Zwischendurch: Michel Serres

Im nächsten Eintrag wird es um das Konzept der kulturellen Übersetzung und der Übersetzung als Machtgenerator nach Callon und Latour gehen. Callon und Latour berufen sich auf Michel Serres, den ich bisher nicht gelesen hatte. Als Starthilfe hat mir ein Gespräch von Frank Hartmann und Bernhard Rieder gedient, das beide 2001 mit Michel Serres geführt haben und das auf der Seite »Telepolis« zugänglich ist. [1]Am Ende des Interviews werden die Werke von Serres in deutscher Übersetzung angeführt werden, darunter »Hermes III – Übersetzung, Berlin: Merve 1992«, der Titel, auf den sich Callon und Latour … Continue reading Daraus hier einige Zitate.

Das erste soll die Besonderheit seines Übersetzungsbegriffs zeigen. Er stellt darauf ab, dass der Normalfall der Kommunikation nicht die Informationsübertragung zwischen einem Sender und einem Empfänger ist, weil jeder, der an einer Kommunikation beteiligt ist, in ein Netzwerk eingebunden ist.

»Bis 1972 habe ich fünf Bücher über Kommunikation publiziert, die alle auch auf Deutsch übersetzt worden sind und die einen gemeinsamen Übertitel haben: Hermes. In der griechischen Mythologie ist Hermes der Götterbote. Nach dem Boten kamen dann die Hindernisse der Kommunikation: der Parasit – der auch manchmal Initiator sein kann. Danach habe ich ein Buch über die Engel geschrieben, Angelos, wieder ein Botschafter also. … die philosophische Tradition spricht immer von Dialogen. Von Plato bis Leibniz gibt es offensichtlich nur die Technik des Dialogs, während es bei mir eher um die Übertragung in einer pluralistischen Welt geht. Das heißt, die Kommunikation passiert in einem Netz, während sich der Dialog immer von einer einzelnen Person zu einer anderen ereignet. In der Kommunikation können es fünfhundert oder fünftausend sein – eigentlich egal wie viele. Aber diese schaffen sich Möglichkeiten der Übertragung von Botschaften, die sich vom Dialog völlig unterscheiden.«

Das zweite Zitat aus dem Interview von 2001 hat nichts mit dem Übersetzungsthema zu tun, dafür aber um so mehr mit der Zugänglichkeit von Informationen und wohl auch mit dem Plagiatsthema. Es spricht für sich:

»In meinen Augen ist es niemals ein Verbrechen Wissen zu stehlen. Es ist ein guter Diebstahl.
Der Pirat des Wissens ist ein guter Pirat. Wenn ich noch einmal jung wäre, dann würde ich ein Schiff bauen, das so hieße: Pirat des Wissens. Was in der Wissenschaft derzeit schlimm ist, ist dass die Firmen ihr Wissen kaufen und es deshalb geheim halten wollen. Und deshalb werden die Piraten morgen die sein, die im Recht sind.«

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Am Ende des Interviews werden die Werke von Serres in deutscher Übersetzung angeführt werden, darunter »Hermes III – Übersetzung, Berlin: Merve 1992«, der Titel, auf den sich Callon und Latour beziehen (Original: Hermes III: La traduction, Paris 1974, Editions de Minuit).

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Ebola und die Rationalität des Irrationalen

Auf der Suche nach Rechtssoziologie unter fremdem Namen lese ich gerade wieder ethnologische Literatur. Dort werde ich immer wieder fündig. So gibt es in Halle eine LOST-Research Group. LOST steht für Law, Organisation, Science and Technology. Thema ist die weltweite Diffusion [1]Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst … Continue reading von Ideen und Artefakten, wissenschaftlich-technischen und juristisch-rganisatorischen Problemlösungen. Auf der Internetseite des Projekts liest man:

»The current research programme investigates the hypothesis that the global spread and increasing importance of the principle of equal rights simultaneously triggers two opposing developments: (1) the spread of techno-scientific and organizational solutions that reproduce tacit claims to universal objectivity, and (2) the spread of the right to self-determination that fosters various forms of relativism. The programme investigates the interactions and tensions between these opposing tendencies in different negotiations involving legal and scientific arguments.«

Konkreteres erfährt man dort allerdings nicht, und auch die Suche nach Publikationen aus dem Projekt war vergeblich. Immerhin ist aus dem Umfeld von Rottenburg gerade ein Sammelband erschienen, der mein Interesse geweckt hat [2]Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.. Bei der dadurch veranlassten Lektüre der theoretischen Arbeiten Rottenburgs bin ich auf einen Satz gestoßen, der mir nicht aus dem Kopf will, nachdem ich in diesen Tagen von der Ebola-Epidemie in Westafrika lese und erfahre, auf welche durch traditionelle Bräuche und Überzeugungen bedingte Schwierigkeiten oder gar Abwehr die Bekämpfung der Seuche stößt.

»Die Ethnologie ist seit Beginn des 20ten Jahrhunderts mit der Herausforderung beschäftigt, fremde Kulturen zu analysieren und zu beschreiben, um sie gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität zu verteidigen.« [3]Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, … Continue reading

Auf der Ebene der Wissenschaftstheorie kommt man um die Anerkennung der Relativität von Realitäten nicht herum. Aber in der technischen und auch in der sozialen Welt gibt es harte Realitäten, deren Ausblendung durch indigene und neotraditionale Kulturen man wohl doch irrational nennen darf oder gar muss. Ethnologen, die prinzipiell fremde Kulturen gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität verteidigen wollen, haben da ein Problem.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Diffusion ist für die Hallenser Ethnologen allerdings eher ein Unwort. Rottenburg hat über mehr als zehn Jahre eine Theorie der »Übersetzung« ausgearbeitet, über die ich vielleicht demnächst noch berichten werde.
2 Andrea Behrends/Sung-Joon Park/Richard Rottenburg (Hg.), Travelling Models in African Conflict Management, Translating Technologies of Social Ordering, Leiden 2014.
3 Richard Rottenburg, Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten, 2003, 153-174, S. 160.

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Campact – Protest auf Bestellung

Auch in Zeiten elektronischer Vernetzung ist politischer Protest ist selten ganz spontan derart dass ein Eintrag auf Youtube, Facebook oder Twitter sich wie ein Virus verbreitet. Der Protest wird in der Regel von Parteien, Interessenorganisationen oder sozialen Bewegungen irgendwie gestartet und organisiert. Das ist völlig in Ordnung und legitim, denn anders hat politischer Protest praktisch keine Chance. Anders liegt es aber vielleicht doch, wenn ein Vielzweckorganisator auftritt, der bereit ist, mehr oder weniger jeden Protest, der sich gegen die institutionalisierte Politik richtet, zu organisieren. Eine solche Multi-Purpose-Protestagentur ist Campact. Alles, wogegen sich oppositionelle Kräfte mobilisieren lassen, kann Thema für eine Kampagne werden. 1.433.986 Emailadressen hat man nach eigenen Angaben gesammelt, und Hunderttausende davon sind immer wieder bereit, sich per Mail, Facebook oder Twitter anzuhängen, wenn es heißt: Stoppt die Politik! Stoppt TTPI! Fracking stoppen! Am 23. 6. Antikohlen-Kette in der Lausitz – stoppt den Klimakiller! Diskutiert und argumentiert wird nicht lange. Was nicht passt, wird mit einem Stopp-Schild versehen. Der Stopp-Imperativ impliziert, dass es sich um etwas Böses handeln muss. Das ganze Unternehmen heißt dann »Demokratie in Aktion«.

Was soll die Politik von solcher Polittechnologie halten? Die guten alten Unterschriftenlisten zeigten mindestens die ernste Betroffenheit der Unterzeichner, selbst wenn sie nicht durch Sorge für das Gemeinwohl, sondern bloß an Nimby interessiert waren. Anders, wer sich im Monatsrhythmus für unterschiedliche Kampagnen mobilisieren lässt. Protest wird damit zu einem expressiven Verhalten, zum Selbstzweck, weil er billig Frust abbaut oder gar Spaß macht. Da verlieren Flashmobs und Twitterstorms ihren Schrecken. Die Politik darf sie so schnell vergessen wie wir die Sommergewitter, die in diesem Wochen über uns ziehen. Auch Präsenzprotest ist nicht mehr das, was er einmal war. Er bleibt immerhin lästig, wenn auch die vermummten Gewalttäter, auf die Campact sicher gern verzichten würde, den Protestaufrufen folgen. Die Frage ist allerdings, ob hinter der Polittechnologie von Campact eine Meta-Agenda steckt. Ich weiß es nicht.

