Plakettenverordnung und teleologische Auslegung

Der als Jurist verbildete Autofahrer gerät gelegentlich in einen Theoriekonflikt mit der Straßenverkehrsordnung. Er stellt sich den Richter nach dem Vorschlag von Philipp Heck als »denkenden Gehilfen des Gesetzgebers« vor, der bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze versuchen wird, dem gesetzgeberischen Zweck zur Durchsetzung zu verhelfen. Das nennt man bekanntlich teleologische Auslegung.

Nun hat sich unser Autofahrer erstmals einen vollelektrischen BMW I3 geleistet. Bei der Übergabe im Autohaus will ihm der Verkäufer noch eine Umweltplakette an die Scheibe kleben. Der Käufer widerspricht: Das weiß doch jeder, dass dies Auto weder Stickstoffdioxyd noch Feinstaub ausbläst. Es geht also um die Auslegung der Verordnung zur Kennzeichnung der Kraftfahrzeuge mit geringem Beitrag zur Schadstoffbelastung (35. BimSchV). Eine Ausnahme für Elektrofahrzeuge ist in dieser sog. Plakettenverordnung nicht vorgesehen. Vom ADAC erfährt man jedoch, dass das Innenministerium in Bayern die Polizei aufgefordert hat, die fehlende Plakette am E-Auto nicht mehr zu ahnden. Der frisch gebackene Elektrocar-Fahrer in NW will es darauf ankommen lassen.

Aber das ist nicht sein einziges Problem. Die Lokalzeitung (WAZ) hat gerade berichtet, dass in Bochum nirgends so viele Fahrzeuge wegen Geschwindigkeitsübertretung geblitzt werden, wie auf der Herner Straße, wo eine kilometerlange Tempo-30-Zone zur Luftreinhaltung eingerichtet ist. Da fragt sich unser Juristenelektriker, ob die Geschwindigkeitsbegrenzung auch für ihn gilt, obwohl er doch zur Luftreinhaltung schon so viel Geld für ein (nicht ganz) neues Auto ausgegeben hat.

Eine »kurze Antwort« gibt die SWR Rechtsredaktion:

»Ja, die gelten auch dann. Tempolimit-Schilder gelten nämlich immer für alle Pkw gleichermaßen. … Keine Extrawürste, heißt es ganz einfach. Der eine oder andere Grüne wollte das schon mal geändert sehen. Die Polizei war aber dagegen. Schwer zu kontrollieren, die schnellen E-Autos reißen dann die Fahrer von Verbrennern mit und dann gibt es Durcheinander. Und verschiedene Geschwindigkeiten sind auch ein Unfallrisiko, heißt es. … Außerdem wirken Verkehrsregeln nur dann, wenn sie klar, einfach und deutlich sind, sprich wenn sie für alle gelten. Ähnlich argumentieren Politiker und Behörden. Wenn man die Fahrer von E-Autos bevorzugen würde, hielte sich niemand mehr an ein Tempolimit – der Mitzieh-Effekt. Und ein Radargerät könne beim Blitzen Stromer nicht von Verbrennern unterscheiden. Eine einzige Möglichkeit gäbe es theoretisch, dass E-Autos schneller als Benziner und Diesel fahren dürften, wenn unter dem Tempolimit stehen würde: Gilt nicht für Elektrofahrzeuge. Schon mal so ein Schild gesehen?«

Hätte man sich denken können, wiewohl die Antwort nicht ganz überzeugt. Also noch einmal repetieren, was wir aus der Methodenlehre gelernt haben.

Telos ist das griechische Wort für Ziel, Sinn oder Zweck. Jede Rechtsnorm kann als Mittel zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck aufgefasst werden. Daraus ergeben sich Möglichkeit und Notwendigkeit teleologischer Auslegung.

Liegt der maßgebliche Normzweck auf der Hand, so kann sich teleologische Auslegung selbst über einen anscheinend klaren Wortlaut hinwegsetzen. Das folgende Beispiel stammt von dem Juristen Samuel Pufendorf (1632–1694): Wir denken uns ein Gesetz, das es verbietet, auf den Pflasterstraßen einer Stadt Blut zu vergießen. Bei einem Unfall wird das Bein eines Mannes in den Speichen einer Kutsche eingeklemmt. Es kommt ein Chirurg des Weges, der das Bein amputiert und das Pflaster schrecklich mit Blut besudelt. Soll der Chirurg bestraft werden? Nach dem Wortlaut der Vorschrift scheint Strafe geboten. Aber die Bestrafung des Chirurgen, der erste Hilfe leistet, entspricht kaum dem Zweck der Vorschrift. Es geht um den Frieden auf der Straße, aber nicht darum, das Pflaster sauber zu halten. Zwar lässt sich dieser Zweck nicht aus dem Gesetzestext entnehmen. Doch er ist so eindeutig, dass es keinen Zweifel gibt, wie die Vorschrift zu handhaben ist. Rechtstheoretiker, die auf der Höhe der Zeit sind, würden das Ergebnis mit der Figur der defeasibility erklären.

Teleologische Auslegung kann zu einer Reduktion oder zu einer Extension des Gesetzes sogar gegenüber seinem Wortlaut führen. Eine teleologische Extension läuft auf eine analoge Anwendung der Vorschrift hinaus, die durch den Wortlaut nicht gedeckt ist. Das strafrechtliche Analogieverbot verbietet in seinem Anwendungsbereich eine teleologische Extension. Der Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe engt diese Möglichkeit ein. Für die teleologische Reduktion bestehen solche Einschränkungen nicht.

Eine alte Parömie besagt: Cessante ratione cessat ipsa lex = entfällt der Zweck oder kann er nicht mehr erreicht werden, so wird das Gesetz hinfällig. Doch in Zeiten eines der Gewaltenteilung verpflichteten Rechtspositivismus folgt daraus nicht ohne weiteres, dass eine sinnlos gewordene Norm ihre Geltung verliert. »Ratio« in dem lateinischen Rechtssprichwort meint nicht nur »Zweck« im Sinne eines herbeizuführenden konkreten Zustandes, sondern auch das motivierende Prinzip hinter der Zwecksetzung. Prinzipien ändern sich im Laufe der Zeit. In diesem Sinne hieß es 1951 in BGHZ 1, 369/375:

»Eine Rechtsnorm …  tritt aber nicht ohne weiteres mit einer späteren Änderung der Rechtsanschauungen, die bei ihrem Inkrafttreten bestimmend waren, außer Kraft. Ein allgemeiner Satz, daß mit dem Wegfall des gesetzgeberischen Grundes auch das Gesetz selbst entfällt, ist auch der heutigen Rechtsordnung fremd.«

Ändert sich mit der »Rechtsanschauung« der motivierende Grund der Gesetzgebung, bleibt die Norm unberührt. So verlieren, um ein Beispiel zu nennen, die Vorschriften des Steuerrechts über das Ehegattensplitting ihre Geltung nicht, weil sie (manchen) wegen der veränderten Rolle der Frauen in Ehe und Erwerbsleben überholt erscheinen. Anders liegt es, wenn ein konkreter Gesetzeszweck de facto entfällt oder wenn er insgesamt oder in abgrenzbaren Anwendungsfällen nicht erreicht werden kann. In solchen Fällen kommt eine restriktiv-teleologische Auslegung in Betracht, soweit der Aspekt der Rechtssicherheit und der Prognosespielraum des Gesetzgebers beachtet werden.

Gängiges Beispiel ist § 12 III Nr. 3 StVO. Die Vorschrift untersagt das Parken vor Grundstücksein- und Ausfahrten. Da das Gesetz zum Schutz des Grundstückseigentümers oder -besitzers erlassen ist, gilt für diesen eine den Wortlaut der Bestimmung einschränkende Ausnahme. Darüber ist man sich weitgehend einig. Anders bei der Forderung nach einer Ausnahme für Elektrofahrzeuge von der Plakettenverordnung und vom Tempolimit in Luftreinhaltungszonen. In beiden Fällen erscheint die Anwendung auf die am Nummernschild leicht identifizierbaren Elektrofahrzeuge zwecklos. Hinsichtlich der Plakettenverordnung ist in der Tat kein Grund gegen eine teleologische Reduktion ersichtlich. Was das Tempolimit angeht, so müssen sich die die Führer von Elektrofahrzeugen aber wohl der Notwendigkeit eines gleichmäßigen Verkehrsflusses beugen.

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Wie böse sind SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation)?

Die Heimliche Juristenzeitung berichtete am 21. Februar 2024 über die Erwiderung des Medienunternehmens Correctiv auf einen Antrag des Staatsrechtlers Ulrich Vosgerau auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Mit der Verfügung soll das Landgericht Hamburg Correctiv die Unterlassung verschiedener Behauptungen über Vorgänge auf dem berüchtigten Treffen am 10. Januar 2024 im Landhaus Adlon aufgegeben werden. Es konnte nicht ausbleiben, dass der private Geheimdienst, der hier einen privaten Geheimplan aufgedeckt haben will, sich privatrechtlich vor Gericht verteidigen muss. Wir haben schon lange gelernt: Das Private ist politisch. Da trifft es sich gut, dass in diesen Tagen drei Wissenschaftler aus dem Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft eine Studie über »Agenda-Cutting durch SLAPPs? Die Klagen der Hohenzollern und ihre Wirkung auf die Presse und Wissenschaftsfreiheit aus Sicht der betroffenen Journalisten und Forscher«[1] veröffentlicht haben.

Rechtssoziologie und Politikwissenschaft beobachten ein Phänomen, das als strategische Prozessführung bezeichnet wird.[2] Die »Strategie« ist darauf angelegt, entweder Einschränkungen, die mit der Individualklage verbunden sind, durch kollektives Vorgehen zu überwinden oder über den individuellen Prozesserfolg hinaus weitere Ziele zu erreichen. SLAPPs sind Strategic Lawsuits Against Public Participation. Es geht hier also um eine strategische Prozessführung, die auf eine über den Prozess hinausgehende Wirkung angelegt ist.  Die Autoren referieren die Formulierung der rechtssoziologischen Thematik durch Pring und Canan[3] wie folgt:

»Es geht um zivilrechtliche Beanstandungen von Kommunikationshandlungen über einen Gegenstand von öffentlichem Interesse, und es findet eine dreifache Verschiebung des Konflikts statt: eine ›dispute transformation‹ (ein Wandel des Konflikts von einer politischen Streitfrage hin zu einer Rechtsstreitigkeit), eine ›forum transformation‹ (eine Verschiebung des Konflikts aus der Öffentlichkeit auf eine private, wenig zugängliche Bühne) sowie eine ›issue transformation‹ (Gegenstand ist nicht mehr der Schaden für die Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft, sondern der Schaden der Kläger).«

Autoren der Leipziger Untersuchung sind Uwe Krüger, Max Beuthner und Connor Endt. Aus der Pressemitteilung des Instituts erfährt man, dass die Publikation aus Masterarbeiten der beiden nachgenannten Autoren hervorgegangen ist, ein schönes Beispiel für die Beteiligung von Studenten an der Forschung. Man fragt sich allenfalls, warum sie die Studie nicht allein veröffentlicht haben.

Zur Sache wurden qualitative Interviews mit betroffenen Wissenschaftlern (Historikern) und Journalisten geführt. Die Autoren hatten Schwierigkeiten, interviewbereite Personen zu finden, konnten dann aber doch jeweils fünf Wissenschaftler und fünf Journalisten befragen, die sie – das ist bemerkenswert – jeweils mit ihren Namen und ihrer institutionellen Anbindung vorstellen können. Der Tenor der Interviews: Die massiven juristischen Interventionen der Hohenzollern hatten einen erheblichen Impact. Sie haben die Angegriffenen Zeit und Energie und in geringem Umfang auch Geld gekostet. Die Angriffe verursachten Emotionen und Stress. Das gilt für die Wissenschaftler mehr als für die an juristische Beobachtung gewöhnten Journalisten. In der Sache hätten die juristischen Attacken aber nicht dazu geführt, dass nichts geschrieben wurde, was man nicht für richtig hielt. Betont wurde jedoch, dass andere Journalisten ohne starken Verleger im Hintergrund unter juristischem Beschuss vermutlich die Schere im Kopf hätten. Es fehlt der Gesichtspunkt, dass die betroffenen Historiker sich für Parteigutachten hergegeben haben. Was hatten sie denn erwartet?  

Dass die SLAPPs zunächst in den USA thematisiert wurden, ist kein Zufall, denn dort wiegt die Verwicklung in einen Zivilprozess, u. a. wegen des zum Teil exorbitanten Strafschadensersatzes, deutlich schwerer. Ob auch in Deutschland das SLAPPing für Presse und Wissenschaft ein Problem darstellt, kann die Arbeit von Krüger u. a. allein schon auf Grund ihrer Methodik nicht feststellen. Die Untersuchung setzt mit einem journalismusfreundlichen Bias ein. Der muss nicht schon daher rühren,  dass es sich um Interessentenwissenschaft handelt, kommt die Studie doch aus einem dem Journalismus gewidmeten Institut. Schon in der Überschrift wird klargestellt, dass es nur um die Sicht der betroffenen Journalisten und Wissenschaftler geht. Aber die Studie lässt sich ihre Tendenz durch die angeführte Literatur vorgeben. Dazu trägt insbesondere ein Artikel des Medienrechtlers Christian Solmecke[4] bei. Solmecke weiß selbstverständlich und sagt auch, dass die Presse- und Meinungsfreiheit durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG  begrenzt ist. Er lässt sich aber durch die Thematik des Bandes, für den er geschrieben hat und durch die spezielle, von ihm bearbeitete Frage hinreißen, SLAPPs von vornherein nicht bloß als strategische Prozessführung, sondern als Rechtsmissbrauch einzuordnen. Zudem geht er sehr großzügig mit dem Attribut »offensichtlich unbegründeter Klagen« um. Dazu kann er sich allerdings auf Entwürfe und Empfehlungen der EU-Kommission berufen.[5] Diese sind schon für sich genommen bemerkenswert. Es war und ist die Politik der EU, die Durchsetzung des Unionsrechts durch die klageweise Geltendmachung subjektiver Rechte gerade auch im Wege strategischer Prozessführung voranzubringen. Nun kommen die Geister, die man rief, aus einer anderen, unerwünschten Ecke.  Als Gegenmittel möchte man eine neue Prozessvoraussetzung der unangemessenen Klage einführen. Eine solche Generalklausel wäre Gift für den Rechtsstaat.

Die Leipziger Untersuchung zeigt: SLAPPing ist Realität und hat Wirkung. Bei ihrer Arbeit waren den Befragten die juristischen Auseinandersetzungen stets präsent. Sie fühlten sich zur Vorsicht gemahnt. Ist das schlimm? So scheinen es die Autoren und die Befragten zu empfinden. Dabei bleibt die andere Seite unterbelichtet. Mit dem Haus Hohenzollern muss man kein Mitleid haben. Die können sich wehren. Ebenso die rechtsextremen Zirkel, denen die Recherchen von Correctiv galten. Aber die Medien mit ihrem unendlichen Content-Bedarf stehen im Dauerkonflikt mit der Privatsphäre ihrer Beobachtungsobjekte. Sie haben ihre Beobachtungs- und Darstellungsmethoden in einer Weise entwickelt, dass ein Schutz der Privatsphäre kaum mehr möglich ist. Paparazzi gibt es schon lange. Wer auf Anfragen aus dem Medienbereich nicht antwortet, fällt allein schon deshalb durch. Investigativjournalismus ist zum Prestigeprojekt geworden. Immer wider beruft man sich bei der Berichterstattung auf vertrauliche Unterlagen, die anscheinend von wenig vertrauenswürdigen Vertrauensleuten durchgestochen wurden. Correctiv beschreibt stolz seine Geheimdienstmethoden. Im Hohenzollernkomplex war auch der unappetitliche Böhmermann beteiligt. Häme ist Stilmittel selbst der öffentlich-rechtlichen Sender, wo es besonders in der Heute-Show mit Fake-Bildern gepflegt wird. Deshalb ist es gut und richtig, dass die rechtlichen Grenzen der Pressefreiheit ständig auch in den Köpfen der Journalisten präsent sind, mag sie das auch bei ihrer Arbeit »behindern«. Die Medien haben meistens einen taktischen Vorsprung. Haben sie erst einmal berichtet, hilft es nur begrenzt, wenn sie sich später korrigieren. Aliquid haeret. Die geballte Macht der Medien ist so groß, dass sie sich nicht beklagen dürfen, wenn die als solche unorganisierte Gegenseite sich auf eine spezialisierte Anwaltschaft stützt und diese mit allen verfügbaren Mitteln kämpfen lässt. Nebenbei: Es ist immer nur von dem Prozess- und Kostenrisiko der Medien und Journalisten die Rede. Das Risiko der anderen Seite ist weitaus größer, wenn, wie behauptet, die Mehrzahl der juristischen Angriffe unbegründet ist.

Am Ende profitieren sogar Wissenschaftler und Medien, wenn sie auf die von ihnen inkriminierte Weise angegriffen werden. Die Befragten der Leipziger Untersuchung waren der Ansicht, dass sie das Vorgehen der Hohenzollern letztlich nicht erfolgreich gewesen sei.

»Wenn man vom Ergebnis her denkt, haben diese Klagen vermutlich genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie hätten erreichen sollen: Was sie erreicht haben, ist, dass es einen dramatischen Ansehensverlust des Klägers gegeben hat, dass die Verhandlungen mit der öffentlichen Hand durch die Klagen stark erschwert wurden, weil zum Beispiel die brandenburgische Wissenschaftsministerin gesagt hat, sie möchte nicht mit Leuten verhandeln, die brandenburgische Wissenschaftler verklagen.«

Dem Anliegen der Medien hat das SLAPPing in doppelter Weise zum Erfolg verholfen. Die Berichterstattung gewann durch den juristischen Sekundärkonflikt mit dem Hause Hohenzollern neuen Stoff und zusätzliche Aufmerksamkeit. Dadurch war auch der Sache besser gedient. Und nicht zuletzt: Die betroffenen Historiker konnten mindestens ihren Bekanntheitsgrad steigern.


[1] Pulizistik, Februar 2024, ohne Seitenangabe –open access.

[2] Alexander Graser, Was es über Strategic Litigation zu schreiben gälte, in: ders./Christian Helmrich (Hg.), Strategic Litigation, Begriff und Praxis, 2019, 9-19; Alexander Graser/Christian Helmrich, Strategic Litigation, Begriff und Praxis, in: dies., Strategic Litigation, 2019, 9-19; Lisa Hahn, Strategische Prozessführung, Zeitschrift für Rechtssoziologie 39, 2019, 5-32; Britta Rehder/Katharina van Elten, Legal Tech & Dieselgate Digitale Rechtsdienstleister als Akteure der strategischen Prozessführung, ZfRSoz 39, 2019, 64-86.

[3] George W. Pring/Penelope Canan, SLAPPs. Getting Sued for Speaking Out, Philadelphia 1996, dort S. 10.

[4] Christian Solmecke, Dürfen Anwälte die Agenda beschneiden?, in: Hektor Haarkötter/Jörg-Uwe Nieland, Agenda-Cutting, 2023, 303–321.

[5] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren (»strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung«) vom 27. April 2022, sowie Empfehlung (EU) 2022/758 der Kommission vom 27. April 2022 zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich öffentlich beteiligen, vor offenkundig unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren (»Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung).

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Frege und die Frage nach der Intelligenz der künstlichen Intelligenz

Vorab ein Nachtrag zum Posting vom 21. Mai 2023. Im Internet findet man einen Text von Fabian Hundertmark, anscheinend eine studentische Arbeit des angehenden Philosophen, mit der Überschrift »Frege und sein Reich der Gedanken«. Er bietet eine »präzise Übersicht über Freges Argument:

»Eigenschaften der Dinge der Außenwelt:

Alle Dinge der Außenwelt können mit den Sinnen wahrgenommen werden.
Kein Ding der Außenwelt hat einen Wahrheitswert.

Eigenschaften der Dinge der Innenwelt:

Alle Dinge der Innenwelt benötigen genau eine Person, von der sie gehabt werden.

Eigenschaften der Gedanken:

Kein Gedanke kann mit den Sinnen wahrgenommen werden.
Alle Gedanken haben Wahrheitswerte.
Kein Gedanke benötigt genau eine Person, von der er gehabt wird.

Hieraus ergibt sich:

Kein Gedanke gehört zur Außenwelt.
Kein Gedanke gehört zur Innenwelt.

