Belanglose Theorie zum Streit um die Reform der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit

Die polnische Regierung mit ihrer aktuellen Parlamentsmehrheit versucht bekanntlich, durch die Einsetzung neuer Richter sowie durch eine Änderung von Gerichtsverfassung und Verfahren das Verfassungsgericht in den Griff zu bekommen. Später kam noch ene Budget-Kürzung hinzu. In Europa ist man empört. Die Venedig Kommission hat eine kritische Stellungnahme zu dem Änderungsgesetz abgegeben. Die EU hat erstmals von dem 2014 eingeführten Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips Gebrauch gemacht. Die Sache ist empörend. Ich beschränke mich jedoch auf ein rechtstheoretisches Argument. Es betrifft nur die mit Gesetz vom 22. Dezember 2015 beschlossenen Änderungen von Gerichtsverfassung und Verfahren. Im Kern geht es um zwei Punkte:

  1. Der Verfassungsgerichtshof, der planmäßig 15 Richter zählt, soll künftig Plenarentscheidungen nur in einer Besetzung von mindestens 13 Richtern und mit Zwei-Drittel-Mehrheit treffen dürfen. Zuvor lag das Quorum bei neun Richtern. Eine qualifizierte Mehrheit war nicht erforderlich.
  2. Der Verfassungsgerichtshof soll alle eingehenden Klagen der Reihe nach abarbeiten müssen.

Für sich genommen könnte man die einzelnen Änderungen für akzeptabel halten. Im Zusammenhang mit der Wahl neuer Richter und Bestimmungen über die Amtszeit der alten sowie mit Änderungen des Richterdisziplinarverfahrens ist die Reform jedoch politisch brisant, weil sie Entscheidungen gegen die von der Parlamentsmehrheit getragene Regierung verhindern kann. Im Dezember 2015 hatte sich die Lage insofern zugespitzt, als nur noch zwölf Richter im Amt waren, so dass das nunmehr vorgeschriebene Quorum von 13 überhaupt nicht erreicht werden konnte. Der Verfassungsgerichtshof selbst hat am 9. März das Reformgesetz auf der Basis des alten Rechts für verfassungswidrig erklärt. Zwei Richter machten in einem Sondervotum geltend, jede Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reform müsse nunmehr auf der Basis des neuen Rechts erfolgen. Die polnische Regierung hat sich geweigert, das Urteil zu veröffentlichen und ihm zu folgen, weil es nicht nach Maßgabe des neuen Gesetzes ergangen sei.

-Der Gerichtshof selbst meinte, das Reformgesetz auf sein Verfahren nicht anwenden zu müssen, da die Richter nach Art. 195 Nr. 1 »in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und nur der Verfassung unterworfen« seien und die Reform unmittelbar die Funktion des Gerichts betreffe.[1] Die Venedig Kommission hat diese Begründung gebilligt.[2] Sie meint, andernfalls brauche man nur ein Gesetz, das sagt »herewith, constitutional control is abandoned – this law enters into force immediately«, um die Verfassungsgerichtbarkeit ganz abzuschaffen.[3] Aber so lauten die streitigen Gesetze nun einmal nicht, und es kann nicht ernstlich zweifelhaft sein, dass das Parlament durch das Verfassungsgerichtsgesetz Regelungen treffen kann, die dem Gericht nicht gefallen. Dann müssen diese Regelungen eben doch jede einzeln und alle zusammen auf ihre Verfassungsmäigkeit hin überprüft werden. sagt mit einem argumentum a fortiori: Davon abgesehen sollte es selbstverständlich sein, dass die Verfassungsrichter auch an die verfassungsmäßig geltenden Gesetze, darunter insbesondere das Verfassungsgerichtsgesetz nach Art. 197, gebunden. Nur bei Entscheidungen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind sie insoweit frei.

Die theoretische Frage bleibt also: Ist das Reformgesetz auf das Verfahren des Verfassungsgerichtshofs anwendbar, wenn über die Verfassungsmäßigkeit der Reformbestimmungen gerade dieses Gesetzes entschieden wird. Anscheinend geht es um die Problematik selbstbezüglicher Vorschriften im Verfassungsrecht[4]. Das ist freilich auf den ersten Blick nicht ohne weiteres zu erkennen.

Die Problematik selbstbezüglicher Vorschriften hat Douglas R. Hofstadter, der Autor von »Gödel, Escher, Bach«, durch seinen Artikel »Nomic« im »Scientific American«[5] populär gemacht. Hofstadter schildert eingangs den folgenden, freilich erdachten Fall: Der amerikanische Kongress verabschiedet ein Gesetz, dem zufolge in Zukunft alle Entscheidungen des U. S. Supreme Court mit einer Mehrheit von 6 zu 3 Stimmen (statt wie bisher mit einer einfachen Mehrheit von 5 zu 4) getroffen werden müssen. Dieses Gesetz wird in einem Gerichtsverfahren angefochten, das schließlich bis vor den Supreme Court selbst gelangt, und dieser stellt die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes fest – natürlich mit einfacher Mehrheit von 5 zu 4. Eine nähere Analyse oder gar Lösung bietet Hofstadter allerdings nicht.

Verfassungen enthalten regelmäßig Bestimmungen, nach denen die Verfassung nur in einem besonderen Verfahren geändert werden kann. Das Grundgesetz fordert in Art. 79 I zur Verfassungs-änderung die ausdrückliche Änderung des Verfassungstextes, in Art. 79 II qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und enthält darüber hinaus in Art. 79 III die »Ewigkeitsklausel«:

»Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig«.

Solche Vorschriften werfen die Frage auf, ob sie auf sich selbst anwendbar sind mit der Folge, dass das Verfahren der Verfas-sungsänderung seinerseits geändert werden könnte.[6]

Die polnische Verfassung von 1997 sieht in Art. 188 die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin vor. Nach Art. 197 sind die Organisation des Verfassungsgerichtshofs und die Verfahrensweise vor dem Verfassungsgerichtshof einem einfachen Gesetz vorbehalten. Allerdings sind in Art. 194 der Verfassung Richterzahl (15) und Richterwahl (durch das Parlament) sowie in Art. 190 Nr. 5 das Prinzip der (einfachen) Mehrheit festgelegt. Das Reformgesetz vom 22. 12. 2015 ändert also die Verfassung, soweit es eine qualifizierte Mehrheit für Plenarentscheidungen einführt. Soweit es ein höheres Quorum für Plenarentscheidungen und die sequentielle Behandlung eingehender Klagen vorsieht, ändert es nur ein einfaches Gesetz. Deshalb sollte die Frage nach der Selbstbezüglichkeit des Reformgesetzes und ihrer Konsequenzen für die beiden Änderungen getrennt betrachtet werden.

Was zunächst die Verfassungsänderung betrifft, so ist davon auszugehen, dass diese in dem in den Art. 236ff der Verfassung vorgeschriebenen Verfahren erfolgt ist. Für den geänderten Art. 190 Nr. 5 gibt es in der Verfassung selbst keine besondere Festschreibung, die mit Art. 79 GG vergleichbar wäre. Gegen das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für Plenarentscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ist auch sachlich kaum etwas einzuwenden. Aber als Gedankenspiel kann man natürlich erwägen, mit welcher Mehrheit der Gerichtshof entscheiden müsste, wenn er isoliert über die Wirksamkeit der Änderung des Art. 190 Nr. 5 befinden wollte.