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Globale Modernisierung: Die World Trade Organization wird zur World Tourism Organization

Gestern war ich in Münster, wo vor Gästen der Kolleg-Forschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« deren Fellow Professor Dr. Volker Schmidt (National University of Singapore, Department of Sociology) sein neues Buch »Global Modernity, A Conceptual Sketch« [1]Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S. zur Diskussion stellte. Vielleicht komme ich noch dazu, eine kleine Besprechung des Buches zu schreiben. Es ist eine Besprechung wert. Aber Rezensionen sind mühsam. Daher bringe ich heute nur einen Gedanken zu Papier, der mir gestern Abend (nach Weingenuss) durch den Kopf ging. Zuvor nur zwei Bemerkungen zu diesem Buch. Erstens: Die Forschergruppe hat die Modernisierungstheorie vor allem unter dem Gesichtspunkt einer »normativen Moderne« im Blick, den ihr Leiter, Thomas Gutmann, ausarbeitet. Zweitens: Schmidt entwickelt auf der Grundlage der Systemtheorie ein Konzept, das die dritte Phase der Modernisierung erfassen soll. In der ersten Phase lag der Schwerpunkt der Modernisierung in Europa, und hier am Ende in England. In der zweiten Phase verlagerte er sich in die USA. Noch immer sprechen Kritiker der Modernisierungstheorie von einem westlichen Modell. Sie haben – so Schmidt – noch nicht wahrgenommen, dass sich der Schwerpunkt der Entwicklung nach Asien verlagert hat und dass die Modernisierung zu einem definitiv globalen Prozess geworden ist. [2]Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ … Continue reading

Nun zu meinem Hirngespinst. Im Raum (ganz hinten in der Ecke) stand die These, dass Europa an Gewicht verliere, und auf die Frage, warum das so bedeutsam sei, erhielt ich zu Antwort, dass Europa dann etwa in der WTO an Verhandlungsmacht verliere und sich, wie heute die Entwicklungsländer, die Regeln des Welthandels aus anderen Regionen der Welt diktieren lassen müsse. Meine Überlegung dazu: Bis es soweit kommt, interessiert der Welthandel kaum noch. Eine Folge der unaufhaltsam fortschreitenden Modernisierung wird sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Regionen der Welt was ihre Versorgung mit materiellen Gütern betrifft, autark sein werden. Der Welthandel wird schrumpfen, denn Rohstoffe verlieren an Bedeutung. Öl, Kohle und Gas werden durch erneuerbare Energien ersetzt, die lokal gewonnen werden können. Andere Rohstoffe werden recycelt oder substituiert. Billigarbeitskräfte, die Hemden nähen und Handys zusammenbauen, wird es auf Dauer nirgends mehr geben. Die Produktion wird daher an den Ort des Verbrauchs zurückgeholt und dort weitgehend automatisiert. Landwirtschaftliche Produkte aller Art, soweit sie nicht gentechnisch den jeweiligen klimatischen Verhältnissen angepasst werden können, lassen sich nach holländischem Vorbild im Treibhaus ziehen. Wirtschaftliche Autarkie war immer wieder Traum der Politik. Die Modernisierung könnte aus dem Traum Wirklichkeit werden lassen – und aus der World Trade Organization wird dann vielleicht die World Tourism Organization [3]Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Basingstoke 2014, ISBN 9781137435804, 100 S.
2 Auf frühere Beiträge Schmidts zur Modernisierungstheorie habe ich im Eintrag vom 24. 9. 2012 Hingewiesen: Kritik der Konvergenzthese III: Eisenstadts »Vielfalt der Moderne«[ https://www.rsozblog.de/kritik-der-konvergenzthese-iii-eisenstadts-vielfalt-der-moderne/].
3 Die gibt es schon als UNWTO. Aber dadurch lasse ich mir meinen Gag nicht verderben.

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Die Ukraine historisch: Das lebende Recht der Bukowina – Idylle oder Elend?

Die Ukraine beherrscht zurzeit die Medien. Was dort geschieht, ist nach den Maßstäben der Merkel-Republik kaum verständlich. Immer wieder müssen wir uns bewusst machen, dass viele Ereignisse sich nur durch Gefühle erklären lassen, die historisch – und das heißt auch ethnisch, religiös, sozial und durch Gewalt – geprägt worden sind.

1913 erschien Eugen Ehrlichs »Grundlegung der Soziologie des Rechts« Aus diesem Anlass hatte ich zusammen mit Stefan Machura einen Artikel über Ehrlichs Rechtspluralismus geschrieben, der im Dezember 2013 in der Juristenzeitung erschienen ist [1]Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: … Continue reading Nun habe ich zufällig im Bücherschrank meines Bruders ein Buch gefunden, das mir zu denken gibt. Es handelt sich um Martin Pollack, Der Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Paul Zsolnay Verlag Wien 2010, als DTV-Taschenbuch 2013.

Galizien, bis zum Ende des ersten Weltkriegs ein österreichisches Kronland, setzte sich aus Teilen Polens und der westlichen Ukraine zusammen. Bis zum Großpolnischen Aufstand 1848 gehörte auch die Bukowina Ehrlichs zu Galizien. Danach wurde sie selbständiges Kronland. Der südliche Teil der Bukowina gehört heute zu Rumänien. Die Nordbukowina mit Czernowitz, wo Ehrlich zu Hause war, ist Teil der Ukraine.

Martin Pollock schildert in seinem Buch, wie etwa zwischen 1870 und dem ersten Weltkrieg Hunderttausende verarmter Menschen, in die USA und teilweise auch nach Kanada und Brasilien auswanderten, man muss sagen, ausgewandert wurden. Eine gute Inhaltsangabe bietet die (namenlose) Rezension der NZZ vom 15. 12. 2010. [2]Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.

Das »galizische Elend« war sprichwörtlich. Etwa ab 1870 wuchs die Bevölkerung Galiziens enorm, von etwa 5,5 Millionen auf 8,2 Millionen Einwohner 1914. Da die große Masse von der Landwirtschaft lebte, die durch rückständige Bewirtschaftungsmethoden und die Realteilung im Erbfall zunehmend verelendete, gingen die Menschen in großer Zahl als Saisonarbeiter nach Deutschland, Frankreich oder Dänemark, oder sie wanderten aus nach Übersee. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung lag bei 10 %. Zwischen 1880 und 1910 wanderten insgesamt 236.504 von ihnen in die Vereinigten Staaten aus.

Pollacks Buch ist von der Kritik gelobt worden, weil es ein Sachbuch mit literarischem Anspruch sei, dass diesen Anspruch mit der Schilderung von persönlichen Schicksalen realisiert. Ich kann dieses Lob nicht ganz teilen. Die persönlichen Schicksale bleiben blass; sie beschränken sich auf wenige Daten über Herkunft, Hin- und manchmal Rückfahrt nach Amerika und einige allgemeine Bemerkungen über unfallträchtige Arbeit in Bergbau und Stahlindustrie. In keines dieser Schicksale habe ich mich wirklich hineinversetzen können, auch nicht in das des Mendel Beck, der planlos durch das ganze Buch herumgeistert. Aber auch als Sachbuch ist der Band nicht wirklich informativ. Das Kapitel über »Das galizische Elend in Ziffern« ist unergiebig. Aus Wikipedia-Artikeln über Galizien und über Auswanderung erfährt man mehr. Bessere Informationen zur Bukowina bietet eine Internetseite von Prof. Dr. Peter Maser/Münster mit der Überschrift »Galizien: Grenzlandschaft des alten und neuen Europa«. Und dennoch: Pollocks Buch hat mich bewegt und kommt mir jetzt wieder in den Sinn, wo ich jeden Tag über die Ukraine höre und lese. Nicht nur deshalb ist es aktuell. Es schärft auch den Blick für die Armutsfluchtbewegung aus Afrika.