Zusammen mit der impliziten Prämisse

Gehört etwas weder zur Innen-, noch zur Außenwelt, gehört es zu einer dritten Welt.

ergibt sich die Konklusion:

Gedanken gehören zu einer dritten Welt.«

Hundertmark meint, Freges Argumentation für ein drittes Reich der Gedanken sei gescheitert, weil Gedanken doch auch zur Innenwelt gehörten. Ich teile diese Kritik nicht. Die dritte Prämisse ist nicht haltbar. Gedanken gehören zu beiden Welten. Das Problematisch erscheinen mir zwei andere Fragen, die Frage nämlich, welche Inhalte als Gedanken in die dritte Welt gehören, und die weitere Frage wie die Innenwelt der Menschen an der dritten Welt der Gedanken teilhat bzw. wie die Gedankenwelt auf die reale Welt einwirken kann. Auf diese Fragen habe ich keine definitive Antwort und ziehe mich daher auf einen Als-Ob-Trialismus zurück, der es gestattet, etwas großzügiger mit den Inhalten und Grenzen der dritten Welt umzugehen.

Die Inhalte, die Frege der dritten Welt zuwies, sind nämlich sehr beschränkt. Er bestand darauf, dass die Gedanken schon dort schon vorhanden sind, bevor sie je als Vorstellung im Kopf eines Menschen auftauchen. »Das Sein eines Gedankens [ist] sein Wahrsein.«[1] Deshalb werden Gedanken nicht erfunden, sondern sie werden gefasst oder erfasst. Es gibt also eine Art Parallelgeschehen in Menschenköpfen. Einer Überquerung der Grenze bedarf es nicht.

Hundertmark geht nicht auf Popper ein und Popper nicht auf Frege, wiewohl doch das dritte Reich der Gedanken und Poppers Dritte-Welt-Ontologie erstaunlich konvergieren. Poppers dritte Welt wird von der Schulphilosophie ignoriert. Als referierende Darstellung habe ich nur den Abschnitt » Objective Knowledge and The Three Worlds Ontology« in dem Artikel »Karl Popper« von Stephen Thornton in der Stanford Encyclopedia of Philosophy gefunden. Bei Popper liegt der Akzent auf dem Ziel, die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis zu retten und er betont den evolutionären Charakter der menschlichen Gedankenwelt. Die Welt 3 soll keine präexistenten, sondern nur von Menschen gedachte Gegenstände beinhalten. Sie bilden ein »evolutionäres Produkt« der Welt 2.  Die grenze zwischen den Welten ist also durchlässig, und zwar auf für kontingente Inhalte. Soweit der Nachtrag. Er war zur Selbstvergewisserung notwendig, denn der Trialismus hat Konjunktur.

Frege wird von Robert Alexy und seinen Schülern als Beleg für einen semantischen Normbegriff angeführt.[2] Das Argument lautet etwa so: Die sprachliche Formulierung einer Norm ist der Normsatz. Was der Normsatz besagt, nämlich seine Bedeutung, ist die Norm. Die Bedeutung zeigt sich in dem, was gleich bleibt, wenn der Normsatz von einer Sprache in eine andere übersetzt wird. Poppers Trialismus spielt dagegen bei Juristen keine Rolle.

Nun bahnt sich eine neue Wendung an. Die Evolution der künstlichen Intelligenz verlangt nach einer Einordnung des Phänomens in geläufige Kategorien. Als Scharnier könnte Norbert Wieners Dictum dienen:

»Information is information, not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day.«[3]

Schon 2008 tauchte die Drei-Welten-Lehre Poppers in der Software-Philosophie auf.[4] Darauf beriefen sich Northover u. a. Dort liest man:

»Mathematical Platonists like Penrose have located algorithms (which are, metaphorically speaking, the ‘soul’ of a computer program) in a Platonic realm of eternal forms (Penrose 1989). We would locate software programs not in such a static Platonic realm but rather in Popper’s dynamic ‘World (iii)’, the realm of ‘objective knowledge which is inhabited by scientific and metaphysical theories.«

Die Autoren weisen darauf in, dass Poppers dritte Welt, anders als Platons Ideenwelt, nicht statisch ist, sondern sich evolutionär entwickelt. Sie führen weiter Literatur in, die im Zusammenhang mit dem Wissensmanagement auf Poppers dritte Welt zurückgreift. Eine Andeutung findet sich jetzt auch bei Lorenz Kähler, wenn er auf Frege Bezug nimmt.[5] Es liegt danach nahe, die Substanz Künstlicher Intelligenz in einem dritten Reich der Gedanken zu verorten. Popper bezweifelt zwar am Ende der Tanner Lecture, dass Computer denken können. Ähnlich wie Wiener sagt er:

»Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt, noch abstrakter als physikalische Kräfte, aber nichtsdestoweniger wirklich … .«[6]

Aber künstliche Intelligenz oder vielmehr die ihr zugrunde liegende Software passt in seine Welt 3. Das meint auch der Allroundphilosoph  Walter Hehl.[7] Ich habe dazu kein begründetes Urteil, möchte aber doch auf die Querverbindung zwischen Frege, Rechtstheorie und KI aufmerksam machen.


[1] Gottlob Frege, Die Verneinung, Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 1918/1919, 141–157, S. 144.

[2] Robert Alexy, Theorie der Grundrechte,1985, hier zitiert nach der 3. Aufl. 1996, Fn. 17 auf S. 46; Gesine Voesch, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, 2021, Fn. 17 auf S. 22. Mit einem ganzen Kapitel behandelt Henrique Gonçalves Neves die Drei-Welten-Lehre Freges als » Philosophischen Baustein für die Rechtstatsächlichkeit« (Die Geltung als Tatsache, 2022, S. 22ff). Seine These, »dass sich die Rechtstatsächlichkeit, also die Rechtstatsache, aus Entitäten der drei Frege’schen Grundkategorien zusammensetzt«, scheint mir sehr weit hergeholt.

[3]  Norbert Wiener , Cybernetics, 2. Aufl. 1961, S. 182.

[4] Mandy Northover/Derrick G. Kourie/Andrew Boake/Stefan Gruner/Alan Northover, Towards a Philosophy of Software Development: 40 Years after the Birth of Software Engineering, Journal for General Philosophy of Science 2008, 85–113.

[5] Lorenz Kähler, Norm, Code, Digitalisat, in Milan Kuhli/Frauke Rostalski, Normentheorie im digitalen Zeitalter, 2023, 13–36.

[6]Karl R. Popper, Three Worlds: The Tanner Lecture on Human Values, 1978, S. 74.

[7] Walter Hehl , Wechselwirkung. Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern, 2016; dort Kap 10 »Und wo bleibt der Geist?«.

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Soziologische Jurisprudenz, ein Fall für Hautarzt und Psychiater?

Die Gunther Teubner zum 65. Geburtstag 2009 gewidmete Festschrift trägt den Titel »Soziologische Jurisprudenz«. Vor der Kritik kommt Bewunderung. Teubner hat wie kein anderer, anknüpfend an Luhmanns Systemtheorie, eine Sozialtheorie des Rechts entwickelt.[1] Sie ist geistreich, erschließt neuartige Quellen und bietet im Detail viele kluge Beobachtungen. Teubners Metapher von der globalen Bukowina, die auf Eugen Ehrlich anspielt, hat sich global verbreitet. Der von Rückert und Seinecke herausgegebene Sammelband über die Zivilrechtler des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Methodik stellt Teubner im Titel neben Savigny.[2] Prominenter geht es nicht. Wenn wir uns aber fragen, ob die Methodenlehre für Gegenwart und Zukunft umgeschrieben werden muss, ist die Antwort eher negativ. Aber das ist auch gar nicht Teubners Anspruch. Teubner ist zu vorsichtig, um handfeste Methodenratschläge zu geben. Er erklärt uns rundweg, soziologische Jurisprudenz sei ein Ding der Unmöglichkeit.

Teubners Rechtssoziologie übersetzt soziologische und rechtstheoretische Beobachtungen in die Sprache der Systemtheorie Luhmanns. Damit erzielt er einen Verfremdungseffekt, von dem viele sich faszinieren lassen. Zu dieser Faszination trägt nicht zuletzt bei, dass Teubner die als solche durchaus geläufigen rechtstheoretischen Probleme als Paradoxien darstellt. Seine Paradoxologie ist erweist sich als ein modernistischer Tanz um das Werturteilsproblem. Den Spagat der Systemtheorie zwischen operativer Schließung und kognitiver Offenheit überbrückt Teubner mit der Figur des responsiven Rechts.

Der Begriff des responsiven Rechts[3] stammt von Nonet und Selznick, die damit eine evolutionäre Entwicklung postmodernen Rechts kennzeichnen wollten. Teubner hat 1982 das evolutionstheoretische Konzept des responsiven Rechts von Nonet und Selznick in ein rechtspolitisches umgelenkt. Danach ist responsives Recht eine »flexible, lernfähige Institution, … die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse und menschliche Aspirationen«.[4]

Auf der Zivilrechtslehrertagung in Zürich 2017 (auf der Teubner den Einleitungsvortrag über »Digitale Rechtsubjekte« hielt) fügte Michael Grünberger  in seinem Vortrag über »Verträge über digitale Güter« einen Abschnitt über »Methodenfragen« ein, in dem er eine »responsive Rechtsdogmatik« als Antwort auf die Umweltveränderungen durch die Digitalisierung vorschlug. Er meinte, »mit einer gedanklich im späten 19. Jahrhundert wurzelnden Privatrechtstheorie [werde] man keine adäquaten Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in ganz anders gelagerten Kontexten finden«, und forderte stattdessen eine »responsive Rechtswissenschaft«. Dazu bezog sich Grünberger auch auf einen Aufsatz Teubners aus dem Jahr 2015, indem dieser den Spagat zwischen einem an sich autonomen Rechtssystem und Notwendigkeit, den Blick auf die Umwelt des Rechts offen zu halten, auf den geläufigen Nenner der Irritation und Perturbation gebracht hatte, sowie schließlich auf Luhmanns Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen, von denen letztere sich zur Rezeption in das Recht anbieten sollen. Aus Riesenhubers Erwiderung entsteht der Eindruck: Wir brauchen keine neuen Methoden. Das Arsenal der Dogmatik und der Methodenlehre ist allemal ausreichend. Im Grunde ist alles schon einmal dagewesen, alle relevanten sachlichen Aspekte ließen sich »mit der im späten 19. Jahrhundert wurzelnden Privatrechtstheorie«, mit ihrer Dogmatik und ihrer Methodenlehre erfassen. Das ist nicht ganz falsch und doch nicht richtig. Dass das nicht ganz falsch ist, hat Alexander Stark in seiner Dissertation über die »Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik« dargelegt. Dass Riesenhubers Abwehr nicht ganz richtig ist, zeigt, jedenfalls auf den ersten Blick, der Umstand, dass eine explizit soziologische Jurisprudenz praktisch keine Rolle spielt.

Eine soziologische Jurisprudenz ist anscheinend so etwas wie die Quadratur des Kreises.

Eine Probe aufs Exempel liefert der von Lomfeld herausgegebene Sammelband »Die Fälle der Gesellschaft«, der im Vorwort als »Wirkungsschrift« aus Anlass von Teubners 70. Geburtstag vorgestellt wird. Darin werden 16 höchstrichterlich entschiedene Fälle in ihren sozialen Kontext eingebettet. Der Darstellung des Falls und dem Leitsatz der Entscheidung wird jeweils ein »soziologischer Leitsatz« vorangestellt. Anschließend geben die Autoren, teilweise in der Form eines fiktiven Sondervotums, ihre Erläuterungen. Das Ganze beginnt mit einer Einleitung Lomfelds. Man wir ihm gerne zustimmen, wenn er die »richterliche Rechts(fort)bildung« als methodisches Kernproblem ansieht und in der Frage »nach vergleichbaren Interessenlagen zwischen Fällen«, also in einer »fallbezogenen Interessenjurisprudenz … die Wiege soziologischer Jurisprudenz« findet. Enttäuschung macht sich dagegen breit, wenn danach »normale« Rechtsdogmatik als Dummy aufgebaut wird, weil sie die »Unbestimmtheit« und die »Subjektivität« aller Entscheidungen nicht zur Kenntnis genommen habe. Die Sache wird nicht besser dadurch, dass der Dummy dann mit »Entscheidungsparadox« und »Begründungsparadox« aufgerüstet wird. Die Fallbeispiele leisten nichts, wozu Jurisprudenz nicht immer schon imstande war. Diese Probe jedenfalls ist misslungen.

2020 haben Grünberger und Reinelt einen neuen Anlauf unternommen. In einem schmalen, aber scharfen Band, der bei J. C. B. Mohr erschienen ist, fordern sie offensiv eine soziologische Jurisprudenz. Angetrieben wird der Text von einem starken Engagement für das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes, vorgebracht in einem systemtheoretisch orientierten Jargon. Soziologische Jurisprudenz soll die Rechtsdogmatik dazu bringen, wirksame Mittel gegen die strukturelle Diskriminierung zu finden. Responsivität ist für Grünberger/Reinelt ein dogmatischer Imperativ:

»Das Recht muss das von allen (!) Sozialtheorien gelieferte Wissen gleichermaßen berücksichtigen.«[5]

Zur Einlösung formulieren Grünberger/Reinelt die Probleme in einer systemtheoretisch orientierten Sprechweise. Ihre Argumente beziehen sie in erster Linie aus der »Eigenrationalität« der Sozialsysteme, selektiv nutzen sie auch empirische Untersuchungen. Sieht man näher hin, so arbeiten sie mit zwei Kunstgriffen:

  • Eine soziologische Rechtstheorie soll der Dogmatik vermelden, wann sie irritiert zu sein hat (S. 7).
  • Die Dogmatik ihrerseits verschafft sich Luft, indem sie, dem Vorschlag von Franz Hofmann [6] folgend, das anglo-amerikanische Remedy-System mit seiner Trennung von Stammrechten und Rechtsfolgen importiert. So wird das »Rechtsfolgenregime« von den primären Gebots- und Verbotsnormen getrennt und auf abschreckende Wirkung getrimmt.

Was hier soziologische Rechtstheorie genannt wird, erschöpft sich in der Übernahme fremddisziplinärer (soziologischer) Problemdefinitionen für die Rechtsdogmatik. Der Import des Remedy-Systems ist ein Gewinn nur für unterbeschäftigte Rechtsdogmatiker. Die Trennung der remedies von den Gebots- und Verbotsnormen ist ein typischer Zug der ökonomischen Analyse des Rechts, die bekanntlich Effizienz zum Prinzip hat mit der Folge, dass die die Wirksamkeit von Recht im Vordergrund steht. Gegen eine Querschnittsbetrachtung aller Sanktionsnormen als Rechtsfolgen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, sie ist notwendig, um zu sehen, wie sie unterschiedlich, gegeneinander oder zusammen wirken. Aber die dogmatische Separierung eines Rechtsfolgenrechts von den primären Gebots- und Verbotsnormen ist ein Irrweg, weil Gebote und Verbote auf der einen Seite und Sanktionen auf der anderen stets als aufeinander bezogen gesehen und bewertet werden müssen, es sei denn, man sieht die Aufgabe der Justiz in der Beförderung gesellschaftlicher Ziele und nicht im Ausgleich zwischen den konkret am Prozess Beteiligten.[7]

Für Europa erklärt sich die Fixierung auf Rechtsfolgen und deren Effektivität aus einem Minderwertigkeitskomplex des Unionsrechts. Doch selbst wenn man sich darauf einlässt und mit dem EUGH bei verschiedenen möglichen Auslegungen einer Vorschrift des Unionsrechts derjenigen den Vorzug gibt[8], die die praktische Wirksamkeit der Vorschrift zu wahren geeignet ist, so darf man sich nicht auf Sanktionen und Abschreckung konzentrieren. Die Wirksamkeit einer Norm hängt in erster Linie davon ab, dass ihre Ziele von den Adressaten akzeptiert werden. Eine zurückhaltende Anwendung der Antidiskriminierungsgesetze könnte ihnen vielleicht sogar zu besserer Wirkung verhelfen. Bei der Ausfüllung der remedies ist bei Grünberger/Reinelt nicht mehr von soziologischer Jurisprudenz die Rede, sondern 15 Mal von Abschreckung. Wenn man bedenkt, wie ausführlich Kriminologen die präventive Wirkung unterschiedlicher Sanktionen untersucht haben, handelt es sich um jene Stammtischdogmatik, die eine soziologische Jurisprudenz doch gerade überwinden will.

Ungeachtet ihres Plädoyers für eine soziologische Jurisprudenz verstehen Grünberger und Reinelt sich als Dogmatiker und betonen den strictly legal point of view. »Responsive Rechtsdogmatik« verlangt daher nach einem »komplexen Übersetzungsprozess«, damit außerjuristisches Wissen rezipiert werden kann. Allein es fehlt ein Übersetzer. Der Übersetzungsprozess hat Ähnlichkeit mit Starks dogmatischer Deliberation, soll diese doch »gründeresponsiv« und »gründesensibel« ausfallen.[9] Während Stark allgemein »Nachbarwissenschaften« im Blick hat und eine (relative) Gegenläufigkeit von Interdisziplinarität und Dogmatik konstatiert (S. 363), setzen Grünberger/Reichelt auf Soziologie und Sozialtheorien und lassen sich von den Wertungen dieser Fächer mitreißen. Während Stark die Responsivität der Dogmatik nur »supererogatorisch« einfordert, ist Responsivität für Grünberger/Reinelt ein dogmatischer Imperativ.

Was fehlt, ist auf eine deutliche Ansprache der (Wert)-Urteilsbildung, mit der die Dogmatik auf Fremdwissen reagiert. Man ist sensibilisiert und irritiert. Für Perturbationen bei der Lektüre des Rezepts sorgen 300 Gendersternchen. Der durch Irritationen und Perturbationen sensibilisierte Dogmatiker geht aber nicht etwa zum Hautarzt oder Psychiater, sondern respondiert auf die sozialwissenschaftliche Behandlung mit – ja womit? Doch wohl mit einem Werturteil. Doch über Werturteile zu reden, wagt er nicht.


[1] Einige Texte von Gunther Teubner: Den Schleier des Vertrags zerreißen? Zur rechtlichen Verantwortung ökonomisch »effizienter« Vertragsnetzwerke, KritV 76, 1993, 367-393; Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in Vergleichender Perspektive, ARSP 1982, 13-59; Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe. Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, 1995; Netzwerk als Vertragsverbund. Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer Softwareagenten, AcP 218, 2018, 155-205 (ähnlich in Ancilla Iuris 2018, 35-78); Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grundmann/Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie 2015, 141-164.

[2] Weitere Skundärliteratur: Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie, ZfRSoz 36, 2016, 261-272; Michael Grünberger, Verträge über digitale Güter, AcP 218, 2018, 213-296; ders., Responsive Rechtsdogmatik – Eine Skizze. Erwiderung auf Karl Riesenhuber, AcP 219, 2019, 924-942; Bertram Lomfeld (Hg.), Die Fälle der Gesellschaft. Eine neue Praxis soziologischer Jurisprudenz, 2017; Michael Grünberger/André Reinelt, Konfliktlinien im Nichtdiskriminierungsrecht, Das Rechtsdurchsetzungsregime aus Sicht soziologischer Jurisprudenz, 2020; Karl Riesenhuber, Neue Methode und Dogmatik eines Rechts der Digitalisierung? – Zu Grünbergers »responsiver Rechtsdogmatik«, AcP 219, 2019, 892-923; Philipp Sahm, Methode und (Zivil-)Recht bei Gunther Teubner (geb. 1944), in: Joachim Rückert/Ralf Seinecke (Hg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. 2017, S. 447-470 (erweiterte Fassung = Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2017, SSRN 2284145).

[3]  Der Begriff der Responsivität ist in der politischen Wissenschaft beheimatet. Unter Juristen ist der Begriff seit 1992 durch den Band »Responsive Regulation« von Ian Ayres und John Braithwaite geläufig, wenn über die Regulierung von Organisationen diskutiert wird. Vgl. dazu etwa Kilian Bizer u. a. (Hg.), Responsive Regulierung, 2002.

[4] ARSP 1982 S. 14.

[5] Ein Problem, auf das ich hier nicht eingehen will, liegt in dem undefinierten Begriff der »Sozialtheorie«. Mit einem solchen arbeitet anscheinend auch Teubner in dem Aufsatz »Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie« (2015). Aber am Ende (S. 161f) unterscheidet er doch deutlich zwischen Sozialtheorien, die er teilweise auf eine Stufe mit Religionen stellt,  und sozialwissenschaftlichen Theorien. Schwierig ist auch Teubners Umgang mit dem Rationalitätsbegriff, billigt er doch jeder »Sozialtheorie«, jedem sozialen System und schließlich auch dem Recht eine »Eigenrationalität«. Solche Eigenrationalität läuft auf Eigennormativität hinaus. Zu Unrecht beruft er sich auf Max Weber (S.160) Dessen vier Rationalitäten sind bloße Formen. Was Teubner dann aber zu dem »komplizierten Übersetzungsprozeß« ausführt, mit dem das Recht »dogmatischen Mehrwert« kreieren soll, liest sich als metaphorische Analyse der Werturteilsbildung.

