Zeitungsleserwissen über den Lauf der Modernisierung

Der Versuch, die Modernisierungstheorie für die Rechtssoziologie zu rezipieren, stößt immer wieder auf das Problem des Unwissens. Man möchte wissen, was im Zuge der Modernisierung in den Entwicklungsländern wirklich geschieht. Auf der einen Seite steht das Zeitungsleserwissen. In der vergangenen Woche sind mir in der FAZ zwei einschlägige Artikel aufgefallen, nämlich im Wirtschaftsteil vom 20. Oktober »Bankgeschäfte in Lagos werden diskret betrieben« von Christan von Hiller und »Im Reich des Garanten« über das Regime von Idriss Déby im Tschad. Beide Artikel waren mit attraktiven Bildern illustriert. Zu dem Artikel über Bankgeschäfte in Lagos wurde der smarte Banker Bismarck Rewane gezeigt, ferner eine Luxusyacht und der Stadtteil von Lagos, wo die Privatbanken zu Hause sind. Der Artikel über den Tschad war geschmückt mit einem Foto [1]Als Bildurheber wird AFP angegeben. des Diktators in seinem glanzvollen Salon, wie ihm der strahlende französische Außenminister Fabius gegenübersitzt.

Es trifft sich, dass ich gerade den von Andrea Behrends, Stephen P. Reyna und Günther Schlee herausgegebenen Band »Crude Domination. An Anthropology of Oil« auf dem Tisch habe. [2]Berghahn Books, New York, ISBN 9780857452559. Ein Bild gibt es dort nur auf dem Buchdeckel. [3]In besserer Qualität findet man das Bild man in einer Earth Picture Gallery der Zeitung »The Telegraph«.

Es handelt sich dabei um ein preisgekröntes Foto von Ed Kash, das – nach der Legende – Jugendliche im Dorf Kbean (Ogoniland, Nigeria ) zeigt, die darauf warten, dass der Ölkonzern Shell seine Leute schickt, um ein Feuer zu löschen, das an einer seit Wochen leckenden Ölleitung ausgebrochen ist. Auf den ersten Blick scheint es, als könnte die Anmutung der Bilder unterschiedlicher nicht sein. Auf den zweiten Blick schwindet der Unterschied. Beide Bilder sind sozusagen Hochglanzfotografien. Die Szene aus Nigeria ist viel dramatischer. Aber wenn man das Bild in einer Reihe von 25 anderen, die für den Prix Pictet in die engere Auswahl gezogen wurden, ansieht, so kann der Eindruck entstehen, dass es wegen seiner ästhetischen Qualitäten ausgewählt wurde. Erst wenn man weiß, dass der hochdotierte Preis von der gleichnamigen Schweizer Privatbank mit dem Ziel gestiftet wurde, herausragende Bilder zu prämieren, die uns mit den dringendsten sozialen und Umweltproblem konfrontieren oder wenn man es gar unter dem Buchtitel »Crude Domination« sieht, gewinnt es eine eindeutige Aussage. Welchen Bildern soll man trauen? Trauen kann man überhaupt keinen Bildern, sondern allenfalls Texten. Nach dem Text über Bankgeschäfte in Lagos zu urteilen, ist dort alles in Ordnung. Man erfährt gerade noch, Nigeria ringe noch um seine nationale Ordnung. Aber es geht in dem Artikel ja auch nur darum, dem Leser nahezubringen, dass es in Nigeria einen veritablen Finanzmarkt gibt. Anders der Artikel über den Tschad. Das Bild täuscht (oder auch nicht). Hinreichend deutlich wird im Text klargestellt, dass Déby ein Diktator war und ist, der keine Untat gescheut hat. Aber jetzt will Frankreich ihn gegen die Rebellen in Mali mobilisieren. Das ist ein Dilemma, nach dem Bild zu urteilen allerdings nicht für den französischen Außenminister. Soweit das Zeitungsleserwissen. Das nächste Posting soll sich mit dem genannten Buch befassen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Als Bildurheber wird AFP angegeben.
2 Berghahn Books, New York, ISBN 9780857452559.
3 In besserer Qualität findet man das Bild man in einer Earth Picture Gallery der Zeitung »The Telegraph«.

Ähnliche Themen

Zur Hybridisierung der Kulturen

Als ich den Artikel über Homogenisierung und Hybridisierung der Kulturen schrieb, hatte ich kurz zuvor zwei wunderbare Musikveranstaltungen der Ruhrtriennale besucht, nämlich John Cages Europeras und ein Konzert ausschließlich mit Kompositionen von Charles Ives unter der Leitung von Kent Nagano. Die Musik beider Komponisten kann man als Hybridisierung oder Melange einordnen, Bei Europeras geht es um eine Melange aus 100 klassischen Opern, bei Charles Ives um einer Verbindung neuromantischen Kompositionsstils mit Kirchenliedern, Volksliedern und Schlagermelodien.