Aus Pollocks Buch erfährt man naturgemäß wenig über das »lebende Recht der Bukowina«. Immerhin: Auf S. 43 ff (»Handel mit delikatem Fleisch«) liest man einiges über Prostitution und den florierenden Mädchenhandel [3]Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen … Continue reading, auf S. 59 (»Zum Engelmachen unterbracht«) über die gängige Abtreibungspraxis. Und auf S. 109 ff (»Ein Massenprozess«) erfährt man von einer Justizaktion gegen 65 betrügerische Auswanderungsagenten und korrupte Beamte, von denen 31 verurteilt wurden. Viele seiner Informationen hat der Autor anscheinend aus den Prozessakten. Leider sind die Informationen über den Prozess über das halbe Buch verstreut. [4]In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen … Continue reading Harmlos dagegen S. 73f: Eier, Butter und Käse gehören traditionell der Bäuerin, die Bienen und ihre Produkt hingegen sind Eigentum des Mannes. Beides wird verkauft, um mit dem Erlös die wichtigsten Anschaffungen zu tätigen. Ich überlege mir aber, ob der Hintergrund des »galizischen Elends« in irgendeiner Weise die Bewertung von Ehrlichs Rechtspluralismus tangiert. Kein Wunder, dass in dem geschundenen Galizien das offizielle Recht der österreichischen Monarchie keine gute Chance hatte. Ehrlich kannte natürlich das »galizische Elend«, insbesondere das der Juden [5]In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und … Continue reading Sein »lebendes Recht« erscheint vor diesem Hintergrund jedoch eher wie eine Idylle.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117-1128. Natürlich gab es im Jubiläumsjahr mehr Würdigungen für Ehrlich: Mikhail Antonov, Eugen Ehrlich – State Law and Law Enforcement in Societal Systems, Rechtstheorie 44Heft 3, 275-286; Hubert Rottleuthner, Das Lebende Recht bei Eugen Ehrlich und Ernst Hirsch, Zeitschrift für Rechtssoziologie 33, 2012/191-206. In demselben Heft (S. 322-325) bespricht Stefan Machura den von Heinz Barta/Michael Ganner/Voithofer Caroline herausgegebenen Sammelband »Zu Eugen Ehrlichs 150. Geburtstag und 90. Todestag« Innsbruck 2013.
2 Eine Rezension von Jörg Plath für Arte-TV unter http://www.arte.tv/de/pollack-martin-kaiser-von-amerika/3655690.html.
3 Auf einer Internetseite, die aus der Universität Lemberg kommt, heißt es dazu: »Sozusagen ein ›Nebenprodukt‹ der organisierten Emigration war der Mädchenhandel – nach seriösen Schätzungen wurden pro Jahr mindestens 10.000 Mädchen aus Galizien an Bordelle in Südamerika, Ägypten oder auch Indien verkauft. Die österreichischen Behörden sahen dem Treiben der Auswanderungsagenten weitgehend tatenlos zu, sie wollten bloß verhindern, dass wehrpflichtige Personen das Land verließen. Nur in einzelnen, besonders krassen Fällen wurden Agenten zur Verantwortung gezogen«.
4 In der Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Freimann-Sammlung) findet sich eine zeitgenössische Zusammenstellung von antisemitischen Prozessberichten aus verschiedenen Zeitungen.
5 In einem Vortrag aus dem Jahre 1909 empfahl er zur Abhilfe die Assimilierung der Juden und die Industrialisierung der Bukowina: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage), in: Eugen Ehrlich, Politische Schriften, hrsg. von Manfred Rehbinder, 2007, 131-151.

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Luhmanns Rechtsgeltungslehre: Ein Rechtssystem oder viele?

Wer in der Rechtstheorie etwas auf sich hält, fordert eine neue Rechtsquellenlehre. [1]Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184. Wie sie aussehen soll, scheint klar zu sein: heterarchisch und pluralistisch. Was das konkret bedeutet, bleibt allerdings ziemlich offen. Wir sehen bei der Überarbeitung der Allgemeinen Rechtslehre [2]Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008. noch nicht so klar, ob und wie die Rechtsquellenlehre zu erneuern ist.

Wir sind immerhin entschlossen, die Relativität der Rechtsquellenlehre zu betonen. Es gibt – so unser Ausgangspunkt – keinen universellen Rechtsbegriff, und daher gibt es auch keine universelle Rechtsquellenlehre. Die Rechtsquellenlehre ist vielmehr relativ zu dem Rechtssystem, für das sie maßgeblich sein soll. Dieses Rechtssystem wiederum wird durch ein Gerichtssystem individualisiert. Es ist die Aufgabe der Rechtsquellenlehre, den Richtern auf ihre Frage zu antworten: Wonach sollen wir judizieren? Ungeachtet aller inneren Differenziertheit betrachten wir das staatliche Gerichtssystem als eine Einheit und gelangen so zu einer Rechtsquellenlehre für eben dieses Gerichtssystem. Aus der Abhängigkeit der Rechtsquellenlehre vom Gerichtssystem folgt, dass jeder Staat über seine eigene Rechtsquellenlehre verfügt. Darüber hinaus haben staatsunabhängige und/oder übernationale Gerichtssysteme ihre eigenen Rechtsquellen.

Andererseits stehen alle Rechtsquellenlehren vor ähnlichen Problemen. Sie müssen mehr oder weniger alle die gleichen Elemente verarbeiten und deren Verhältnis zueinander klären: Staatliche Gesetze und internationale Rechtsregeln, juristische Lehrmeinungen, naturrechtliche Forderungen, richterliche Präjudizien, autonome Satzungen, administrative, technische und soziale Normen (Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Handelsbrauch, Geschäftsbedingungen, betriebliche Übung) Soft Law verschiedener Provenienz und gesellschaftliche Erwartungen, kurzum das ganze Angebot, das heute unter dem Titel des Rechtspluralismus vorgestellt wird.

Die übliche Antwort auf die Frage, wonach die Gerichte judizieren sollen, lautet: Nach geltendem Recht. Damit baut die Rechtsquellenlehre auf einer Theorie der Rechtsgeltung auf. Das ist jedoch nur beschränkt hilfreich, weil das Problem der Rechtsgeltung meistens abstrakt philosophisch für das Recht schlechthin erörtert wird, also nicht im Hinblick auf ein bestimmtes abgrenzbares Rechtssystem. Zu einer Rechtsquellenlehre passen deshalb nur solche Theorien, die die Geltung der Normen gerade des Rechtssystems begründen, für das die Rechtsquellenlehre maßgeblich sein soll. Diesen Anforderungen genügen praktisch Kelsens Theorie der Grundnorm und Harts Anerkennungslehre.

Eine der Fragen, die die Rechtsquellenlehre umtreibt, ist die nach der Existenz transnationalen Rechts oder gar eines Weltrechts. Besonders in diesem Zusammenhang wird häufig die Rechtsgeltungstheorie Luhmanns herangezogen, stets affirmativ und oft als so selbstverständlich, dass nicht einmal auf ihre Quelle verwiesen wird.

»Was wir hier beobachten, ist ein sich selbst reproduzierender Rechtsdiskurs globalen Ausmaßes, der seine Grenzen durch Benutzung des binären Codes Recht/Unrecht schließt und sich selbst durch Prozessieren eines Symbols globaler (nicht: nationaler) Geltung reproduziert.« [3]Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung … Continue reading.

Bei Fischer-Lescano/Teubner, Regimekollisionen, 2006, 42 ist zu lesen:

»Ein einheitliches Weltrecht reproduziert sich durch die Autopoiese von Rechtsoperationen, die … letztlich alle auf die binäre Codierung von Recht/Unrecht ausgerichtet sind. Nur gründet sich die Einheit des Weltrechts nicht mehr strukturell wie im Nationalstaat auf gerichtshierarchisch abgesicherter Konsistenz des Normgefüges, sondern bloß noch prozessual auf den Verknüpfungsmodus der Rechtsoperationen, über den auch ganz heterogene Rechtsordnungen verbindliche Rechtsgeltung transferieren.«

Und noch ein drittes Beispiel:

»Jenseits der nationalen Rechtsordnungen und des Völkerrechts ist eine neue transnationale Form des Rechts im Entstehen begriffen. … Dieses transnationale Recht ist jedoch intern fragmentiert, es entsteht im Kontext partikularer Regimes. Diese Regimes operieren zwar in einem einheitlichen Medium der Rechtsgeltung, sind aber auf der Ebene ihrer Rechtsanwendungsregeln voneinander unabhängig.« [4]Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.