[6] Der Unterlassungsanspruch als Rechtsbehelf, 2017.

[7] Vgl. dazu das Bilateralismusargument als Kritik der ökonomischen Analyse des Rechts von Jules L. Coleman (Tort Law and the Demands of Corrective Justice, Indiana Law Journal 67, 1992, 349-380; zum Begriff und für weitere Nachweise Coleman, The Practice of Principle, 2003, S. 18 Fn. 7). Coleman kritisiert die Übernahme des ökonomischen Ansatzes durch die Justiz, weil er der normativen Beziehung zwischen den Parteien nicht gerecht werde. Die Ökonomen blickten ex ante auf hypothetische Schadensfälle unter dem Gesichtspunkt der Kosten- und Risikominimierung. Dagegen hätten die Gerichte ex post reale Schadensfälle zu beurteilen, die zwei ganz konkrete Parteien beträfen, die aufgrund des Schadensereignisses miteinander in einer normativen Beziehung stünden. Diese Kritik mag zunächst auf das klassische Schadensrecht (tort law) gemünzt sein. Aber auch Diskriminierungsfälle, wenn sie vor Gericht kommen, schweben nicht frei im Raum, sondern haben einen individuellen Hintergrund in der Individualität und den Beziehung der Parteien.

»The problem that confronts economic analysis, or any entirely forward-looking theory of tort law, is that it seems to ignore the point that litigants are brought together in a case because one alleges that the other has harmed her in a way she had no right to do. Litigants do not come to court in order to provide the judge with an opportunity to pursue or refine his vision of optimal risk reduction policy.  vision of optimal risk reduction policy. Rather, they seek to have their claims vindicated: to secure an official pronouncement concerning who had the right to do what to whom. The judge is there, in some sense to serve them – to do justice between them; they are not there to serve the judge in his policy-making capacity. Or so one might think prior to theorizing about tort law.« (Coleman 2003, S. 17).

Für Coleman erklärt das Konzept der korrektiven Gerechtigkeit das Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem am besten (S. 122). Statt an der korrektiven Gerechtigkeit, die von der bilateralen Natur der Rechtsbeziehung ausgehe, orientiere sich die ökonomische Rechtsanalyse an einem gesellschaftlichen Ziel, der Förderung der Effizienz (S. 123: risk reduction policy).

[8]  Urteil vom 7. März 2018, Cristal Union, C 31/17, EU:C:2018:168, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung.

[9]  Alexander Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik, 2020, S. 286, 347, 363.

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Robert‘s Rules of Order oder Das Naturrecht der Versammlung

Robert’s Rules on Parliamentary Procedure – ursprünglich Robert‘s Rules of Order -– sind ein Phänomen. Diese Verfahrensfibel des US-amerikanischen Armee-Generals Henry Martyn Robert wird seit 1876 in immer neuen Auflagen millionenfach gedruckt und direkt oder indirekt in aller Welt als Grundlage für die Geschäftsordnung von Versammlungen herangezogen.

Vor vielen Jahren hatte ich »Das ›Naturrecht‹ der Versammlung« als Dissertationsthema ausgegeben. Die Aufgabe bestand darin, Geschäftsordnungen von Parlamenten und anderen demokratisch organisierten Versammlungen mit »Robert‘s Rules on Parliamentary Procedure« zu vergleichen, die These dahinter, dass die Übereinstimmung zwischen den vielen Geschäftsordnungen so eindrucksvoll sein dürfte, dass man im übertragenen Sinne von einem »Naturrecht der Versammlung« reden kann. Der Doktorand, der das Thema übernommen hatte, ist seinerzeit daran (oder an mir) gescheitert, weil er, jedenfalls aus meiner Sicht, den Witz der Aufgabe nicht erfasst hatte, so dass letztlich eine der vielen konventionellen Arbeiten über parlamentarische Geschäftsordnungen[1] herauskam, die ich nicht akzeptiert habe.

Das ist mir jetzt wieder eingefallen, als ich bei der Lektüre des Vortrags von Wolfgang Ernst auf der Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung 2022[2] in Fn. 24 auf dessen »Kleine Abstimmungsfibel« stieß, die 2001 im Verlag der Neuen Züricher Zeitung erschienen ist. Nachdem ich mir das Buch beschafft und darin gelesen habe, scheint es mir an der Zeit, den Gedanken an ein »Naturrecht der Versammlung« wieder aufzunehmen. Natürlich geht es nicht um »echtes« Naturrecht, sondern nur um Funktionalitäten und Sachzwänge. Aber die sind doch anscheinend außerordentlich stark. Jedenfalls scheinen die Geschäftsordnungen von Gremien aller Art auf eine so erstaunliche Weise zu konvergieren, dass man wohl von der Natur der Sache sprechen darf.

Die »Abstimmungsfibel« von Ernst verzichtet ganz auf Literaturhinweise und damit auch auf eine Würdigung von »Robert‘s Rules«. Auch sonst habe ich mit einer oberflächlichen Recherche in der deutschen Literatur keine Würdigung gefunden.

Gefunden habe ich den relativ neuen Aufsatz von Jonathan R. Siegel »A Law Professor’s Guide to Parliamentary Procedure«, der am Ende aus Robert‘s Rules of Order einen »Simplified Guide to Basic Parliamentary Procedure« für Fakultätssitzungen entwickelt.[3]

Robert‘s Rules of Order waren ihrer Entstehungszeit gemäß für beschließende Präsenzveranstaltungen bestimmt. Die Corona-Epidemie hat dem Trend zur Ersetzung von Präsenzveranstaltungen durch elektronische Meetings großen Auftrieb gegeben. Daher ist es von Interesse, dass Henry Prakken schon in der Anfangszeit der Digitalisierung 1997 den Versuch unternommen hat, Robert‘s Rules of Order in ein Programm für elektronische Versammlungen zu übersetzen.[4]

Da wartet vielleicht immer noch ein Dissertationsthema.


[1] Eine Arbeit, die meiner Fragestellung nahe kommt, die ich damals aber noch nicht kannte, ist von Robbie Sabel, Procedure at International Conferences, 1997.

[2] Wolfgang Ernst, Verantwortung für Gremienunrecht, AcP 2023, 170–227.

[3] Jonathan R. Siegel, A Law Professor’s Guide to Parliamentary Procedure, Journal of Legal Education 70, 2020, 26–64.

[4] Henry Prakken, Formalizing Robert’s Rules of Order. An Experiment in Automating Mediation of Group Decision Making, GMD Sankt Augustin, 1997; ders./Thomas F. Gorden, Rules of Order for Electronic Group DecisionMaking – A Formalization Methodology, in: Julian A. Padget (Hg.), Collaboration Between Human and Artificial Societies, 1998, 246-263.

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Rezension zu Dieter Krimphove, Rechtsethologie, 2021

Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen, Duncker & Humblot, Berlin, 2021, DOI https://doi.org/10.3790/978-3-428-58217-4. 322 S., 69,90 EUR

Der Autor hat seit 1997 einen Lehrstuhl für Wirtschaftsrecht mit dem Schwerpunkt Europäisches Recht an der Universität Paderborn inne. Seither veröffentlicht er auch über ökonomische Analyse des Rechts, Spieltheorie, juristische Logik, Humanethologie und Fragen der Evolution. Im Literaturverzeichnis werden 29 einschlägige eigene Veröffentlichungen angeführt. Das vorliegende Buch muss man wohl als Zusammenfassung und Krönung langjähriger Befassung mit solchen extradisziplinären Fragen verstehen. Leider ist die Krone aus Talmi.[1]

Im Vorwort spricht Krimphove von einem unverbrauchten Thema. Das ist im Hinblick auf die Literaturflut zur Soziobiologie ebenso kühn wie der Anspruch, mit der Rechtsethologie einen »gänzlich neuen Zugriff auf das Recht« (S. 22) zu bieten oder gar eine neue wissenschaftliche Disziplin zu begründen (S. 23, 30, 52ff).[2] Der Anspruch reicht aber noch weiter:

»Mit ihrem ökonomisch geprägten Ansatz ist die Rechtsethologie interdisziplinär. Sie vereint nicht nur die evolutionsbiologische Fachdisziplinen, wie Human-, Tiermedizin, Genetik, Humangenetik, Zoologie, Geologie/Geographie, Archäologie u. v. a. m., sondern auch die, das menschliche Verhaltens-Repertoire analysierenden, wie die Sozial- und Rechtswissenschaften, die Geschichte, Politologie, Volkswirtschaftslehre, Soziologie, die Psychologie, Neurologie, Neurobiologie, Verhaltensbiologie sowie die erkenntniszusammenführenden Disziplinen der Anthropologie, Theologie und Philosophie und sämtliche deren Spezialbereiche.« (S. 46)

Ähnlich interdisziplinär hatte John Mikhail für eine angeborene moralische Grammatik (UMG = Universal Moral Grammar) in Analogie zu Chomskis generativer Universalgrammatik (UGL = universal generative linguistics) argumentiert.[3] Ihm wurde entgegengehalten, es sei höchst problematisch, sich auf verschiedene Disziplinen zu berufen, wenn keine einzelne für sich den Nachweis für eine UMG führen könne.[4]

Krimphove nimmt für sich in Anspruch, die Ethologie als neue rechtswissenschaftliche Disziplin begründet zu haben. Die spezifische Methode der Rechtsethologie soll in einem institutionen-ökonomischen Ansatz bestehen (S. 49). Die

»propagierte Rechtsethologie [bietet] gegenüber bisherigen humanethologischen Ansätzen, den methodischen Vorteil, nicht auf evolutionshistorische Spekulationen oder fragwürdige Annahmen angewiesen zu sein, sondern zur Begründung der historischen Evidenz von Verhalten auf die Grundlage der – ebenfalls dem Evolutionsgeschehen unterliegenden – Ökonomik des tierischen, hominiden bzw. humanen Verhaltens – als einem qualitativen Vergleichs- und Bewertungsmaßstab  – zurückgreifen zu können.« (S. 52).

Doch Krimphove hält sich nicht an diesen Plan, sondern fällt immer wieder in in die Soziobiologie zurück. Bald darauf erfahren wir: Das Recht ist im gleitenden Übergang aus der Tierwelt zum Menschen entstanden, denn bereits einige Primaten verfügen »über ein deutliches Gefühl für Gerechtigkeit bzw. deren Abwesenheit« (S. 27). Als Beleg dienen die bekannten Forschungen Frans B. M. de Waals. Schon im Tierreich gebe es Beispiele für die freiwillige Akzeptanz von Autorität (S. 26). Als »Produkt eines biologischen Evolutionsprozesses« stehe das Rechts »anderen evolutionsbiologischen Errungenschaften, etwa denen des aufrechten Gangs, der Unbehaartheit der Haut, der Verkrümmung der Wirbelsäule, dem verkümmerten Blinddarm etc., gleich.« (S. 57). Der Witz dieser seiner Formulierung ist dem Autor allerdings entgangen. Vom aufrechten Gang einmal abgesehen würde man die »Errungenschaften« eher als »Imperfektionen und sogar Dysfunktionalitäten« der Evolution[5] einordnen. Humoristen fänden damit reichlich Anknüpfung für eine Rechtskritik.

Die klassische Humanethologie wird von Krimphove als spekulativ und ideologisch fragwürdig abgetan. Die von ihm alternativ

»propagierte Rechtsethologie vermindert die Gefahr, spekulative Elemente als Erklärungsinhalte zu nutzen. Sie ersetzt – und hierin besteht ihre wesentliche Neuheit – Spekulation mit dem wissenschaftlichen Rückgriff auf die objektivierbaren Grundsätze bzw. Gesetzmäßigkeiten der Wohlfahrtsökonomik, speziell der Neuen Institutionen-Ökonomik.« (S. 29)

Mit der Institutionen-Ökonomik könne man »tierische oder menschliche Verhaltensalternativen, angesichts deren größtmöglichem Potential zur Einsparung von Aufwendungen als besonders effizient … qualifizieren« (S. 38). Eine Ex-Post-Evaluation »prähistorischer Phänomene« nach Effizienzmaßstäben kommt wohl in Betracht. Bei dem Folgeschritt dagegen gerät man ins Stolpern.

»In einem Folgeschritt ist es nun denkbar, auf den Bestand bestimmter, prähistorischer Verhaltenselemente und auch Verhaltenssteuerungen (also Normen) objektiv zu schließen. Denn besteht die Wahlmöglichkeit der Akteure (Hominiden, Menschen, Primaten etc.) zwischen Handlungsalternativen, werden diese jene wählen, bzw. gewählt haben, die ihnen effektiv, d. h. als geeignet und ihren Lebensumständen entsprechend – d. h. fit – erschienen. Als effektiv im obigen Sinne erscheinen als Alternativen nur jene, die ihnen und / oder ihrer Gruppe Vorteile erbrachten.« (39)

Krimphove entlarvt oder karikiert auf diese Weise unbemerkt ein in der Evolutionstheorie durchaus übliches Verfahren. Aus heutiger Sicht im Sinne der Transaktionskostentheorie effektive Verhaltensweisen werden als »in der Vergangenheit existent« angesehen (S. 54). Das ist genau die Spekulation, die der Verfasser der »alten« Humanethologie vorhält.

Offen bleibt, von welcher Version der Evolutionstheorie Krimphove ausgeht. Jedenfalls gilt:

»Die besondere Bedeutung der Institutionen-Ökonomik besteht eigens in ihrer inhaltlichen Kompatibilität zur Evolutionstheorie.« (S. 42)

Nun erwartet man, dass der Verfasser an die umfangreiche Diskussion der Ökonomen anknüpft. Stattdessen [führt die]

»Rechtsethologie das ›Recht‹ auf seine evolutionsbiologischen, stammesgeschichtlichen Ursprünge bzw. Entstehungsfunktionen zurück. Diese haben sich mit dem Menschen und seinem Recht nach den Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten des aufwand- und kostenschonenden Einsatzes von Ressourcen weiterentwickelt.« (S. 55)

»Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Recht wird auf Grund seiner inhaltlichen Nähe zur Evolutionsbiologie und Stammesgeschichte – wie bereits Post zu Ende des 19. Jahrhunderts vermutete – zu einer ›Naturwissenschaft‹.« (S. 57)

Hier zeigt sich ein grundlegender Fehler der Argumentation: Es fehlt die Unterscheidung zwischen biologischer und kultureller Evolution. »Hominiden, Menschen, Primaten etc.«, Evolutionsbiologie und Stammesgeschichte, werden in eine Kiste gepackt und geschüttelt. Das Ergebnis sind »stammesgechichtliche Grundlagen des ›Rechts‹ «. Nach der Formulierung S. 79 »nutzten die Menschen« ihre über Jahrmillionen gewachsene Hirnkapazität zur »Entwicklung von Werkzeugen und Materialien«, und zu Formen sozialer Arbeitsteilung, in denen sich schon der »Wesensgehalt« dessen zeige, was heute unter Recht verstanden werde. So hat »das Phänomen ›Recht‹ (auch) seine Entsprechung in der hirnorganischen Entwicklung des Menschen genommen« (S. 78). »Das System von ventromedialem präfrontalem Cortex und der Orbitofrontal-Cortex erscheinen so als ethisch/moralischesGewissen.« (S. 86) Es ist

»evolutionsbiologisch entstanden …, da es auch hirnorganisch mit der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen verbunden ist« (S. 87f).

Der Rezensent hat bei der Arbeit an dieser Rezension selbst erlebt, wie schwierig es ist, als sich Nicht-Experte in Evolutionstheorie, Verhaltensgenetik, Neurowissenschaften usw. hineinzufinden.[6] Heute ist vielfach von einer verallgemeinerten Evolutionstheorie die Rede, die die drei Prinzipien der Evolution – Reproduktion, Variation und Selektion – zugrunde legt. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Es bleibt eine scharfe Trennung zwischen biologischer und kultureller Evolution, und zwar auch, nachdem der Neodarwinismus mehr und mehr der evolutionären Entwicklungsbiologie weichen muss. Die »neue Synthese« setzte für »Variation« allein auf zufällige Mutationen der Gene. Die sind aber nicht nur selten und vor allem in ihren Auswirkungen so zufällig, dass sie etwa die Anpassung der Schnäbel der Darwin-Finken den Galapagos Inseln schwerlich erklären können. Anscheinend nimmt die Evolution ihren Weg doch auch über eine Anpassung des Phänotyps, die sekundär den Genotyp verändert, und zwar nicht eigentlich durch eine Veränderung der DNA, sondern durch Nutzung in der DNA angelegter Möglichkeiten. So jedenfalls verstehe ich die relativ neue Darstellung von Axel Lange[7]. Nun spricht man von evolutionärer Entwicklungsbiologie oder kurz Evo-Devo (evolutionary developmental biology). Die erbliche Anpassung reagiert anscheinend auf physiologische Anforderungen der Umwelt, die zunächst den Phänotyp angreifen, wie etwa das Sonnenlicht, dass eine Änderung der Hautfarbe zur Folge hat. Sie funktioniert wohl auch, wenn Kultur die Umwelt derart verändert, dass neue physische Anforderungen an Lebewesen gestellt werden, etwa durch Umweltgifte oder gewandelte Bewegungsmuster. Ein Beispiel ist die Entwicklung er Lactosetoleranz als Folge der aufkommenden Milchwirtschaft.[8] Die Weismann-Barriere ist gefallen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die aktuelle Evolutionstheorie mehr und mehr dem entspricht, was sich Laien (und Lamarck) schon immer unter Evolution vorgestellt haben. Indessen gibt es für eine biologische Vererbung kultureller Phänomene wie Sprache, Schrift oder auch Recht bisher keinen Beleg. Der Übergang von Symbolen oder – in der Sprache Dawkins – von Memen in die biologische Substanz, den die Soziobiologie voraussetzt, bleibt ein Phantom.

Auf dieses Phantom vertraut Krimphove. Für die kulturelle Evolution verweist er auf das »gegenüber den Primaten vergrößerte Gehirn« der Menschen (S. 42).

»In der Weise wie eine sich klimatisch erwärmende Umwelt, die nun einer zu energieaufwendig, m. a. W. zu transaktionskostenaufwendig gewordene Bewegung eines Dinosaurierkörpers durch schnellere, wendigere Kleinlebewesen (Säugetiere) ersetzte, schafft die Natur auch unangemessen gewordene Verhaltensweisen und deren Reglementierungen ab und ersetzt diese durch situationsangepasstere, d. h. fittere, oder in der jeweiligen Situation transaktionskostengünstigere«. (S. 43f)

Schon auf S. 28 erfuhr der Leser, »die Rechtsethologie [habe] auch Antworten auf Fragen anzubieten, warum selbst technologisch wie ökonomisch hochentwickelte und zudem global-vernetzte Gesellschaften ein restriktives Fremdenrecht praktizieren; also etwa ein, auch ökonomisch zu hinterfragendes, Arbeitsverbot für Flüchtlinge verhängen«. Dazu heißt es auf S. 54:

»Mit ihrem Rückgriff auf evolutionsbiologische Parameter kann die Rechtsethologie sogar jene Verhaltensweisen – wie Rassismus, Vandalismus, Polygamie, Homophobie, schaulustige und rettungsbehindernde Gaffer etc. – erklären, die dem aktuellen Recht und heutigem Rechtsempfinden widersprechen.«

Später (S. 131) erfahren wir dann, dass der »Ingroup-Bias« stammesgeschichtlich eingeschrieben ist mit der Folge, dass »entwicklungsgeschichtlich herausgebildete Tatbestände wie die der Ablehnung, Zurückweisung und Bedrohung alles Fremden aktuell in unrechtmäßige Diskriminierungen, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie etc. umschlagen« können. In der Tat, es lässt sich schwerlich bestreiten, dass der Ingroup-Bias ein universelles psychologisches Phänomen darstellt. Die Frage ist nur, ob es sich dabei um ein biologisches oder um ein kulturelles Phänomen handelt oder ob es nicht vielmehr um ein Konstrukt des kognitiven Apparats geht. So würde ich etwa Simone de Beauvoir interpretieren, wenn sie schreibt:

»Die Kategorie des Anderen ist so ursprünglich wie das Bewußtsein selbst. In den primitivsten Gesellschaften, in den ältesten Mythologien findet sich immer eine Dualität: die des Gleichen und des Anderen. … Die Alterität ist eine grundlegende Kategorie des menschli-chen Denkens. Keine Gemeinschaft definiert sich jemals als die Eine, ohne sich sofort die Andere entgegenzusetzen. Es genügt, daß drei Reisende zufällig im selben Zugabteil sitzen, damit alle übrigen Reisenden irgendwie feindliche ›andere‹ werden.«[9]

Die Abgrenzung von Eigengruppe und Fremdgruppe würde sich damit aus der Eigenlogik des Wahrnehmungssystems erklären und fiele so in die Kategorie der Heuristiken und kognitiven Täuschungen nach Kahmemann und Tverski. Freilich lassen sich auch solche Phänomene in Krimphoves Evolutionstheorie einbauen (S. 138f).