Im Autoradio gab es am 3. 9. eine Gratulation zum 70. Geburtstag des brasilianischen Sängers Caetano Veloso. So wurde er zitiert:

Wir wuchsen mit dem Bossa Nova auf. Aber dann kombinierten wir englischen Beat und amerikanischen Rock mit schwarzen Rhythmen. Wir mischten Musik mit Fahrradklingeln und Pop mit sakraler Musik. Wir hatten für nichts Respekt, nicht für die Familie, das Vaterland, nicht einmal für den Karneval. Wir liebten Antonio Carlos Jobim und Cool Jazz, und daraus entstand dieses merkwürdige Phänomen, das man Tropicalismo nennt.

Am 4. 9. folgte, gleichfalls im DLF, ein Bericht über ein neues Album der Sängerin Gabby Youngs. Der Bericht wurde eingeleitet mit den Sätzen:

Mit ihrem Debütalbum »We’re All In This Together« eroberte Gabby Young die englische Musikszene im Sturm. Die wilde Stilmischung, die verrückte Kleidung der Sängerin, ihre fantastische Stimme und der Sound der 7-köpfigen Big Band faszinierten Publikum wie Kritik.

Auf der XIII. documenta hatte der chinesische Künstler Yan Lei in einem Raum die Wände vollgehängt, ein Bild für jeden Tag, und zwar Bilder, die er nicht selbst geschaffen, sondern aus verschiedenen Quellen übernommen hatte. Auch das eine Rekomposition. Während des Soziologentages in Bochum habe ich einen auswärtigen Besucher genötigt, sich von mir durch die »Situation Kunst« führen zu lassen. Da gibt es einen Raum mit den Übermalungen von Arnulf Rainer (nicht mein Lieblingsraum).[1]

Wer auch nur einen Augenblick nachdenkt, wird diese Liste nach hinten und vorne beliebig verlängern können.

Irgendwie drängt sich der Eindruck auf, dass es nur noch durch Hybridisierung oder mit Hilfe eines Zufallsgenerators möglich ist, etwa Neues entstehen zu lassen. Nähern wir uns einem Zustand, in dem alle ästhetischen Ausdrucksformen schon einmal da gewesen sind?

 


[1] Zum Glück gibt es in der »Situation Kunst« auch noch einen Afrika-Raum, darin u. a. einige 2500 Jahre alte Figuren aus Nigeria. Und zum Glück gibt es dort Jan Schoohoven und Richard Serra.

Ähnliche Themen

Die Einfalt der Vielfalt: Von der organischen zur normativen Solidarität

Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Auf dem Soziologentag, der zur Zeit in Bochum stattfindet, wird die Anschlussfrage gestellt, was die Vielfalt der Gesellschaft zusammenhält.

»Während die – von Vielen als wachsend wahrgenommene – Pluralität sozialer Lebensäußerungen und -formen also einerseits als Bedrohung des ›sozialen Bands‹ thematisiert wird, erscheint sie andererseits geradezu als Voraussetzung und grundlegender Mechanismus der Stiftung (neuer) sozialer Bindungen.« (Programm S. 14)

Es geht um nichts weniger als um Nachfolgekandidaten für die von Durkheim so genannte organische Solidarität.

Der faktische Pluralismus, der nicht zuletzt als Folge der Globalisierung überall zu beobachten ist, kann je nach dem Zustand der Gesellschaft der Modernisierung einen weiteren Schub geben und zu Wohlstand und Reichtum führen oder er kann die Entwicklung blockieren und Konflikt und Selbstzerstörung hervorbringen. Die unterschiedlichen Gesellschaftszustände lassen sich als positiver und negativer Pluralismus kennzeichnen.

Die Vielfalt, wie sie als Melange aus der Globalisierung und ihren Rückkopplungsprozessen entsteht, ist für moderne Gesellschaften zwar eine laufende Quelle von Querelen, etwa um die Grenzen der Zuwanderung oder den Raum, den man einer importierten Religionspraxis geben soll. Aber davon wird eine moderne Gesellschaft nicht zerissen, sondern eher bereichert. Das gilt auch für die durch das Abstreifen von Traditionen möglich gewordene Vielfalt der Familienformen einschließlich solcher, in denen traditionell unterdrückte sexuelle Orientierungen zu ihrem Recht kommen. Moderne Gesellschaften sind in der Lage, einen positiven Pluralismus zu leben. Besonders in den Entwicklungs- und Transformationsländern zeigt sich der faktische aber als negativer Pluralismus. Im Schatten der unvollständigen Modernisierung gibt es viele destruktive Konflikte.

Von negativem Pluralismus ist die Rede, wo die Sicherung der Vielfalt gegen Selbstzerstörung nicht gewährleistet ist. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist dieser Zustand vor allem bei den Modernisierungsverlierern anzutreffen. Sie machen über die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Modernisierungsverlierer gibt es auch in modernisierten Gesellschaften. Aber dort wird jedenfalls soweit für sie gesorgt, dass ein offener und destruktiver Konflikt vermieden wird. Die große Masse Modernisierungsverlierer konzentriert sich jedoch in den Entwicklungs- und Transformationsländern, wo sie auf sich selbst angewiesen sind.