Zunächst gäbe es da schon einmal die Hürde, ob der Verfassungsgerichtshof überhaupt berufen ist, über die Wirksamkeit von Verfassungsänderungen zu urteilen, denn nach Art. 188 Nr. 1 der Verfassung erstreckt sich seine Kompetenz nur auf »die Vereinbarkeit der Gesetze und der völkerrechtlichen Verträgen mit der Verfassung«. Überspringt man diese Hürde, indem man auch ein verfassungsänderndes Gesetz für überprüfbar hält, stellt sich die nächste Hürde mit der Frage, wie die Verfassungswidrigkeit begründet werden könnte. Die Venedig Kommission bringt European and international standards ins Spiel.[7] Diesen fraglos interessanten Gesichtspunkt lasse ich aus. Ohne den Rückgriff auf eine höhere übernationale Rechtsebene könnte man mit der Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts arbeiten, indem man geltend machte, dass das neue Mehrheitserfordernis ein übergeordnetes Prinzip der Verfassung, nämlich die Funktion des Verfassungsgerichts, verletze. Sieht man einmal davon ab, dass diese Erwägung sehr schwach ist, so stellt sich dann wirklich die Frage, ob die Entscheidung nach altem oder neuem Recht zu treffen wäre.

Vorab ist festzuhalten, dass das Reformgesetz sofort in Geltung gesetzt worden ist. Daher käme es weiter darauf an, ob verfassungswidrige Gesetze ipso jure als nichtig anzusehen sind, so dass der Verfassungsgerichtshof ihre Verfassungswidrigkeit nur festgestellt, oder ob erst diese Feststellung das verfassungswidrige Gesetz vernichtet. Aus der Logik des Stufenbaus der Rechtsordnung folgt eigentlich das so genannte Nichtigkeitsdogma. Der Verstoß eines Gesetzes gegen die Verfassung hat danach ipso jure und ex tunc die Nichtigkeit der Norm zur Folge. Es bedarf dazu keiner vorgängigen Entscheidung des Verfassungsgerichts.

Die Lehre von der Ipso-jure-Nichtigkeit steht allerdings keineswegs außer Streit. Die automatische Nichtigkeit kann dazu führen, dass Lücken gerissen werden, die gravierender sind als die vorläufige Geltung des verfassungswidrigen Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht begegnet diesem Problem mit der so genannten Unvereinbarkeitserklärungen. In der Theorie versucht man, diese Urteilspraxis mit der Lehre von der Nichtigerklärung zu rechtfertigen. Sie besagt, dass ein verfassungswidriges Gesetz nicht ipso jure und ex tunc nichtig ist, sondern erst durch rechtsgestaltendes Urteil des Verfassungsgerichts ex nunc vernichtet wird.

Die theoretische Grundlage der Verfassungsgerichtsbarkeit hatte eigentlich die Stufenbaulehre von Adolf Merkl und Hans Kelsen geliefert, indem sie zeigte, dass Rechtssetzung, auch wenn sie durch den Gesetzgeber erfolgt, Rechtsanwendung ist und insoweit von einem Gericht kontrolliert werden kann. Auf den ersten Blick scheint die Lehre von der Nichtigerklärung mit der Stufenbautheorie unvereinbar zu sein. Doch wenn logische Widersprüche auftauchen, kann man sie durch die Einführung von Zusatzannahmen ausräumen. Das hat in diesem Falle kein geringerer als Kelsen selbst getan. Aus der Tatsache, dass eine Verfassung ein Normenkontrollverfahren vorsieht, wollte Kelsen folgern: »Die sogenannten ›verfassungswidrigen‹ Gesetze sind verfassungsmäßige, aber in einem besonderen Verfahren aufhebbare Gesetze«[8]. Er baute damit in die Verfassung eine zusätzliche Norm ein, die besagt, dass verfassungswidrige Gesetze gültig sind, bis sie von dem zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden. In Österreich ist diese Theorie geltendes Verfassungsrecht.

Für unser Problem bedeutet das: Folgt man der Nichtigkeitslehre, so ist klar, dass die Entscheidung über die Geltung des Reformgesetzes mit einfacher Mehrheit erfolgen kann, wenn es denn verfassungswidrig ist. Verlangt man dagegen eine konstitutive Nichtigerklärung, liegt die Sache weniger klar. Wenn verfassungswidrige Gesetze gültig sind, bis sie von dem zuständigen Gericht für nichtig erklärt werden, müsste eigentlich für das Normenkontrollverfahren die qualifizierte Mehrheit des Reformgesetzes verlangt werden. Wenn man dieses Ergebnis nicht als Argument gegen die Vernichtbarkeitslehre ausreichen lässt, kann man noch nach einer ungeschriebenen übergeordneten Norm suchen. Man denkt vielleicht an eine Regel, dass Vorschriften grundsätzlich nicht selbstbezüglich angewendet werden dürfen. Aber eine solche Regel gibt es nicht, und sie wäre auch nicht zu begründen. Wenn etwa eine Satzung vorsieht, dass alle Änderungsbeschlüsse mit einfacher Mehrheit zu treffen sind, so besteht kein Bedenken, dass mit einfacher Mehrheit beschlossen wird, dass künftig nur noch mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen sei. Die gesuchte Regel könnte nur eingeschränkt besagen, dass die Normenkontrolle nicht durch Selbstbezüglichkeit der zu kontrollierenden Norm präjudiziert werden darf. Das wäre der Fall, wenn das neue Mehrheitserfordernis eine Vernichtung des Reformgesetzes verhinderte. Aber auch dazu müsste man sich zunächst wieder über die Verfassungswidrigkeit des Reformgesetzes einig sein. Es gibt also keine logisch klare Lösung. Man muss sich entscheiden.

Was die Entscheidung über das Reformgesetz vom 22. Dezember 2015 als einfaches Gesetz betrifft, liegen die Dinge kaum einfacher. Die Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtshofs steht außer Frage. Das Gesetz ist ayuch insoweit ohne Aufschub in Kraft getreten, verlangt also eigentlich seine sofortige Anwendung. Hier ist die materielle Frage nach der Verfassungsmäßigkeit etwas leichter zu beantworten. Allerdings fehlt es auch insoweit an einem klaren Verfassungsverstoß. Die Verfassungsmäßigkeit lässt sich nur aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Details der Reform begründen, die dazu führen, dass der Gerichtshof praktisch lahm gelegt wird.

Unterstellt also, das Reformgesetz wäre deshalb verfassungswidrig, stellt sich die Situation ähnlich wie hinsichtlich der Änderung des Art. 190 Nr. 5 dar. Folgt man dem Nichtigkeitsdogma, ist das Gesetz mit seiner Regelung des Quorums und der Geschäftsordnung unanwendbar. Folgt man dagegen der Lehre von der Vernichtbarkeit, stellt sich wieder die Frage, ob seine Anwendung an der Selbstbezüglichkeit scheitern muss. Und erneut ist die Antwort vom Ergebnis abhängig.

Eine Komplikation entsteht noch daraus, dass die Verfassungsänderung und die Reform des Verfahrens getrennt zu beurteilen sein könnten. Die Art. 190 Nr. 5 betreffende Verfassungsänderung und die Änderung des einfachen Rechts aus Art. 197 scheinen formell in einem Gesetz zusammengefasst worden zu sein.[9] Damit stellt sich für den Fall, dass man die Verfassungsänderung als solche für zulässig hält, analog § 139 BGB die Frage nach Gesamtnichtigkeit oder Teilnichtigkeit des Gesetzes. Die Änderung der Mehrheitsregel nach Art. 190 Nr. 5 ist wohl ein selbständiger Teil des Reformpakets, der für sich Bestand haben kann. Das hätte zur Folge, zwar eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich, das neue Quorum dagegen unbeachtlich wäre. Wenn also zwei Drittel der beteiligten Richter einfachgesetzliche Vorschriften des Reformgesetzes für nichtig erklären, dann sind sie nichtig. Auf das Quorum kommt es nicht an und auch nicht auf die Beachtung des neuen Gebots der Entscheidung nach der Reihenfolge des Eingangs. Ein Verstoß dagegen könnte wohl ohnehin nur einen für die Wirksamkeit der Entscheidung unerheblichen Verfahrensfehler begründen.