Krimphoves Rechtsethologie nimmt für sich in Anspruch, nicht nur »historisch abgeschlossenem Recht eine objektive, qualitative Beurteilung zukommen zu lassen, sondern auch zukünftige Rechtsentwicklungen – anhand des Vorhandenseins bestimmter Ausgangsbedingungen – zu prognostizieren bzw. ein jeweils geeignetes, d. h. situationsangepasstes Recht vorzuschlagen.« (S. 54)

S. 72ff leistet Krimphove seinen eigenen Beitrag zur Geschichte der Menschwerdung.

»Die Ausübung der ökonomisch effizienten koordinierten Jagd auf Großwild bringt somit nicht nur die evolutionäre Abgrenzung des Menschen von seinen Vorgängern, den Hominiden, sondern auch das Entstehen von Kooperation bzw. kooperativem Verhalten hervor.« (S. 72)

Jagen nicht auch die Wölfe im Rudel? Wir erfahren, dass die Großwildjagd ökonomisch effizienter war als das Nachstellen nach Kleintieren und so zum Kennzeichen der Frühmenschen wurde. Lernen entwickelt sich, weil es Transaktionskosten spart (S. 75).

»Auch die Möglichkeit und der Vorgang des Lernens – und damit auch des Erlernens von ›Recht‹ – sind somit erbbiologisch, also genetisch festgelegt. Denn sie boten den Individuen und ihren Gruppen erhebliche überschießende Evolutionsvorteile« (S. 76)

Jeder Hundehalter weiß, dass auch Tiere lernen können.

Ohne sie als solche zu benennen, huldigt Krimphove der Modultheorie des Geistes[10], die nach Bedarf zusammengestückelt wird. Er vermag einzelne Gehirnareale auszumachen, die sich über 400.000 Jahre entwickelt haben und nunmehr für die Existenz von Recht von entscheidender Bedeutung sind. Das wichtigste ist der präfrontale Cortex:

»Er gewährleistet die Wahrnehmung und Verarbeitung der sozialen Folgen des menschlichen Verhaltens, wie Belohnung und Bestrafung. Diese Konsequenzen kann er auch speichern. Seine vielfältigen Vernetzungen, insbesondere mit dem limbischen System und mit der Amygdala (dem Mandelkern), ermöglicht dem Orbitofrontal-Cortex die Integration von bereits gespeicherten situationsabhängigen und situationsgebundenen Emotionen und emotionalen Werten in die soziale Beurteilung eines Geschehens oder des eigenen Verhaltens. Handlungswerte – wie Schutz eines Angehörigen, der Wohnstätte, der Gruppe.« (S. 85)

Hier stecken das »ethisch-moralische Gewissen«, die »juristische Intuition« bzw. »das Rechtsgefühl« (S. 86). Bestimmte Bereiche des Gehirns »speichern Verhaltensmuster« (S. 91). Erst durch Nachlesen in der in Fn. 152 angegebenen Quelle wird klar, dass es sich schlicht um das Gedächtnis handelt – und nicht um eine erbliche Speicherung. Ja, wer hätte bezweifelt, dass Teile des Gehirns für das Gedächtnis zuständig sind?

Krimphove kennt auch die Teile des Gehirns, die »den jeweiligen sozialen Kontext der Handlung für die Zielerreichung« erkennen und so dafür sorgen, dass schon die ersten Menschen »gesetzte Ziele nicht als Selbstzweck, sondern stets gruppenbezogen und gruppenadäquat« verfolgten (S. 95). Der »Sulcus temporalis superior« belohnt altruistisches Verhalten. Solches Verhalten wird in den Dienst der Sippe gestellt und ist als »funktionstauschendes Verhalten« fitnessfördernd (S. 96). Ferner gibt es da ein Zentrum, das soziale Zurückweisung ähnlich registriert wie körperliche Schmerzen. Teile der Insula reagieren

»extrem heftig auf alle Formen (erlebter) Ungerechtigkeit, Ablehnung und Verletzungen von Normen durch andere: Hier entsteht der Reiz, sich selbst rechtskonform zu verhalten, aber auch andere Individuen für deren Rechts-Übertretungen zu sanktionieren.« (S. 98).

Dieser genetisch angelegte Sanktionsmechanismus macht sich auch heute noch geltend:

»Ein Nachbar fotografiert falschparkende Autos, um diese der Polizei oder einem Abschleppdienst anzuzeigen. Passanten beschimpfen Fußgänger, die eine Straße bei ›Rot‹ überqueren, obschon die Sanktionierenden keinerlei Nachteile von dem ordnungswidrigen Verhalten haben oder befürchten müssen.« (S. 99)

Den Höhepunkt der Reise in die Rechtsbiologie bietet die Entdeckung von Rechtsuniversalien, vermittelt durch Marc D. Hausers »Moral Mind«, von dem Krimphove sagt, er habe, »ausgehend von Chomskys universeller Grammatik[11] einen Katalog von ›Rechts-Universalien‹ entwickelt«.[12] Einen Katalog hatte Hauser zwar nicht entwickelt, sondern nur Beispiele genannt. Eines seiner wichtigsten Beispiele, die Goldene Regel, erwähnt Krimphove nicht. Dafür hat er selbst zwei Universalien entdeckt: Ein durch ein aktives Tun begangenes Unrecht erscheint dem menschlichen Rechtsbewusstsein verwerflicher als eine durch ein Unterlassen begangene Rechtsverletzung.[13] Eine sich durch einen unmittelbaren Kausalzusammenhang ergebenden Schaden wird als größeres Unrecht angesehen als eine Schädigung, die durch eine mehrgliedrige, lange oder verwickelte Kausalitätskette entsteht.

»Diesen Nachweis konnte die hier vertretene vorgestellte Rechtsethologie übernehmen, beinhaltet doch dieser Katalog jene (rudimentären) Rechtsstandards oder Ansichten, die allen Menschen gemein sind und von denen also angenommen werden darf, dass sie entwicklungs­geschichtlich von einem gemeinsamen Vorgänger des Menschen stammen.« (S. 264)

In der Tat gibt es eine umfangreiche Diskussion, die sich mit der These befasst, dass Homo Sapiens nicht nur über eine sprachliche Universalgrammatik, sondern auch über eine universelle moralische Grammatik verfügt. Zu den (von Krimphove nicht erwähnten) Protagonisten dieser These zählen etwa der vieltausendfach zitierte Jonathan Haidt[14] oder John Mikhail[15], auf den sich Hunderte berufen. Der Gedanke einer angeborenen moralischen Grammatik ist von dem Züricher Rechtstheoretiker Matthias Mahlmann aufgegriffen worden.[16] Er postuliert eine mentalistische Ethik, die man sich analog zu Chomskys generativer Universalgrammatik und zu bestimmten Strukturen visueller Wahrnehmung als eine natürliche geistige Eigenschaft des Menschen vorstellen soll.[17]

»Zu Kandidaten für die Prinzipien, die der moralischen Urteilsfähigkeit zugrunde liegen, zählen etwa jene Grundsätze, die in der Analytik der Moral als schlechthin konstitutiv ausgezeichnet wurden: die Gerechtigkeitsprinzipien der differenzierten, proportionalen Gleichheit und die Grundsätze des Altruismus.«

Das ist insofern überraschend, als Mahlmann die rechtsbiologischen Ansätze der Soziobiologie, der evolutionären Psychologie und des neuroethischen Emotivismus ausführlich und kritisch referiert.[18] Wieso eine prinzipiengeleitete kognitive Urteilskraft zu den angeborenen Eigenschaften des menschlichen Geistes gehören soll, ist danach schwer verständlich. Zu den angeborenen Eigenschaften menschlichen Geistes gehört wohl sicher die Fähigkeit zur Mustererkennung über die verschiedenen Sinneskanäle. Dass aber auch bestimmte inhaltliche Muster angeboren seien, und zwar nur sprachliche und moralische, nicht aber sonstige Verhaltensmuster, erscheint doch sehr fragwürdig.

Kulturelle Universalien bleiben ein diskussionswürdiges Thema.[19] Man muss dabei nur im Blick behalten, dass die Universalität nicht unbedingt biologisch begründet ist.[20] Krimphove beschränkt sich auf Marc Hausers Erörterung von Abwandlungen des bekannten Trolley-Problems. Die spontanen Antworten vieler Testpersonen, die es ablehnen, eigenhändig einen Menschen zu opfern, um mehrere andere zu retten, ist ihm Beleg für »das stammesgeschichtliche … Verbot der aktiven Verletzung oder gar Tötung von Artgenossen«, das »noch aus dem Tierreich« stammt (S. 114). Die Tierverhaltensforschung von Konrad Lorenz und ihre Rezeption durch Hellmuth Mayer[21] hätten ihn vielleicht doch an einer angeborenen Tötungshemmung zweifeln lassen. Der Biologie Hans Mohr geht davon aus, dass im Gegenteil die Tötungsbereitschaft biologisch programmiert sei.[22]

In einem umfangreicheren Teil über »Anwendungen (S.133 -270) nimmt der Verfasser zu den »Diskrepanzen zwischen ihnen bzw. Friktionen« des aktuellen Rechts Stellung, die er »aus der Präsenz prähistorischen, stammesgeschichtlichen Rechts bzw. Rechtsempfindens in der Gegenwart« ableitet (S. 133). Ausführlich stellt er positive Anreizsysteme, die sämtlich als Nudging etikettiert werden, sowie Scham als ethologische Alternativen oder Ergänzungen zu Sanktionen vor. Die Effizienz des sog. Nudging wird »ethologisch« damit erklärt, dass »das Belohnungssystem ventrale Tegementum … über den Nucleus accumbens, eine Freisetzung von Dopamin [einleitet], das im präfrontalen Cortex Freude und Spiel-Euphorie auslöst« (S. 140). Die »rechtsethologisch geforderte strukturelle Integration der Scham« in das aktuelle Recht soll über das Strafmaß erfolgen. Als Strafbemessungsgrund wird das »Bedauern des Täters angesichts seiner Tat und ihrer Folgen« vorgeschlagen (S. 176). Im Übrigen entdeckt Verf., wie das moderne Recht an vielen Stellen die ursprünglich evolutionären Schamgrenzen verrechtlicht, was notwendig sei, da »nicht mehr alle Mitglieder der Gesellschaft die gleichen Schamgrenzen kennen bzw. akzeptieren« (S. 180).

»Stammesgeschichtliche Bezüge« findet der Verf. fast überall, in der Hierarchie des Arbeitsrechts, »sogar im Unternehmensmitbestimmungsrecht und im Betriebsverfassungsrecht« und nicht zuletzt im Familien- und Erbrecht (S. 182). Wir erfahren immerhin, dass sich »für eine generelle Betrachtung der hier anstehenden Frage, ob die Monogamie ihren entwicklungsbiologischen Niederschlag im Genom des heutigen Menschen gefunden hat, … die Beobachtungen über Vögel prinzipiell nicht« eignen (S. 187). Verf. unternimmt dann erheblich Anstrengungen, um zu belegen, dass Monogamie unter Säugetieren, Primaten und Menschen erbbiologisch nicht verankert ist (bis S. 194), um fortzufahren, dass die Monogamie doch immerhin institutionen-ökonomisch und damit zivilisatorisch begründet gewesen sei (S. 194ff). Unter modernen Verhältnissen sei aber auch die »serielle« Monogamie ökonomisch rational.

Als Teil der »sozialen Handlungskompetenz« habe sich auch das Todesbewusstsein entwickelt (217ff). Daraus folgen allerhand Ableitungen zum Bestattungsrecht. Und natürlich erwartet man »ethologische« Aufklärung über das Eigentum. In der Frühphase der Menschheit habe es kein exklusives Eigentumsrecht gegeben, sondern nur eine Art zeitlich begrenztes Gebrauchseigentum (S. 238).Eigentum habe sich erst mit dem Aufkommen der Arbeitsteilung gebildet, deren Beginn nicht unbedingt mit der neolithischen Revolution zusammenfallen müsse. Eigentum sei als »Lohn« für die individuelle Umwandlung von bloßen Hilfsmitteln wie Steinen und Ästen zu Werkzeugen entstanden (S. 241). Die Entwicklung des Ackerbaus habe dann zur Differenzierung von Mobiliar- und Grundeigentum geführt (S.245). Im Gehirn finden sich »keine Areale, die unmittelbar das Rechtsinstitut ›Eigentum‹ ansprechen. Wohl aber existieren Hirnareale …, die den Erwerb oder den Verlust von Gegenständen unabhängig von deren real-wirtschaftlichem Wert realisieren« (S. 247f). So lässt sich (natürlich) der Unterschied von Eigentum und Besitz ableiten, aber auch Kaufsucht und Sammelleidenschaft, und sogar das Mordmerkmal »Habgier« erhält ethologische Auslegungshilfe: Habgier ist als Erwerbsgier »evolutionsbiologisch und hirnorganisch dem Menschen eingeschrieben« und soll deshalb, anders als die »Behaltensgier« (meine Wortwahl), kein besonders verwerfliches Mordmerkmal sein (S. 254). Auch die Kapitalakkumulation sei eine Folge der erbbiologisch angelegten Erwerbslust. Hier wird jedoch ausnahmsweise einmal ein evolutionär angelegter Trend »rechtsethologisch« für langfristig gemeinwohlschädlich erklärt, und so kommt zum Vorschein, dass das Ethologie-Konzept des Verf. nicht rein empirisch, sondern (auch?) normativ gemeint ist.

Die Annahme einer Schenkung, so erfahren wir S. 259, bedeutet ethologisch die freiwillige Unterwerfung unter eine Hierarchie. Das ist der Grund, warum das moderne Recht nicht auf das Konsenserfordernis bei der Schenkung verzichtet. Um das Erbrecht zu legitimieren, bemüht sich Verf. zunächst darum, die Sterblichkeit des Menschen als evolutionären Vorteil zu erklären: Sterblich ist das Individuum, aber nicht die Gattung, und zur Erhaltung der Gattung ist dann auch das Familienerbrecht dienlich (S. 211). Das wird bis in die Ausgestaltung der Schenkungs- und Erbschaftssteuer verfolgt.

Auch die bekannten Heuristiken und kognitiven Täuschungen von Kahnemann (und Tversky) werden mit Hilfe der Ökonomie auf die Stammesgeschichte der Menschen zurückgeführt (S. 266) und mit einem »hirnorganischen Nachweis« versehen:

»Das menschliche Gehirn subsumiert nämlich, gerade nicht eine konkrete Handlung unter die abstrakt/generellen tatbestandlichen Anforderungen einer Norm. Sein Orbitofrontal-Cortex vergleicht vielmehr ein bestimmtes Verhalten mit dem, durch das limbische System, gespeicherten Fundus von (Präzedenz-)Fällen. Dazu sucht der Orbitofrontal-Cortex nach Gleichheiten jener Emotionen mit denen der Temporalpol und der Gyrus frontalis medius ein jeweiliges Ereignis aufgeladen bzw. gekennzeichnet hat.« (S. 268) mit Fußnotenverweis[23] auf S. 85)

Vieles von dem, was über Evolution geschrieben wird, liest sich wie ein Roman, dessen Handlung in vorhistorischer Zeit spielt, so dass es an hinreichenden Zeugnissen der Ereignisse fehlt mit der Folge, dass die Verfasser ihrer Kombinationsgabe freien Lauf lassen können. Das leistet Krimphove mit staunenswertem Erfolg. Alles klingt plausibel. Alles wird mit Fußnoten unterlegt (die freilich zur Hälfte aus Verweisungen auf den eigenen Text bestehen). Nur an Kritik und Selbstkritik hat der Verfasser gespart.

Zur Ehrenrettung des Autors muss man am Ende sagen: Das Interesse an einer evolutionstheoretischen Erklärung der Gesellschaft und ihres Rechts ist ungebrochen. [24] Aus der Zeitschrift »Ethology and Sociobiology« ging 1997 die Zeitschrift »Evolution and Human Behavior« hervor, die im Mai 2023 ein Sonderheft über »Evolution, Justice, and the Law« veröffentlicht hat. Aus diesem Heft hätte Krimphove für seine Darstellung viel Kunsthonig saugen können.


[1] Wer die Jubelrezension von Benno Heussen (Rechtsphilosophie 8, 2022, 480–493) gelesen hat, wird das Buch aus den hier folgenden Ausführungen nicht wiedererkennen.

[2] Wenn es S. 23f heißt, die neue Disziplin sei »nicht zu verwechseln mit der bereits existenten Rechtsethnologie, einer Teildisziplin der von Eibl-Eibesfeldt, aber auch von Konrad Lorenz maßgeblich geprägten ›klassischen Humanethologie‹ «, dann handelt es sich bei dem im Original fett gedruckten »n« wohl um einen Schreibfehler. Soche Buchstabenfehler sind häufiger, z. B. S. 150 »Verbortsnormn« Es finden sich auch grammatische und Wortwahlfehler, z. B. »taktil«, wenn taktisch oder strategisch gmeint ist (S. 42, 124); verfehlter Genetiv »Bewertungsmaßstabes« (S. 42 ), »Anflehung« statt »Auflehnung«?( S. 131); Auflegung statt Auslegung (S. 254); »Bauentscheidungen« statt »Bauchentscheidungen« (Fn. 674). In den Zitaten habe ich solche Schreib und Wortfehler verbessert.

[3] Dazu die Nachweise in Fn. 85.

[4] Lando Kirchmair, Morality Between Nativism and Behaviorism. (Innate) Intersubjectivity as a Response to John Mikhail’s ›Universal Moral Grammar›‹, The Journal of Theoretical and Philosophical Psychology, 37, 2017, 230–260.

[5] Gerhard Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 2011, S. 91.

[6] Davon zeugen drei Einträge auf Resozblog: Was taugt die neue Rechtsbiologie?, Kritik der Soziobiologie Teil II und Kritik der Soziobiologie Teil III.

[7] Axel Lange, Evolutionstheorie im Wandel, 2020 (Rezension mit guter Zusammenfassung von Stephan Krall, Zeitschrift für Anomalistik 20, 375-382

[8] A. a. O. S. 215.

[9] Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 8. Aufl. 2008, S. 12f.

[10] Philip Robbins, Modularity of Mind, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition); David Pietraszewski/Annie E. Wertz, Why Evolutionary Psychology Should Abandon Modularity, Perspectives on Psychological Science 17, 2022, 465–490.

[11] Noam Chomsky, Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use, 1986. Ein jüngerer im Internet verfügbarer Text von Noam Chomsky: Biolinguistic Explorations: Design, Development, Evolution, International Journal of Philosophical Studies 2007, 1–21.

[12] S. 124, 249. Zitiert werden abwechselnd die Originalversion von 2006 mit der Seitenangabe 357ff. und der Nachdruck von 2008. Ich habe in dem Nachdruck von 2008 nachgelesen, der bei archiv.org einsehbar ist, und dort S. 357 ff nichts Einschlägiges gefunden. Interessant sind aber die Seiten 42ff, 54, auf denen Hauser die Analogie zu Chomsky ausführt und sich auf John Rawls beruft, der in seiner »Theorie der Gerechtigkeit« eine Ähnlichkeit zwischen Sprachvermögen und moralischer Kompetenz angenommen hatte. Diesem Zusammenhang hatte schon John Mikhail seine Dissertation aus dem Jahr 2000 gewidmet: Rawls’ Linguistic Analogy: A Study of the ‘Generative Grammar’ Model of Moral Theory Described by John Rawls in ‘A Theory of Justice.’ (Phd Dissertation, Cornell University, 2000 = SSRN 766464).

[13] Dafür hätte Krimphove sich berufen können auf Marc Hauser u. a. (darunter John Mikhail), A Dissociation Between Moral Judgments and Justifications, Mind & Language 22, 2007, 1–21.

[14] Jonathan Haidt, Moral Emotions, in: R. J. Davidson/K. R. Scherer/H. H. Goldsmith (Hg.), Handbook of Affective Sciences, 2003, 852-870; ders., The Emotional Dog and Its Rational Tail: A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment, in: Jonathan Eric Adler (Hg.), Reasoning, 2008, 1024-1052; ders./Joseph Craig, Intuitive Ethics: How Innately Prepared Intuitions Generate Culturally Variable Virtues, Daedalus 133, 2004, 55-66; Jonathan Haidt/Jesse Graham, When Morality Opposes Justice: Conservatives Have Moral Intuitions that Liberals May Not Recognize, Social Justice Research 20, 2007, 98–116;  Simone Schnall/Jonathan Haidt u. a., Disgust as Embodied Moral Judgment, Personality and Social Psychology Bulletin 34, 2008, 1096–1109; Jesse Graham/Jonathan Haidt, Moral Foundations Theory: The Pragmatic Validity of Moral Pluralism, in: Advances in Experimental Social Psychology 47, 2013, 55-130.