Die Modernisierungsverlierer sind nicht einfach nur arm, sondern sie sind in gewisserweise funktionslos geworden, weil sie im Zuge der Modernisierung ihre überkommene Existenzgrundlage verloren, im modernen Wirtschaftsprozess aber keinen neuen Platz gefunden haben. Sie zahlen als Preis der Modernisierung mit einer Relativierung ihrer Kultur und dem Verlust gewachsener Identitäten. An vielen Plätzen hat die Veränderung der natürlichen Umwelt durch die Ausbreitung von Infrastruktur und Technik und oft auch durch Umweltzerstörung ihnen ihre natürlichen Lebensgrundlagen genommen. Unter den so Marginalisierten provoziert die Globalisierung lokale und partikulare Gegenbewegungen, die gerade in ihrer Gegnerschaft zu den globalisierenden Tendenzen neue soziale Identitäten hervorbringen. Sie suchen ihr Heil in religiösen oder ethnischen, rassischen oder ideologischen Zugehörigkeiten. Konsequenz sind gesellschaftliche Spaltungen und Konfrontationen, die den negativen Pluralismus ausmachen.

»Negative pluralism refers to any totalizing affiliation which results in the transformation of interests into principle and results in cleavage politics and increasingly differentiated societies. An example of such totalizing affiliations is race. Another is religion.« (David E. Apter, The Political Kingdom in Uganda, A Study of Bureaucratic Nationalism, 3. Aufl., London [u.a.] 1997, Fn. 85 auf S. LXXV)

Diese Definition lässt sich leicht in die bekannte Unterscheidung zwischen Wertkonflikt und Interessenkonflikt übersetzen. In einer modernen Gesellschaft ist die gesellschaftlich organisierte Interessenwahrnehmung selbstverständlich. Die Modernisierungsverlierer suchen ihre Zuflucht aber nicht in Interessenverbänden, sondern in traditionellen oder neotraditionellen Formationen, die Werte über Interessen stellen, indem sie deren religiöse, ethnische oder rassische Basis zu einem kompromissfeindlichen Prinzip steigern.

Als moralisches und als rechtsphilosophisches Problem ist die Frage nach den Grenzen des Pluralismus altbekannt. Es genügt hier, an das Problem der Selbstdestruktion der Toleranz oder der Demokratie zu erinnern. Die Philosophen wissen auch Rat, etwa John Rawls mit Forderung nach einem »overlapping consensus«[1]. Aber Philosophie hält keine Gesellschaft zusammen. In der Realität gibt keine durchschlagende Lösung. Man kann nur beobachten, dass in einem Teil der Welt die Gesellschaft an der neuen Vielfalt nicht zerbricht, sondern mehr oder weniger gut integriert bleibt, während in vielen anderen Teilen aus der Vielfalt Konfliktlinien wachsen.

Will man diese Beobachtung theoretisieren, so bieten sich die Überlegungen der Meyer-Schule an. Den Zusammenhalt garantiert die Institutionalisierung eines positiven Pluralismus, wenn und soweit sie gelingt. Die Antwort ist allerdings auch beinahe trivial. Immerhin impliziert sie dreierlei. Erstens: Es geht um eine soziologische Frage, nicht um ein moralisches oder philosophisches Problem. Zweitens: Anscheinend begegnet die Institutionaliserung des Pluralismus auf der Ebene der Weltkultur geringeren Widerständen und ist dort weiter fortgeschritten als in nationalen und regionalen Gesellschaften. Drittens: Die nationale und regionale Institutionalisierung eines positiven Pluralismus korreliert positiv mit den Indikatoren, die für Modernisierung stehen.

Positiver Pluralismus beruht auf der Wertschätzung von Diversität als (materielle und ideelle) Bereichung und als Quelle laufender Innovation. Er ist eingebettet in einen institutionellen Rahmen, der einer konflikthaften Selbstzerstörung vorbeugt. Moralisch gehört dazu das Toleranzgebot und politisch Formen der Partizipation, wie sie in Demokratie und Rechtsstaat vorgesehen sind.

Auf der Ebene der Weltkultur ist der positive Pluralismus fest institutionalisiert. Dafür stehen, ganz abgesehen von den Achtungsansprüchen und Antidiskriminierungsregeln der Menschenrechtserklärung die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und die United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples von 2007. Man kann verfolgen, wie der Imperativ kultureller und religiöser Pluralität und als seine Kehrseite Diskriminierungsverbote in zahllosen nationalen und internationalen Dokumenten und Traktaten instututionalisiert ist. Repräsentativ ist wohl der UNESCO World Report, Investing in Cultural Diversity and Dialogue, 2009 [2000]. Man könnte diese Institutionalisierung eines positiven Pluralismus in der Weltkultur als normative Solidarität benennen, um dann nach der Reichweite der normativen Solidarität zu fragen.