Nach alledem ist letztlich gar keine Stellungnahme zur Problematik selbstbezüglicher Vorschriften notwendig.

PS: Ein Tweet von Christian Boulanger verweist darauf, das sich das Rad in Polen schon weiter gedreht hat

[1] Stellungnahme der Venedig Kommission Nr. 33.

[2] Ebd. Nr. 39.

[3] Ebd. Nr. 41.

[4] Dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 108ff.

[5] Der Artikel ist im selben Jahr auf Deutsch erschienen: Nomic: ein Spiel, das die Rückbezüglichkeit im Rechtswesen auslotet, Spektrum der Wissenschaft, August 1982, 8-13. Das Nomic-Spiel hatte Peter Suber erfunden. Er hatte es damals noch nicht veröffentlicht, aber mit Hofstadter diskutiert. Suber veröffentlichte sein Buch »The Paradox of Self-Amendment« erst 1990. Vgl. auch von Suber den kurzen Lexikon-Artikel Self-Reference in Law, 1999.

[6] Ein analoges Problem stellt sich auch ganz trivial im Vertragsrecht. Häufig wird in Verträgen, die nach dem Gesetz formlos abgeschlossen werden können, Schriftform vereinbart, die insbesondere auch für Änderungen des Vertrages gelten soll. Kaum weniger häufig werden dann doch formlos neue Abreden getroffen, so dass die Frage entsteht, ob die Schriftformklausel auf sich selbst anwendbar ist oder ob sie mündlich, eventuell sogar konkludent, aufgehoben werden kann Näher Florian Wagner-von Papp, Die privatautonome Beschränkung der Privatautonomie, AcP 205, 2005, 342; Micha Bloching/Daniel Ortloff, Schriftformklauseln in der Rechtsprechung von BGH und BAG, NJW 2009, 3393-3397.

[7] Ebd. Nr. 43.

[8] Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 278.

[9] Vgl. Stellungnahme der Venedig Kommission Nr. 30.

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Alles ist politisch. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« IV

Dies ist die vierte Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2] Sie sind inzwischen reichlich abgestanden, sozusagen nur noch Trockenfrüchte, gesammelt aus den ersten beiden Kapiteln von Teil III »Die Ermächtigung des Eigenen«.

Zur Erinnerung noch einmal der Tenor des Buches: Der alte und auch der moderne Liberalismus haben eigentlich ein moralisches Anliegen. Sie fordern Freiheit, um den Menschen ein sittliches Handeln zu ermöglichen. Als Mittel wählen sie die Form subjektiver Rechte. Deren entscheidendes Merkmal besteht darin, das Ob und das Wie ihrer Inanspruchnahme den Berechtigten zu überlassen. Das Recht kümmert sich nicht um deren Motive, sondern nimmt ihren Willen als Tatsache hin. So verschwindet die Moral aus dem Recht. Das Ergebnis ist die amoralische bürgerliche Gesellschaft.[3] Auf Plattdeutsch: Das bürgerliche Recht will sittlich sein, stellt sich aber selbst ein Bein, weil es die Inhalte den Rechtsbürgern überlässt, die tun und lassen können, was sie wollen, solange sie sich nicht wechselseitig in die Quere kommen. Und so auf Franfurterisch: »Der Liberalismus ist die Verdrängung oder Verdeckung des Widerspruchs, des bürgerlichen Rechts – des Widerspruchs zwischen der Form der subjektiven Rechte und den moralischen Gründen ihrer Etablierung.« (255)

Teil III bietet manche Trivialitäten. »Ein Recht ist eine normative Macht: eine Handlungsmöglichkeit, die gegen andere normativ gesichert ist.« (177) Klar. Subjektive Rechts sind mehr als der bloße Reflex einer bestehenden normativen Ordnung (178). Geschenkt. »Subjektive Rechte sind nicht deshalb subjektiv, weil ein Subjekt sie hat, sondern genau umgekehrt, weil sie ein Subjekt hervorbringen.« (178f, 196) Das ist ein schönes Henne-und-Ei-Problem. Aber es ist natürlich richtig, dass die Menschen einmal Hühnersuppe bevorzugen und ein anderes Mal Rührei.[4] Das gilt analog für die Frage, ob das Klagerecht aus dem subjektiven Rechts abzuleiten ist oder ob umgekehrt das subjektive Recht aus der actio (228ff). »Ermächtigung durch subjektive Rechte bedeutet Politisierung und Privatisierung: Privatisierung als Politisierung, Politisierung als Privatisierung.« (179). Das läuft auf eine Nullhypothese hinaus.

Die Kapitel 8 und 9 von Teil III sind von Interesse, weil M. sich dort ausführlicher auf die Rechtstheorie einlässt. Gewährsleute sind Savigny und Windscheid, Jellinek und Kelsen, Carl Schmitt und Dworkin, Hegel und Foucault. Das alles geschieht, um zu erklären, dass das bürgerliche Recht bloßer »Schein« ist, nämlich »die falsche Verwirklichung des modernen selbstreflexiven Rechts« (175).

Die Selbstreflexion des bürgerlichen Rechts ist verzerrt, weil sie »in die Form subjektiver Rechte gekleidet ist«[5] (175) …Die Figur der subjektiven Rechte besetzt die empiristische Position des Gegebenen mit dem Subjekt. … Das bürgerliche Recht macht das Nichtrechtliche zu dem ihm in letzter Instanz Vorgegebenen, indem es das Gegebene als das Eigene des Subjekts versteht. … der Positivismus der subjektiven Rechte macht also das Wollen des eigenen zur autoritativen Tatsache … [von der] alle normative Setzung ausgehen muß« (176). So wird die kantische Idee vom normativen Eigenwert der Privatautonomie umgedreht.

Der direkte Angriff auf das Subjekt folgt erst in Kapitel 9 (197-207). Dort wird es sozusagen dekonstruiert, indem M. erstens mit Hilfe Foucaults seine historische Kontingenz aufzeigt, und zweitens auf die soziale Formierung des Subjekts hinweist. Ein historischer Umbruch im 17. Jahrhundert führte dazu, dass individuelle Entschei-dungen als letzte Grundlage für die Wahl von Zielen und Zwecken, also für eine Wertwahl, akzeptiert wurden. M. zitiert Foucault[6]:

»Was der englische Empirismus … wohl zum ersten Mal in der abendländischen Philosophie beschreibt, ist ein Subjekt …, das als ein Subjekt individueller Entscheidungen erscheint, die zugleich nicht weiter zurückführbar und unübertragbar sind.«

Der Witz der Sache ist aber nun, so M. (204ff), nicht einfach ein naturrechtlicher Dualismus, der das Subjekt mit seiner Autonomie und seinen Rechten als etwas unverfügbar Vorrechtliches akzeptiert. Vielmehr ist es das positive Recht selbst, welches die Form des subjektiven Rechts nicht bloß als fakultative Rechtstechnik einsetzt, sondern als Ermächtigung an jeden Einzelnen, »seine Entscheidungen auf die unhintergehbare Tatsache seines eigenen Wollens zurückzuführen« (207). So ganz habe ich den Unterschied zu der naturrechtlichen Version nicht verstanden. Vielleicht handelt es sich darum, dass das positive Recht die Rechtssubjektivität nicht als Wert, sondern als Tatsache voraussetzt. Vielleicht geht es auch darum, dass die naturrechtliche Version eine intrinsische Beschränkung mit sich führt, der der positivistischen »Naturali-sierung« des Eigenwillens fehlt. Darauf deutet der Abschnitt über das Eigentum (207ff).

