versammeln, allen voran Umberto Eco, Hilary Putnam und John Searle. Die drei genannten und die meisten anderen Teilnehmer hatten sich allerdings schon vor 2011 deutlich von der Postmoderne abgesetzt. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel meinte deshalb in der »ZEIT« (vom 3. Juli 2014), es sei schon öfter vorgekommen, dass eine Nachhut sich für die Vorhut hielt.
5 Der »neue Realismus« verkündet den Ausstieg aus der Postmoderne. Das Medienereignis zeigt sich im Feuilleton (alles im Internet zugänglich): Die ZEIT hat 2014 eine Serie von sieben Artikeln zum Thema veröffentlicht, den letzten von dem Philosophen Martin Seel unter dem Titel »Eine Nachhut möchte Vorhut sein«. Der Artikel enthält Links zu den sechs vorausgegangenen. Ferner: Cord Riechelmann, Und sie existiert doch!, FamS vom 26. 10. 2014 [nur im FAZ-Archiv]; Uwe Justus Wenzel, Maurizio Ferraris’ ›Manifest des neuen Realismus‹. Die Postmoderne und die Populisten, NZZ vom 14. 5. 2014; Daniel Boese, Hallo Welt, art. Das Kunstmagazin vom 8. 1. 2014.
Bücher zum »neuen Realismus«: Maurizio Ferraris, Manifesto del nuovo realismo, Rom 2012, deutsch als: Manifest des neuen Realismus, 2014; Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 2013; ders. (Hg.). Der neue Realismus, 2014. Ferner: Armen Avanessian, Realismus jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, 2013; Christoph Riedweg, Nach der Postmoderne, Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel 2014.
6 Dessen Fehler besteht darin, epistemologische Positionen, die als solche ihre Berechtigung haben mögen, auf die operative Ebene des Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit übertragen. Im Übrigen ist an Karl R. Poppers »Myth of the Framework« zu erinnern. Der fundamentalistische Antifundamentalismus führt in ein epistemisches Gefängnis. Dessen Mauern sind – nach Ansicht Poppers – (Karl R. Popper, The Myth of the Framework, in: Eugene Freeman (Hg.), The Abdication of Philosophy: Philosophy and the Public Good; Essays in Honor of Paul Arthur Schilpp, La Salle, Ill. 1976, S. 23-48.) eher aus Papier.
7 Wie wir in der Allgemeinen Rechtslehre, 3. Aufl. 2007, S. 139.
8 S. 155f.
9 Vgl. zu diesem Begriff die schon nicht mehr ganz neue Arbeit von Frauke Stamp, Die Wahrheit im Strafverfahren, Eine Untersuchung zur prozessualen Wahrheit unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive des erkennenden Gerichts in der Hauptverhandlung, 1998.
10 Vgl. Sebastian Garbe, Deskolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie, Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2013.
11 2002 S. 213.

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Die Einfalt der Nonkonformisten

Die Einfalt der Vielfalt war schon wiederholt Thema in diesem Blog. [1]Vgl. insbesondere den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt« sowie den Eintrag vom 2. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität«, die beide … Continue reading Über die Einfalt der Hipster als Spezies der Nonkonformisten schreibt Jonathan Touboul, The Hipster Effect: When Anticonformists All Look the Same. Er zeigt, wie schwer es ist, sich von einem Mainstream abzusetzen, ohne wiederum einem Trend aufzusitzen. Dabei soll es sich um ein Zeitproblem bei der Informationsverarbeitung, das heißt bei der Beobachtung von Trends, handeln, das zu Synchroniserungseffekten und unerwarteten Phasenübergängen führt. Ich will gerne gestehen, dass ich die mathematische Begründung nicht wirklich verstanden habe. Aber die Arbeit steht frei im Internet, so dass jeder nachlesen kann. Hier die Zusammenfassung:

In such different domains as statistical physics and spin glasses, neurosciences, social science, economics and finance, large ensemble of interacting individuals taking their decisions either in accordance (mainstream) or against (hipsters) the majority are ubiquitous. Yet, trying hard to be different often ends up in hipsters consistently taking the same decisions, in other words all looking alike. We resolve this apparent paradox studying a canonical model of statistical physics, enriched by incorporating the delays necessary for information to be communicated. We show a generic phase transition in the system: when hipsters are too slow in detecting the trends, they will keep making the same choices and therefore remain correlated as time goes by, while their trend evolves in time as a periodic function. This is true as long as the majority of the population is made of hipsters. Otherwise, hipsters will be, again, largely aligned, towards a constant direction which is imposed by the mainstream choices. Beyond the choice of the best suit to wear this winter, this study may have important implications in understanding dynamics of inhibitory networks of the brain or investment strategies finance, or the understanding of emergent dynamics in social science, domains in which delays of communication and the geometry of the systems are prominent.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. insbesondere den Eintrag vom 1. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt« sowie den Eintrag vom 2. 10. 2012 »Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität«, die beide auf den Titel des Soziologentags 2012 in Bochum anspielen.