[15] John Mikhail,. Universal Moral Grammar: Theory, Evidence and the Future, Trends in Cognitive Sciences, 11, 2007, 143-152; ders., Elements of Moral Cognition: Rawls’ Linguistic Analogy and the Cognitive Science of Moral and Legal Judgment, 2011; ders., Knowledge, Belief, and Moral Psychology, Behavioral and Brain Sciences 44, 2021, e161; ders./Matthias Mahlmann, Cognitive Science, Ethics and Law, ARSP Beiheft 102, 2005, 95-102. Kritisch: Lando Kirchmair, Morality between Nativism and Behaviorism: (Innate) Intersubjectivity as a Response to John Mikhail’s »universal moral grammar«, Journal of Theoretical and Philosophical Psychology 37, 2017, 230–260.

[16] Mentalistische Perspektiven auf Sprache und Recht, in: Kent D. Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 3: Recht vermitteln, 2005, 209–232; Elemente eines mentalistischen Regelbegriffs, in: Marco Iorio/Rainer Reisenzein, Regel, Norm, Gesetz, 2010, 69–82; Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 7 Aufl. 2023, S. 510ff.

[17] Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 7 Aufl. 2023, S. 512.

[18] Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 7 Aufl. 2023, § 26 (S. 350-360).

[19] Christoph Antweiler, Das eine und die vielen Gesichter kultureller Evolution, Anthropos 1990, 483–506; ders., Menschliche Universalien – Pankulturelle Muster im Kontext einer Anthropologie des ganzen Menschen, in Benjamin P. Lange (Hg.), Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur, 2015, 30–41; Donald E. Brown, Human Universals, 1991, ders., Human Universals, Human Nature & Human Culture, Daedalus 2004, 39–48; Karl Eibl, Gibt es kulturelle Universalien?, KulturPoetik 2005, 81–85.

[20] Antweiler (2015) S. 33.

[21] Hellmuth Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962; ders., Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

[22] Hans Mohr, Natur und Moral, 1987, 98ff.

[23] Die Fn. 676 auf S. 268 lautet: »Siehe oben Teil II Kapitel A. III. 2. a) bb) (m. w. H.).« Wohl die Häfte aller Belege = Fußnoten beteht aus solchen Verweisungen, die sich nur müham auflösen lassen.

[24] In Bielefeld fand im August 2023 der Weltkongress Behaviour 2023 statt [https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/biologie/forschung/veranstaltungen/behaviour2023/].

 

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Kritik der Soziobiologie Teil III

Der Kommentar des Lesers Bernd Ehlers hat auf Versäumnisse in den Einträgen zur Kritik der Soziobiologie vom 21. 9. 2023 und vom 2. 10. 2023 aufmerksam gemacht. In der Tat, diese Einträge sind auf dem Stand von vorgestern stehen geblieben. Veraltet ist insbesondere die Aussage, die biologische Evolutionstheorie ende dort, wo Eigenschaften und Fähigkeiten nicht über die Gene weitergegeben werden. Aber auch im Hinblick auf die Suche nach einer generellen Evolutionstheorie, die für Rechtssoziologie und Rechtstheorie nützlich sein könnte, lassen die genannten Einträge zu wünschen übrig.[1]

Auch das Update muss löcherig bleiben. Die Literaturflut zur Evolution will nicht abreißen. Das meiste ist so genannte populärwissenschaftliche Literatur, mag sie auch in der Regel von Fachleuten stammen. Ich habe längst nicht alles gelesen, und es fällt mir schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Daher will ich vorab die zwei wichtigsten Titel nennen, auf die ich mich in diesem Update beziehe:

Axel Lange, Evolutionstheorie im Wandel, 2020[2];

Gerhard Vollmer, Im Lichte der Evolution, 2017[3].

Die Suche nach einer generellen Evolutionstheorie sollte mit der Suche nach einer konsolidierten Theorie für die biologische Evolution bestehen. Dabei bewegen fachfremde Juristen sich auf Glatteis. Im ersten Zugriff kommt der sogenannte Neo-Darwinismus in Betracht, wie er von Ernst Mayr in dem auch für Nicht-Biologen bestimmten Buch »Das ist Evolution« dargestellt worden ist.[4] Dieses Standardmodell der auf Darwin zurückgehenden Evolutionstheorie kennt nur den Dreischritt von Variation, Selektion und Reproduktion, bei dem sich die Reproduktion in den Genen stattfindet, während eine Variation der Gene allein durch Zufall erfolgt. Hinzu tritt bei Arten, die sich sexuell reproduzieren, eine Rekombination unterschiedlicher Merkmale nach den Mendelschen Gesetzen. Insoweit spricht man von Neo-Darwinismus oder der modernen Synthese. Sie akzeptiert weiterhin die sog. Weismann-Barriere, die These nämlich, dass sich aus individueller Erfahrung resultierende Variationen der Organismen nicht vererben können, weil es eine Barriere zwischen den Körperzellen und den Keimzellen (Keimbahn) gibt, die einen Übergang von Erbmaterial aus den Körperzellen in die Keimzellen unmöglich macht. Von diesem Stand gegen die die ersten Einträge zur Kritik der Soziobiologie aus.

Nun spricht man von evolutionärer Entwicklungsbiologie oder kurz Evo-Devo (evolutionary developmental biology). EvoDevo stellt die Grundannahmen des Neo-Darwinismus in Frage. Sie öffnet den auf Zufallsmutationen und natürliche Selektion festgelegten Darwinismus in Richtung auf Selbstorganisation, Kooperation und Netzwerke. Hierher gehört auch die inzwischen weithin akzeptierte Epigenetik. Anscheinend bleibt es jedoch bei einer scharfen Trennung zwischen biologischer und kultureller Evolution Die »neue Synthese« setzte für »Variation« allein auf zufällige Mutationen der Gene. Die sind aber nicht nur selten und vor allem in ihren Auswirkungen prinzipiell so wenig funktional, dass sie etwa die Anpassung der Schnäbel der Darwin-Finken auf den Galapagos Inseln schwerlich erklären können. Anscheinend nimmt die Evolution ihren Weg doch auch über eine Anpassung des Phänotyps, die sekundär den Genotyp verändert, und zwar nicht eigentlich durch eine Veränderung der DNA, sondern durch Nutzung in der DNA angelegter Möglichkeiten. So jedenfalls verstehe ich die relativ neue Darstellung von Axel Lange[5].

Die erbliche Anpassung reagiert anscheinend auf physiologische Anforderungen der Umwelt, die zunächst den Phänotyp angreifen, wie etwa das Sonnenlicht die Haut mit der Folge, dass sich auf gar nicht so lange Sicht die Hautfarbe ändert. Die Anpassung funktioniert auch, wenn Kultur die Umwelt derart verändert, dass neue physische Anforderungen an Lebewesen gestellt werden, etwa durch ein veränderte Nahrungsangebot, Umweltgifte oder gewandelte Bewegungsmuster. Langes Beispiel ist die Entwicklung der Lactosetoleranz als Folge der aufkommenden Milchwirtschaft.[6] Die Weismann-Barriere ist gefallen. Juristen müssen zur Kenntnis nehmen, dass die aktuelle Evolutionstheorie mehr und mehr dem entspricht, was sich Laien (und Lamarck) schon immer unter Evolution vorgestellt haben. Aber Hinweise auf eine direkte Vererbung kultureller Phänomene wie Sprache, Schrift oder auch Recht über die Biologie habe ich (in der Literatur) nicht gefunden. Lange spricht zwar von kultureller Transmission[7], erklärt aber nicht, was gemeint ist. Anscheinend bleibt der unmittelbare Übergang von symbolisch vermittelter Kultur oder – in der Sprache Dawkins – von Memen in die biologische Substanz, den die Soziobiologie voraussetzt, ein Phantom. Das ist wichtig für eine verallgemeinerte Evolutionstheorie, die sich von der Rechtswissenschaft rezipieren lässt.

Eine allgemeine Evolutionstheorie wäre eine einheitliche Theorie, die für alle Disziplinen Geltung hätte. Eine solche Theorie schwebte dem Ökonomen Kenneth E. Boulding vor.[8] In diese Richtung zeigt die Theorie der molekularen Evolution von Manfred Eigen (Nobelpreis 1967).[9] Fortgesetzt wurden seine Bemühungen zur Erklärung präbiotischer Selbstorganisation durch Arbeiten des Chemikers Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977) über offene Systeme, die sich nicht in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, und durch den Physiker Hermann Haken, weltberühmt für seine Lasertheorie, der die Theorie der sog. Phasenübergänge zu einer Theorie der »Synergetik« verallgemeinerte, die auch die gesellschaftliche Selbstorganisation erklären soll.[10] In aller Regel versteht man jedoch unter einer »allgemeinen« Evolutionstheorie nur eine analoge Verwendung von Elementen der biologischen Evolutionstheorie auf kulturelle Phänomene. Da zeigt ausführlich Gerhard Vollmer, indem er 43 »evolutionäre Fächer« (darunter die Rechtstheorie) und weitere 14 Teilgebiete evolutionärer Philosophie vorstellt.

Das Problem mit der Soziobiologie ist und bleibt, dass sie direkt auf die Evolutionstheorie der Biologen zurückgreift. In der dynamischen neuen Evo-Devo gewinnt sie dafür anscheinend eine bessere Grundlage, insbesondere, weil sich die Zeiträume der Evolution von Jahrmillionen auf Jahrtausende verkürzen. Das Interesse an einer evolutionstheoretischen Erklärung der Gesellschaft und ihres Rechts ist ungebrochen. [11] Aus der Zeitschrift »Ethology and Sociobiology« ging 1997 die Zeitschrift »Evolution and Human Behavior« hervor, die im Mai 2023 ein Sonderheft über »Evolution, Justice, and the Law« veröffentlicht hat.

Einen wichtigen Beleg für ein biologisches Verhaltensprogramm bilden nach wie vor die kulturellen Universalien. Vollmer (den ich nicht im Lager der Soziobiologen sehe) ist da sehr großzügig. Als »letztlich genetisch bedingt« zählt er auf:

»Mimik, teilweise auch Gestik, Empathie (Fähigkeit, sich in Gefühle, Motive und Absichten anderer einzufühlen), Emphronesis (Fähigkeit, sich in Wissen und Denken anderer einzufühlen), Besitzanspruch und Besitzanerkennung, langfristige und komplexe Kooperation, Paarbindung, väterlicher Beitrag zum Großziehen von Kindern, Inzesttabu«.[12]

Sieht man einmal davon ab, dass sich die letzten fünf Items dieser Aufzählung vielleicht auch aus einer Handlungslogik erklären lassen, wie sie etwa die Spieltheorie beschreibt, so bleibt bisher völlig offen, wie eine Umsetzung von »Stammesgeschichte« in Biologie vor sich gegangen sein könnte. Es gibt keine Möglichkeit der Ableitung von konkreten Handlungen aus biologischen Strukturen, sondern nur umgekehrt Rekonstruktionen der biologischen Struktur (für die die Gene weiterhin als Abkürzung dienen mögen) aus der Beobachtung der Gesellschaft. Vieles von dem, was Soziobiologen über Evolution schreiben, liest sich wie ein prähistorischer Roman, wie ein Prosawerk, dessen Handlung in vorhistorischer Zeit spielt, so dass es an hinreichenden Zeugnissen der Ereignisse fehlt mit der Folge, dass die Verfasser iher Kombinationsgabe freien Lauf lassen können.

Obwohl man davon ausgehen kann, dass der Mensch nicht als tabula rasa oder blank slate zur Welt kommt, besteht doch die entscheidende Menschenqualität in der Anlage eines Reflexionsvermögens, das biologisch angelegte Handlungsbereitschaften überspielen kann.

Nachtrag vom 5. 1. 2024: Als Fortsetzung kann man lesen Isabelle Bartram/Timo Plümecke/Peter Wehling, Soziogenomik: Ein neuer Versuch, die Soziologie zu biologisieren, Sziologie 53, 2024, 20-45.


[1] Mich tröstet, dass auch Rudolf Stichweh, der sich weitaus intensiver mit der Evolutionstheorie befasst hat, noch nicht weiter gekommen ist: Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[2] Rezension mit guter Zusammenfassung von Stephan Krall, Zeitschrift für Anomalistik 20, 375-382.

[3] Der wichtigste erste Teil ist hier im Internet zu finden.

[4] Auf diesem Stand auch noch Gerhard Schurz, Evolution in Natur und Kultur: eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie, 2011.

[5] Axel Lange, Evolutionstheorie im Wandel, 2020, Zusammenfassung S. 249-252.

[6] A. a. O. S. 215.

[7] A. a, O, S. 251.

[8] Kenneth Boulding, Evolutionary Economics, 1981. Dazu der Sammelband, hg. von Erich Jantsch:, The Evolutionary Vision, 1981.

[9] Manfred Eigen, Selforganization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, Die Naturwissenschaften 58, 1971, 465-523; ders./Ruthild Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, 9 Aufl. 2021.

[10] Dazu Rechtssoziologie-online § 71 II.

[11] In Bielefeld beginnt im August der Weltkongress Behaviour 2023 statt [https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/biologie/forschung/veranstaltungen/behaviour2023/].

 

[12] S. 31f. In dem Zitat habe ich die Reihenfolge umgestellt, um den Folgesatz besser anschließen zu können.

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Differenzierung und Argumentation Overload

Analog zu dem vielfach beschworenen information overload ist in der Rechtstheorie ein argumentation overload zu beobachten. Die Auseinandersetzungen in den Geisteswissenschaften haben einen Grad der Differenzierung und Elaboration erreicht, der es gestattet, jede Argumentation am Ende als unvollständig oder verkürzend, selektiv oder perspektivisch zu kritisieren. Das ist für die Jurisprudenz misslich, denn ist sie verpflichtet, innerhalb überschaubarer Zeit mit beschränkten personellen und sachlichen Mitteln Entscheidungen zu produzieren.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht eine Tendenz, allgemeinere Theorien zugunsten immer weitergehender Differenzierungen (Nuancen) zurückzuweisen. So werden ständig detailliertere empirische Beschreibungen verlangt, und sie werden von einem nicht enden wollenden Ausbau der Begriffssysteme begleitet, die immer weitere Sachverhalte abdecken sollen. Diese Tendenz hat sich zumal in den Law- and Something Fächern ausgebreitet und ist zu einer Barriere für Interdisziplinarität geworden.

Auf der Differenzierungswelle schwimmt auch die postmodern inspirierte Rechtstheorie. Dort gilt »Differenz vor Identität«. Man achtet »in seinen Beobachtungen von Strukturen und Entwicklungen mindestens ebenso sehr wie auf Gemeinsamkeiten auf möglicherweise zwar nur feine, aber charakteristische Unterschiede und [hebt] gerade diese hervor.« Wer » im Verhältnis zu konkurrierenden Theorieangeboten jeweils den kleinsten gemeinsamen Nenner im Sinne eines ›overlapping consensus‹ herauszuarbeiten versucht«, wird zum Harmonisierer gestempelt, »der auf diese Weise andere Positionen für das eigene Projekt zu vereinnahmen sucht«.[1]

Ist nicht die Fähigkeit, immer feinere Differenzen zu erkennen und den Begriffen immer neue Bedeutungsunterschiede abzugewinnen das Kennzeichen eines guten Denkers? Die Welt ist nun einmal höchst komplex und kompliziert. Warum sollte Differenzierung da nicht der adäquate Ansatz ein? [2] Nein, sagt Healey. Es gehe nicht darum, die Differenziertheit der Welt in Abrede zu stellen. Aber um sie theoretisch zu erfassen, dürfe man nicht immer mehr in die Details gehen. Dazu müsse man hinreichend abstrakte Theorien aufstellen, die sich auch der Gefahr aussetzen, widerlegt zu werden.

Der Differenzierer fragt: Sind die Dinge nicht ein bißchen komplizierter? Fehlt da nicht noch irgend etwas? Haben nicht beide Positionen etwas für sich? Konstituieren nicht die Phänomene einander wechselseitig? Welche Rolle haben Struktur, Macht, Zeitlichkeit, Geschlecht (oder was sonst an abstrakten Begriffen einfällt) für dieses Problem?[3] Diese Einstellung so Healy, sei von Grund auf antitheoretisch. Sie blockiere die Abstraktion, auf die Theorie angewiesen sei, und behindere die in der Theoretisierung steckende Kreativität, um sodann drei Differenzierungsfallen (nuance traps) zu beschreiben:[4]

»I do claim that the more we tend to value nuance as such – that is, as a virtue to be cultivated, or as the first thing to look for when assessing arguments – the more we will tend to slide toward one or more of three nuance traps. First is the ever more detailed, merely empirical description of the world. This is the nuance of the fine-grain. It is a rejection of theory masquerading as increased accuracy. Second is the ever more extensive expansion of some theoretical system in a way that effectively closes it off from rebuttal or disconfirmation by anything in the world. This is the nuance of the conceptual framework. It is an evasion of the demand that a theory be refutable. And third is the insinuation that a sensitivity to nuance is a manifestation of one’s distinctive (often metaphorically expressed and at times seemingly ineffable) ability to grasp and express the richness, texture, and flow of social reality itself. This is the nuance of the connoisseur. It is mostly a species of selfcongratulatory symbolic violence.«

Eine vierte Falle, so könnte man hinzufügen, ist das Landkartenproblem. Eine Theorie, die die ganze Komplexität der Welt abbilden wollte, wäre unbrauchbar wie eine Landkarte im Maßstab 1:1. Die brauchbare Vereinfachung ist eine Kunst. Andernfalls sieht man den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen.

Abstraktion wird immer wieder als Krankheit des Rechts angesprochen. Sie bildet aber ein allgemeineres Problem. Es bedarf eines langen Trainings, um die in ihrer Konkretheit unendlich differenzierte Wirklichkeit in wissenschaftlichen Texten zu repräsentieren, das heißt, sie in (abstrakte) Theorie zu bringen. Theorie arbeitet notwendig mit Verallgemeinerungen, die immer zugleich eine Abstraktion darstellen. Einwände gibt es immer, und es ist bequem, Einwänden durch eine neue Volte der Theorie Rechnung zu tragen.

Vor kurzem habe ich innerhalb einer Stunde vierzehn neue Bücher heruntergeladen, die mir nach Titel und Verlagsanzeige für Rechtssoziologie und Rechtstheorie relevant erschienen (darunter das in Fn. 3 genannte). Niemand kann solche Literaturmengen gründlich lesen und ihre Gedanken vollständig aufnehmen. Muss er auch gar nicht. Die Erfahrung ist immer wieder, dass wenig von dem, was zwischen bunten Buchdeckeln daherkommt, neu und wichtig ist. Die Texte umkreisen und differenzieren immer wieder die gleichen Fragen und finden selten zu neuen Antworten. In der Regel geht es darum, auf alte Probleme mit neuen Sprachspielen zu antworten, die dem Zeitgeist Rechnung tragen. So hat sich wohl jeder, der versucht, in dieser Argumentationsflut den Kopf über Wasser zu halten, eine Schnelllesestrategie zugelegt. Titel, Klappentext, Grobgliederung, ein Blick in Einleitung und Zusammenfassung und dann vielleicht noch eine Stichwortsuche. Mehr ist oft nicht drin. Die Aufgabe des Perlentauchers müssen andere übernehmen. Freilich bedeutet diese Literaturflut als solche noch keine Differenzierung. Aber Wissenschaftssoziologen werden sich früher oder später der Frage zuwenden, ob nicht die EDV-gestützte Leichtigkeit des Schreibens und die personelle Ausweitung der schreibenden Akademie die Differenzierung vorantreibt.

Die Abstraktionen des Rechts bestehen nicht aus wissenschaftlichen Theorien, sondern aus Regeln. Differenzierer haben die Rechtsnorm als allgemeine Regel in Verruf gebracht. Ein zusätzliches Problem folgt für die Jurisprudenz jedoch aus Forderung nach Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, einer Forderung, die auch dort, wo sie nicht vom Gesetz vorgesehen ist (wie in §§ 314 I 2 und § 626 I BGB), vom Bundesverfassungsgericht generalisiert worden ist. Hier wäre nun die Hoffnung auf die Rechtstheorie, auch in Gestalt der Methodenlehre, der Jurisprudenz und mit ihr den Gerichten bei der Abarbeitung der Einzelfälle durch Regelbildung zu unterstützen. Ich sehe dazu bisher keine Ansätze. Vielleicht müssen wir auf künstliche Intelligenz in Gestalt von JurGPT warten, die mit ihrer Fähigkeit zur Mustererkennung den argumentation overload eindampft. Bis dahin bedarf es des Selbstbewusstseins erfahrener Juristen, um dem differenzierten Theoriemosaik der philosophisch und sozialwissenschaftlich inspirierten Rechtstheorie und dem daraus folgenden Überangebot von Argumenten einigen Gewinn abzuringen.