Jedenfalls gilt: »Was das Subjekt will, gewinnt seine Geltung aus der Tatsache, daß es dies will. Das macht den spezifisch juridischen Individualismus aus …« (215). Das ist trefflich gesagt. Fraglich ist nur, ob diese Beschreibung nicht überholt ist. Anscheinend erleben wir gerade wieder einen historischen Umbruch. Der äußert sich etwa in einer »sozialen Reformulierung des Begriffs der Autonomie«[7] oder in juridischem Paternalismus, der dem »Eigen-willen« Grenzen zieht. Diese neuen Entwicklungen werden jedoch ausgespart, wiewohl sie M. natürlich geläufig sind.

Das lebende Individuum ist keine Monade, die absolut autonome Entscheidungen trifft. Man wird gerne zustimmen, wenn M. sich selbst zitiert (201):

»Die Sittlichkeit und die Autonomie des Wollens gibt es nur in dialektischen Prozessen, in denen sich Individuen zugleich subjektivieren und sozialisieren; das sittliche selbständige Wollen vollzieht sich nicht im Individuum, sondern zwischen dem Individuum und dem Sozialen.«

Aber das Individuum ist auch keine Marionette, die an den Fäden ihrer sozialen Rollen zappelt. Viele Leser würden daher wohl von der alten Autonomie etwas retten wollen.

Was Foucault beschrieb, ist die Akzeptanz der Subjektivität von Werturteilen. David Hume, auf den Foucault sich bezog, wird gewöhnlich als derjenige genannt, der als erster auf die Differenz von Sein und Sollen und damit auf die Werturteilsproblematik verwiesen hat. Sie ist philosophisch zum Hintergrund des Freiheitsbegriffs geworden. Sie ist Basis ebenso der Willenstheorie des Privatrechts wie der Demokratietheorie des Verfassungsrechts. M. kritisiert die bedingungslose Akzeptanz individueller Wahlentscheidungen durch das Recht als Verdrängung oder Privatisierung des Sozialen (200), als letztlich unmoralische »Naturalisierung« des »Eigenwillens«. Solche Kritik setzt die Möglichkeit voraus, sich einer Moral zu versichern. Dafür hat M. ein einfaches Rezept: »Sittliche Gehalte, das Gute oder die Güter, sind keine Produkte von individuellen Präferenzen, sondern existieren objektiv, in sozialen Praktiken.« (200) Man kann das Werturteilsproblem auf diese Weise mit dem eigenen Werturteil überspielen. Das ist schon deshalb keine Lösung, weil hinreichend universale und detaillierte »soziale Praktiken« als Ersatz nicht in Sicht sind.

Warum nicht umgekehrt? Soziale Praktiken sind die Produkte individueller Präferenzen. Wieso darf man sich nicht analog zu der »merkwürdigen Mechanik, die den homo oeconomicus als individuelles Interessensubjekt innerhalb einer Gesamtheit funktionieren lässt, die ihm entgeht und die dennoch die Rationalität seiner egoistischen Entscheidungen begründet«[8], das Individuum des Liberalismus als Moralsubjekt (homo moralis) vorstellen, das im Schwarm vieler Subjekte das Gute bewirkt? Wenn das moralisch Gute sich aus der Aggregation der individuellen Präferenzen ableitet, darf keine vorgängige Moral auf diese Präferenzen Einfluss nehmen. Die Menschen dürfen gar nicht moralisch handeln, weil gerade ihr amoralisches Handeln der Erkenntnisgrund für die Moral ist.[9]

Soweit die Theorie. Für die Praxis stellt sich dem Leser natürlich die Frage, ob die Form des subjektiven Rechts wirklich unmoralische Folgen nach sich zieht oder ob sie nicht übersubjektiven Zielen gesamtgesellschaftlicher Nützlichkeit dient. Aber »natürlich« gilt diese Frage seit Marx als beantwortet.

In Kapitel 8 (177-196) soll der »Mechanismus rechtlicher Ermächtigung« erklärt werden, »durch den das bürgerliche Recht das Subjekt … als Instanz der Autorität hervorruft« (176). Die »Ermächtigung« durch subjektive Rechte ist für M. rechtstechnisch nur eine »Erlaubnis«. Sie schafft keine neuen Handlungsmöglich-keiten – die sind vorrechtlich schon da –, sondern grenzt durch Verbote die Zonen möglicher Handlungen voneinander ab. »Deshalb gilt – nur – hier, daß alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist.« (180)

Im juristischen Sprachgebrauch ist eine Erlaubnis die partielle Aufhebung eines Verbots. [10] Vorrechtliche Handlungs-möglichkeiten, die nicht verboten sind, sind nicht erlaubt, sondern freigestellt. Aber das betrifft nur die Sprachregelung. Schwieriger ist die Sachfrage, wie es gelingt, subjektive Privatrechte »aus dem negativen Akt des Erlaubens, was nicht verboten ist« (189) zu erklären, und ob diese Erklärung für Eigentum und Vertrag als Kernbezirke des Privatrechts ausreicht.

M. holt zunächst unter Berufung auf Max Weber aus der »Erlaubnis« eine faktische Ermächtigung heraus. Die Erlaubnis begründe entsprechende Erwartungen und sei damit »produktiv«. Dürfen sei Können (194f). Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, wieso die Freistellung möglicher Handlungsweisen eine Ermächtigung bildet. Diese Betrachtungsweise wird aber plausibel, wenn man die implizite oder explizite Freistellung von Handlungen als performativen Akt versteht. Das ist es wohl, was an anderer Stelle (z. B. S. 180) Naturalisierung genannt wird. Soweit die faktische Seite.

Die rechtstheoretische Seite der Angelegenheit diskutiert M. mit Georg Jellinek, der gegen die liberale Deutung des Privatrechts als Erlaubnis geltend machte, das ganze Privatrecht erhebe sich auf Basis des öffentlichen[11]. M. meint, Jellinek habe sich selbst nicht richtig verstanden (183). Das soll heißen, Jellinek sei nicht radikal genug gewesen, weil er das Privatrecht neben dem öffentlichen habe stehen lassen und damit dessen öffentliche und politische Dimension noch nicht voll erkannt habe; das sei erst Kelsen gelungen indem er die Rechtserzeugungsfunktion und die damit gegebene Politizität subjektiver Rechte herausgestellt habe.

Für »die negative, privatrechtsliberale Definition der rechtlichen Ermächtigung – nur als Erlaubnis – « zitiert M. Jellinek mit den Sätzen: »Wenn die Privatrechtsordnung die wirtschaftlichen Verkehrsverhältnisse regelt, so fügt sie der freien Bewegung des Individuums gegenüber den anderen keineswegs ein neues Moment hinzu. Die Rechtsverhältnisse waren als Lebens-verhältnisse schon längst vorhanden, bevor sie einer rechtlichen Normierung unterworfen wurden.« In der Tat erscheint Jellinek hier inkonsequent. Er vergisst für einen Moment sein »Argument gegen den Privatrechtsliberalismus, das besagt, dass die Rechtsordnung dem erlaubten natürlichen Können in der Gestalt des rechtlichen Könnens noch etwas hinzufügt.« (181) Das wird deutlicher wenn man das Jellinek-Zitat um einen Satz verlängert: »Auch wenn ein anderes privatrechtliches Institut vom Staate geschaffen wird, so enthält diese Schöpfung doch nur die Gestattung, dass der individuelle Wille sich nach einer neuen Richtung betätige. Die Rechtsordnung erkennt die betreffenden Handlungen als erlaubt an, d. h. sie gestattet, dass der individuelle Wille nach gewissen Richtungen seine natürliche Freiheit gebrauche.«[12] Das passt nicht zu Jellineks These, dass es kein (privatrechtliches) Dürfen ohne (öffentlich rechtliches) Können gebe.