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Travelling Models VII: »No transportation without transformation«

Der kulturelle Code der Ethnologie ist ein ausgeprägter Konstruktivismus, und den verfolgt auch Richard Rottenburg. [1]Hier vorab die Titel, auf die ich im Text nur dem Erscheinungsjahr Bezug nehme: Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), … Continue reading Er wendet sich gegen die klassische anthropologische Diffusionstheorie, die annimmt, dass Ideen und Artefakte sich aus eigener Kraft ausbreiten, bezieht sich dazu allerdings nur auf Friedrich Ratzel (1844-1904), der bei der Ethnologie in Ungnade gefallen ist, weil seine Vorstellungen über die Innovationsfähigkeit von Gesellschaften deutlich eurozentrisch, wenn nicht gar rassistisch waren. Die neuere Diffusionstheorie a là Rogers wird dagegen ignoriert. Aus ethnologischer Sicht gäbe es wohl Gründe, auch diese Version zurückzuweisen. Doch sie ändern nichts daran, dass sich die »Travelling Models« als ein Exemplar qualitativer Diffusionsforschung vereinnahmen lassen. Umso wichtiger wäre es, die soziologische Diffusionsforschung als Kontrastfolie zu nutzen.

Das gilt um so mehr, als Rottenburg der Liste diffusionsförderlicher Attribute von Rogers ein neues hinzufügt, nämlich die Annahme, dass von den unzählig vorhandenen Ideen oder Modellen nur solche zur Übernahme ausgewählt werden, die über eine gewisse »Aura« verfügen. Was die Aura betrifft, so habe ich die nähere Begründung an den in »Travelling Models« [2]»Travelling Models in African Conflict Management, 2014. S. 17 angegebenen Stellen nicht gefunden. Nach Fn. 4 auf S. 18 handelt es sich um eine Anlehnung an Walter Benjamin:

»Following Walter Benjamin, Richard Rottenburg defines aura as the persuasive character, the vibe of a token (with Benjamin it was the vibe of a piece of art) that demonstrates originality, authenticity, uniqueness, inimitability – in short, it arrives as ‘the real thing’ and thus as distinct from a ‘poor imitation’. He maintains that aura often becomes an invisible aspect of power when it persuades or misguides others to do what they would not have done otherwise.«

Die Originalfundstelle ist nicht benannt, ohne nähere Erläuterung lässt sich damit aber wenig anfangen, und in den nachfolgenden Kapiteln von »Travelling Models« spielt der Gesichtspunkt auch keine Rolle.

Benjamins »Aura« hat längst selbst eine Aura, von der vermutlich jeder, der sie anführt, profitiert. Und der Begriff bleibt, auch wenn man noch einmal Benjamins Text nachliest, so offen, dass sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen kann. Trotzdem scheint der Gesichtspunkt triftig zu sein. Das kann ich aber nur anekdotenhaft versichern. Ein Beispiel ist die verrückte Ice-Bucket-Challenge, die gerade über die Kontinente wanderte. Ein anderes eine Äußerung des Stuttgarter Oberbürgermeisters Kuhn im Hinblick auf das dortige Energiesparhaus B10: Fakten allein reichen nicht. »Wir brauchen ein Faszinosum«. [3]Nach FAZ Nr. 164 vom 16. 7. 2014 S. 11. Das Problem dabei ist, dass die Aura letztlich doch kein objektives Attribut der Sache ist, sondern ihr von der Umgebung beigelegt wird. Diese Attribuierung ist anscheinend schon da, bevor Übernehmer ins Spiel kommen, und die Übernehmer besitzen ihrerseits dafür ein Gespür.

Wichtiger ist aber, wie der Ethnologe den Gesichtspunkt anspricht, den Rogers und Greenhalgh als re-invention behandeln [4]Dazu im Eintrag vom 25. 9. 2014: Travelling Models IV: Noch einmal: Diffusion von Recht. , nämlich als Übersetzung (translation). An einer Stelle [5]Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, Malmö 2005, 259-274, S. 267. zitiert Rottenburg kurz Benjamins Theorie der Übersetzung [6]Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Illuminationen, 1977, 50–62. Bei Benjamin geht es allerdings um Textübersetzung und hier wiederum um die Übersetzung von Dichtung. Dass dabei »keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde«, wer wollte das bezweifeln. Auch Juristen erleben in Zeiten der Internationalisierung immer wieder die Schwierigkeiten der Übersetzung. Dabei wird freilich auch oft übertrieben. [7]Jürgen Gerhards, Der Kult der Minderheitensprachen, Leviathan 2011, 165-186, S. 178.

Die Probleme der Textübersetzung legen es nahe, den Übersetzungsbegriff als Metapher für die Übertragung von Objekten aus einer Sinnsphäre in eine andere zu verwenden, um auszudrücken, dass solche Übertragung das Objekt der Übersetzung nicht unverändert lässt. Den metaphorischen Gehalt schöpft der Begriff der kulturellen Übersetzung aus, der wohl 1994 von Homi K. Bhabha in die Welt gesetzt wurde. Rottenburgs Texte, die ich hier anführe, wurden noch vor der Ausrufung des translational turn durch Doris Bachmann-Medick (1. Aufl. 2006) geschrieben. Seither ist die »Kulturelle Übersetzung« ihrerseits zu einem travelling model geworden. [8]Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie, Wien, 2012, 29-42. … Continue reading Die damit verbundene Grundeinstellung, dass jede Kommunikation interpretierbar sei, war jedoch schon zuvor über alle Geistes- und Sozialwissenschaften verbreitet. [9]Vgl. den Eintrag vom 29. 7. 2011 »Zur Kritik am Container- oder Transportmodell der Kommunikation«.