Die Programmautoren der DGS haben die »die ›klassische‹ (Parsonssche) Sichtweise, soziale Kohäsion werde vor allem durch normative Integration gesichert« auf das Altenteil geschickt (Programm S. 18). Damit liegen sie falsch. Sicher gibt es unterhalb der normativen Ebene unzählige Konstellationen, in denen sich organische Solidarität bewährt, weil Vielfalt vielerlei Arbeitsteilung und Austausch nach sich zieht. Aber ohne den großen normativen Rahmen, ohne den institutionalisierten Imperativ der Diversität und Toleranz, gibt es in größeren Gesellschaften keinen positiven Pluralismus.

Literatur: David E. Apter, Globalisation and the Politics of Negative Pluralism, International Social Science Journal 59, 2008, 255-268; ders., Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Paris 2010, S. 32-37.



[1] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 300f.

Ähnliche Themen

Die Einfalt der Vielfalt

Die (alte) Modernisierungstheorie wurde von Differenzierungs­theorien beerbt, die sich gegen die großen Entwicklungstrends einer vermeintlich universellen Globalisierungslogik wenden und die Konvergenzthese in Frage stellen. In den Blickpunkt des Interesses rückte die Frage, wie sich Konvergenz und Divergenz als simultane und wechselseitig verschränkte Prozesse begreifen lassen. Niemand bestreitet, dass die Globalisierung einen umfassenden Wandlungsprozess anschiebt. Aber zum guten Ton, den auch das Programm des Soziologentags in Bochum anstimmt, gehört die Aussage, dass die Globalisierung nicht einseitig auf die von der Modernisierungs­theorie prognostizierte Konvergenz hinauslaufe, sondern viel eher als ein großer Differenzierungsprozess zu verstehen sei, mindestens aber, dass Konvergenz und Divergenz gleichzeitig als gegenläufige Entwicklungen zu beobachten seien.

Zur Kritik der Modernisierungstheorie taugt die Entgegensetzung von Konvergenz und Divergenz wenig. Konvergenz bezeichnet eine gerichtete Entwicklung. Anders als der Konvergenzbegriff der Modernisierungstheorie gibt der Divergenzbegriff ihrer Kritiker keine Tendenzen an, sondern beschränkt sich auf die Verneinung von Konvergenz. Dass die Welt jenseits der Differenz von entwickelten und weniger entwickelten Gesellschaften in bestimmter Weise auseinanderdriftet, behaupten auch die Kritiker der Modernisierungs­theorie nicht ernsthaft. Sie insistieren nur auf Vielfalt oder Diversität. Divergenz ist also nicht dasselbe wie Diversität oder Vielfalt. Mit letzerer hat die Modernisierungstheorie kein Problem. Für eine fortgeschriebene = modernisierte Modernisierungstheorie bedeutet Konvergenz nicht Homogeni­sierung, sondern strukturelle Vielfalt. Traditionelle Gesellschaften waren sehr viel homogener als moderne. Erst die Modernisierung hat die Welt pluralistisch gemacht. Neue Vielfalt wird laufend durch die Modernisierung selbst produziert, und zwar auf mindestens vier unterschiedlichen Wegen, nämlich durch die Pfadabhängigkeit sozialen Wandels, durch eine »Melange« vorhandener Kulturelemente (Hybridisierung), durch die Abkopplung (decoupling, John Meyer) lokaler Praxis von globaler Institutionalisierung sowie durch ständige Rückkopplungsprozesse.

Die Globalisierung steckt voller Rekursivität. Sie löst lokale Veränderungen aus, die wiederum auf die globale Ebene zurückwirken. Wer solche Schleifen zu Paradoxien hochstilisiert, ist schnell dabei, gegenläufige Entwicklungen zu entdecken. Wer nach Differenzen oder Varietäten sucht, wird sie finden. Die Suche nach Ähnlichkeiten ist schwieriger, denn sie muss Vergleichsmaßstäbe angeben. Die Modernisierungstheorie hat sich auf Parameter festgelegt, an denen Konvergenz gemessen werden soll. Die Differenzierungstheorien haben nichts Vergleichbares vorzuweisen. Deshalb läuft die Kritik der Modernisierungstheorie, wie sie von Eisenstadt formuliert worden ist, ins Leere.

Das bedeutet nicht, dass die Modernisierung verlustfrei zu haben wäre. Der Preis für die Teilhabe an der Weltgesellschaft ist eine Relativierung von Kultur und Religion, der Verlust partikularer Identitäten. Er ist auch schon dort zu zahlen, wo die Modernisierung erst begonnen hat. Besonders die Gesellschaften, denen die Modenernisierung von außen aufgedrängt wird, leiden unter der beinahe gewaltsamen Zerstörung gewachsener Strukturen. Globalisierung wird so zur neuen Form der Entfrem­dung. Der Weg zurück zum Naturzustand, der bekanntlich erst im Zustand der Entfremdung zum Thema wird, führt zur Suche nach besonderen Lebensformen, die sich zur Identitätsbildung anbieten. Die wichtigsten sind wohl Religion, ethnische Zugehörigkeit und als deren spezielle Ausprägung Indigenität.