Hier geht es nicht um Text und Thesen Jellineks, sondern um M.s »Kritik der Rechte«. Letztere fällt aber bis zu einem gewissen Grade in sich zusammen, wenn Jellineks Theorie von der öffentlichen rechtlichen Basis des Privatrechts die Operation moderner Rechtssysteme zutreffend beschreibt, was M. letztlich nicht in Abrede stellt. Dann bleibt nämlich für die bloße Erlaubnis zur Betätigung der natürlichen Freiheit wenig Raum.

Wenn M. sich für den Charakter des subjektiven Rechts als bloße Freistellung auf Hegel beruft (179f), so trifft er wohl das Selbstverständnis des Privatrechtsliberalismus, aber nicht die Operationsweise des modernen Rechts. Subjektive Privatrechte lassen sich nicht aus der bloßen Freistellung eines Handlungsraums und seiner Absicherung durch Verbote in Verbindung mit dem Gleichheitssatz erklären. Das Problem liegt darin, dass die Verbote, die eine Freiheitssphäre schützen, entgegen der kantischen Idee nicht aus dem Begriff der Freiheit abgeleitet werden können[13]. Aus einer Freiheit = Freistellung folgen (logisch) keine Rechte gegen oder Pflichten von Dritten. Die rechtliche Umhegung der Freiheit ergibt sich erst aus (rechts-)politischen Entscheidungen, die zwangsläufig mehr oder weniger distributive und paternalistische (Neben-)Wirkungen haben.[14] Als Raum bloßer Erlaubnis bleibt nur, was durch Strafrecht und das Recht der unerlaubten Handlung indirekt geschützt ist. Für diesen Raum negativer Freiheit hat H. L. A. Hart[15] den Begriff des protective perimeter geprägt. Der Raum des bürgerlichen Privatrechts mit seinen subjektiven Rechten ist dagegen vollständig durch öffentlich rechtlich verantwortete Institutionen ausgestaltet.

100 Jahre nach Jellinek fällt es leicht zu sagen, dass das Privatrecht nicht bloß erlaubt, sondern die Möglichkeiten rechtlichen Könnens umfassender gestaltet. Alle relevanten Handlungsmöglichkeiten haben eine institutionelle Basis, an der immer auch Recht beteiligt ist. Zwar ermächtigen die Institutionen des Privatrechts zu rechtlichem Können für weitgehend unbestimmtes Dürfen. Insofern bleibt es bei der »Erlaubnis des Beliebens« (195), das heißt, rechtliches Dürfen wird nicht durch externe Moral oder Vernunft vorgegeben. Aber das »Belieben« muss das Nadelöhr oder Scheunentor rechtlichen Könnens passieren. Eine Kritik der subjektiven Rechte kann daher nur unmittelbar bei der Rechtspolitik ansetzen, die das Tor mehr oder weniger geöffnet hat. Es macht dagegen wenig Sinn, die »immanente Politizität der subjektiven Rechte« (189) zu beklagen.

»Man wird selten eine klare Definition des Politischen finden«, sagte Carl Schmitt.[16] Für M. sind politisch »Rechte zur Rechtsveränderung, zur Veränderung des Rechts als des normativ gültigen« (190, 226f). Die These von der »Rechtserzeugungs-funktion« des Privatrechts gehört zum Grundbestand der Rechtstheorie. Verträge und Gestaltungsrechte fügen sich mit ohne weiteres in den Stufenbau der Rechtsordnung ein. Aber sie unterscheiden sich von den »eigentlichen« Rechtsquellen dadurch, dass sie nur konkret-individuelle Rechtsnormen begründen oder verändern, die unbeteiligten Dritten gegenüber keine Verpflichtungs-, sondern nur eine Tatbestandswirkung haben. M. bleibt eine Erklärung schuldig, wieso private Rechtssetzung »für alle gültig« (190) sein soll. Kelsen ist dafür kein guter Beleg, denn er sieht die Rechtsetzungsfunktion bei Privatrechten gerade im Gegensatz zu den eigentlich politischen Rechten[17]. Der Satz, »daß jeder Adressat von Rechten der Möglichkeit, also seiner Berechtigung nach Mitautor des Rechts ist« (191), hat deshalb einen großen rhetorischen Überschuss. Alles Recht ist politisch. Das ist uns schon so oft versichert worden, dass die Aussage trivial geworden ist. Wenn man mit Jellinek und Kelsen auch subjektive Privatrechte im öffentlichen Recht begründet sieht, dann haben sie quasi per definitionem politischen Charakter.

Die politische Qualität der subjektiven Rechte hat sogar »doppelte Gestalt« (189), weil diese Rechte die staatsbürgerliche Mitwirkung immanent voraussetzen. Dadurch »gewinnt der Begriff des Politischen … einen Doppelsinn, der die Idee und Wirklichkeit der bürgerlichen Politik bestimmt (und zerreißt).« (190) Wo steckt hier der Doppelsinn, in der Begriffsbildung des Beobachters oder in den Köpfen der Beobachteten?

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift »Hauptsache Moral, welche ist egal«.

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Für den eiligen Leser reicht die Zusammenfassung S. 248-253.

[4] Bei Luhmann heißt das Variation der Semantik. Den Wechsel von einer Pflichtensemantik zur Rede von subjektiven Rechten erklärt Luhmann damit, dass Rechte seiner Zeit ein unerfüllte Desiderat waren (Subjektive Rechte: Zum Umbau des Rechtsbeußtseins für die moderne Gesellschaft, in: Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, 1981, 45-104.

[5] Das wird in Endnote 4 auf S. 438 als Luhmann-Zitat ausgewiesen (a. a. O. Fn.  4 S. 84). Der ganze Satz Luhmanns lautet:»Die Inklusion der Bevölkerung in das Gesellschaftssystem muß auf neue Formen gebracht werden, und dies Desiderat wird in die Form subjektiver Rechte gekleidet, weil es noch nicht realisiert ist.« Luhmann hat also an dieser Stelle ein anderes Thema. Er betont den Wechsel der Semantik von Pflichten zu Rechten. Luhmanns Deutung der Figur des subjektiven Rechts passt überhaupt nicht zu M.s Argumentation, denn Luhmann geht es darum, »daß [die Rechtsentwicklung] allgemeine, gesellschaftlich fundierte Normen zur Rechtsfigur des subjektiven Rechts abstrahiert«. Dieses Luhmann-Zitat hat aus dem »Recht der Gesellschaft« hat M. in die Endnote verbannt.

[6] Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, 2004, S. 373 (Vorlesung 11 vom 28. März 1979).

[7] Christoph Menke, Subjektive Rechte und Menschenwürde . Zur Einleitung, Trivium 3, 2009, Rn. 4 [http://trivium.revues.org/3296].

[8] Foucault a. a. O. S. 382.

[9] Das Argument stammt nicht von mir. Aber ich weiß nicht mehr, von wem ich es gelernt habe.