Die Übersetzungsmetapher macht Sinn, wenn man unterschiedliche kulturelle Kontexte mit Sprachen vergleicht. Sehr weit trägt sie nicht. Man kann davon ausgehen, dass adäquate Übersetzungen von einer Sprache in die andere zwar oft mühsam, aber grundsätzlich möglich sind. Aber Ethnologen interessiert weniger die adäquate Übersetzung, als vielmehr der kreative Umgang mit dem fremden Material. Deshalb wäre es sinnvoll, zwischen Übersetzung und Transformation zu unterscheiden. Das in der Diffusionsforschung verwendete Konzept der re-invention ist davon gar nicht so weit entfernt.

Wenn man bei Rottenburg liest:»

»Translation aims at the appropriation of an external thing, which is then given another function, an altered meaning and often a new shape in the new context.« (1996 S. 214)

ist der erste Eindruck, dass damit das (heute) als kulturelle Übersetzung geläufige Phänomen gemeint sei. Dazu passt, wenn es drei Sätze weiter heißt (und dort auch transmission und transformation einander gegenüber gestellt werden):

»In the case of the movement of ideas and artefacts through time and space, each actor therefore takes the ›thing‹ into his or her own hands and gives it the shape and direction that best corresponds to his/her context and intentions. In this way, we move from the trans-mission of a thing that remains the same to the trans-formation of the thing.«

Doch der Eindruck täuscht, denn ich habe drei Sätze übersprungen, die in eine andere Richtung führen, nämlich zu der »Soziologie der Übersetzung« von Michel Callon und Bruno Latour:

»The constructivistic ›sociology of translation‹ as advocated by Michel Callon and Bruno Latour (1981; Latour, 1986) offers an image which can help us to understand appropriation and contextualization processes. While the classical anthropological diffusion model (Ratzel, 1896) assumes that ideas and artefacts move through social space and across borders under their own steam, it is more accurate to imagine this process as a kind of ball game. Only if the actors catch the ball and pass it on, i. e. if they collaborate, can the game continue.« (Rottenburg 1996 S. 214f)

In der »Soziologie der Übersetzung« steckt die ganze Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Die hat zwar kaum in der Soziologie selbst, umso mehr aber in den sozialwissenschaftlichen Kranzfächern (Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft, Pädagogik und nicht zuletzt Ethnologie) Anhänger gefunden. Mich interessiert sie gerade nur soweit, wie erforderlich, um die Texte der Hallenser Ethnologen zu entziffern. Auf dem Wege dahin gilt es, einige eher schräge Begriffe zu lernen wie token, Mikro- und Makroakteure, black-boxes und obligatorische Passagepunkte. Die maßgeblichen Texte von Callon und Latour, auf die ich mich dazu beziehe, sind in deutscher Übersetzung versammelt in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006. [10]Vgl. auch die Webseite von Bruno Latour mit Texten zum Download.

Latour führt die Übersetzungstheorie als Kontrast zu einem Diffusionsmodell ein. [11]Bruno Latour, Die Macht der Assoziation, Original: The Powers of Association, 1986, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 175-212, S. 197f. Dazu bekommt das Objekt der Diffusion einen neuen Namen, es wird zum token. Im Einleitungskapitel zum Buch »Travelling Models« (S. 3) heißt es vom Token:

»In this view, before something becomes a model worth imitating, it is an element of an ontological, epistemic, normative or material order. Only by being distinguished and disconnected from its setting this element becomes a token of this setting. A token is a thing that works like an established symbol of something, but also as replacement and evidence of thc order for which it stands.«

Und in der Fußnote dazu wird erläutert:

»A token can, for instance, be a device such as a coin bought for use with machines or for other payments where money is not handled. See also Latour (1986) for a similar use of ›token‹.«

Ungeachtet solchen Definitionsaufwands steht der Token im nachfolgenden Text aber doch nur für das travelling model, also – wie bei Latour – für den Gegenstand der Diffusion.

Latours Diffusionsmodell erklärt die Verbreitung eines Tokens aus einer ihm anfänglich innewohnenden Kraft, »die der Trägheit in der Physik ähnelt« (Die Macht der Assoziation, S. 196). »Dampfmaschinen, Elektrizität oder Computer sind solchermaßen mit Trägheit ausgestattet, dass sie außer durch die reaktionärsten Interessengruppen und Nationen kaum noch gestoppt werden können« (S. 197f). Schwierig wird das Verständnis dieses Diffusionsmodells – und anschließend der Theorie der Übersetzung – daraus, dass die klassischen Objekte der Diffusion wie Dampfmaschine usw. nur am Rande interessieren, denn im Zentrum stehen nicht »Artefakte«, sondern »Anordnungen« und »Ansprüche«, die mit Macht verbreitet werden. Das liegt daran, dass die ANT auch nicht menschliche Objekte als Akteure behandelt.