»Indigen« sind nach der Definition der Vereinten Nationen die Erstbewohner eines Territoriums, die freiwillig kulturelle Besonderheiten zu bewahren versuchen suchen, sich selbst als abgrenzbare Gemeinschaft wahrnehmen und Erfahrungen mit Unterdrückung, Marginalisierung und Diskriminierung gemacht haben. Für einen Überblick auf das International Indigenous Peoples Movement sei verwiesen auf Lorie Graham/Nicole Friederichs, Indigenous Peoples, Human Rights, and the Environment, (erscheint in Yale Human Rights and Environment Dialogues Report).

Große Bestände an Kulturmustern finden sich in der Vergangenheit. Sie haben den Vorzug dass sie sich als Tradition selbst legitimieren. So produziert die Modernisierung den lokalen Neotraditionalismus, der insbesondere im subsaharischen Afrika große Bedeutung erlangt hat. Diesen bedient auf globaler Ebene die Ethnologie.[1]

Damit ist die Rückkopplung zwischen global und lokal aber immer noch nicht beendet. Die Globalisierung liefert wiederum die Instrumente zu ihrer Unterwanderung, indem sie das globale Konzept der Menschenrechte zur Absicherung regionaler Besonderheiten anbietet. So ist im Zuge der Globalisierung die Berufung auf Pluralität im Allgemeinen und auf Indigenität im Besonderen selbst zu einem Konvergenzphänomen geworden. Auf diese Weise geht die Institutionalisierung universalistischer Rechtsvorstellungen auf der globalen Ebene örtlich mit einer Rückwendung zu nationalen, indigenen oder religiösen Rechtstraditionen einher. Rechtspluralismus ist angesagt. Er findet sich in dem Revival der Scharia oder in den Versöhnungskommissionen, die in Südafrika auf die Ubuntu-Tradition und in Ruanda auf das alte Rechtssystem des Gacaca zurückgreifen. Was als originäre Identität einer Rechtskultur auftritt, ist in dieser Perspektive nichts Authentisches, Ursprüngliches, sondern ein Aspekt von und ein Produkt der Globalisierung, eben Neotraditionalismus. Die Betonung des Eigenwerts partikularer Rechtskulturen als Reaktion auf die Globalisierung ist ihrerseits eine globale Erscheinung.

Die Ironie der Entwicklung liegt darin, dass Konvergenz sich auf einem übergeordneten Niveau als Konvergenz zur Vielfalt ereignet. Der Vergleich ist schief, aber doch erhellend: Überall wollen Jugendliche sich ihrer Besonderheit, Diversität oder Individualität versichern, indem sie sich auffällig irgendwie anders als der Mainstream verhalten oder auch nur aussehen, und sie versuchen es mit Tattoos, Piercings, bunten Haartrachten oder Phantasiemoden. Das Ergebnis ist eine neue Uniformität der Individualität.

»We appear to live in a world in which the expectation of uniqueness has become increasingly institutionalized and globally widespread.«[2]

Robertson[3] spricht von der Universalisierung der Partikularität, Schwinn[4] von einer Standardisierung der Differenzen:

»Kulturen werden verschieden in sehr uniformen Wegen.«

Vielfalt oder Pluralität ist zum Standard der Modernität geworden. Das ist die Einfalt der Vielfalt.

Nachtrag vom 2. 12. 2919:

Was ich hier die Einfalt der Vielfalt genannt habe, erscheint bei Andreas Reckwitz als »Die Gesellschaft der Singularitäten« (2017). Im der Einleitung zu seinem neuen Buch (Das Ende der Illusionen, 2019, S. 20) formuliert Reckwitz:

»Sie [die Logik der Singularisierung] hat eine unweigerlich paradoxe Struktur: Es bilden sich in gesellschaftlichen Kernbereichen allgemeine Strukturen und Praktiken aus, deren Interesse systematisch am Besonderen ausgerichtet ist.«

 


[1] Karl-Heinz Kohl, Die Ethnologie und die Rekonstruktion traditioneller Ordnungen, in: Johannes Fried/Michael Stolleis (Hg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, 2009, S. 159-180.

[2] Roland Robertson, Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London 1995, 25-44, S. 28.

[3] Roland Robertson, Globalization, Social Theory and Global Culture, London 1992, S. 130.

[4] Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung? Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Weltkultur, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58 , 2006, 201-232, S. 226.

Ähnliche Themen

Konvergenz als »Ende der Geschichte«

Den wackeligen Gipfel der Konvergenztheorie bildet die These vom Ende der Geschichte.

Schon 1974 hatte Arnold Gehlen in einem Aufsatz über das »Ende der Geschichte« geschrieben: »Der alte, überspannte, großherzige Utopismus mit seiner Opferbereitschaft für nichtprofitable Zwecke verschwindet«. Damit schicke sich die Großgeschichte an abzuziehen. Der Mensch werde sich damit abfinden, dass er seine Grundsituation festgelegt vorfinde. Diese Beschränkung werde ihm durch die »Gratifikation des Dogmatismus« entgolten, die er genießen könne, wenn die meisten Probleme vorentschieden und die Handlungsziele definiert seien. Doch nach dem Ende der Geschichte und des Fortschritts gelte es, »die Wirklichkeit der offensichtlich empörenden Not anzugreifen – das wäre Fortschritt«.