Ich habe nirgends eine ausführliche Darstellung und Würdigung von Luhmanns Geltungslehre gefunden. Deshalb will ich versuchen, sie mir selbst aus seinen Texten zu erschließen, und zwar vor allem unter dem Aspekt, ob diese Geltungslehre ein universelles Rechtssystem postuliert oder ob sie viele Rechtssysteme akzeptiert. Dabei ist von vornherein klar, dass Luhmanns Geltungstheorie eine soziologische Beobachtertheorie und keine juristische Reflexionstheorie bildet. Das betont Luhmann doppelt. [5]Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523. Bei denen, die diese Theorie heranziehen ist das nicht immer so klar. Auch Luhmann selbst kann der Versuchung, aus der soziologischen Theorie Konsequenzen für die juristische Rechtsquellenlehre abzuleiten, nicht ganz widerstehen. [6]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282. Darauf wird zurückzukommen sein.

Keine Frage auch: Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in die großen Teilsysteme, von denen das Recht eines darstellt, wird bisher immer noch von der sektoriell-territorialen Differenzierung überlagert. 1971 hatte Luhmann darauf hingewiesen, es bestehe eine zunehmende Diskrepanz zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kommunikation, die längst zur Weltgesellschaft zusammengewachsen seien, und dem positiven Recht, das immer noch innerhalb territorialer Grenzen als nationales Recht in Geltung gesetzt werde. [7]Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35. Die von Luhmann wiederholt betonte Einheit des Rechtssystems ist oder war die Einheit vieler nationaler Rechtssysteme. Wollten wir Luhmann folgen, so wäre die Suche nach einem universellen Weltrechtssystem müßig. Er meinte, das Rechtssystem habe sich im Hinblick auf die Erfordernisse des territorial begrenzten Nationalstaates in einem komplizierten Kopplungsverhältnis mit der Politik entwickelt, so dass schwer vorstellbar sei, wie es auf Weltebene eine Entsprechung finden könne. Die Summe seiner Rechtssoziologie, das »Recht der Gesellschaft« von 1993 endet mit der Prognose:

»Es kann daher durchaus sein, daß die gegenwärtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als eine europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird.«

Die Nach-Luhmann-Generation der Systemtheorie will diese Prognose nicht akzeptieren. Sie geht davon aus, dass die Weltgesellschaft ebenso wie bisher die Staaten auf das Funktionieren des Rechtscodes angewiesen sei und postuliert die laufende Schwächung der territorialen Rechtssysteme zugunsten eines transnationalen Rechtssystems. Für die Entstehung und Existenz dieses transnationalen Rechts spielt das »Symbol« oder »Medium« der Rechtsgeltung eine wichtige Rolle.
Die zentrale Textstelle, mit der Luhmann seine Geltungstheorie vorstellt, findet sich im »Recht der Gesellschaft« (RdG) 1993, S. 98:

»Ebenso wie andere Funktionssysteme verfügt auch das Rechtssystem über ein Symbol, das die Einheit des Systems im Wechsel seiner Operationen erzeugt. Im Unterschied zu Reflexionstheorien … handelt es sich bei einem solchen Symbol nicht um eine Beschreibung des Systems, sondern um eine operative Funktion. Das Symbol leistet also nicht eine Verknüpfung von Beobachtungen, sondern eine Verknüpfung von Operationen – obwohl natürlich alle Operationen im System beobachtet und beschrieben werden können und somit auch das Systemsymbol selbst. Die operative Symbolisierung setzt tiefer an als die Beobachtungen, sie ist für den Fortgang von Operation zu Operation, also für das Herstellen von rekursiven Bezügen und für das Finden von Anschlußoperationen unentbehrlich – was immer dann ein Beobachter daran zu unterscheiden und zu bezeichnen vermag. Den Begriff ›Symbol‹ wählen wir deshalb, weil es darum geht, in der Verschiedenheit der Operation die Einheit des Systems zu wahren und zu reproduzieren. Dies leistet im Rechtssystem das Symbol der Rechtsgeltung. … Ebenso wie Geld ist auch Geltung ein Symbol … ›Geltung‹ symbolisiert, … wie das Geld, nur die Akzeptanz der Kommunikation, also nur die Autopoiesis der Kommunikationen des Rechtssystems.«

Die Autopoiesis des Rechtssystems funktioniert dadurch, dass Rechtskommunikationen an Rechtskommunikationen (und nur an solche) anschließen. Rechtskommunikationen sind daran erkennbar, dass sie die Leitunterscheidung (den »Code«) von Recht und Unrecht verwenden. Schwierigkeiten bereitet (mir) zunächst die Frage, was genau es heißt, auf den Recht/Unrecht-Code zu abzustellen.

Von »Recht« zu reden genügt nicht, um sich im Rechtssystem zu bewegen. Verwende ich den Code, wenn ich ihn hier erwähne und problematisiere? Sicher nicht. Auch der Rechtshistoriker, der Rechtsentwicklungen beschreibt und deutet, hat seine Mitteilungen nicht nach Recht und Unrecht codiert.

»In der Umwelt des Rechts kann es zwar Sinnverweisungen auf das Recht geben – etwa Rechtsunterricht, Reportage über Gerichtsfälle in Zeitungen –, aber keine Operationen, die durch Zuordnung der Werte Recht bzw. Unrecht hat an der Reproduktion des Rechtssystems mitwirken.« [8]Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.

Recht hat eine normative Funktion, und deshalb gehört

»ins Rechtsystem selbst nur … eine Kommunikation, die eine Zuordnung der Werte ›Recht‹ und ›Unrecht‹ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem«. [9]RdG S. 67.

Zur Verwendung des Codes gehört also, dass der Kommunizierende eine Rechtsbehauptung aufstellt, wie trivial auch immer sie sei. Es kommt nicht darauf an, wer kommuniziert, also darauf, ob der Kommunizierende eine besondere Rolle im Rechtsystem – als Richter, Anwalt usw. – ausfüllt. Auch der Laie kann an der Rechtskommunikation teilnehmen. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Kommunizierende ein Recht für sich in Anspruch nimmt, ein Recht für andere geltend macht oder ganz abstrakt darüber redet, dass dieses oder jenes als Recht anzusehen sei. Es kommt weiter nicht darauf an, ob aktuell geltendes Recht behauptet (oder bestritten) wird oder ob die Änderung bestimmter Normen vorgeschlagen oder gar gefordert wird. [10]RdG S. 68 So gehört eine Gesetzesinitiative des Bundesrats ebenso zur Rechtskommunikation wie ein Leserbrief, der sie kritisiert. Luhmann lässt daran eigentlich keinen Zweifel. In dem Aufsatz »Die Codierung des Rechtssystems« von 1986 [11]Rechtstheorie 17, 1986, 171-203. unterscheidet er zwischen dem von ihm gemeinten Rechtssystem und Organisationssystemen des Rechts, nämlich solchen die »mit professioneller Sachkunde durch dafür eingerichtete Organisationen Recht erkenn[en] und Entscheidungen über Recht herbeiführ[en]«. Weiter ist zu lesen

»Nicht nur der organisatorisch-professionelle Komplex, sondern alle Kommunikationen, die auf den Rechtscode Bezug nehmen, sind Operationen des Rechtssystems – gleichgültig ob es sich um bindende Entscheidungen handelt, oder um ›private‹ Rechtsbehauptungen, um kautelarische Vorsorge für Rechtspositionen oder um Versuche, sich angesichts eines drohenden Rechtsstreites zu verständigen. Alle rechtlich codierten Kommunikationen ordnen sich eben durch die Zuordnung zu diesem Code dem Rechtssystem ein. Dies kann nur entweder geschehen oder nicht geschehen, es gibt keine Halbheiten oder Zwischenzustände.« [12]S. 178..