Latour erklärt den Unterschied zwischen der Sichtweise der herkömmlichen Soziologie (»soziologische Version«) und seiner eigenen Theorie (»materialistische Version«) am Beispiel einer Schusswaffe. Nach der soziologischen Version gilt: »Menschen töten Menschen, nicht Schusswaffen«, und Latour erläutert:

»Die Schusswaffe ist ein Werkzeug, ein Medium, ein neutraler Träger eines Willens. Wenn der Waffenbesitzer ein guter Mann ist, wird die Schusswaffe weise eingesetzt und nur gerecht töten. Wenn er jedoch ein Verbrecher oder Verrückter ist, dann wird ohne eine Veränderung in der Waffe selbst ein ohnehin ausgeführter Mord (einfach) effizienter ausgeführt. … die soziologische Version [macht] die Waffe zu einem neutralen Willensträger, der der Handlung nichts hinzufügt, der die Rolle eines elektrischen Leiters spielt, durch den Gutes und Böses mühelos Fließen.« [12]Über technische Vermittlung in: Belliger/ J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.

Die »materialistische Version« sagt dagegen: »Schusswaffen töten Leute«, und wiederum erläutert Latour:

»Ein unschuldiger Bürger wird ein Krimineller kraft der Waffe in seiner Hand. Die Waffe befähigt natürlich, aber sie instruiert auch, lenkt, zieht sogar am Abzug – und wer hätte nicht, mit einem Messer in der Hand, zu einer gewissen Zeit jemanden oder etwas erstechen wollen? Jedes Artefakt hat sein Skript, seinen Aufforderungscharakter. sein Potenzial, Vorbeikommende zu packen und sie dazu zu zwingen, Rollen in seiner Erzählung zu spielen.« [13]Ebd.

Was die Waffe dem Schuss hinzufügt, ist »Übersetzung« in der Form der »Vermittlung«.

»Der Mythos des neutralen Werkzeugs unter vollständiger menschlicher Kontrolle und der Mythos der autonomen Bestimmung, die kein Mensch beherrschen kann, sind symmetrisch. Aber eine dritte Möglichkeit liegt meistens näher: die Schaffung eines neuen Ziels, das keinem der Handlungsprogramme der Agenten entspricht. (Man hatte nur verletzen wollen, jedoch jetzt – mit einer Schusswaffe in der Hand – will man töten.) Ich nenne diese Unsicherheit über Ziele Übersetzung. … ›Übersetzung‹ bedeutet nicht eine Verschiebung von einem Vokabular in ein anderes. z.B. von einem französischen in ein englisches Wort, als ob die beiden Sprachen unabhängig existierten. Wie Michel Serres verwende ich ›Ubersetzung‹, um Verschiebung, Driften, Erfindung. Vermittlung, die Erschaffung eines Bindeglieds, das zuvor nicht existiert hatte und das zu einem gewissen Grad zwei Elemente oder Agenten modifiziert, auszudrücken.« ( Ebd. S. 487.)

Damit ist auch schon der Übersetzungsbegriff eingeführt, der bei Callon und Latour nicht (nur) für Sinnübertragung, sondern für die Übertragung und Konversion von Kräften steht. Als lexikalisierte Metapher bedeutet »Übersetzung« auch »Getriebe«.  Im Französischen steht traduction für die sprachliche Übersetzung; translation bedeutet eher körperliche Überführung (Fahrbetrieb) und transmission vor allem Nachrichten- und Kraftübertragung. Callon und Latour haben ihren Aufsatz auf Englisch geschrieben. Im Englischen liegen translation und transmissison = Getriebe weiter auseinander. Das Nebeneinander dieser Wörter in den verschiedenen Sprachen verweist nicht nur auf Probleme der Sprachübersetzung, sondern deutet darauf hin, dass der metaphorische Gebrauch der Wörter problematisch ist. Indem Callon und Latour die Übersetzungsmetapher nicht für eine produktive Sinnübernahme (= kulturelle Übersetzung) nutzen, sondern für die Übertragung und Bündelung von Kräften, wird sie verwirrend statt hilfreich. Auch mit Hilfe der Erläuterungen von Belliger/Krieger [14]Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.), ANThology, S. 13-50, S. 37ff. habe ich nur verstanden, das »Übersetzung« etwas Diffuses ist. Die gezielte Verwendung nicht anschlussfähiger Begriffe durch Callon und Latour und ihre Mitstreiter ist eine wohl beabsichtigte, aber deshalb noch lange nicht akzeptable Irreführung.

Auch Rottenburg macht von der Zweitbedeutung von Übersetzung als Getriebe Gebrauch, wenn er (2002 S. 15) Flaschenzug und Fahrradkette bemüht. Aus der Fahrradkette wird später eine Übersetzungkette (2002, 224ff). Sie steht für die Aufbereitung und Weitergabe von Primärdaten des Projektträgers (Wasserwerke). Bis die Daten am Ende das »Rechenschaftszentrum« (die Entwicklungsbank) erreichen, gehen sie durch mehrere Hände mit der Folge, dass sie nicht ohne Deformation ankommmen.