[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 46: »Allein diese Erlaubnis ist rein negativ, ihr ganzer Effekt konsumiert sich in der Aufhebung eines Verbots.« Dagegen verwendet der an anderer Stelle von M. angeführte Robert Alexy »Erlaubnis« auch im Sinne von Freistellung (Theorie der Grundrechte, 1985, Kap. 4 II, in der Suhrkampausgabe S. 206ff.), betont aber, dass es sich um eine »schwache« Erlaubnis handelt.

[11] System S. 82. Vgl. auch S. 10: »Ohne öffentliches Recht kein Privatrecht.«

[12] System S. 45f.

[13] Marietta Auer, Subjektive Rechte bei Pufendorf und Kant. Eine Analyse im Lichte der Rechtskritik Hohfelds, AcP 208, 2008, 584-634. Auer beruft sich dafür mit J. W. Singer und Duncan Kennedy auf Hohfelds analytisches Schema der Rechte. Das folgt aber einfacher aus der Figur der Freistellung im traditionellen Normenquadrat.

[14] Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, 56ff.

[15] H.L.A. Hart, Legal Rights, in: ders., Essays on Bentham, 1982, S. 180ff. Harts Beispiel: Meine Freiheit, mir den Kopf zu kratzen, ist zwar nicht durch direkte Verpflichtungen anderer, mich gerade daran zu hindern, gesichert, aber doch durch einen Kranz allgemeiner Verhaltenspflichten, etwa die Pflicht, körperliche Angriffe zu unterlassen.

[16] Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien., 3. Aufl. der Ausg. von 1963, 1991, S. 21.

[17] Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 144.

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Das subjektive Recht ein hohles Ei. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« II

Dies ist die zweite Lieferung[1] meiner Lesefrüchte aus Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (2015).[2]

In der Einleitung unter der Überschrift »Marx‘ Rätsel« wird die Grundthese des Buches formuliert: Die bürgerlichen Revolutionen der Moderne waren der Akt eines politischen Gemeinwesens, ihr Ziel die Gleichheit, ihr Mittel die Form der Rechte, deren Träger keine politischen, sondern private Subjekte sind. Das Ergebnis ist die Entpolitisierung der Gesellschaft (7f). Der Liberalismus, der auf seine guten moralischen Absichten verweist, ist, wie Marx formulierte, nur zu »vulgärer Kritik« imstande. Die wahre Analyse des bürgerlichen Rechts ist nicht historisch, sondern ontologisch. Der moderne Umbruch des Rechts ist ein Umbruch in der Ontologie der Normativität (S. 11). Man kann die bürgerliche Erklärung gleicher (subjektiver) Rechte nicht funktional nach ihren »Gehalten, Zwecken und Wirkungen« begreifen, wenn man nicht zuvor deren Form verstanden hat, denn »diese Form ist nicht neutral« (9). Sie bringt normativ »vor und außernormative Faktizität« hervor (10). Faktisch heißt, »dem politischen Gemeinwesen vorgeordnet und entzogen« (9), oder, was dasselbe ist, die »Naturalisierung des Sozialen« (10) Diesen Vorgang kann das bürgerliche Recht in seiner Selbstreflexion nicht begreifen. Es fällt daher in sich zusammen, nachdem M. den Zusammenhang aufdeckt hat. Das führt zu einer »neuen Revolution der Rechte«, einem »Recht der Gegenrechte« (13).

Die Kritik der Rechte setzt an bei deren moralisch hohler Form. Dazu wird im ersten Teil des Buches eine historische Kontrastfolie aufgespannt. Idealtypisch werden uns mit Hilfe von Aristoteles und Cicero das griechische und das römische Recht vorgestellt. Das »Modell Athen« sei auf Erziehung zur Tugend angelegt gewesen, das »Modell Rom« auf die zwangsweise Durchsetzung der Vernunft (65ff). In Athen und Rom war die Rechtswelt, so scheint es,  noch in Ordnung, denn Rechte seien dort eigentlich nur Reflexe eines moralischen Universums gewesen. »Ein Recht hat man nach dem Maß der Gerechtigkeit und daher nur auf Gerechtes; das Recht des einzelnen ist sein gerechter Anteil.« (47)

Für den Umbruch zur Moderne steht das Modell London, personifiziert zuerst durch Hobbes, dann durch Locke.

»In der Form bürgerlicher Rechte bleibt der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand anwesend, ja wird der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand zur Geltung gebracht. Die Gewährleistung des Vor- und Außerrechtlichen, also des Natürlichen, wird zur Wesensbestimmung des Rechts.« (S. 55)

Für das moderne Recht gilt: »Das Gesetz ist nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander.« (58) Mit anderen Worten: Das moderne Recht ist darauf zugeschnitten, durch Determination von Rechtsansprüchen Sphären der Willkürfreiheit voneinander abzugrenzen. Es ist egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit werden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen.

Da haben wir ein Paradox: Die neuzeitliche Form der Rechte »verklammert Normativität und Faktizität, ohne die Normativität in Faktizität aufzulösen. … Rechte berechtigen – nur – Natürliches.« (S. 63) »Dabei heißt ›natürlich‹ vor- oder außerrechtlich; natürlich sind alle Handlungen, die nicht an der Normativität des Rechts ausgerichtet sind.« (S. 90) Paradox wird das nur durch die Mehrdeutigkeit, in der hier von Normativität geredet wird. Rechtsnormen, die für Ansprüche in bestimmten Grenzen Beachtung fordern, sind für M. nicht wirklich normativ, soll heißen, sie sind nicht substantiell moralisch. Schon an dieser Stelle fragt sich der Leser, ob nicht auch hinter der rechtlichen Garantie für die nur durch die Rechte anderer gebundene Wahrnehmung von Handlungs-möglichkeiten eine substantielle Moral stecken könnte.

Gerne zustimmen wird man der Zurückweisung des »liberalen Dualismus«, das heißt der naturrechtlichen Annahme von subjektiven Rechten, die Vorrang vor dem objektiven Recht beanspruchen. (24ff).[3] Der Dualismus kommt erst auf, wenn die naturrechtlichen Inhalte nicht als gelebter und selbstverständlicher Bestand positiven Rechts Geltung haben, sondern als kontingent reflektiert werden. Von diesem Augenblick an geht es um unterschiedliche Rechtsbegriffe. Von einem positivistischen Standpunkt aus ist »das natürliche Recht vor dem Recht ein Scheinrecht« (25). Im System des positiven Rechts sind objektives und subjektives Recht nur noch zwei Seiten derselben Medaille. Nicht so für M. Auch für das moderne Recht gelte der Vorrang der (subjektiven) Rechte, und zwar wegen deren radikal neuer Form (29).

»Die Sicherung der Rechte des einzelnen wird zur neuen Funktionsbestimmung des Rechts überhaupt.« (31) Das sei eine »Revolution im Begriff des Rechts« die den »Primat des Anspruchs [subj. Recht] vor dem Gesetz [=obj. Recht]« begründe (31). Funktion soll hier heißen, dass es »im Recht [nur noch] um die normative Sicherung natürlicher, das heißt, vorrechtlich bestehender, dem Recht vorhergehender und vorgegebener Strebungen und Handlungen geht« (32). Worum denn sonst, möchte man fragen? Das wäre ja die Superautopoiese, wenn es im Recht um die Sicherung des Rechts ginge. Für das moderne Recht ist auch Moral etwas Vorrechtliches. Die Operationsweise des Philosophen besteht hier in der Verwendung unterschiedlicher Rechtsbegriffe. Anders wäre der Satz, das Recht habe nur noch die Aufgabe des Schutzes und der Sicherung rechtlicher Ansprüche (32), tautologisch. »Die Operationsweise des Rechts besteht in der Legalisierung des Natürlichen.« (33) Das klingt, als ob alles Natürliche legalisiert werde. Als Mittel wirkt »die funktionalen Totalisierung des Anspruchs«, was wohl heißen soll, das alles Recht letztlich als Privatrecht organisiert ist. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass M. nur das halbe Recht im Blick hat, ein Eindruck, der sich im Fortgang verstärkt. Aber der Eindruck ist falsch, denn M. meint, was er sagt.