Das ist deutlich. In Fn. 9 spricht Luhmann von der für die Theorie autopoietischer Systeme fundamentalen »Alles-oder-Nichts Annahme«. Das Rechtssystem verträgt also auch Trivialkommunikation. Doch transportiert diese auch das Symbol der Rechtsgeltung? Zweifel kommen auf, wenn zu lesen ist:

»Wir verlagern das Problem deshalb auf die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur den Vollzug des Übergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher geltenden Rechtszustands.« [13]RdG S. 102

Passt das noch für alle Rechtskommunikationen? Die Zweifel werden verstärkt, wenn es in einem älteren Aufsatz Luhmanns heißt:

»daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich mithin in ständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag und Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [14]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.

Bisher war ich davon ausgegangen, dass jede Rechtskommunikation in dem oben ausgeführten Sinne eine »Elementareinheit des Rechtssystems« bildet, und zwar auch die triviale Rechtskommunikation, also etwa der Leserbrief, der zu einer rechtspolitischen Frage Stellung nimmt, oder der Jammer meines Nachbarn, das Gericht, das ihn verurteilt habe, habe falsch entschieden. Wie könnte solche Trivialkommunikation das Symbol der Rechtsgeltung pflegen? Laien können dieses Symbol immerhin in Rechtsgeschäften weiterreichen. Sonst »zirkuliert« es wohl doch eher in der professionellen Rechtskommunikation oder gar im Organisationssystem »Recht«, denn

»bei Vermehrung unkoordinierter Normprojektionen [wird] der Punkt erreicht, an dem eine quasi naturwüchsige Reflexivität im normativen Erwarten normativen Erwartens keine Lösungen mehr liefert und ersetzt werden muß durch die Ausdifferenzierung eines organisierten Entscheidungssystems im Recht, das dann die Blicke auf sich zieht und ein Netzwerk von offiziell geltenden Normen entwickelt«. [15]RdG S. 162.

Daher entsteht als

»Bedingung einer universellen und verläßlich erwartbaren Codierung nach Recht/Unrecht, im Rechtssystem ein engerer Bereich des rechtlich verbindlichen Entscheidens – sei es zur Feststellung, sei es zu zur Änderung des Rechts. Hier handelt es sich um ein organisiertes Teilsystem, das heißt um ein System, das sich durch die Unterscheidung von Mitgliedern/Nichtmitgliedern ausdifferenziert und die Mitglieder in ihrer Mitgliedschaftsrolle verpflichtet, Entscheidungen zu produzieren, die sich nach den (innerhalb der Organisation änderbaren) Programmen des Systems, also nach den Rechtsnormen richten. Wir haben für dieses Entscheidungssystem des Rechtssystems nur Bezeichnungen für die dann wieder differenzierten Subsysteme, nämlich Gerichte und Parlamente …, aber keine Bezeichnung für die Einheit dieses Systems. Wir werden deshalb von einem organisierten Entscheidungssystem des Rechtssystems sprechen« [16]RdG S. 144f.

Das Entscheidungssystem ist also ein Teilsystem des Rechtssystems überhaupt und verfügt seinerseits über diverse Subsysteme. Luhmann nennt nur Gerichte und Parlamente. Aber man wird auch Verwaltungen, die Anwaltschaft und die Rechtswissenschaft als Subsysteme dieses Teilsystems einordnen dürfen. Wenn dem so ist, das heißt, wenn das Entscheidungssystem die Gestalt von einer oder mehreren Organisationen hat, dann gibt es so viele Entscheidungssysteme wie es Gerichtssysteme gibt, nämlich mindestens in jedem Staat eines, daneben weitere im übernationalen Raum und vielleicht auch innerhalb der Staaten.

Es bleibt auch nicht dabei, dass jede Rechtskommunikation zählt, wie trivial und laienhaft sie auch immer sei. Erforderlich ist vielmehr ein qualifiziertes Rechtshandeln.

»Die wichtigste theoretische Konsequenz ist: daß Ereignisse nur dann die Qualität einer Elementareinheit des Rechtssystems erhalten können, wenn sie die Rechtslage ändern. Der Grund der Einheitszuschreibung ist eben, daß man dadurch die Differenz von Kontinuität und Diskontinuität operationalisiert und daß man daraufhin im Normalfalle hinreichend leicht und hinreichend rasch feststellen kann, was sich durch ein bestimmtes Rechtshandeln geändert hat. … die Selbstreproduktion des Rechts vollzieht sich als Rechtsänderung, als Übertragung der Qualität normativer Geltung auf partiell neue Erwartungen. Das Recht befindet sich in beständiger Bagatellvariation, und die bewährten Großfiguren wie Vertrag oder Gesetz sind nur ausdifferenzierte Formen dieses Geschehens.« [17]Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.

Deutlicher noch ist RdG S. 107 f:

»Nicht jede Rechtskommunikation transportiert allerdings Geltung in diesem Sinne, zum Beispiel nicht das bloße Anmelden von Rechtsansprüchen. Es muß sich um rechtswirksame Entscheidungen handeln. Diese liegen aber nicht nur in den Entscheidungen des Gesetzgebers und der Gerichte, sondern in breitestem Umfang auch in der Gründung von Korporationen und in Verträgen, die in die Rechtslage eingreifen und sie ändern. Es genügen einseitig verbindliche Erklärungen (zum Beispiel Testamente), nicht aber bloße Fakten, die Rechtsfolgen auslösen – etwa der Tod eines Erblassers oder eine strafbare Handlung. Ähnlich wie im Wirtschaftssystem die Geldzahlung ist auch im Rechtssystem der Geltungstransfer nicht identisch mit der Gesamtheit der Systemoperationen; aber es handelt sich um diejenigen Operationen, die die Autopoiesis des Systems vollziehen und ohne die die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems nicht möglich wäre.«

Aus dem umfassenden Kommunikationssystem des Rechts wird damit ein »Rechtssystem im engeren Sinne« [18]Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62. herausgehoben. Von dem großen universellen Rechtssystem bleibt nicht viel übrig, und wir können an unserem Ausgangspunkt festhalten. Wenn wir in einer (als Reflexionstheorie des Rechts systemtheoretisch angeleiteten) Rechtstheorie von Rechtsgeltung reden, reden wir über Rechtsgeltung im Entscheidungssystem. Aufgabe der Rechtsquellenlehre ist es dann, das für ein bestimmtes Entscheidungssystem geltende Recht zusammenzustellen. Das bedeutet also, die Rechtsquellenlehre ist relativ zu dem jeweiligen Entscheidungs- bzw. Gerichtssystem. Von der »Gesamtheit der Systemoperationen« dürfen wir getrost die große Masse vergessen und uns auf die herkömmlich dem Recht zugeordneten Elemente konzentrieren.

Damit ist Luhmanns Geltungstheorie aber nicht erschöpft. Immerhin soll das zirkulierende Geltungssymbol, wie Luhmann andeutet [19]Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279., den Rechtsquellenbegriff ersetzen und deshalb verlangt dieser Eintrag nach Fortsetzung.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Z. B. Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 184.
2 Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.
3 Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, Hier zitiert nach der Internetfassung http://www.jura.uni-frankfurt.de/42828668/BUKOWINA_DT.pdf, dort S. 13.
4 Moritz Renner, Zwingendes Rechts, 2011, 293.
5 Das Recht der Gesellschaft = RdG, 1993, 98 und 523.
6 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 282.
7 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57, 1971, 1-35.
8 Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 1986, 171-203, S. 178.
9 RdG S. 67.
10 RdG S. 68
11 Rechtstheorie 17, 1986, 171-203.
12 S. 178.
13 RdG S. 102
14 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 136.
15 RdG S. 162.
16 RdG S. 144f.
17 Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14, 1983, 129-154, S. 135f.
18 Gralf-Peter Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57-75, S. 62.
19 Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22, 1991, 273-286, S. 279.