Callon spricht von einem »neuen Ansatz zur Untersuchung von Machtverhältnissen: d[er] Soziologie der Übersetzung«. [15]Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, Original: L’Année sociologique 1986, in: Andréa Belliger/David J. … Continue reading Dabei tritt an Stelle des (rätselhaften) anfänglichen Impulses, der kraft Trägheit fortwirkt, »die Initialkraft jener, die Macht haben« (Latour S. 198).

»Übersetzung umfasst alle Verhandlungen, Intrigen, Kalkulationen. Überredungs- und Gewaltakte, dank derer ein Akteur oder eine Macht die Autorität, für einen anderen Akteur oder eine andere Macht zu sprechen oder zu handeln, an sich nimmt oder deren Übertragung auf sich veranlasst ›Unsere Interessen sind dieselben‹, ›Tu, was ich will‹, ›Du kannst ohne mich keinen Erfolg haben‹ – immer wenn ein Akteur von ›uns‹ spricht, übersetzt er oder sie andere Akteure in einen einzigen Willen, dessen Geist und Sprecher/-in er oder sie wird. Er oder sie beginnt, für mehrere zu handeln – nicht nur für eine/-n -, wird damit stärker, wächst.« (Callon/Latour S. 76f)

Wer da wächst und stärker wird, ist ein »Makroakteur«, der sich allerdings nicht durch irgendwelche äußeren, physischen Eigenschaften von normalen »Mikroakteuren« unterscheidet, sondern nur dadurch, dass er etwas auf sich »übersetzen« kann. Der Witz dieser Machttheorie liegt wohl darin, dass wir uns Macht nicht als Vorrat vorstellen sollen, sondern als Phänomen, das erst durch eine Kette von Übersetzungshandlungen an einem Token zustande kommt. Macht hat man nicht, sondern sie wird gemacht. Sie zeigt sich unter anderem in »obligatorischen Passagepunkten« (OPP).

Die »obligatorischen Passagepunkte« sind wohl eine Erfindung von Michel Callon. Ich zitiere aus der Zusammenfassung seines Artikels »Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung« (dort S. 135; vgl. auch S. 147, 149f):

»Der Artikel umreißt einen neuen Ansatz zur Untersuchung von Machtverhältnissen: die Soziologie der Übersetzung. Ausgehend [u. a. ] von der Vermeidung aller a-priori-Unterscheidungen zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen wird eine wissenschaftliche und ökonomische Kontroverse über die Gründe für den Rückgang der Population von Kammmuscheln in der St. Brieuc-Bucht und die Versuche dreier Meeresbiologen, für diese Population eine Regenerationsstrategie zu entwickeln, beschrieben. In den Versuchen dieser Forscher werden im Übersetzungsprozess vier ›Momente‹ unterschieden, die dazu dienen, sich selbst und ihre Definition der Situation auf andere zu übertragen: … Problematisierung: die Forscher versuchten in diesem Drama für andere Akteure unentbehrlich zu werden, indem sie die Natur und deren Probleme definierten und davon ausgingen, dass diese gelöst würden, wenn die Akteure durch den obligatorischen Passagepunkt (OPP) des Forschungsprogramms der Wissenschaftler hindurchgingen ….«

Ein »OPP« liegt also vor, wenn es Beteiligten gelingt, eine soziale Situation so zu definieren, dass bestimmte Eckpunkte, auf die sie Einfluss haben, von anderen als Voraussetzung weiteren gemeinsamen Handelns anerkannt werden. Im Beispiel Callons war es die Anerkennung eines Forschungsbedarfs. Aber auch der automatische Türschließer, der von jedem, der hindurch will, eine Kraftanstrenung verlangt, wird zum OPP stilisiert [16]Jim Johnson, Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers, in: Belliger/Krieger, ANThologie, 237-258, S. 244. An anderer Stelle erfahren wir, dass ein OPP zwei Netzwerke verbindet. [17]John Law/Michel Callon. Leben und Sterben eines Flugzeugs, in: Belliger/Krieger, ANThologie, S. 475447-482, S. 473. Man denkt sogleich an zwei Begriffe aus der Netzwerktheorie, nämlich an den Hub, einen zentralen Knoten, der für viele Knoten die einzige oder jedenfalls die wichtigste Verbindung zu anderen bildet. Die Knoten, die für ihre Verbindungen auf den Hub angewiesen sind, bilden dann ein Cluster, und sodann an die Brücke, welche die von Roland S. Burt [18]Von den vielen einschlägigen Publikationen Burts sei hier nur ein im Internet zugänglicher Artikel aus dem American Journal of Sociology, 2004, angeführt: Structural Holes and Good Ideas. so genannten strukturellen Löcher schließt, indem sie den Sprung von Netzwerk zu Netzwerk, der anscheinend weit entfernte Knoten leicht erreichbar macht. Aber der Netzwerkbegriff ist in diesem Zusammenhang eher irreführend. Es geht um Situationsbeschreibungen, in denen Menschen und Objekte interagieren, indem sie sich wechselseitig Eigenschaften und Handlungsmöglichkeiten zuschreiben. Auch Latour selbst hat Probleme mit dem Netzwerkbegriff:

»Nun, da das World Wide Web existiert, glaubt jeder zu verstehen, was ein Netzwerk ist. Wahrend es vor 20 Jahren noch etwas Frische in dem Begriff als kritischem Werkzeug gegenüber so unterschiedlichen Ideen wie Institution, Gesellschaft. Nationalstaat und – allgemeiner – jeder flachen Oberfläche gab, hat er jegliche Schärfe verloren und ist nun der Lieblingsbegriff all jener, die die Modernisierung modernisieren wollen. ›Nieder mit rigiden Institutionen,‹ sagen sie alle, ›lang leben flexible Netzwerke‹.« (Latour, Über den Rückruf der ANT, in Belliger/Krieger, 561-572, S. 561)

Dem wird man gerne zustimmen. Die Fortsetzung des Zitats zeigt indessen, dass Latour nicht zwischen technischen Netzen, semantischen Nezten und sozialen Netzwerken unterscheidet. Das ist zwar in der ANT angelegt, wird dadurch aber nicht besser:

»Welcher Unterschied besteht zwischen dem älteren und den» neuen Gebrauch? Früher bedeutete das Wort |Netzwerk noch eindeutig, wie Deleuzes und Guartaris Begriff ›Rhizom‹, eine Reihe von Transformationen – Über Setzungen, Umformungen –. die nicht von irgendeinem traditionellen Begriff der Sozialtheorie erfasst werden konnten. Mit der neuen Popularisierung des Wortes Netzwerk bedeutet es nun Transport ohne Deformation, einen unmittelbaren und unvermittelten Zugang zu jeder Einzelinformation. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir meinten. Was ich ›Doppelklick-Information‹ nennen möchte, hat das letzte bisschen der kritischen Schärfe aus dem Begriff ›Netzwerk‹ genommen. Ich glaube nicht, dass wir ihn noch verwenden sollten, zumindest nicht, um die Art von Transformationen und Ubersetzungen zu bezeichnen, die wir erforschen wollen.« (Latour, ebd. S. 561f)

In der Tat, auch mit ihrem Netzwerkbegriff führt die ANTin die Irre. Für mich jedenfalls ist die ANT kein OPP, sondern ein ASOG (Ansammlung soziologischer Gartenzwerge). Diese natürlich zu grobe Zurückweisung richtet sich nicht nur gegen die provozierenden Irreführungen, sondern stützt sich auch auf eine weithin geteilte Kritik. Zwar lenkt die ANT die Aufmerksamkeit auf ein Defizit der Soziologie im Umgang mit der Technik. Aber die ANT selbst befasst sich mit Gartenzwergen in der Gestalt von Türschließern, Bodenschwellen oder Schusswaffen. Rottenburgs Aufsatz, der OPP im Titel trägt, ist trotzdem gelungen.

»Die Krönung des Übersetzungsprozesses besteht in der Regel darin, den Makroakteur formal als OPP zu installieren. Es kommt etwa zur Übernahme eines einflußreichen Postens wie desjenigen eines Institutsdirektors sowie zur Besetzung von Gutachterpositionen und zur Mitarbeit in Berufungskommissionen.« [19]Rottenburg, OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, 1995 S. 93f.

Diese und andere Sachaussagen [20]Z. B. Rottenburg 2002 S. 41 u. 223. wären auch ohne die von der ANT übernommene Dekoration triftig. In den »Travelling Models« von 2014 begegnet (auf S. 14) nur noch eine verstümmelte Version der OPP in der Gestalt von Mediatoren.

Zurück zu Callon und Latour, um noch einen anderen ihrer Gartenzwerge zu begrüßen. Es sind die »Black Boxes«, auf die sich die »Makroakteure« stützen. Rottenburg hat sie in seinem großen Park von 2002 – wenn ich richtig gezählt habe [21]Wie wunderbar, dass das Zählen leicht fällt, da Google Books, auch wenn man dort nicht das ganze Buch lesen kann, zuverlässig alle Fundstellen auflistet, die man dann nur noch nachzuschlagen … Continue reading – immerhin fünf Mal aufgestellt (S. 47, 48, 88, 89, 93).