1989 erregte Francis Fukuyama, ein Beamter im amerikanischen Außenministerium, großes Aufsehen mit der These, die Geschichte nähere sich ihrem Ende, wir seien Zeugen nicht bloß der Reformpolitik eines Michail Gorbatschow, des Endes des Kalten Krieges oder einer besonderen Epoche der Nachkriegsgeschichte, wir erlebten vielmehr das Ende der Geschichte schlechthin, denn die Evolution der politischen Ideologien habe mit weltweiter Ausbreitung der liberalen Demokratie westlichen Musters ihr Endstadium erreicht. Dagegen stand und steht die Auffassung, dass sich insbesondere die Staaten Ostasiens aufgrund ihrer einzigartigen kulturellen Traditionen für eine Demokratie westlichen Musters auf Dauer als unzugänglich erweisen würden. Auch wenn diese Staaten sich die technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften des Westens zum Vorbild genommen und zu ihrer Durchsetzung viele der institutionellen Arrangements kopiert hätten, so füllten sie diese Institutionen doch mit anderem Inhalt. An die Stelle der liberalen Demokratie des Westens trete eine »asiatische Demokratie«, als deren Kennzeichen der Vorrang personenbezogener Loyalitäten vor Institutionen und Gesetzen, der Respekt vor Autorität und Hierarchien, von einer übermächtigen, konservativen Partei dominierte Parteiensysteme und ein starker, in wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe intervenierende Staat genannt werden.[1] Andere halten jedoch die Berufung auf »asiatische Werte« für einen »Versuch des konservativen und autoritären politischen Establishments …, durch einen konservativen Wertediskurs die Kontrolle über Gesellschaft und Politik zurück zu gewinnen«[2]. Ähnliche Argumente liegen für die Ausbreitung der Demokratie in der Islamischen Welt nahe. Über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, nach islamischen Aufbruch und Arabellion ergibt sich immer noch kein einheitliches Bild.

Aus der Sicht der Modernisierungstheorie bedeutet Konvergenz nicht das Verschwinden von Konflikten und damit das Ende der Geschichte, denn Modernisierung ist ein Prozess, der vielleicht alte Probleme überwindet, aber dafür neue aufwirft und damit auch neue Konfliktfronten aufreißt. Die Geschichte ist noch immer für Überraschungen gut. Wirtschaftskrisen, Terrorismus und technischer Wandel, Klimaveränderungen und Kriege bringen den geordneten Verlauf der Dinge immer wieder durcheinander.

Nichtsdestoweniger ist die Geschichte in einem anderen Sinn zu einem Ende gekommen. Bis in das 20 Jahrhundert konnten wir erwarten, tatsächlich noch etwas Neues zu entdecken, eine neue Kultur, eine neue Gesellschaft oder gar eine neue, bislang unbekannte Rechtskultur. Globalisierung heißt insofern, dass nichts mehr zu entdecken bleibt. Auf der Karte der Gesellschaften finden sich keine weißen Flecken mehr. Der Globus ist zur geschlossenen Gesellschaft geworden. Allenfalls könnten wir unsere Phantasie anspannen, um uns außerirdische Gesellschaften vorzustellen, aber nur in der Rolle eines Filmproduzenten oder -betrachters, nicht als Rechtssoziologen. Die Weltgesellschaft ist die einzige Gesellschaft ohne soziale Umwelt. Das hat Folgen, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirken. Auf der einen Seite beginnen Konzepte mit universellem Anspruch wie die Idee der rule of law oder der Menschenrechte die globale Gesellschaft zu uniformieren. Auf der anderen Seite provoziert die Abwesenheit einer äußeren Umwelt die Weltgesellschaft, durch Differenzierung in neue Subsysteme ihre eigene, innere Umwelt hervorzubringen, als Ersatz oder neben der existierenden Substruktur aus Nationen.

Literatur: Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Europäische Rundschau, 1989, Nr. 4, 3-25 (Original in: The National Interest, Summer 1989); Arnold Gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: Oskar Schatz (Hg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, 1974, 61-75 = Gehlen, Einblicke, 1975, 115-133; Friedrich H. Tenbruck, Der Traum der säkularen Ökumene. Sinn und Grenze der Entwicklungsvision, Annali di Socologia/Soziologisches Jahrbuch 3, 1987, 11-36.



[1] Clark D. Neher, Asian Style Democracy, Asian Survey (Berkeley) 34, 1994, 949-961.

[2] Thomas Meyer, Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005, S. 459.