An Thomas Hobbes‘ Begründung der staatlichen Souveränität findet M. deren immanente Grenze wichtig, den von Carl Schmitt so genannten Todeskeim (73ff), den Schmitt in dem Vorbehalt der inneren Glaubens- und Gedankenfreiheit gegenüber dem Leviathan hatte entdecken wollen. Dem Liberalismus, so meint M., diene der Gesinnungsvorbehalt als Verzicht auf eine sittliche Inanspruch-nahme. Deshalb sei »das souverän herrschende Recht … aus innerer Konsequenz zu dem Recht geworden, dessen Wesen die Erlaubnis oder Befugnis« sei (S. 80). Recht in der Zeit nach Hobbes »legalisiert« und sichert damit das »Natürliche«, nämlich die willkürliche Verfolgung individueller Interessen (S. 89). Allerdings ist die »rechtliche Erlaubnis [nur] eine Freigabe des Urteilens.« (S. 82) Das heißt: »Die Gesetze stellen die Gründe ihrer Befolgung frei.« (S. 83) Damit verzichtet das Recht auf einen moralischen Anspruch. Diesen Verzicht findet M. bei Kant wieder, wenn dieser Ethik und Recht danach unterscheidet, dass das Recht äußeres Handeln vorschreibt (S. 84ff).

Kant sage, weil das Recht äußerlich sei, müsse es das Innere freigeben. Dieser Schluss sei aber unrichtig oder zirkulär, denn tatsächlich hätten das griechische und das römische Rechtsregime »erziehend oder unterdrückend« auch auf das Innere eingewirkt. Die Freiheitserlaubnis des modernen Rechts folge deshalb nicht direkt aus der Äußerlichkeit des Rechts, sondern aus dessen Selbstreflexion: Das moderne Recht deute sich so, dass es die Freiheit der Willkür – die im weiteren Verlauf des Buches als Eigenwille angesprochen wird – erlaube (S. 87). Ihre normative Begründung sei mit Karl Marx letztlich nur in der Idee der Gleichheit zu suchen (345).

Die Frage liegt nahe, ob das wirklich die Selbstdeutung des modernen Rechts ist oder nicht vielmehr M.s Fremddeutung. Nach der üblichen Lesart gewährleistet das subjektive Recht die Möglichkeit der freien Entfaltung der Person in materieller wie in ideeller Hinsicht und damit den Rahmen für »die guten Zwecke des Liberalismus …: Würde, Autonomie, Selbstbestimmung usw.« (9). In einer Formulierung Savignys[4]: »Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert.«. Das mag noch der längst dekonstruierte autonomiebasierte Rechtsbegriff der ersten Moderne[5] sein. Wenn man die Willenstheorie etwas tiefer hängt, so reflektiert sie immer noch die rationale Unentscheidbarkeit moralischer Fragen und verlangt dafür individuelle Gewissensentscheidungen. Das ist ein hoher normativer Anspruch. Die »Freiheit der Willkür« ist nur die Kehrseite dieses Angebots. Solche Überlegungen prallen an M.s Argumentation ab. An die Stelle von Autonomie oder Gewissens-entscheidung tritt der mit Hilfe Foucaults »empirisch« von Urteil und Kritik gestrippte »Eigenwille«, der als psychisches Faktum zählt, nicht aber wegen seiner moralischen Qualität (197ff). Erneut die Frage, warum dem Eigenwillen die moralische Qualität abgehen soll, die dem (von mir so genannten) Statuswillen zugesprochen  wird, der in den festen Hierarchien Athens und Roms die Basis der für eine gerecht Verteilung bildete. Nun gut, das liberale Recht war nicht sehr erfolgreich mit seiner Moral (oder Ethik). Aber waren Athen und Rom erfolgreicher?[6]

S. 88 folgt ein Zwischenergebnis, dem man abstrakt beipflichten möchte. »Das moderne Recht erzieht nicht mehr, sondern es diszipliniert.« Foucault lässt grüßen. Die »Differenz von Innen und Außen« etabliert sich »im Individuum (das dadurch zum Subjekt wird)«. Wenn da nur nicht die Hintergrundthese stünde, »daß das [moderne] Recht keinen normativen Anspruch an das Sein, die Ontologie des Rechtssubjekts« stelle (S. 88). Wieso sind Erziehung (Modell Athen) und Unterdrückung (Modell Rom) normativ, Disziplinierung aber nicht? Hier fällt wieder auf, wie M. »das Sittliche« und »das Vernünftige« des griechischen bzw. des römischen Modells anspricht, ohne deren Realität als Modelle guten und glücklichen Lebens zu betrachten. Das schöne Aristoteles-Zitat auf S. 209 zur Mitbenutzung des Eigentums war seinerzeit nicht mehr oder weniger symbolische Deklamation als heute Art. 14 Abs. 2 GG. Moderne Arbeitssklaverei ist kaum schlimmer als die antike Leibeigenschaft. Die vom modernen Recht geforderte äußere Disziplinierung im Sinne eines neminem laedere ist da schon ein gewisser Fortschritt.

Auf dem Wege dahin gibt es Überlegungen, die zum Grundbestand der Rechtstheorie gehören. Das gilt zunächst für die Überlegung, dass die Erfindung des subjektiven Rechts im Privatrecht eine Dynamik entfaltet hat, die im Verlauf das subjektiv-öffentliche Recht zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen. M. teilt allerdings die von Hegel und Savigny bis zu H. H. Rupp vertretene Auffassung, die Figur des subjektiv öffentlichen Rechts sei eine falsche Übertragung zivilrechtlicher Konstruktionen. Nur zur Erinnerung: Die Begründung subjektiver Rechte gegen den Staat scheint an der Vorstellung vom Staat als Quelle des objektiven Rechts zu scheitern mit der Folge, dass der Staat als Rechtsschutzgewährender und -verpflichteter ein- und dieselbe Person wäre. Da zum Recht ein unabhängiger Richter gehört und ein Richter per definitionem unabhängig zu sein hat, der Staat aber Richter in eigener Sache wäre, wären subjektive Rechte gegen den Staat paradox. Befriedigend formulieren lassen sich Problem und Lösung aber mit der Vorstellung, dass es sich logisch (auf der Satzebene) um ein (unlösbares) Rekursivitätsproblem handelt, dass der Staat praktisch aber kein monolithisches Gebilde ist, sondern sich aus mehreren »Gewalten« und vielen Funktionsträgern zusammensetzt, die sich wechselseitig beobachten und durch Rückkoppelungsprozesse in der Schwebe halten. Deshalb ist es richtig, dass die aus dem Privatrecht stammende Figur des subjektiven Rechts hat eine Dynamik entfaltete, die ihren Ursprung weit hinter sich gelassen hat. Die Dynamik ist mit der Akzeptanz des subjektiv öffentlichen Rechts aber längst nicht erschöpft. Doch das ist nicht, was M. interessiert. Ihm kommt es darauf an, dass subjektiv öffentliche Rechte auch nur verkleidete Privatrechte sind.