[1] Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, in: ders. (Hg.) Ino Augsberg, Der Staat der Netzwerkgesellschaft, 2023, 11–34, S. 12.

[2] Kieran Healy, Fuck Nuance, Sociological Theory 35, 2017, 118-127.

[3] Frei nach Healey S. 119.

[4] S. 121f.

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Kritik der Soziobiologie Teil II

Keine nichtbiologische Disziplin hat sich so intensiv mit der Übertragung der Evolutionstheorie auf ihren Objektbereich befasst wie die Ökonomie. [1] Wirksam war und ist nicht zuletzt die über Jahrzehnte durch Friedrich A. von Hayek entwickelte Theorie der kulturellen Evolution, die auf spontane Ordnungen abstellt, die sich durch Versuch und Irrtum entwickeln.[2] Aus größerer Distanz könnte man sogar meinen, dass auch Planung und Organisation sozusagen unter der Hand evolutorischen Mustern folgen, wobei letztlich ökonomische Effizienz als Selektionsmechanismus wirkt. In der »kulturellen« Entwicklung des Wirtschaftsgeschehens ist sicher auch Platz für die Spieltheorie. In den 1980er Jahren wurde die Theorie der ökonomischen Evolution durch Autoren angeschoben, die die Quelle für eine Entwicklung der Wirtschaft auf der Schiene des Neoinstitutionalismus in der Entwicklung der formellen und informellen Institutionen suchten.[3] Spätestens hier kippt der Angelpunkt der Evolution vom Individuum zur Gruppe und/oder zur Institution und/oder Organisation

Ob zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution eine scharfe Trennlinie besteht, ist ein Problem für sich. Damit befassen sich die genannte Dual-Inheritance-Theorien, die auf Robert Boyd und Peter J. Richerson zurückgehen.[4] Boyd und Richerson nehmen an, dass die biologische und die kulturelle Evolution getrennte Wege gehen, dass die biologische Evolution eine genetische Kapazität für kulturelle Evolution bereitstellt. Günter Dux ist das nicht genug. Er postuliert einen »Hiatus zwischen Organismus und Welt«, den die Evolution nicht mehr genetisch habe überbrücken können und der durch die Konstruktionen des Geistes ausgefüllt werde.[5] Wieweit die kulturelle Evolution auf die genetische Basis einwirkt, bleibt eine offene Frage.

Die biologische Kapazität für eine kulturelle (und das heißt immer auch soziale) Evolution ist das Thema der evolutionären Psychologie. Sie beschreibt das Gehirn als eine Art Computer, der von der Evolution auf die Lösung von Problemen optimiert wurde, die sich der Menschheit in ihrer Entwicklungsgeschichte gestellt haben. Eine Schule, die auf Jerry A. Fodor zurückgeht[6] und bald Konkurrenz von Leda Cosmides und John Tooby erhielt[7], sieht in den neuronalen Netzwerken des Gehirns aber keinen universalen Denkapparat, sondern ein Ensemble von je für sich komplexen Systemen, die von der Evolution für spezifische kognitive Aufgaben entwickelt wurden, etwa für das Sprachvermögen, für Gesichtserkennung[8], Erkennung der Eigengruppe, Partnerwahl, Fluchtverhalten oder sozialen Austausch. Für die verschiedenen Probleme soll es jeweils spezialisierte instinktartige circuits oder Module geben. Und – »natürlich« möchte man sagen – sind einige Module auch geschlechtsspezifisch ausgebildet. Es fehlt allerdings ein definitiver Katalog der einschlägigen Module.[9] Der Laie hat daher den Eindruck, wenn immer ein automatischer Prozess im Gehirn vermutet wird, postuliert man ein neues Modul. So schließt Pinker aus Statistiken, nach denen bei Stiefeltern die Wahrscheinlichkeit der Kindesmisshandlung größer ist als bei leiblichen Eltern, auf angeborene Elternliebe. Damit fordert er die Frage nach der Entwicklung von Kindern heraus, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen.[10] Wenn es denn Unterschiede gäbe, so ließen sie sich vermutlich auch ohne Rückgriff auf die Biologie erklären.

Die beiden größten Aufreger sind Aussagen der Soziobiologie zur Vererblichkeit von Intelligenz und zum Sexualverhalten. 1994 erschien »The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life«[11]. Es lässt sich wohl nicht ausschließen, dass (die Grundlage der Intelligenz) vererblich ist. Aber das Ausmaß der genetischen Vererbung und ihr Gegenstück, der sog. Flynn- Effekt, sind nach wie vor im Streit. Zitierrekorde hält ein Aufsatz, in dem Robert L. Trivers die evolutionäre Entwicklung de Partnerwahlverhaltens thematisierte.[12] Der Kernsatz:

»The relative parental investment of the sexes in their young is the key variable controlling the operation of sexual selection. Where one sex invests considerably more than the other, members of the latter will compete among themselves to mate with members of the former.«

Damit hatte Trivers das (heute so genannte) Bateman-Prinzip auf den Menschen übertragen, wonach dasjenige Geschlecht, das größere Aufwendungen zur Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses einsetzt, die Partnerwahl bestimmt. Daran schließen die bekannten Thesen an: Männer haben einen stärkeren Sexualtrieb als Frauen[13], sie sind, auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht aggressiver; Frauen sind wählerischer, bevorzugen aber aggressive Männer und entscheiden letztlich über die Vereinigung (female choice[14]). Immer wieder stoßen Psychologen auf universelle Muster für die Attraktivität von Sexualpartnern. Aber Männer wissen von Natur aus noch nicht einmal, wie der Geschlechtsverkehr zu vollziehen ist.[15] Eine ursprüngliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern muss nicht mit einer genetischen Programmierung zu tun haben, sondern folgt schlicht daraus, dass allein Frauen die Kinder austragen und ihnen anfangs Brustnahrung anbieten können.

Die modulare Theorie des Geistes bietet sich an, um zu erklären, warum psychologische Tests eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die anscheinend nicht erlernt sind, ferner, warum sich je nach Sachthema mit Hilfe von EECs und MRT-Scans recht präzise unterschiedliche Gehirnareale als aktiv identifizieren lassen.[16] Es ist aber bisher noch keines der behaupteten Module direkt beobachtet worden. Ihre Existenz wird stets nur aus Reaktionen von Versuchspersonen und peripheren Eigenschaften des Gehirns gefolgert. Die modulare Theorie des Geistes ist daher in der Psychologie keineswegs allgemein akzeptiert[17] (und daher schreibe ich »Module« ab hier in Anführungszeichen). Es bleibt immerhin:

»Das menschliche Gehirn stellt ein komplexes System dar mit hochgradig koordinierten Interaktionen zwischen großen spezialisierten Gruppen von Neuronen, den neuronalen Netzwerken. Die Dynamik und Formbarkeit dieser Netze [wird] oft als Neuroplastizität bezeichnet.«[18]

Europlastizität bedeutet wohl, dass es sich um selbstlernende Systeme handelt.

Zu den kognitiv arbeitenden »Modulen« des Geistes treten die Emotionen. Davon gibt es nach Jaak Panksepp[19] genau sieben mit einer neuronalen und damit letztlich genetischen Basis.Die Emotionen lenken den kognitiven Apparat im Sinne evolutionärer Funktionalität:

»An emotion is a mode of operation of the entire cognitive system, caused by programs that structure interactions among different mechanisms so that they function particularly harmoniously when confronting cross-generationally recurrent situations — especially ones in which adaptive errors are so costly that you have to respond appropriately the first time you encounter them.«[20]

Zwei der kognitiven »Module« sind für die Rechtstheorie besonders interessant, das Sprachvermögen und das Moralvermögen. Ein angeborenes Sprachvermögen hatte bekanntlich Noam Chomski ohne direkte psychologische Grundlage als »generative Grammatik« postuliert, weil er es für ausgeschlossen hielt, dass die strukturellen Gemeinsamkeiten der wohl 6000 unterschiedlichen Sprachen allein durch Lernprozesse erklärbar seien.[21] Steven Pinker spricht von einem Sprachinstinkt.[22] Nachdem John Rawls eine Analogie des sense of justice mit dem Sprachvermögen angedeutet hatte[23], haben Marc Hauser und John Mikhail[24] eine angeborene moralische Grammatik behauptet. Sie können sich immerhin auf Evolutionstheoretiker stützen, die einen gewissen Altruismus als Anpassungsstrategie annehmen, und auf Psychologen, die in ihren Experimenten immer wieder unerwartetem Altruismus begegnen. Freilich hat man bisher weder ein Sprachgen noch ein Gerechtigkeitsgen gefunden. Gefunden hat man nur bestimmte Erregungsmuster des Gehirns bei der Befassung von Versuchspersonen mit Sprach- oder Gerechtigkeitsaufgaben. In umgekehrter Richtung, also von bestimmten nervösen Erregungsmuster zu inhaltlichen Reaktionen der Versuchspersonen führt keine Verbindung. Auch hier gilt wieder: Es fehlt der direkte Beweis, doch alles klingt plausibel, so plausibel, dass man meint, man hätte es sich selbst ausdenken können.

Auch für die kulturelle Evolution kann man wieder fragen, auf welcher Aggregationsebene sie angreift, auf der Ebene einzelner Zeichen oder Propositionen, auf der Ebene von Normen oder von Institutionen. Dazu hat Richard Dawkins eine spezielle Theorie. Sein biologischer Ausgangspunkt ist das egoistische Gen (selfish gen). Dessen Egoismus ist keine psychische Eigenschaft, sondern eine rein biologisch-mechanische, die darin besteht, dass Gene sich selbst reproduzieren können.

»What, after all, is so special about genes? The answer is that they are replicators. … The gene, the DNA molecule, happens to be the replicating entity  that prevails on our own planet.«[25]

Dawkins gibt den Symbolen, die er, ohne Bezug auf Emerson, zum Grundelement kultureller Evolution erklärt, einen eigenen Namen, indem er sie als Meme benennt. Das Kunstwort »Mem« leitet er vom griechischen mimesis (μίμησις = Nachahmung) her, und es soll auch als bloßer Name das »Gen« nachahmen.[26]

»Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes fashions, ways of making pots or of building arches. Just as genes propagate themselves in the gene pool by leaping from body to body via sperms or eggs, so memes propagate themselves in the meme pool by leaping from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.«[27]

Als evolutionär aktiv erweisen sich die Meme, indem sie sich replizieren. Als Mimetik hat sich inzwischen eine Denkrichtung entwickelt, die solche Symbole zu identifizieren versucht, die sich besonders reproduktiv verhalten.[28] Es scheint mir aber doch ziemlich abenteuerlich, mit der evolutorischen Eigendynamik der Meme die gesamte soziokulturelle Entwicklung erklären zu wollen.

Erklären – das ist ein wichtiges Stichwort. In der Tat lassen sich ex post viele Entwicklungen als evolutionäres Geschehen erklären. Aber die Evolutionstheorie versagt, wenn sie Entwicklungen prognostizieren soll. Die Theorie des evolutionären Dreischritts ist so abstrakt, dass sich daraus schwerlich konkrete Hypothesen ableiten lassen. Es kommt hinzu, dass Zufall und menschliche Innovationen sich nicht prognostizieren lassen. Erst recht taugt die Evolutionstheorie – schon aus diesem Grunde – nicht für eine naturalistische Ethik.

Die Soziobiologen – wenn man sie eimal kompakt so nennen darf – sind nicht so naiv, dass sie alles für gut und richtig halten, was die Natur ihrer Meinung nach in den Menschen hineingelegt hat. So verweist Pinker auf die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses und betont, dass jede Entscheidung von einer Wertvorstellung ausgehen müsse.[29] Aber die Wertvorstellungen ihrerseits werden wohl doch durch die Überzeugung von der Macht biologischer Prägung beeinflusst. Das zeigt sich relativ deutlich in den Stellungnahmen zum Geschlechterverhältnis. Auch wenn die Soziobiologie sich bemüht, normative Aussagen zu vermeiden, so wird ihr doch entgegengehalten, dass sie wertende, insbesondere diskriminierende Schlussfolgerungen »suggeriere«.

»Normvorstellungen diffundieren auch aus rein deskriptiven Beschreibungen: Was als Istzustand festgehalten wird, erhält bei fehlender begleitender und deutlicher Verurteilung durch die (implizite) normative Kraft des Faktischen eine Form von Weihe. Beschreibung und Erklärung moralisch abgelehnter Verhaltensweisen tragen zu ihrer Enttabuisierung bei. Soziobiologische Theoriebruchstücke wie Maximierung der eigenen Reproduktion oder genetische Fitnesskategorien können lebensweltliche Kontakte und Verhaltensweisen prägen.«[30]

Die Evolution des Lebens auf der Erde hat wohl sechs Millionen Jahre und damit eine schwer vorstellbar lange Zeit in Anspruch genommen. Die Formierung der Gene, die den Homo Sapiens auszeichnen, soll im Pleistozän, also vor etwa 2,5 Millionen Jahren begonnen haben und mit der neolithischen Revolution, also etwa vor 15.000 Jahren abgeschlossen gewesen sein.[31] Daher besteht ein gewisser Konsens., dass die Entwicklung auf Steinzeitniveau stehen geblieben ist [32],, so dass einige er evolutionär verfestigte Anpassungen unter den Bedingungen der Moderne unfunktional sein dürften. Es wird aber auch geltend gemacht, dass die genetische Evolution unter bestimmten Umständen sehr viel schneller ablaufen kann. Erbfeste Merkmale wie Gesichtsschnitt, Haarformen und Körperbau entstehen, evolutionsbiologisch betrachtet, in relativ kurzen Zeiträumen, wenn Individuen einer bestimmten Art unter spezifischen Bedingungen getrennt leben und sich fortpflanzen. So soll sich die menschliche Hautfarbe innerhalb weniger Jahrtausende verändert haben.

Unklar ist (mir) die Bedeutung der genetischen Diversität für die biologische Evolution. Eine geschlechtliche Fortpflanzung ist grundsätzlich nur zwischen Individuen derselben Art möglich. Innerhalb einer Art gibt es jedoch stets auch erhebliche physiologische Unterschiede, von denen einige auch auf genetische Unterschiede zurückzuführen sind. Letztere vererben sich nach den Mendelschen Regeln. Das ist der Ausgangspunkt für die Züchtung von Pflanzen und Tieren. Wenn es um Menschen geht, halten wir »Züchtung« für indiskutabel. Im Zusammenhang mit der »Bell-Kurve« wurde jedoch heftig darüber gestritten, ob unterschiedliche Intelligenz ein Zeichen genetischer Diversität sei und ob ggfs. eine unbewusste Steuerung der Partnerwahl Einfluss auf das allgemeine Intelligenzniveau nehmen könnte. Die Globalisierung mit ihren Wanderungsbewegungen wirbelt verschiedene Populationen durcheinander, mögen sie sich genetisch auch nur minimal unterscheiden. In bestimmten Kulturen sind Verwandtenheiraten so häufig, dass sie vermutlich Einfluss auf den Genpool haben. Man kann deshalb nicht ausschließen, dass sich dieser Genpool auch in der kurzen historischen Zeit verändert hat. Es gibt vermutlich auch unter Menschen die relativ kurzfristig wirksame Populationsgenetik[33]. Es besteht aber die Gefahr, dass von phänotypischer und physiologischer Diversität unmittelbar auf Gendiversität zurückgeschlossen wird. Daraus entstehen dann Streitfragen wie die, ob Intelligenz vererblich ist.

Wie gesagt, offen ist die Frage, ob und wie die kulturelle Evolution nicht nur indirekt, etwa über ihren über ihren Einfluss auf die Partnerwahl, sondern auch direkt auf die genetische Basis zurückwirkt. Insoweit mahnt die Langfristigkeit der biologischen Evolution noch eher zur Skepsis.

Die erst in den letzten Jahrzehnten von der Wissenschaft akzeptierte Epigenetik ist in ihrer Bedeutung noch nicht abzusehen. Jedenfalls bleibt die Standardantwort vom Steinzeitniveau des Gehirns unbefriedigend ist. Juristen spekulieren daher:

»Wenn wir annehmen, dass das Recht etwa 10.000 Jahre Entwicklungszeit hatte, hatte diese Kulturleistungen genügend Zeit, um sich in uns auch genetisch zu verankern.«[34]

Verankert sei dann ein Gefühl für »Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit«. Aber noch niemand hat solche Gefühle in bestimmten Genen verortet. Ich ziehe es daher vor, mit Hellmuth Mayer[35] sowohl Gemeinsamkeiten im menschlichen Verhalten als auch Unterschiede historisch-soziologisch zu erklären. Dazu übersehen wir mindestens die letzten 5000 Jahre ganz gut. In dieser Zeit haben sich Pfadabhängigkeiten herausgebildet, die so festgetreten sind, dass sie wie genetisch festgelegt erscheinen.

Soziobiologie und Evolutionspsychologie stehen vor dem Problem, dass sie ihre Annahmen nicht direkt empirisch prüfen können, weil sie Vorgänge erklären, die in der Vergangenheit liegen und sich nicht experimentell nachstellen lassen. Sie müssen sich daher mit indirekten Beweisen zufriedengeben. Die gängige Methode besteht darin, dass Forscher sich Verhaltensweisen ausdenken, von denen sie annehmen, dass sie fitnessmaximierend seien, um dann diese Verhaltensweisen mit Statistiken oder Laborexperimenten aufzufinden. Allein die Verbindung zu den Genen lässt sich als solche nicht belegen, sondern bleibt bloße Vermutung. Es wird unterstellt, dass Gene so reagieren, wie moderne Menschen sich die Evolution denken. Aber die Evolution »denkt« nicht. Sie hat viele Variationen hervorgebracht, die sich niemand hätte ausdenken können.

Als Literatur, die zu den soziobiologischen Grundlagen des Verhaltens herangezogen wird, handelt es sich nicht um genbiologische Spezialliteratur, sondern um Schriften, die allgemein die Funktionsweise der Gene behandeln. So lassen sich abstrakte Aussagen über die Funktionsweise der Gene mit kaum weniger allgemeinen Aussagen über rechtliche Grundprinzipien verkoppeln. Soziobiologie erscheint deshalb weithin als ein Spiegel des für elementar gehaltenen Rechtsbewusstseins und wird so zur biologischen Verdoppelung von verbreiteten oder erwünschten Verhaltensmustern.

Auch wenn sich menschliches Verhalten nicht aus den Genen ablesen lässt, bleibt eine evolutionstheoretische Betrachtung der Gesellschaft attraktiv.[36] Man muss die evolutionistische Soziobiologie und mit ihr Rechtsbiologie und Kriminalbiologie nicht völlig verwerfen. Der Mensch kommt nicht als tabula rasa zur Welt. So wie Kinder im äußeren Erscheinungsbild oft einem Elternteil ähnlich sind, lässt sich kaum bezweifeln, dass auch unterschiedliche Begabungen und Temperamente ebenso wie Kahlköpfigkeit vererbt werden können. Die Zwillingsforschung hat durchaus interessante Ergebnisse gebracht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Menschheitsgeschichte genetische Spuren hinterlassen hat. Die Frage nach Anlage oder Umwelt (nature or nurture) lässt sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen. Problematisch sind die soziobiologischen Ansätze jedoch, weil sie ihre Aussagen über das Verhalten von Menschen überziehen. Die Gene denken, fühlen und handeln ebenso wenig wie das Gehirn. Menschliches Verhalten wird durch die Gene (über viele Zwischenstationen) vielleicht in bestimmte Richtungen gedrängt, aber nicht gelenkt. Die Leine, mit der Kultur und Sozialverhalten mit den Genen verbunden sind, ist so lang[37], dass man sie nicht zurückverfolgen kann. Selbst Robert Plomin, der Herausgeber der seit 1970 erscheinenden Zeitschrift »Behavior Genetics« benennt in seinem Jubiläumsaufsatz von 2023[38] keine einzige direkte Verbindung zwischen einem Gen und einem bestimmten menschlichen Verhalten. Vererbt werden wohl Charakterzüge und vielleicht auch Intelligenz[39], ohne dass diese sich an bestimmten Genen festmachen ließen.[40] Handfeste Ergebnisse liefern die »Behavioral Genetics« nur, wenn es um Anomalien und Krankheiten geht.[41]

Alles in allem erscheinen die auf das Recht gemünzten Aussagen der Soziobiologie stark überzogen. Die genetischen Anlagen sind als Altruismus und Egoismus so divers, dass sie allein keine speziellen Verhaltensmuster steuern können. Die Aussicht auf eine vollständige Theorie der neuronalen Prozesse im Gehirn, die Aufschlüsse über alle sozialen Verhaltensweisen und kulturellen Produkte an die Hand geben könnte, ist so fern, dass wir mit dem Gehirn als Black Box denken und leben müssen. Das genetische Programm wirkt maximal, wie es Hellmuth Mayer formuliert hat, wie Gegenwind beim Fahrradfahren. Praktisch kann und muss man daher von einem universalen Sozialkonstruktivismus ausgehen, der sich von dem radikalen Sozialkonstruktivismus der Postmoderne allerdings darin unterscheidet, dass er die Realität der Natur akzeptiert.