Ähnliche Themen

Modernisierung durch Recht: Konvergenz der Kulturen I

Inglehart und der World Value Survey

Mit der Modernisierung geht ein Wertewandel einher. Ronald Inglehart hat mit dem World Value Survey in Instrument zur global vergleichenden Messung kultureller Einstellungen entwickelt, das davon ausgeht, dass der Prozess der sozialen und ökonomischen Entwicklung, die als Modernisierung geläufig ist, zu einer kulturellen Konvergenz führt. Dazu ordnet er alle Länder in einer Vierfeldertafel, die auf der Hochachse unten traditionelle Werte und oben säkular-rationale Werte anzeigt, während auf der horizontalen Achse links Überlebenswerte (survival values) und rechts Selbstenfaltungsungswerte (self-expression-values notiert werden. Die Hochachse markiert den Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft, die Längsachse soll dem Übergang von der Industriegesellschaft zur postmodernen Gesellschaft Rechnung tragen, der durch die Verlagerung des Wertehorizonts von materialistischen zu postmaterialistischen Werten gekennzeichnet sei. Seit 1981 wurden für den World Value Survey bisher fünf Befragungswellen abgeschlossen.

Ronald Inglehart/Christian Welzel, Changing Mass Priorities: The Link Between Modernization and Democracy.  Perspectives on Politics 8, 2010, 554-56.

Pippa Norris und Ronald Inglehart sind in ihrem Buch »Cosmopolitan Communications. Cultural Diversity in a Globalized World« (das im Volltext im Internet zur Verfügung steht), der These nachgegangen, dass die Globalisierung der Massenkommunikation letztlich zur kulturellen Konvergenz führen werde. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass noch in vielen Regionen Gesellschaften verbleiben, die nicht über den vollen Zugang zu den Medien verfügen, und dass es auch auf individueller Ebene Barrieren gibt, aus den Medien neue Werte und Verhaltensweisen zu lernen. Die Bedrohung der kulturellen Diversität durch die Massenmedien werde daher oft übertrieben. Aber das würde bedeuten, dass auf lange Sicht eben doch eine weitere Konvergenz zu erwarten wäre.

Ähnliche Themen

Modernisierung durch Recht: Konvergenz zum Weltstaat?

Die universalen Imperative moderner Ideen und Institutionen, so meint Cyril E. Black[1], könnten in einem Zustand enden, in dem die verschiedenen Gesellschaften so homogen würden, dass sie am Ende einen Weltstaat formen. Martin Albrow (Abschied vom Nationalstaat: Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter, 1998[2]) geht sehr viel weiter mit der Behauptung, der Weltstaat sei schon da. Dazu verabschiedet er allerdings die Modernisierungstheorie mit der These, die Moderne habe ihr Ende erreicht und mit der globalen Gesellschaft sei etwas völlig Neues entstanden, weil alle Möglichkeiten einer Expansion erschöpft seien. Für ein Inhaltsreferat seines Buches kann auf Wikipedia verwiesen werden, für die notwendige Kritik auf die Rezension[3] von von Rolf Wiggershaus »Blinder Optimismus«vom 10. 6. 1998.



[1] Cyril E. Black, The Dynamics of Modernization, A Study in Comparative History, New York [u.a.] 1966, S. 174.

[2] Martin Albrow, The Global Age: State and Society beyond Modernity, Stanford University Press, 1997.

[3] Eine Rezension von Saskia Sassen im American Journal of Sociology, 103 (1998) 1412-1414 ist eher unergiebig.

Ähnliche Themen

Modernisierung durch Recht: Die klassische Modernisierungstheorie in neun Punkten IV

Dieser Eintrag beendet die kleine Reihe, mit der ich die neun Punkte, in denen Samuel Huntington[1] die klassische Modernisierungstheorie zusammengefasst hat, repetiere und fortzuschreibe.

(9) Modernisierung ist Fortschritt. … Auf lange Sicht ist Modernisierung nicht nur unvermeidlich, sondern auch wünschenswert. Kosten und Leiden, besonders in der Anfangsphase, sind hoch. Aber ihre sozialen, politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften sind es wert. Auf längere Sicht fördert die Modernisierung die Wohlfahrt kulturell wie materiell. Die Fortschrittsthese, die eine Leistungssteigerung aller Systeme postuliert, an der prinzipiell alle teilhaben sollen, wird entgegengehalten, sie blende die enormen Leiden und Kosten der Modernisierung ebenso aus wie den Umstand, dass der Fortschritt nicht alle erreicht. Im Zusammenhang des Konvergenzthemas ist jedoch eine andere Kritik wichtiger, die Kritik nämlich, hinter der Fortschrittsannahme stecke ein missionarischer Universalismus des Westens. Friedrich Tenbruck spricht von der Vision der »säkularen Ökumene«. Das Konzept der Entwicklungshilfe habe daher, wie alle Fortschrittskonzepte, ein innerweltliches Ziel der Geschichte vor Augen, und münde damit in die Vision einer geschichtslosen Zukunft ein.[1] Tatsächlich wollte Francis Fukuyama 1989 das Ende der Geschichte vorhersagen, denn die Evolution der politischen Ideologien habe mit der weltweiten Ausbreitung der liberalen Demokratie westlichen Musters ihr Endstadium erreicht.[2]