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Schupperts Patchwork-Methode

Hoffmann-Riem hatte mir kürzlich einen Beitrag zu einem Kolloquium geschickt, mit dem im Oktober 2011 der Abschied Schupperts von einer Forschungsprofessur im WZB gefeiert wurde. [1]Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, … Continue reading Darin skizziert er eingangs die Schreibweise Schupperts:

»Der mit den Beiträgen dieses Bandes Geehrte – ich kürze ihn im Folgenden als GFS ab – hat in seinen vielen Büchern und Aufsätzen eine Arbeitsmethode genutzt, die manche Vertreter seiner Disziplin mit einer gewissen Verachtung (vielleicht auch geheimem Neid) zur Kenntnis nehmen, die aber für sein Anliegen besonders geeignet ist: Er baut Texte von Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen im Originalton in seine Analysen ein, kleidet sie aber durch einleitende und überleitende Kommentare nach Maßgabe der Schuppert’schen Haute Couture ein. Dies ist die offene Patchwork-Methode.«

Ich bin meinerseits schon dabei, diese Methode zu kopieren, indem ich Hoffmann-Riem ausführlich zitiere. Bevor ich damit fortfahre – denn Hoffmann-Riem hat mehr dazu zu sagen – will ich die Methode durch Bilder der ersten vier Seiten von Schupperts Buch, das ich im vorigen Eintrag besprochen habe, »Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit«, illustrieren. Es handelt sich um das Eingangskapitel mit den Seiten 15 bis 18. Die Bilder sollen nur einen Eindruck vom Layout vermitteln und sind deshalb kaum lesbar. Zuerst die Seite 15:
Schuppert_S_15
Sie enthält – ohne Überschriften – zehn Zeilen Eigentext und 23 Zeilen Zitat. Auf den Seiten 16 und 17 sodann zähle ich 32 Zeilen Eigentext und 53 Zeilen Zitat:

Schuppert_S_ 16-17
Auf Seite 18 schließlich kann man den Eigentext ohne Zählung überblicken.
Schuppert_S_18
Er besteht aus fünf Zeilen. Die Zitate dagegen haben 23 Zeilen. Insgesamt komme ich auf 47 Zeilen Eigentext und 99 Zeilen Fremdtext. Das ist grob gesprochen ein Verhältnis 1:2.

Die Zitate gewinnen dadurch zusätzliches Gewicht, dass sie von nur zwei Autoren stammen. Die ersten vier Zitate mit zusammen 45 Zeilen sind von Friedrich Schoch. [2]Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37. Die vier Zitate auf S. 17 und 18, zusammen 54 Zeilen, sind von Horst Dreier. [3]Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f. Ich habe sie nicht an Hand der Quellen überprüft.

Von einem Plagiat kann natürlich keine Rede sein, denn die Zitate werden klar und deutlich ausgewiesen. Hoffmann-Riem spricht deshalb von der offenen Patch-Work-Methode und sagt von ihr:

»Sie unterscheidet sich wohltuend von der im Wissenschaftsbetrieb nicht unüblichen verdeckten Patchwork-Methode. Über dieser schwebt allerdings seit kurzem das Damoklesschwert der Denunziation durch Computerfreaks – mit dem weiteren Risiko anschließender Entkleidung von Titeln und Ehrenzeichen. GFS braucht Aktivitäten wie die von GuttenPlag Wiki nicht zu befürchten.«

Auch urheberrechtlich halten sich die Anführungen im Rahmen des Zitatrechts nach § 51 Abs. 2 UrhG, denn eine Längenbegrenzung greift erst, wenn das Zitat im Verhältnis zu dem zitierten Werk unverhältnismäßig lang ist. Das Verhältnis der Gesamtsumme der Zitate zum eigenen Text interessiert nicht. Ich zitiere, jetzt aus einem Kommentar:

»Grundsätzlich ist ein Zitat … dann zulässig, wenn es als Beleg für eine vertretene Auffassung, zur Darstellung übereinstimmender oder abweichender Meinungen, zum besseren Verständnis der eigenen Ausführungen oder sonst zur Begründung oder Vertiefung des Dargelegten dient und nicht nur als beliebig austauschbares ›Anhängsel‹ ohne konkrete Belegfunktion. Nicht erforderlich ist, dass das Zitat ausschließlich zu einem solchen zulässigen Zweck angeführt wird.« [4]Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.

Zitate, die die eigene Ansicht nicht nur bestätigen, sondern auch deren eigenständige Ausformulierung erübrigen, gehen danach in Ordnung. Auch die »gute wissenschaftliche Praxis« gibt nichts her. [5]Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen. Es bleibt also dabei, dass vielleicht, wie Hoffmann-Riem meint, einige Kollegen das Verfahren Schupperts mit einer gewissen Verachtung zur Kenntnis nehmen. Neid könnte wohl nur daher rühren, dass sie es selbst nicht wagen.

An dieser Stelle gestatte ich mir eine kleine Abschweifung. Schon vor über einem Jahr hat mir Frau Cottier aus Basel ein Exemplar des von ihr zusammen mit Andrea Büchler verfassten Bandes »Legal Gender Studies« [6]Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012. dediziert. Er trägt den Untertitel »Eine kommentierte Quellensammlung«. Das ist wirklich ein schönes Buch. Ich habe es schon oft zu Rate gezogen, sei es um mich vorläufig zu orientieren, sei es, um wichtige Literatur aufzufinden. Eigentlich hätte ich längst eine Besprechung dieses Bandes schreiben wollen. Das kann ich hier nicht nachholen. Ich erwähne das Buch aus einem anderen Grunde. Die Verfasserinnen haben sich die Mühe gemacht, für jeden einzelnen der wohl etwa 140 zitierten Texte die Abdruckgenehmigung von Autor und Verlag einzuholen. Wozu eigentlich? Ihre Kommentierungen sind so gehaltvoll, dass die abgedruckten Texte jedenfalls nach deutschem Recht alle als Zitat durchgehen müssten.

Zurück also zu der kommentierten Quellensammlung von Schuppert. Hoffmann-Riem weiß auch zu erklären, warum die befürchtete »Verachtung« nicht als Kritik geäußert wird:

»Die offene Patchwork-Methode hat in der Community der transdisziplinär kommunizierenden Wissenschaftler noch einen weiteren Vorteil. Die mit ihr verbundene Verleihung einer Art Adelstitel an einen Autor, dessen Text GFS als Kronzeuge für wichtige Erkenntnisse im Originalton und unter Nennung des Autors und meist mit begleitenden freundlichen Worten zur Bedeutung des Beitrags aufgreift, nährt das Selbstbewusstsein (vielleicht auch die Eitelkeit) des so Geadelten.«

Nun ja, ob sich Schoch und Dreier geadelt fühlen, mag dahinstehen. Vielleicht ist der Effekt gerade umgekehrt der einer Autoritätsleihe für die eigene Meinung.

Die Patchwork Methode hat weiter den Vorzug, dass der ständige Wechsel verschiedener Textarten Ermüdungserscheinungen vorbeugt. Sie ist damit leserfreundlich und pädagogisch anregend. Insofern hat die Methode ein Vorbild im Casebook, das ja aus Ausschnitten aus Urteilen mit verbindenden Erläuterungen besteht. Analog könnte man vielleicht von Bookbook sprechen. Die pädagogische Absicht zeigt sich auch darin, dass er in jedem Absatz für einen oder mehrere Begriffe oder Phrasen Fettdruck vorsieht. in meinen uralten »Hinweisen zur BGB-Übung« hatte ich noch geschrieben (S. 2):

Verzichten Sie auf Fettdruck, Unterstreichung, Kursivschrift und Wechsel der Schriftgröße. Sonst wirkt das Schriftbild unruhig und der Leser wird meinen, Sie könnten sich allein mit Hilfe des Wortes nicht ausdrücken.

Aber im Lehrbuch verwende ich auch gerne Fettdruck. Das gilt auch für die Wahl von kursiv für Zitate. Ob man dann allerdings innerhalb der Zitate Teile des fremden Textes fetten darf, darüber lässt sich streiten.

Schließlich ist die offene Patchwork-Methode, jedenfalls aus der Feder von Schuppert, wissenschaftlich wertvoll.

»GFS nutzt eine besonders anspruchsvolle Spezies des wissenschaftlichen Patchworks. Die im Original zitierten Quellen sind nur die Bebilderung oder Plausibilisierung einer von GFS eigenständig entwickelten, theoretisch-konzeptionell ansprüchlichen Ausdeutung und Systematisierung wissenschaftlicher Befunde. Die reflektierte Bestandsaufnahme nutzt GFS als Basis, um den Staus quo bisherigen Wissens möglichst zu überwinden und neue Anstöße zu geben.«

Auf den vier Seiten aus Schupperts Buch, die ich hier herangezogen habe, lässt sich Hoffmann-Riems Urteil nicht ohne weiteres nachvollziehen, heißt es doch im Anschluss an das letzte Zitat: »Dieser Analyse ist nichts hinzuzufügen.« Sieht man aber auf das ganze Buch, so kann man ihm sicher Wissenschaftlichkeit bescheinigen. In Jurisprudenz und Sozialwissenschaften sind wir insoweit ja bescheiden.