»Ein Akteur wächst mit der Anzahl von Beziehungen, die er oder sie in so genannten ›Black Boxes‹ ablegen kann. Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kann – Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte –, desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann. … Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich bei Makro-Akteuren um Mikro-Akteure handelt, die über vielen (undichten) Black Boxes platziert sind. Sie sind weder größer noch komplexer als Mikro-Akteure; im Gegenteil verfügen sie über dieselbe Größe und sind tatsächlich einfacher als Mikro-Akteure …« (Callon/Latour S. 83f)

Eine Black Box ist ein Komplex, der mindestens vorläufig nicht mehr in Frage gestellt und aufgedröselt wird. Latour demonstriert das an einem technischen Beispiel:

»Man nehme z.B. einen Tageslichtprojektor. Er ist ein Punkt in einer Handlungsfolge (sagen wir einmal in einer Vorlesung), eine ruhige und stumme Vermittlungsinstanz, die für selbstverständlich gehalten und vollkommen von ihrer Funktion bestimmt wird. Nun nehmen wir an, dass der Projektor nicht mehr funktioniert. Die Krise erinnert uns an die Existenz des Projektors. Wenn die Monteure ihn umringen, diese Linse justieren, jene Birne befestigen, werden wir uns bewusst, dass der Projektor aus mehreren Teilen gemacht ist, jedes mit seiner Rolle, semer Funktion und seinen rrlativ unabhängigen Zielen. Während der Projektor vor einem Augenblick kaum existiert hatte, besitzen nun sogar seine Teile individuelle Existenz, jedes seine eigene ›Black Box‹. In einem Moment wuchs unser ›Projektor‹ von einer Komposition aus null Teilen zu einer aus einem bis zu vielen Einzelteilen.« [22]Bruno Latour, Über technische Vermittlung, in: Belliger/(Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 491.

Die »Travelling Models« von 2014 zollen den Black Boxes nur in der Einleitung (S. 4 u. 13) Reverenz und verwenden den Ausdruck dort anders als Callon und Latour. Sie wollen keine Black Boxes identifizieren, in den Akteure mögliche Problempunkte verstecken, sondern die den Forschern unbekannte »Black Box« des Wanderungsprozesses öffnen.

Man findet bei Latour auch Formulierungen, die zu dem Konzept der kulturellen Übersetzung passen. Nach dem

»Modell der Übersetzung … liegt die Verbreitung aller Elemente in Zeit und Raum (Ansprüche, Anordnungen. Artefakte, Güter) in den Händen von Personen; jede dieser Personen kann auf viele verschiedene Arten handeln, den Token fallenlassen, ihn modifizieren, ablenken oder betrügen, ihm etwas hinzufügen oder ihn sich aneignen. Die getreue Übermittlung einer Anordnung z.B. durch eine große Anzahl an Personen ist in solch einem Modell rar – und falls sie auftritt, erfordert sie eine Erklärung.« (Latour S. 198)

Das ist trivial, es sei denn, man problematisiert das »kann«. Es folgt die Ball-Metapher [23]Von der Ball-Metapher macht schon Michel Serres (Der Parasit, 1987, 344-360) Gebrauch, freilich mit der Absicht, den Ball zum Quasi-Objekt oder vielmehr zum Quasi-Subjekt zu deklarieren., auf die Rottenburg anspielt:

»Noch wichtiger ist, dass die Verlagerung nicht von einem initialen Impetus verursacht wird, da der Token keinen wie auch immer gearteten Impetus hat; vielmehr ist sie die Konsequenz einer Energie, die dem Token von jedem Element der Kette verliehen worden ist, das etwas mit ihm macht, wie etwa im Fall von Rugbyspielern und einem Ball. Die Initialkraft des Ersten in der Kette ist nicht wichtiger als die der zweiten, der 40. oder der 400. Person; folglich ist klar, dass die Energie weder angehäuft, noch kapitalisiert werden kann.« (Latour S. 199)

Das ist alles andere als klar. Warum keine Initialkraft? Wäre nicht Rottenburgs »Aura« eine solche? Und warum soll der Schwung (die »Trägheit«) des Tokens sich nicht verstärken, wenn doch jeder Spieler etwas hinzufügen kann? Zehn Jahre später schreibt Latour immerhin:

»A ball going from hand to hand is a poor example of a quasi-object, since, although it does trace the collective and although the playing team would not exist without the moving token, the latter is not modified by the passings.« [24]Bruno Latour, On Actor-Network Theory: A Few Clarifications, Soziale Welt 47, 1996, 369-381, S. 379.

Dass die Rugby-Metapher in die Irre führt, wird vollends klar, wenn Latour sich mit dem »dritten und wichtigsten Aspekt des Übersetzungsmodells« wieder von ihr verabschiedet.

»Jede der Personen in der Kette setzt nicht einfach einer Kraft Widerstand entgegen oder übermittelt sie auf die Art, wie es im Diffusionsmodell geschehen würde; stattdessen tut sie etwas Wichtiges für die Existenz und Aufrechterhaltung des Tokens. In anderen Worten besteht die Kette aus Akteuren (nicht passiven Vermittlern), und da der Token sich der Reihe nach in der Hand jedes Einzelnen befindet, formt ihn jeder entsprechend der verschiedenen Projekte. Aus diesem Grund heißt es Übersetzungsmodell: Der Token verändert sich, während er von Hand zu Hand geht, und die getreue Übertragung einer Aussage wird zu einem ungewöhnlichen Einzelfall unter viel wahrscheinlicheren anderen.« (Latour S. 199)

Das hätte man einfacher haben können. Mit Latours eigener Formulierung:

»No transportation without transformation.« [25]Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119.