Zu den Neuerscheinungen von Krimphove und Montenbruck ist danach nur noch wenig zu sagen, denn mit der breiten Kritik der Soziobiologie haben sie sich nicht auseinandergesetzt. Vielmehr haben sie – mehr oder weniger naiv – ihre eigenen Vorstellungen über richtiges Recht in Natur und Gene transponiert.


[1] Dazu relativ neu Marco Lehmann-Waffenschmidt/Michael Peneder (Hg.), Evolutorische Ökonomik, 2022.

[2] Ich habe jetzt keine Originalarbeiten von  von Hayek nachgelesenUnder verweise deshalb auf die Referate von Christopher Holl, Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen, 2004, S. 92 ff, sowie . Wolfgang Kerber, Hayek, in: Marco Lehmann-Waffenschmidt/Michael Peneder, Evolutorische Ökonomik, 2022, S. 513-522. In der Literatur werden u. a. genannt:: Friedrich A. von Hayek, Nature vs. Nurture once Again, Encounter 36, 1971, 81–83; Law, Legislation and Liberty. The Political Order of a Free People, Bd. 3, 1979; ders., The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, 1988 (Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus, 1996).

[3] Kenneth Boulding, Evolutionary Economics, 1981; Christopher Holl, Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen. Von Hayeks Institutionenökonomik und deren Weiterentwicklung, 2004; Richard R. Nelson/Sidney G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982; Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990; Michael North, Rechtsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte: Institutionelle Faktoren in der Wirtschaftsentwicklung des Alten Reiches, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 135, 2018, 401-407 (guter Überblick).

[4] Robert Boyd/Peter J. Richerson, A Simple Dual Inheritance Model of the Conflict between Social and Biological Evolution, Zygon Jounal of Religion & Science 11, 1976, 254–62; Peter J. Richerson/Robert Boyd, Not by Genes Alone: How Culture Transformed Human Evolution, Chicago: University of Chicago Press, 2005, und jetzt Gillian R. Brown/Peter J. Richerson, Applying Evolutionary Theory to Human Behaviour: Past Differences and Current Debates, Journal of Bioeconomics 16, 2014, 105-128.

[5] A. a. O. (Fn. 15) S. 41f und passim.

[6] Jerry A. Fodor, Modularity of Mind: An Essay on Faculty Psychology, in: Jonathan Eric Adler (Hg.), Reasoning, 2008, 878–914.

[7] Leda Cosmides/John Tooby, From Evolution to Behavior: Evolutionary Psychology as the Missing Link, in John Dupré (Hg.), The Latest on the Best: Essays on Evolution and Optimality, 1987, 276–306; dies., The Psychologicyal Fopundations of Culture, in: Jerome H. Barkow/Leda Cosmides/John Tooby, The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, 1992, S. 19-136; dies., Cognitive Adaptations for Social Exchange, ebd. S. 163-228; dies., Evolutionary Psychology: A Primer, 1997.

[8] Der Laie würde eher nach einem Modul für Mustererkennung suchen, das ähnlich, wie die selbstlernenden Systeme künstlicher Intelligenz arbeitet.

[9] Wie die Module zusammenarbeiten, erläutert Steven Pinker in seinem Buch »How the Mind Works«, 1997 (Wie das Denken im Kopf entsteht, 1998/2011).

[10] Diese Frage hat Marc Regnerus untersucht (How Different Are the Adult Children of Parents Who Have Same-Sex Relationships? Findings from the New Family Structures Study, Social Science Research 41, 2012, 752-770), Seither gilt Regnerus in LGBT-Kreisen als Anti-Gay-Researcher. Eine Nachuntersuchung der von Regnerus benutzten Daten durch Cheng und Powell kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede nur gering seien (Simon Cheng/Brian Powell, Measurement, Methods, and Divergent Patterns: Reassessing the Effects of Same-Sex Parents, Social Science Research 52, 2015, 615-626). Zum Thema Joachim-Müller Jung, Leben Kinder homosexueller Partner schlechter? FAZ 2018.

[11] Richard J. Herrnstein/Charles A. Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, 1994.

[12] Robert L. Trivers, Parental Investment and Sexual Selection, in: Bernard Campbell, Sexual Selection an the Descent of Man, 1972, 136-179. Ein anderer Autor, der diese Linie verfolgt, ist David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019. Das Buch enthält ausführliche Kapitel über Challenges of Sex and Mating sowie über Challenges of Parenting and Kinship. 2023 Buss ein »Oxford Handbook of Human Mating« herausgegeben.

[13] Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518; dies., Erotic Capital: The Power of Attraction in the Boardroom and the Bedroom, 2011, deutsch als Erotisches Kapital. Das Geheimnis erfolgreicher Menschen, 2011; dies., The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century, International Sociology 30, 2015, 314-335. Referat auf der Tagung der Nordic Association for Clinical Sexology NACS 2012, S. 27.

[14] Diese These wird populärwissenschaftlich ausgebreitet von der Biologin Meike Stoverock, Female Choice, 2021.

[15] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977, S. 202f.

[16] Als Beispiel sei eine neuere Publikation angeführt: Sabrina Turker u. a., Cortical, Subcortical, and Cerebellar Contributions to Language Processing: A Meta-Analytic Review of 403 Neuroimaging Experiments, (2023) Psychological Bulletin 2023, https://doi.org/10.1037/bul0000403.

[17] Philip Robbins, Modularity of Mind, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition); David Pietraszewski/Annie E. Wertz, Why Evolutionary Psychology Should Abandon Modularity, Perspectives on Psychological Science 17, 2022, 465–490.

[18] So formulieren George M. Ibrahim/Michael Taylor, Krebszellen manipulieren Neuronen, Spektrum der Wissenschaft Heft 10, 2023, S. 22.

[19] Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions, New York, NY 1998. Für eine im Internet verfügbare Kurzfassung vgl. Jaak Panksepp, The Affective Brain and Core Consciousness: How Does Neural Activity Generate Emotional Feelings?, in: Handbook of Emotions, hg. von Michael Lewis u. a., 2008, 47-67. Panksepp fand im Laufe der Zeit sieben biologisch im Hirn verankerte Emotionen, die er, um sie vom üblichen Sprachgebrauch abzusetzen, in Großbuchtaben schrieb: SEEKING/Expectancy, RAGE/Anger, FEAR/Anxiety, LUST, CARE/Nurturing, PANIC/Sadness Und PLAY/Social Joy.

[20] A. a. O. S. 20.

[21] Noam Chomsky, Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use, 1986; ders., Aspects of the Theory of Syxntax, 1965. Zu einer kompetenten Stellungnahme zu Chomskys Theorie sehe ich mich außer Stande. Ich orientiere mich bisher an der Stellungname von Günter Dux, Sprache. Ihre Genese als Problem der Erkenntniskritik, in: ders., Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017, 227–254.

[22] Steven Pinker, Der Sprachinstinkt, 1998 (The Language Instinkt, 1994).

[23] John Rawls, A Theory of Justice, 1971, hier zitiert nach der Auflage von 1999, dort S. 41. Von einem angeborenen Gerechtigkeitsinn ist bei Rawls keine die Rede. Die Seite beginnt mit dem Satz »Let us assume that each peson beyond a sertain aage and possessed of the rquisite intellectual capacity develops a sense of justice unde normal social cirsumstances.« Der letzte Absatz der Seite beginnt dann »A useful comparison hier is with the problem of describing the sense of grammaticalness that we have for the sentences of our native Language.« Eine Fußnote verweist auf Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syxntax, 1965, S. 5-9.

[24] John Mikhail,. Universal Moral Grammar: Theory, Evidence and the Future, Trends in Cognitive Sciences, 11, 2007, 143-152; ders., Elements of Moral Cognition: Rawls’ Linguistic Analogy and the Cognitive Science of Moral and Legal Judgment, 2011; ders./Matthias Mahlmann, Cognitive Science, Ethics and Law, ARSP Beiheft 102, 2005, 95-102. Kritisch: Lando Kirchmair, Morality between Nativism and Behaviorism: (Innate) Intersubjectivity as a Response to John Mikhail’s »universal moral grammar«, Journal of Theoretical and Philosophical Psychology 37, 2017, 230–260.

[25] Dawkins S. 247f:

[26] Dawkins S. 249: »We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of imitation. ›Mimeme‹ comes from a suitable Greek root, but I want a monosyllable that sounds a bit like ›gene‹. I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme.«

[27] Dawkins S. 249.

[28] Susan Blackmore, The Meme Machine, 2000; Werner J. Patzelt, Was ist »Memetik«? In: Benjamin P. Lange (Hg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur, 2015, 52–61.

[29] Wie Fn. 5, S. 242. Dazu Heiner Rindermann, Evolutionäre Psychologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Ethik, Journal für Psychologie 11, 2003, 331–367, S. 359.

[30] Rindermann S. 360.

[31] Eine differenziertere Zeittafel bei Lampe S. 36f.

[32] Leda Cosmides/John Tooby, Evolutionary Psychology: A Primer, 1997, S. 924.

[33] Vgl. Samir Okasha, Population Genetics, The Stanford Encyclopedia of Philosophy 2023.

[34] Heussen, RphZ 4, 2019, 294-322, S. 320.

[35] Hellmuth Mayer , Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

[36] In Bielefeld fand Anfang September der Weltkongress Behaviour 2023 statt. From foraging starlings to fat humans: an ethological approach to the food insecurity-obesity paradox lautet der Titel eines Vortrags. Hilft es uns, wenn wir wissen, das Stare futter hamstern und Menschen vielleicht noch ein Hamster-Gen haben und deshalb bei bei reichlichem Angebot zu viel essen?

[37] Die Metapher von der langen Leine stammt von Edward O. Wilson.

[38] Robert Plomin, Celebrating a Century of Research in Behavioral Genetics, Behavior Genetics 53, 2023, 75-84.

[39] Karl-Friedrich Fischbach/Martin Niggeschmidt, Erblichkeit der Intelligenz. Eine Klarstellung aus biologischer Sicht, 2 Aufl. 2019.

[40] Plomin verweist auf eine Studie von Chabris u. a., nach der sich zwölf Gene, die für Intelligenz verantwortlich gemacht wurden, in mehreren Studien als irrelevant erwiesen.

[41] Darauf konzentriert sich der Band von Robert Plomin/John C. DeFries/Valerie S. Knopik/Jenae M. Neiderhiser, Behavioral Genetics, 6. Aufl. 2013.

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Was taugt die neue Rechtsbiologie?

Kritik der Soziobiologie Teil I

Im Eintrag über Ernst-Joachim Lampes »Historiogenese des Rechts« habe ich auf zwei weitere Neuerscheinungen hingewiesen:

Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen, Duncker & Humblot, Berlin, DOI https://doi.org/10.3790/978-3-428-58217-4. 322 S.

Axel Montenbruck, Naturethik; Bd. 1 »Universelle Natur- und Schwarmethik«, 2021, Bd. 2 »Biologische Natur- und Spielethik«, Bd. 3 »Naturalistische Kriminologie und Pönologie«, im Open Access bei der FU Berlin.

Beide Titel sind von Benno Heussen, der sich kurz zuvor seinerseits auf die »Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts« begeben hatte[1], lobend rezensiert worden. Das kann nicht auf sich beruhen. Zunächst will ich auf das Buch von Krimphove eingehen, wiewohl vermutlich viel von dem Gesagten auch für das Machwerk Montenbrucks gilt, das durchgehend zu lesen ich mich bisher geweigert habe.

Um das Buch von Krimphove einzuordnen, ist ein Rückblick auf die Soziobiologie – teilweise spricht man auch von Biosoziologie – notwendig, denn trotz aller Beteuerungen des Autors über die Neuartigkeit und Interdisziplinarität seines Ansatzes, handelt es sich im Kern um eine evolutionsbiologische Ausmalung des Rechts. Es ist lange her, dass ich mich mit dieser Thematik befasst habe. Die folgenden Ausführungen dienen daher der Selbstverständigung. Für den Kenner bieten sie nicht Neues. Vielleicht helfen sie dem, der sich näher mit der Materie befassen will, insbesondere durch die Literaturhinweise, zu einem schnelleren Einstieg. Vorab sei daher auf einige Übersichtsarbeiten hingewiesen, die mir besonders geholfen haben: Als Einstieg diente die immer noch nicht überholte Kritik der Soziobiologie von Dirk Richter.[2] Erst relativ spät habe ich die noch zwei Jahre ältere Stellungnahme von Heiner Rindermann[3] entdeckt, (die Richter ignoriert) und die mir interessant erscheint, weil sie detaillierter auf die (zweifelhafte) Beweiskraft evolutionstheoretischer Argumentation und deren normative Implikationen eingeht. Ein ordentliches Referat über Erträge der Evolutionsbiologie bietet die Dissertation von Patrick Riordan.[4] Eine ausführliche Analyse der Beziehungen von Soziologie und Biologie von den Anfängen bis heute bieten Russel K. Schutt und Jonathan H. Turner.[5] In einem zweiten Teil entwickeln sie eigene Vorstellungen über eine evolutionsbiologisch informierte Soziologie.[6] Mein Eindruck geht dahin, dass man in der Soziologie etwas Abstand vom kulturellen Konstruktivismus gewonnen und (wieder) stärker an Evolutionstheorie[7] und darüber auch an Biologie[8] anzuknüpfen versucht.

Die Kombination von Evolutionstheorie und Soziobiologie, um die es hier geht, fand und findet nicht nur in Publikumsmedien ein großes Echo. Sie stand als »Rechtsbiologie« zeitweise auch bei Juristen hoch im Kurs.[9] Von dem amerikanischen Juristen Edwin Scott Fruehwald stammen zusammenfassende Darstellungen von Ergebnissen, die für das Recht relevant sein sollen. Sie sind kurz, klar und lesbar geschrieben und zudem leicht zugänglich, so dass darauf für einen ersten Eindruck verwiesen werden kann. Was Fruehwald affirmativ berichtet, wirkt auf mich allerdings weitgehend wie eine Spekulation von Amateur-Evolutionsbiologen. Es ist schwer vorstellbar, dass das alles wirklich auf der Gen-Ebene nachgewiesen ist. Es scheint vielmehr so, dass geläufige individualpsychische und soziale Phänomene (um nicht zu sagen Stereotype) in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und von dort in die Biologie hineininterpretiert werden. Auf diesem Wege suchen Juristen ihre Vorstellungen von der Welt und deren Recht in den Genen. Was auch immer ihnen an Trivial-Psychologie und Soziologie durch den Kopf geht, findet eine natürliche Erklärung. Dahinter steht die vage Hoffnung, in der »Natur« eine Stütze für die immer wieder schwierigen Entscheidungen zu finden, die die Jurisprudenz zu treffen hat. Das ist im Grunde auch schon der Tenor meiner Kritik an dem Buch Krimphoves.

Die Soziobiologie wurde von Edward O. Wilson (Sociobiology. The New Synthesis, 1975) und Richard Dawkins (The Selfish Gene,1976) auf den Weg gebracht und alsbald durch eine evolutionäre Psychologie flankiert. Diese Soziobiologie löste einen Wissenschaftskrieg[10] aus, der mit Protesten und Sprechverboten der aktuellen Auseinandersetzung der Community der Transmenschen und ihrer Unterstützer mit dem Feminismus von Kathleen Stock ähnelt. Einen Höhepunkt erreichte der Nativismus, also die Annahme, dass Persönlichkeitszüge und kulturelle Universalien biologisch programmiert sind, mit Steven Pinkers »Blank Slate« 2002.[11] Ich staune aber immer wieder, wie differenziert Bericht und Stellungnahme Pinkers – die ich bislang nicht selbst gelesen hatte – ausfallen. Das gilt auch für seinen Bericht über den »Wissenschaftskrieg«, in dem er geltend macht, dass die Kritiker der Soziobiologie die einschlägigen Texte gar nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen haben.

Die Soziobiologie steht unter dem Verdacht eines biologischen Reduktionismus und genetischen Determinismus. Ihr wird die Unterwanderung einer (kritischen) Sozialwissenschaft durch biologistische Pseudoempirie vorgeworfen. Aus feministischer Sicht wird die (begründete) Befürchtung geäußert, dass Soziobiologie Vorstellungen von Heterosexualität und Monogamie sowie eine evolutionär funktionale Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern rechtfertigen könnte.[12] Die Soziobiologie ist schließlich ist Gegenstand der Kapitalismuskritik: In Dawkins egoistischem Gen spiegelt sich der homo oeconomicus mit seinem Nutzenkalkül. Deshalb kritisieren Deus u. a., »die evolutionistische Deutung der Gesellschaft als hoch individualisierter Überlebenskampf aller gegen alle sei nichts anderes als eine Projektion kapitalistischer Marktmachtverhältnisse auf die gesamte belebte Natur«.[13]

Das Determinismusproblem ist auch in diesem Zusammenhang unlösbar. Der Vorwurf des Reduktionismus trifft besonders Edward O. Wilson, der die Soziobiologie als neue Einheitswissenschaft begründen wollte, die auch Sozial- und Geisteswissenschaft einschließen soll. Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften.[14] Ohne Bezug auf Wilson, aber mit ausführlicher Stellungnahme zum Evolutionsgeschehen meint Günter Dux, den Geist »erkenntniskritisch« retten zu können.[15] Es führt kein Weg daran vorbei: Der menschliche Geist, Gedanken und Erinnerungen, Handlungen und Gefühle und schließlich auch das Bewusstsein entstehen aus dem Zusammenspiel elektrochemischer Signale im Nervensystem. Die üblichen Stichworte Autonomie und Emergenz des sozial-kulturellen Systems sind nur Rettungsringe. So sehr ich mit dem Rettungsversuch von Dux sympathisiere, so meine ich doch, dass wir uns insoweit mit einer Philosophie des Als-Ob begnügen müssen und können.

Die weitere Grundsatzkritik ist in dem Sinne ideologisch, als sie erklärt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Insbesondere der Vorwurf der Rechtfertigung des status quo ist noch gegen jede empirische Sozialforschung erhoben worden. Triftig ist nur eine sachlich-inhaltliche Kritik, die geltend macht, dass die Soziobiologie eine falsche Evolutionstheorie zugrunde legt oder dass die Theorie zusammen mit der verfügbaren Empirie die behaupteten Ergebnisse nicht trägt.

Kritik an der zugrunde gelegten Evolutionstheorie kam schon aus dem Kollegenkreis von Wilson, nämlich von Richard Lewontin und Stephen Jay Gould. Ihre Kritik litt freilich darunter, dass beide die genzentrierte Soziobiologie von Wilson und Dawkins mit Überschriften wie »Biology as Social Weapon« polemisch bekämpften. Die Frage nach der »richtigen« Evolutionstheorie öffnet ein weites Feld, das ich nicht übersehe. Meine Kritik beschränkt sich daher auf die These, dass die gängige Soziobiologie, zumal in ihrer Form als Rechtsbiologie, ihre Aussagen maßlos überzieht. In diesem Sinne hatte Jay Gould die Aussagen der Soziobiologie mit den »Just So Stories« verglichen, mit denen Rudyard Kipling erklärte, wie der Leopard zu den Flecken auf seinem Fell und der Elefant zu seinem Rüssel kam. Die Soziobiologie habe nur Geschichten ohne empirische Falsifizierbarkeit erfunden. Zentrales Problem, so Gould, bleibe die biologisch ungeklärte Verbindung einzelner Gene zum Verhalten.[16]

Bei aller Skepsis gegenüber der Sozial- und Rechtsbiologie muss man mit der modernen Kognitionswissenschaft doch davon ausgehen, dass das Gehirn mit seinen neuronalen Netzwerken kein »unbeschriebenes Blatt« im Sinne einer neutralen Rechenmaschine ist. Alles andere wäre schlicht unrealistisch. Doch wie weit und wie konkret die Evolution menschlichen Kognitionsapparat vorprogrammiert hat, ist nach wie vor die große, weitgehend offene Frage. Konsens gibt es wohl darüber, dass grundsätzlich durch die »Vorprogrammierung« keine einzelne Handlung definitiv determiniert wird, ausgenommen vielleicht der Saugreflex des Säuglings. Vielmehr wird allgemein anerkannt, dass eine Besonderheit des Menschen eben darin besteht, dass sein Kognitionsapparat eine Reflexionsfähigkeit mit sich bringt, die Automatismen überspielen kann. So beteuern denn auch die Autoren, die das evolutionär geprägte Programm näher beschreiben, wie Wilson, Dawkins[17] und Pinker, dass sich aus der »Natur« nur Wahrscheinlichkeiten, jedoch kein Determinismus für die kulturelle Entwicklung insgesamt und für das Individuum ergebe. Doch die Kritiker glauben solchen Beteuerungen nicht. In manchen Juristenköpfen ist der Evolutionsgedanke so mächtig, dass er sie auf bestimmte Inhalte hin mitreißt. Deshalb habe ich versucht, mich noch einmal selbst zu vergewissern, was Sache ist.