Was folgt aus alledem? Für mich selbst ziehe ich die Konsequenz, künftig mehr nach der offenen Patch-Work-Methode zu arbeiten. Vor allem aber empfehle ich diese Methode für Qualifikationsarbeiten bis hin zur Dissertation. Vor Jahr und Tag habe ich auf die Schwierigkeit hingewiesen, Qualifikationsarbeiten zu stellen, die die Studenten nicht überfordern und sie dadurch in Versuchung bringen, mit der verdeckten Patch-Work-Methode zu arbeiten. [7]Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8 »Eine angemessene Aufgabe wäre vielleicht heute die Erstellung einer schlüssigen Kompilation zu vorgegebenen Themen (natürlich mit Quellenangaben).« So habe ich damals geschrieben. Diesen Vorschlag kann ich heute bekräftigen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Umbauten im Hause des Rechts angesichts des Wandels von Staatlichkeit, in: Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates, hg. von Andreas Voßkuhle, Christian Bumke und Florian Meinel = Der Staat, Beiheft 21, 2013, 347-370; alle Zitate von S. 347f.
2 Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2005, § 37.
3 Informales Verwaltungshandeln, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4, 1993, 647-681, S. 658f.
4 Raue/Hegemann in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimediarecht, Rn. 83 zu § 51 UrhG, nach Beck-online.
5 Ich habe die »Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zur Vermeidung wissenschaftlichen Fehlverhaltens an der Universität Hamburg« durchgesehen.
6 Andrea Büchler/Michelle Cottier, Legal Gender Studies – Rechtliche Geschlechterstudien. Eine kommentierte Quellensammlung, Dike Verlag Zürich/Nomos-Verlag Baden-Baden 2012.
7 Rechtssoziologisches zum Urheberrecht?, Eintrag vom 1. Juli 2009.8

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Die Vielfalt des Einfalls

Da glaubte ich, mit der Einfalt der Vielfalt einen hübschen neuen Gedanken gefunden zu haben. Und nun muss ich, wie so oft, feststellen, dass vielleicht nicht die Formulierung, aber doch der Gedanke über 100 Jahre alt ist. Der Gedanke von der Konformität des Strebens nach Einzigartigkeit findet sich nämlich schon in Georg Simmels berühmten, aber mir bislang unbekannten Aufsatz über die Mode, den ich hier aus dem Internet [1]Dem Soziologischen Institut der Universität Zürich sei Dank. zitiere: [2]Der Aufsatz muss schon vor 1900 entstanden sein, denn in der bei Suhrkamp erschienenen Gesamtausgabe ist er in Band 5 »Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900« wieder abgedruckt.
»Aus jener Tatsache nun, dass die Mode als solche eben noch nicht allgemein verbreitet sein kann, quillt für den Einzelnen die Befriedigung, dass sie an ihm immerhin noch etwas Besonderes und Auffälliges darstellt, während er doch zugleich innerlich sich nicht nur von einer Gesamtheit getragen fühlt, die das Gleiche tut, sondern außerdem auch noch von einer, die nach dem Gleichen strebt.«
Bei der Einfalt der Vielfalt, die ich meine, geht es allerdings nicht mehr, wie bei der Mode, um ein (scheinbar individuelles) Subjektmanagement, sondern darum, Vielfalt oder Pluralität zum Standard der Modernität geworden ist.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dem Soziologischen Institut der Universität Zürich sei Dank.
2 Der Aufsatz muss schon vor 1900 entstanden sein, denn in der bei Suhrkamp erschienenen Gesamtausgabe ist er in Band 5 »Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900« wieder abgedruckt.

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DFG fördert Raubkopie

Was Plagiate anbetrifft, bin ich leidgeprüft. Zwei Mal mussten Bücher eingestampft werden, weil sie komplette Kapitel meiner Rechtssoziologie übernommen hatten. 2002 hatte ein Student, der in Fribourg/Schweiz (u. a. bei den Professoren Niggli und Amstutz) studierte, für Lernzwecke eine Zusammenfassung des Buches auf 99 Seiten verfasst und ins Netz gestellt. Nachdem ich diese Arbeit im Internet fand, habe ich sie nachträglich gebilligt und selbst noch einmal ins Netz gestellt.

Nun bin ich auf eine Webseite gestoßen, die vier Paragraphen unserer Allgemeinen Rechtslehre, nämlich § 22 Die Struktur der Rechtsnorm (S. 189-198), § 24 Von der sozialen Norm zum Recht (S. 204-217), § 54 Das Recht als dogmatisches System (S. 438-443) sowie § 56 Die Einheit der Rechtsordnung (S. 451-456) als PDF anbietet: http://www.sfb-governance.de/teilprojekte/projekte_phase_1/projektbereich_a/a3/teama3/VL_OS/. Die Veröffentlichung stammt aus dem von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit« und ist Teil einer Vorlesung Juristische Methodenlehre von Matthias Kötter. Auch andere Autoren sind betroffen (Hoerster, Ino Augsberg, Rüthers van Aaken, Grimm). Vielleicht sind die aber gefragt worden. Wir nicht. Jedenfalls befinden wir uns da in guter Gesellschaft.

Als Autor weiß man nicht so recht, ob man sich über solche Raubkopien empören oder freuen soll, denn eigentlich liegt darin ja eine gewisse Anerkennung des Textes. Vor etwa einem Jahr habe ich im Netz eine Kopie unserer Darstellung der Diskurstheorie aus § 21 der Allg. Rechtslehre gefunden, die man nur gegen Entgelt herunterladen konnte. Das schien mir dann doch so kühn, dass ich dem Verlag Mitteilung gemacht habe. Da die 3. Aufl. von 2008 ohnehin ausverkauft ist, lohnt sich Aufregung nicht mehr. Jetzt ist es eher lustig, wie man in Berlin mit dem Urheberrecht umgeht.

Ich hoffe immerhin, die Berliner haben aus unserem Text etwas gelernt. Besonders § 24 ist einschlägig mit einer ausführlichen Darstellung des Rechtspluralismus und unser Stellungnahme zum Wandel der Staatlichkeit.
(Eintrag am 30. 9. 2013 geändert.)

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Paradoxologen unter sich. Anmerkungen zu Amstutz/Fischer-Lescano (Hg.), Kritische Systemtheorie

Wiederbelebungsversuche bei absterbenden Theorien sind nicht verboten. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass sich eine langsam vergreisende Großtheorie verjüngen lässt, indem man ihr die Überbleibsel einer bereits abgestorbenen einpflanzt. Im konkreten Fall geht es darum, Luhmanns Systemtheorie mit der Kritischen Theorie Frankfurter Schule zu reanimieren. Das ist das Ziel des von Marc Amstutz und Andreas Fischer-Lescano herausgegebenen Sammelbands »Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie«, der 2013 im Transcript-Verlag Bielefeld erschienen ist. Zu bewundern sind auf 406 Seiten eine Einleitung und siebzehn Beiträge voller Paradoxien-Origami.