Oder auf deutsch: Stille Post. Mein Eindruck ist, dass man in Halle die Arbeiten von Callon und Latour doch nur als eine Theorie der kulturellen Übersetzung rezipiert hat wie in dieser Formulierung von Rottenburg:

»Diese Leistung des Anbietens einer neuen Interpretation nenne ich im Anschluß an Michel Callon und Bruno Latour (die auf Michel Serres zurückgreifen) Übersetzung. Alte und vertraute Elemente werden mit frischen, unbekannten Elementen zu einer neuartigen Geschichte zusammengefügt und bekommen dadurch einen anderen Sinn.« (OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, 1995 S. 93)

Die »Travelling Models« von 2014 bekennen sich zur ANT. Nicht nur in der theoretischen Einleitung, sondern auch in mehrern Einzeluntersuchungen fällt der Begriff »translation« [26]Das Sachverzeichnis nennt nur »translation, concept of« auf S. 3f, translation chains auf S. 24, channels of translation S. 125-131 sowie translation of ideas S. 149 . Doch Google Books zeigt … Continue reading. Ich muss noch einmal gründlicher lesen, um ob hier die Machttheorie von Callon und Latour rezipiert ist oder ob es bei der Theorie der kulturellen Übersetzung bleibt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Hier vorab die Titel, auf die ich im Text nur dem Erscheinungsjahr Bezug nehme: Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-240; Weit hergeholte Fakten, Eine Parabel der Entwicklungshilfe, 2002; englisch als: Far-fetched facts, A Parable of Development Aid, Cambridge, Mass. 2009; ders., Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174, ders., Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, 2005, 259-274; ders., On Juridico-Political Foundations of Meta-Codes, in: Jürgen Renn (Hg.), The Globalization of Knowledge in History, 2012, 483-500.
2 »Travelling Models in African Conflict Management, 2014.
3 Nach FAZ Nr. 164 vom 16. 7. 2014 S. 11.
4 Dazu im Eintrag vom 25. 9. 2014: Travelling Models IV: Noch einmal: Diffusion von Recht.
5 Code-Switching, or Why a Metacode Is Good to Have, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Global Ideas, How Ideas, Objects and Practices Travel in the Global Economy, Malmö 2005, 259-274, S. 267.
6 Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Illuminationen, 1977, 50–62.
7 Jürgen Gerhards, Der Kult der Minderheitensprachen, Leviathan 2011, 165-186, S. 178.
8 Birgit Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie, Wien, 2012, 29-42. Vgl. auch Mieke Bal, Travelling Concepts in the Humanities, Toronto, 2002.
9 Vgl. den Eintrag vom 29. 7. 2011 »Zur Kritik am Container- oder Transportmodell der Kommunikation«.
10 Vgl. auch die Webseite von Bruno Latour mit Texten zum Download.
11 Bruno Latour, Die Macht der Assoziation, Original: The Powers of Association, 1986, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 175-212, S. 197f.
12 Über technische Vermittlung in: Belliger/ J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 485.
13 Ebd.
14 Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.), ANThology, S. 13-50, S. 37ff.
15 Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, Original: L’Année sociologique 1986, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, 2006, 135-174, S. 135.
16 Jim Johnson, Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers, in: Belliger/Krieger, ANThologie, 237-258, S. 244.
17 John Law/Michel Callon. Leben und Sterben eines Flugzeugs, in: Belliger/Krieger, ANThologie, S. 475447-482, S. 473.
18 Von den vielen einschlägigen Publikationen Burts sei hier nur ein im Internet zugänglicher Artikel aus dem American Journal of Sociology, 2004, angeführt: Structural Holes and Good Ideas.
19 Rottenburg, OPP. Geschichten zwischen Europa und Afrika, 1995 S. 93f.
20 Z. B. Rottenburg 2002 S. 41 u. 223.
21 Wie wunderbar, dass das Zählen leicht fällt, da Google Books, auch wenn man dort nicht das ganze Buch lesen kann, zuverlässig alle Fundstellen auflistet, die man dann nur noch nachzuschlagen braucht.
22 Bruno Latour, Über technische Vermittlung, in: Belliger/(Hg.), ANThology, 2006, 483-528, S. 491.
23 Von der Ball-Metapher macht schon Michel Serres (Der Parasit, 1987, 344-360) Gebrauch, freilich mit der Absicht, den Ball zum Quasi-Objekt oder vielmehr zum Quasi-Subjekt zu deklarieren.
24 Bruno Latour, On Actor-Network Theory: A Few Clarifications, Soziale Welt 47, 1996, 369-381, S. 379.
25 Aramis or the Love of Technology, Harvard UP, 1996, S. 119.
26 Das Sachverzeichnis nennt nur »translation, concept of« auf S. 3f, translation chains auf S. 24, channels of translation S. 125-131 sowie translation of ideas S. 149 . Doch Google Books zeigt weiter folgende Vorkommnisse an: S. 12, 13, 14, 15, 16, 19, 20, 21, 22, 23, 25, 27, 29. 32, 37, 39, 60, 78, 81, 85, 88, 89, 90, 93, 96, 97, 101, 109, 110, 111, 118, 122, 124, 144, 147, 152, 168, 187, 189, 192, 197, 203, 206, 207, 222, 232, 234, 236, 239, 243, 244, 245.

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