Konvergenz bedeutet aber nicht das Verschwinden von Konflikten und damit das Ende der Geschichte, denn Modernisierung ist ein Prozess, der vielleicht alte Probleme überwindet, aber dafür neue aufwirft und damit auch neue Konfliktfronten aufreißt. Anhänger der Modernisierungstheorie führen die Konflikthaftigkeit des Prozesses nicht in erster Linie auf religiöse und kulturelle Differenzen zurück, sondern auf die Ungleichheiten, die die Modernisierung durch das unterschiedliche Tempo in den verschiedenen Ländern hat aufbrechen lassen.[3]

Ein Grundproblem der Modernisierungstheorie bleibt ihre relative Allgemeinheit. Wenn immer die Tatsachen nicht recht mit der Theorie übereinstimmen wollen, lässt sich die Theorie leicht verändern, so dass sie schwerlich widerlegbar ist. Das ist ein Problem vieler Theorien, dem der einzelne Anwender nur durch den Versuch der Aufrichtigkeit und Konsequenz begegnen kann.

Es ist beabsichtigt, diese Reihe durch eine Erörterung der Konvergenzthese und der daran geübten Kritik fortzusetzen. Im Hintergrund steht natürlich die Frage nach der Konvergenz der Rechtsentwicklung insbesondere auch in den nicht-OECD-Staaten. (Und im Vordergrund steht das Vielfaltsthema des Soziologentags, der demnächst in Bochum stattfindet.)

 


 


[1] A. a. O. (Fn. 1025) S. 27.

[2] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Europäische Rundschau, 1989, Nr. 4, 3-25 (Original in: The National Interest, Summer 1989); vgl. auch Arnold Gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire, in: Oskar Schatz (Hg.): Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker, 1974, 61-75 = Gehlen, Einblicke, 1975, 115-133.

[3] Wolfgang Zapf, Modernisierungstheorie – und die nicht-westliche Welt, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, 2006, 227-235, S. 234; Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz oder Hybridisierung?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58, 2006, 201-232, S. 214.

Ähnliche Themen

Das Christentum ist eine moderne Religion

Der Predigttext des letzten Sonntags war aus dem Brief des Paulus an die Galater (2, 16–21):

(16) aber [da] wir wissen, daß der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Christus Jesus, haben wir auch an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt werden und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt wird.
(17) Wenn aber auch wir selbst, die wir in Christus gerechtfertigt zu werden suchen, als Sünder erfunden wurden – ist dann also Christus ein Diener der Sünde? Das ist ausgeschlossen.
(18) Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, so stelle ich mich selbst als Übertreter hin.
(19) Denn ich bin durchs Gesetz [dem] Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt,
(20) und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben, [und zwar im Glauben] an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.
(21) Ich mache die Gnade Gottes nicht ungültig; denn wenn Gerechtigkeit durch Gesetz [kommt], dann ist Christus umsonst gestorben.

Der Text gab den Pastoren Gelegenheit, aus christlicher Sicht zum Beschneidungsthema zu sprechen. Anlass des Galaterbriefes war die für den Apostel Paulus beunruhigende Nachricht, dass bei den Heidenchristen in Kleinasien Missionare aufgetreten waren, die von ihnen die Einhaltung der mosaischen Gesetze, insbesondere die Beschneidung und die Speisegebote forderten. Empört beruft Paulus sich auf die Beschlüsse des Apostelkonzils, das wohl zwischen 44 und 49 in Jerusalem stattfand, und wo man sich darauf geeinigt hatte, dass Heidenchristen und auch getaufte Juden zur Wahrung jedenfalls einer kleinen Tradition nur noch die wichtigsten Speisegesetze einhalten sollten (kein Blut, kein Aas, kein Opferfleisch). Die Tora wurde als bloßes Gesetz der Gnade Gottes untergeordnet und ihres Absolutheitsanspruchs beraubt. Das war der Beginn des hermeneutischen Umganges mit einer heiligen Schrift, den das Judentum und der Islam bis heute nicht akzeptieren. Zwar gab es auch im Christentum immer wieder Versuche, die Bibel fundamentalistisch zu nehmen. Aber im Prinzip ist der christliche Umgang mit der Bibel doch ein hermeneutischer. Auch Luthers sola scriptura dient nur der Abwehr außerbiblischer Tradition, enthält aber kein Auslegungsverbot. Damit war das Christentum von Anfang an modern. Damit war und ist es aber auch für eine Säkularisierung offen. Ob allerdings das Dogma der Nichtinterpretationsfähigkeit von Tora, Koran und Sunnah zur Abwehr des sozialen Wandels taugt, kann man bezweifeln. Seine Anhänger sperren sich damit in eine vormoderne Enklave. Sie marginalisieren sich selbst. Marginalität bedeutet – mit den Worten von David E. Apter: » … a sector of functionally superfluous people for whom no prospects for improvement are easily available. [1] «



[1] David E. Apter, Marginalization, Violence, and Why We Need New Modernization Theories, in: World Social Science Report, Knowledge Divides, Paris 2010, 32-37, S. 33.

Ähnliche Themen