Luhmanns Systemtheorie war groß, ja sie war die größte der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Warum ich Luhmann für so bedeutend halte, habe ich in einem Eintrag vom 8. 8. 2011 ausgeführt [1]Warum ist Luhmann so bedeutend und warum gehe ich auf Distanz?. Aber langsam wird seine Theorie zur Geschichte, denn sie lebte von der außerordentlichen Persönlichkeit ihres Autors. Ihre Zukunftsfähigkeit hat Luhmann selbst untergraben, weil er einem ungebremsten Konstruktivismus huldigte, weil er sich nicht damit begnügte, auf Rekursivität oder Reflexivität abzustellen, sondern die bei der Beobachtung von Beobachtung unvermeidliche Selbstreferenz zu Paradoxien hochstilisierte, und weil er sich von Spencer-Brown verleiten ließ, Paradoxien für annehmbar zu halten. Hinzu kommt die geradezu dogmatische Systemvorstellung, die mit der Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft und ihrer autopoietischen Geschlossenheit zur Quelle schönster Begriffssoziologie geworden ist, die der Begriffsjurisprudenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht nachsteht. Ihre Blüten kann man bei Gunther Teubner bewundern, wenn er aus einem paradoxen Prozess die Selbstvalidierung des Vertrages ableitet oder aus Vertrag und Organisation per Re-Entry Netzwerkhybride kreiert. Was von Luhmann bleiben wird, ist – neben einer selbstbezogenen Luhmannhermeneutik – eine trivialisierte Systemtheorie, die vor allem auf die von Luhmann geschaffene Begrifflichkeit zurückgreift. Wie nützlich auch eine Volksausgabe der der Systemtheorie sein kann, zeigt in seinem Beitrag Lars Viellechner [2]Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik, S. 285-304.. Auf 20 Seiten gelingt ihm ein klares Bild des »Rechts der Weltgesellschaft«, das ohne die Faltung von Paradoxien auskommt und auf Kritik verzichtet.  Im Übrigen sind wir alle so geschichtsbewusst, dass wir noch über Jahrzehnte Luhmann unsere Fußnotenreferenz erweisen werden.

Mit der Kritischen Theorie Frankfurter Schule liegt es etwas anders. Sie stieß auf offene Ohren, weil sie auf Bausteine und Vokabular des Marxismus zurückgriff. Sie erwarb sich große Verdienste durch die Kritik des Faschismus, und zeitweise wurde sie auch politisch relevant. Überdauert hat vor allem die kritische Attitüde. Ein referierbares Theoriegebäude hat die Kritische Theorie kaum hinterlassen. Geblieben ist Habermas, der sich aber schon früh von der Kritischen Theorie emanzipiert hat [3]Claus Grossner, Der letzte Richter der Kritischen Theorie?, Die Zeit vom 13. 3. 1970..

Nun also soll die Systemtheorie durch die Kritische aufgefrischt werden. Restauratoren sind in diesem Falle nicht Soziologen oder Philosophen, sondern Juristen, allen voran Amstutz, Fischer-Lescano und Teubner. Sie plädieren für das, was Juristen ein »objektive« Auslegung der Systemtheorie nennen würden. Nicht »die mögliche Motivlage der wichtigsten Denker der modernen Systemtheorie« sei maßgeblich, sondern allein der mögliche Anschluss von Kommunikation an Kommunikation« sei entscheidend [4]Amstutz/Fischer-Lescano, Einleitung S. 8.. Juristen können alles hinbiegen und hinkriegen. Die Einleitung und die meisten Autoren versichern sich durch viel Selbstreferenz, dass das Vorhaben gelingen wird.

Was man von einer Kritischen Systemtheorie zu erwarten hat, liegt beinahe auf der Hand, nämlich eine Paradoxologie, die Beliebigkeiten Tür und Tor öffnet. Sozialen Systemen aller Art, vor allem aber den großen Funktionssystemen, wird als Konsequenz ihrer autopoietischen Geschlossenheit eine spezifische Eigenlogik zugeschrieben. Wo immer sich die Systeme begegnen und überkreuzen, geraten unverträgliche Eigenlogiken aneinander, oder vielmehr sie geraten in Widerspruch. Organisationen etwa lassen sich als Subsystem einem bestimmten Funktionssystem zuordnen mit der Folge, dass sie den paradoxen Anforderungen unterschiedlicher Funktionslogiken ausgesetzt sind. [5]Martin Herberg, Organisationsversagen und organisatinale Pathologien, 237-253, S. 242.  Liegen die Widersprüche nicht als offene Konflikte zu Tage, sind sie also »invisibilisiert«, dann werden sie eben hervorgezogen. Auch die nichtintendierten Nebenfolgen absichtsvoller Handlungen sind immer für eine Auffaltung zum Paradox gut. Notfalls greift man auf ein Ursprungsparadox zurück. Die Konstatierung von Widersprüchen gilt Paradoxologen per se als ein Akt der Kritik, ohne dass es dazu eines externen normativen Standpunktes bedürfte. Bei der Beobachtung des Rechts finden sie den Verlust etatistischer Einheit, Pluralisierung des Rechts, Fragmentierung der Gesellschaft und konfligierende Binnenrationalitäten oder Eigenlogiken in den Fragmenten. Ein Grundfehler der Paradoxologen liegt darin, dass sie nicht zwischen Selbstreferenz als logischer Kunstfigur einerseits und Rückkopplung und Rekursivität als realen Phänomenen andererseits unterscheiden [6]Zu dieser Unterscheidung ausführlich Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 94 ff, 104 ff.. Er geht darauf zurück, dass der epistemologisch durchaus gerechtfertigte Antifundamentalismus fundamentalistisch auf die operative Ebene der Praxis übertragen wird.

Fischer-Lescano ist in dem hier angezeigten Band mit der überarbeiteten Fassung eines Beitrags vertreten, den er bereits in der Teubner-Festschrift »Soziologische Jurisprudenz« (2009) publiziert hatte. Teubner wiederum lässt einen Aufsatz abdrucken, der bereits 2008 in der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschienen ist [7]Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, ZfRSoz 29, 2008, 9-36. Ich werde mich daher mit kritischen Anmerkungen in einem weiteren Eintrag auf den (originalen) Schlussbeitrag von Marc Amstutz »Der zweite Text. Für eine Kritische Systemtheorie des Rechts« (S. 365-401) konzentrieren.

Nachtrag vom 4. 3. 2015: Andreas Fischer-Lescano [8]Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie, S. 13-37, S. 14 Fn. 4 vindiziert die »Kreationsrechte« für »Kritische Systemtheorie« für Rudolf Wiethölter. In einem Zeitalter, in dem man für Plagiate aller Art, auch für Ideenplagiate, so empfindlich geworden ist, sollte die Urheberschaft Poul Kjaer zugerechnet werden. Sein Aufsatz »Systems in Context. On the Outcome of the Habermas/Luhmann-Debate« (Ancilla Juris, 2006, 66-77) endet:

»In sum, one outcome of the Habermas/Luhmann debate is that the late Habermas’ discourse theory can be regarded as a normative superstructure to Luhmann’s descriptive theory of society. But a second is that, beyond the tendency to the two theoretical complexes’ convergence, a complete fusion, through the development of a fully fledged inter‐systemic“ and „critical“ systems theory, could provide a viable basis for further theoretical development. Such a theory might provide an optimal frame for the continuing reformulation of legal theory.«

Immerhin wird Kjaer von Fischer-Lescano in Fn. 3 erwähnt.

Nachtrag vom 12. 10. 2016: Neue Literatur: Kolja Möller/Jasmin Siri (Hg.), Systemtheorie und Gesellschaftskritik. Perspektiven der Kritischen Systemtheorie, Bielefeld 2016.

Nachtrag vom 9. 1. 2021: Heute kann man die gründliche Luhmann-Kritik von Linda Nell (Die multiple Differenzierung des Rechts, 2020) hinzunehmen. Nell meint, »die fundamentale Inkommensurabilität von Kritischer Theorie und Systemtheorie [dürfe] nicht hinweggewischt werden«, und verweist dazu  auf den Habermas/Luhmann-Band von 1971 (Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie). Nell urteilt (S. 204):

»Das Projekt der kritischen Systemtheorie zielt nicht, wie eigentlich behauptet, auf die Zusammenführung zweier Gesellschaftstheorien, die ohnehin inkommensurabel bleiben müssen, sondern auf die handlungstheoretische Beseitigung des Monismus funktionaler Differenzierung

Von Nell jetzt auch der Bogpost Kann es eine Kritische Systemtheorie geben? Zur Frage der rechtssoziologischen Differenzierungstheorie.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Warum ist Luhmann so bedeutend und warum gehe ich auf Distanz?
2 Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik, S. 285-304.
3 Claus Grossner, Der letzte Richter der Kritischen Theorie?, Die Zeit vom 13. 3. 1970.
4 Amstutz/Fischer-Lescano, Einleitung S. 8.
5 Martin Herberg, Organisationsversagen und organisatinale Pathologien, 237-253, S. 242.
6 Zu dieser Unterscheidung ausführlich Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 94 ff, 104 ff.
7 Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, ZfRSoz 29, 2008, 9-36.
8 Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie, S. 13-37, S. 14 Fn. 4

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