Evolution fragt nach der Fitness von Lebewesen, dass heißt nach ihren Chancen, zu überleben und sich zu reproduzieren. Ein Lebewesen (Organismus) ist ein physisch abgegrenztes Etwas, das seine Grenze gegenüber der Umwelt über eine gewisse Zeit halten und sich während dieser Zeit reproduzieren kann. Alles hängt von der der Entstehung und Änderung, der Speicherung und dem Austausch von Information ab. Für die biologische Evolutionstheorie sind letztlich die in DNA und Chromosomen gebündelten Gene für die Speicherung und Weitergabe der Informationen maßgeblich, die das Leben ausmachen. Die Evolutionstheorie fragt, wie Umwelt und Zufall die Information variieren, selektieren und durch Replikation (Vererbung) stabilisieren.

Ein zentrales Problem für eine an Darwin orientierte Evolutionstheorie bereitet die Frage, auf welcher Ebene die natürliche Auswahl greift. Sind es die Gene, Organismen als Individuen, Gruppen von Organismen, Arten oder Ökosysteme? Da die Evolutionstheorie auf dem Axiom aufbaut, dass »Leben« durch einen endogenen Imperativ zum Selbsterhalt und zur Fortpflanzung bestimmt ist, wäre diese Einheit gewissermaßen definitionsgemäß egoistisch (selfish).[18] Der »neue Darwinismus« der Soziobiologie setzt auf Individuen und ihre Gene.

Man sollte erwarten, dass Lebewesen alle Ressourcen »egoistisch« auf ihr Überleben und ihre Fortpflanzung verwenden. Aber im Tierreich gibt es zahlreiche Beispiele von Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick altruistisch wirken, z. B. die Sammeltätigkeit von Arbeitsbienen oder Warnrufe von Vögeln. Die Funktion altruistischer Verhaltensweisen ist daher eines der Rätsel der Evolutionstheorie. Dawkins sagt von seinem Buch:

»My purpose is to examine the biology of selfishness and altruism.«[19]

Diese Frage haben vor ihm schon andere Biologen gestellt und grundsätzlich beantwortet. Im Prinzip werden drei Erklärungen angeboten, die zeigen, dass der Altruismus evolutionär sinnvoll ist, weil er auf Umwegen der Fitness dient: Verwandtenselektion (inclusive fitness[20] oder kin selection[21]), Reziprozität[22] und ESS-Theorie[23]. Die Verwandtenselektion arbeitet mit der These der inclusive fitness. Das heißt, sie geht davon aus, dass dem Reproduktionsimperativ gedient ist, wenn Verwandte überleben und sich reproduzieren, die jedenfalls teilweise die gleichen Gene tragen. Der Reziprozitätsmechanismus besteht darin, dass ein Individuum mit kleinem Einsatz anderen zu größerem Gewinn verhelfen kann und damit die Chance erhält, seinerseits in den Genuss solchen Gewinns zu gelangen. Die ESS-Theorie besagt, dass ein Tit for Tat eine »evolutionär stabilen Strategie« darstellt, eine Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist.

Die Tierverhaltensforschung hat viele Beobachtungen beigebracht, die den Altruismus mit einer oder mehreren dieser drei Theorien als evolutionär erfolgreich erklären können. Dazu tritt die Evolutionspsychologie auf den Plan, um diese Frage jedenfalls grundsätzlich zu bejahen.[24] Mit zahlreichen Experimenten haben Psychologen immer wieder aufgezeigt, dass Menschen nicht ausnahmslos egoistisch handeln, sondern nicht ganz selten ein altruistisches Verhalten an den Tag legen, vor allem aber, dass sie unfaire Aufteilungen regelmäßig missbilligen.[25] Mit MRT-Scans identifiziert man bestimmte Hirnareale, die aktiv werden, wenn Versuchspersonen einschlägige Fragen beantworten. So genannte maximale Altruisten sollen über ein größeres Amygdala-Volumen verfügen, und die bei altruistischen Entscheidungen aktiven Hirnregionen reagieren verstärkt auf das Peptidhormon Oxytozin.[26] Aus solchen Experimenten nährt sich die Überzeugung, dass ein gewisser Altruismus schon genetisch angelegt sei. Alles klingt plausibel oder gar logisch. Doch es handelt sich um bloß um einen schwachen Indizienbeweis, der mit Analogien und Metaphern arbeitet. Die Kausalkette zwischen dem Verhalten und den Genen bleibt offen. Die vorgefundenen Zusammenhänge lassen sich auch sozialkonstruktivistisch plausibilisieren.

Wenn Ethologen überzeugt sind, dass ein gewisser Altruismus und ein Sinn für Fairness bereits genetisch programmiert sind, dann muss doch in Erinnerung gerufen werden, dass der im Evolutionsgeschehen angelegte Altruismus stets als erklärungsbedürftige Ausnahme von dem primären Egoismus-Imperativ der Evolution angesehen wurde. Wenn schon prosoziales Verhalten genetisch pogrammiert ist, dann liegt es nahe, beinahe mit einem Erst-recht-Schluss, auch a-soziale Verhaltensweisen wie Aggressionen und Territorialverhalten, einen In-Group-Mechanismus und allgemeiner Ethnozentrismus auf die Gene zurückzuführen. In der Tat können Psychologen solche Verhaltensweisen ähnlich belegen wie altruistisches Verhalten. Wenn aber sowohl Egoismus als auch Altruismus eine biologische Basis haben, wie sollen diese widersprüchlichen Anlagen konkrete Handlungen programmieren?

Die biologische Evolutionstheorie endet dort, wo Eigenschaften und Fähigkeiten nicht über die Gene weitergegeben, sondern von den Individuen gelernt werden. Aber natürlich lernt nicht jedes Individuum neu, so dass die Frage auftaucht, wie die Lerninhalte tradiert werden. Die Antwort bereitete der Entomologe Alfred E. Emerson vor, indem er auf Symbole als funktionale Äquivalente der Gene verwies:

»The higher mammals can learn a remarkably wide variety of things. I knew a dog that would respond to over one hundred words and phrases purely by sound. Higher mammals certainly can do a lot of learning. What they do not do is to symbolize their signals in such a fashion as to pass learning on to the next generation or to another individual directly. In other words, what they pass on is through the germ plasm rather than through symbolization. This gives rise to the marked difference between animals and humans in cultural evolution—the evolution of accumulated symbolic systems and communication systems.«[27]

Kultur besteht also aus Lerninhalten, die in irgendeiner Weise symbolisch gespeichert sind. Symbole sind mithin das kulturelle Analogon zu den Genen.

Damit stellt sich die weitere Frage, ob die Gesetze der Evolution auch für die Entwicklung der Kultur gelten. Davon geht man heute grundsätzlich aus.[28] Es handelt sich um eine multidisziplinäre Evolutionstheorie, die besagt, dass in allen Realitätsbereichen »blind-variation-and-selective-retention« wirksam sind, dass aber die Möglichkeit sach- und fachspezifischer Besonderheiten besteht. Es wird also akzeptiert, dass auch die Entwicklung der Kultur im Dreischritt von Variation, Selektion und Stabilisierung erfolgt. Allerdings ist dabei wohl nicht nur der Zufall am Werk, sondern ebenso menschliche Kreativität und Wahlhandlungen, die in Zustimmung und Ablehnung münden. Auch Niklas Luhmann hat bekanntlich diesen Dreischritt zur Grundlage seiner Evolutionstheorie gemacht.[29] »Natürlich« verzichtet Luhmann darauf, die Evolution an den Genen fest zu machen. Er setzt dafür ganz auf Kommunikation. Stichweh findet Luhmanns

»originären Beitrag … darin …, dass er Evolutionstheorie als Konflikttheorie entwirft. Es ist für ihn die Möglichkeit, ›nein‹ zu sagen, auf eine Erwartung mit der Negation dieser Erwartung zu reagieren, die die Dynamik soziokultureller Evolution freisetzt.«[30]

Auf allen Ebenen wird die Spieltheorie ins Spiel gebracht. Trivers hatte schon 1971 die Gene auf Reziprozität getrimmt[31]. 1973 entwickelten John Maynard Smith und George R. Price das Konzept einer »evolutionär stabilen Strategie«, einer Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist.[32] Der Mathematiker Ken Binmore hat sich in zwei dicken Bänden darum bemüht, die Idee einer Verhandlung unter dem Schleier des Unwissens von John Rawls in die Spieltheorie zu übersetzen.[33] Eine zusammenfassende Darstellung, die sich an ein nicht mathematisch vorgebildetes Publikum wendet, ist 2005 unter dem Titel »Natural Justice« erschienen.[34] Wir erfahren, dass reziproker Altruismus, das heißt Altruismus in Erwartung einer Gegenleistung, ein evolutionär stabiler Mechanismus ist, auf den sich ein fairer Gesellschaftsvertrag bauen lässt. Was Binmore über Reziprozität, Fairness und Gleichheit schreibt, ist höchst plausibel, endet aber genau in den abstrakten Formeln der Moralphilosophie, die er durch exakte Wissenschaft ersetzen möchte. Vor allem aber: Auch der Mathematiker kommt nicht ohne die Gene aus:

»So how did our unique style of cooperation evolve? Because relatives share genes.« (2005 S. 8). »We must look at the deep structure of human social contract written into our genes.« (2005 S. 14).

Freilich dauert es sehr lange, bis der Gen-Pool sich neuen Herausforderungen anpasst (2005 S. 157). Dass sich die kulturelle Evolution mit Hilfe der Spieltheorie erklären lässt, leuchtet ein. Aber wie die Gene das Spielen gelernt haben sollen, bleibt dem Laien verborgen. Aber auch ein Experte wie Luigino Bruni verortet die evolutionäre Spieltheorie ganz in der kulturellen Evolution. Die evolutionäre Bedeutung spieltheoretisch erfolgreicher Strategien soll darin liegen, dass sie nicht von Rationalität und Maximierungsverhalten abhängt, sondern allein von Nachahmung, die man sich analog zur biologischen Reproduktion nach Dawkins Modell der Memetik vorstellen soll.[35]

Teil II folgt hier.


[1] Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts. Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 4, 2019, 294-322.

[2] KZfSS 57, 2005, 523-542.

[3] Heiner Rindermann, Evolutionäre Psychologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Ethik, Journal für Psychologie 11, 2003, 331–367, S. 359. Rindermann ist später in politische Kontroversen geraten, zunächst, als er 2010 in der FAZ dem umstrittenen Autor Thilo Sarrazin bescheingte, dessen »Thesen seien ›im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar›‹ « (Andreas Kemper, Sarrazins deutschsprachige Quellen, in: Michael Haller/Martin Niggeschmidt (Hg.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz, 2012, 49–67), später durch einen Artikel über Immigranten als »Ingenieure auf Realschulniveau« im Focus-Magazin vom 17. 10. 2015. Dazu lesenwert ein ausführliches Hintergrundgespräch.

[4] Patrick Riordan, Attraktivität und Partnerschaft Wie tragfähig sind evolutionäre Überlegungen zu partnerschaftlichen Beziehungen?, München 2016. Online verfügbar unter https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19213/1/Riordan_Patrick.pdf.

[5] Russell K. Schutt/Jonathan H. Turner, Biology and American Sociology, Part I: The Rise of Evolutionary Thinking, its Rejection, and Potential Resurrection, The American Sociologist 50, 2019, 356–377.

[6] Jonathan H.Turner/Russell K. Schutt/Matcheri S. Keshavan, Biology and American Sociology, Part II: Developing a Unique Evolutionary Sociology, The American Sociologist 51, 2020, 470–505.

[7] Z. B. Rudolf Stichweh, Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften. Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[8] Z. B. Sebastian Schnettler, Evolutionäre Soziologie, Soziologische Revue 39, 2016, 507–536.

[9] Aus der einschlägigen Literatur: Richard D. Alexander, The Biology of Moral Systems, 1987; John H. Beckstrom, Sociobiology and the Law: The Biology of Altruism in the Courtroom of the Future, 1985; Wolfgang Fikentscher/Michael T. McGuire, A Four-Function Theory of Biology for Law, RTh 25, 1994, 1-20; Edwin Scott Fruehwald, Law and Human Behavior, A Study in Behavioral Biology, Neuroscience, and the Law, 2011; ders., An Introduction to Behavioral Biology for Legal Scholars, 2010/2014, SSRN 1627363; Margaret Gruter, Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft, 1976; dies./Manfred Rehbinder (Hg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, 1983; Roger D. Masters; The Ethological Basis of Trust, Property and Competition: An Evolutionary Approach to Comparative Legal Culture, Rechtstheorie 23, 1992, 407-427; ders./Margaret Gruter (Hg.), The Sense of Justice: Biological Foundations of Law, 1992; Werner Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten, 1983; Anne C. Thaeder, Die soziobiologische Erklärung der menschlichen Natur bei E. O. Wilson, in: Anne C. Thaeder (Hg.), Geistwesen oder Gentransporter, 2018, 91-181; Eckart Voland, Soziobiologie, 4. Aufl. 2013; ders., Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie, 2007; ders., Wir erkennen uns als den anderen ähnlich, Deutsche Zf Philosophie 55, 2007, 739-749; Wolfgang Wickler/Wolfgang Fikentscher, System und Außenanbindung epigenetischer Verhaltenssteuerung, RTh 30, 1999, 69-77. Kritisch: Erhard Blankenburg, Die Rechtsbiologie – Renaissance des Naturrechts auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1985, 135-140; Brian Leiter/Michael Weisberg, Why Evolutionary Biology Is (so Far) Irrelevant to Law, 2007, SSRN 892881; Hubert Rottleuthner, Argumentation und Korrelation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, FS Thomas Raiser, 2005, 579-598.

[10] Darüber berichtet Ullica Segerstrale, Defenders of the Truth. The Battle for Science in the Sociobiology Debate and Beyond, 2000. Aus demselben Jahr stammt die Dissertation von Jeremy Freese, What Should Sociology Do About Darwin? Evaluating Some Potential Contributions of Sociobiology and Evolutionary Psychology to Sociology, auf die Riordan (wie Fn. 4) vielfach Bezug nimmt. Von Freese auch: Genetics and the Social Science Explanation of Individual Outcomes, American Journal of Sociology 114, 2008, Supplement 1-35, sowie The Limits of Evolutionary Psychology and the Open-endedness of Social Possibility, Sociologica 2, 2006, 1-12.. Die jüngste materialreiche und lesenswerte Stellungnahme, die ich gefunden habe, stammt von Anja Maria Steinsland Ariansen: »Quiet is the New Loud«: The Biosociology Debate’s Absent Voices, The American Sociologist 52, 2021, 477–504.

[11] Ich zitiere nach der 2. Auflage der deutschen Ausgabe von 2018.

[12] Z. B. Giordana Grossi/Suzanne Kelly/Alison Nash/Gowri Parameswaran, Challenging Dangerous Ideas: A Multi-Disciplinary Critique of Evolutionary Psychology, Dialectical Anthropology 38, 2014, 281-285)

[13] Fabian Deus/Anna-Lena Dießelmann/Luisa Fischer/Clemens Knobloch, Einleitung der Herausgeber, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Neoevolutionismus. Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft, 9-43, S. 15.

[14] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 2000 [Consilience. The Unity of Knowledge, 1999].

[15] Günter Dux, Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017.

[16] Stephen Jay Gould, Sociobiology: The Art of Storytelling, New Scientist 1976, 530-533.

[17] Richard Dawkins, The Selfish Gene [1976], zitiert nach der Jubiläumsausgabe 2016, S. XVI: »One of the dominant messages of The Selfish Gene (reinforced by the title essay of A Devil’s Chaplain) is that we should not derive our values from Darwinism, unless it is with a negative sign. Our brains have evolved to the point where we are capable of rebelling against our selfish genes.«

[18] Dawkins S. VIIIf.

[19] Dawkins S. 2.

[20] William D. Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour, Journal of Theoretical Biology 7, 1964, 1-16 (Teil I), 17-52 (Teil II). Dazu als kurze aktuelle Würdigung: Geoff Wild, Pillars of Biology: »The Genetical Evolution of Social Behaviour, I and II«, Applied Mathematics Publications 7, 2023, https://ir.lib.uwo.ca/apmathspub/7.

[21] Den Begriff hat wohl zuerst John Maynard Smith ins Spiel gebracht: Kin Selection and Group Selection, Nature 201, 1964, 1145-1147. Hamilton sprach zunächst von inclusive fitness.

[22] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[23] Nachweise in Fn. 32.

[24] David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019; Linda R. Caporael, Evolutionary Psychology: Toward a Unifying Theory and a Hybrid Science, Annual Review of Psychology 52, 2001, 607–628; Joseph Henrich/Michael Muthukrishna, The Origins and Psychology of Human Cooperation, Annual Review of Psychology 72, 2021, 207–240.

[25] Detlef Fetchenhauer/Hans-Werner Bierhoff, Altruismus aus evolutionstheoretischer Perspektive, Zeitschrift für Sozialpsychologie 35, 2004, 131–141.

[26] R. Hurlemann/N. Marsh, Neue Einblicke in die Psychobiologie altruistischer Entscheidungen, Der Nervenarzt 8, 2016, 1131–1135.

[27] Alfred E. Emerson, Homeostasis and Comparison of Systems, in: Roy R. Grinker (Hg.), Toward a Unified Theory of Behavior, 1956, 147-154, S. 151.

[28] Diese Auffassung stützt sich vor allem auf da Werk des amerikanischen Sozialpsychologen und Methodologen Donald T. Campbell (1916-1996). Die Diskussion nahm ihren Ausgang von Campbells Artikel »On the Conflicts Between Biological and Social Evolution and Between Psychology and Moral Tradition« (American Psychologist 30, 1975, 1103-1126; näher Franz M. Wuketits, The Philosophy of Donald T. Campbell: A Short Review and Critical Appraisal, Biology and Philosophy 16, 2001, 171–188).

[29] Für das Recht hatte Niklas Luhmann schon relativ früh eine Evolutionstheorie entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132ff. Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«.

Auch andere Juristen, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts nur an die biologische Theorie an, so in erster Linie Fögen und Teubner, Amstutz und Vesting. Christoph Henke (Über die Evolution des Rechts, 2010), der sich der Evolutionstheorie ohne die Brille der Systemtheorie nähert, distanziert sich ausdrücklich von einer Biologie genetischer Vererbung, nutzt aber gleichfalls das Schema von Variation, Selektion und Stabilisierung, um die Rechtsentwicklung analog zur biologischen Theorie zu erklären.

[30] Rudolf Stichweh, Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften. Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[31] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[32] John. Maynard Smith/G. R. Price, The Logic of Animal Conflict, Nature 1973, 15–18. Maynard Smith hat das Thema intensiv weiter verfolgt: Evolution and the Theory of Games: In situations characterized by conflict of interest, the best strategy to adopt depends on what others are doing, American Scientist. 64, 1976, 41-45; Evolution and the Theory of Games, 1982; Evolutionary Genetics. 2. Aufl. 1988; John Maynard Smith/Eörs Szathmáry, Evolution. Prozesse, Mechanismen, Modelle, 1996. Dagegen platziert Robert Axelrod sein berühmtes Tit-for Tat nicht in den Genen, sondern als Strategie egoistischer Akteure: Robert Axelrod, The Emergence of Cooperation Among Egoists, American Review of Political Science 75, 1981, 306–318; ders., The Evolution of Cooperation, 1984; dt. Die Evolution der Kooperation, 2000.

[33] Game Theory and the Social Contract I: Playing Fair, 1984, Bd. II: Just Playing, 1988.

[34] Beiträge zu einem »Symposium on Kenneth Binmore’s Natural Justice« findet man in Heft 1 der Zeitschrift »Analyse & Kritik« 28, 2006;Rezensionen: Giacomo Sillari, Economics and Philosophy 24, 2008, 287-295, Achim Kemmerling, PVS 48, 2007, 773-775; Karl Widerquist, Utilitas 21, 2009, 529-532.)

[35] Luigino Bruni, Reziprozität, 2020, S 126ff.

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