Iherings Interessentheorie liest M. als Reformulierung seiner Deutung vom Primat des Anspruchs. Die normative Kraft subjektiver Rechte knüpfe daran, »daß Personen Interessen haben« (62). Das ist plausibel, obwohl das Individualinteresse nur der Normalfall ist, aber kein Essentiale des subjektiven Rechts bildet. M. zitiert Jellinek mit dem Satz »Wille und Interesse oder Gut gehören daher im Begriffe des Rechts nothwendig zusammen.« Den nächsten Satz Jellineks übergeht er. Der Satz lautet: »Nicht aber müssen der Träger des auf das Interesse gerichteten Willens und der Destinatär des Interesses identisch sein.«[7] Damit hatte Jellinek den Begriff des subjektiven Rechts weit geöffnet. Es hat zwar noch ein Jahrhundert gedauert, bis die darin liegenden Möglichkeiten zur Entwicklung des Rechtsbegriffs ausgeschöpft wurden. Heute bereitet es jedoch keine Schwierigkeiten mehr, den Begriff des subjektiven Rechts für die Organisation der Wahrnehmung öffentlicher Interessen durch staatliche Stellen und durch Gruppierungen der Zivilgesellschaft heranzuziehen. M.s Analyse des subjektiven Rechts ist damit auf halber Strecke stehen geblieben.

Der Kontroverse zwischen Interessentheorie (Ihering) und Willenstheorie (Savigny, Windscheid) bringt M. auf den Nenner, diese Theorien hätten entgegengesetzte Naturbegriffe (92); der einen gehe es um die »Ermöglichung von Interessen«, der anderen um die »Erlaubnis der Willkür«, zwei »einander strukturell entgegengesetzte Weisen der Legalisierung des Natürlichen«, die in der modernen Form der Rechte beide gegenwärtig seien (95). Bei der rechtlichen Ermöglichung müsse das Recht die Interessen als Grundtypen des natürlichen Strebens bestimmen. An dieser Stelle erinnert sich der Leser daran, wie Marietta Auer[8] besonders herausstellt, dass Kants wunderbare Formel von der Freiheit, die ihre Grenzen an der Freiheit anderer findet, inhaltsleer ist und von hoher oder fremder Hand ausgefüllt werden muss. Darin steckt die »Bestimmung« der Interessen, die Voraussetzung für deren »Ermöglichung« ist. Es meldet sich die Frage, ob nicht in dieser Bestimmung der Interessen ein Stück Politik und vielleicht gar Moral stecken könnte.

Bei der rechtlichen Erlaubnis gehe es darum, die Willkür unter Absehung von Gründen zu legalisieren. Deshalb müsse die Erlaubnis inhaltlich unbestimmt bleiben. »In ihrer modernen Form sichern Rechte zugleich Interessen und Willkür.« Doch weil die Erlaubnis der Willkür das natürliche Streben unbestimmt lässt, während »die Ermöglichung von Interessen voraussetzt, daß das Recht das natürliche Streben bestimmt« arbeiten »die Sicherung von Interessen und der Willkür gegeneinander«. Darin besteht die »doppelte Performanz« der »Legalisierung des Natürlichen« im modernen Recht. »Aufgrund der Form der Rechte entfaltet sich die Einheit des modernen Rechts nur im Gegeneinander sich ausschließender Leistungen. Dieses Gegeneinander bildet die spezifisch moderne Gestalt des ›Kampfs um’s Recht‹ (Rudolf von Ihering).« (97)

Übersetzt man das »Gegeneinander« mit dem Gegensatz von objektivem und subjektivem Interessenbegriff, dann kann man vielleicht sagen: Ihering sah das Interesse als objektiv gegeben, während Savigny und Windscheid mangels einer Grundlage zur Beurteilung objektiver Interessen auf die Selbstbehauptung des Interesses (Bedürfnis) durch Willensentschluss abstellten. Damit erklärt sich mir aber noch nicht, warum sich »in der modernen Form des Rechts … die Sicherung von Interessen und der Willkür gegeneinander« richten, ja einander ausschließen sollen (97). Ich hätte vielmehr angenommen, dass beides wunderbar zusammenstimmt, denn die Willkür der Rechtsausübung ist das Korrektiv dafür, dass letztlich kein Dritter, weder Rechtsphilosoph noch Gesetzgeber, sondern nur der Betroffene selbst seine Interessen kennt. Aber das hat M. nicht gemeint. Das Gegeneinander läuft vielmehr auf die permanente Auseinandersetzung zwischen Privatautonomie und sozialen Rechten hinaus, denn die rechtliche Bestimmung von Interessen bedeutet die Bestimmung eines »Vermögens sozialer Teilhabe«. Das führt im weiteren Verlauf zu einem auf den ersten Blick vielleicht überraschenden Ergebnis:

»Die soziale Kritik ist Teil des politischen Kampfes im bürgerlichen Recht, Rechtskritik ist in der bürgerlichen Gesellschaft eine Strategie in der Rechtsbegründung: Das bürgerliche Recht ist wesentlich herrschaftskritisches Recht.« (S. 301)

Aber die Sache hat einen Haken. »Die bürgerliche Kritik (oder Selbstkritik) des Rechts« hat nicht verstanden, worum es (M.) geht (305). Doch das führt heute zu weit. Fortsetzung nicht garantiert.

[1] Die erste Lieferung gab es am 1. 5. 2016 unter der Überschrift »Hauptsache Moral, welche ist egal«.

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original. Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Damit ist die Sache freilich noch nicht ganz zu Ende. Gerade die positivrechtliche Form der subjektiven Rechts öffnet es für den rights talk oder rights discourse – mir fehlt der passende deutsche Ausdruck –, mit dem an vielen Fronten neue subjektive Rechte eingefordert werden, nicht immer ganz erfolglos.

[4] Savigny, System, Bd. 1, S. 331. Zur »moralontologischen« Fassung des modernen Begriffs der Rechtsperson Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 15ff. Sie meint, Hugo Grotius habe noch »ein in seinen Grundlagen normatives System geschaffen … in dem subjektive Individualrecchte gerechtfertige Güter- und Handlungszuweisungen begründeten. Dagegen habe »der Mensch als moralische Person« im System von Hobbes keinen Platz gehabt, sei jedoch spätestens von Kant wieder als solche eingesetzt worden.

[5] Auer a. a. O. S. 6.

[6] Mit der Kritik der Moderne vor dem Hintergrund einer idyllischen Vormoderne steht M. nicht allein. Deshalb ist hier ein Hinweis auf die Selbstkritik der zweiten Moderne angebracht, wie sie von Auer (2014, S. 46ff) referiert und rezipiert wird. Eine seit Hegel und Marx zentrale Kritik geht dahin, dass die Moderne den Einzelnen von der Familie abtrennt, indem sie ihn ins Erwerbsleben zwingt, die Familie zerstört und als Kehrseite dem Einzelnen den sozialen Rückhalt nimmt (Auer S. 77). Doch nach der Realität der vormodernen Familie jenseits des Adels, der Stände und der Bauern wird nicht ernsthaft gefragt. Die Lebensgüter waren ungleich verteilt. Das Leben überhaupt war kurz und mühsam, die reale Möglichkeit von Hunger und Durst, Elend und Schmerz nicht weniger beklagenswert als nach der bürgerlichen Revolution.

[7] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44. Ebd. S. 71 heißt es noch deutlicher: »Das positive Recht kann aber den Kreis der formellen Interessen beliebig verengen oder erweitern. Im letzteren Fall bildet nicht einmal das materiell subjektive Interesse für seine Gewährungen eine unübersteigbare Grenze, so daß selbst dort, wo ein Individualinteresse gar nicht vorliegen kann, trotzdem ein geschützter Anspruch geschaffen zu werden vermag.«

[8] Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 55ff, 59.

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Hauptsache Moral, welche ist egal. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte«

Nun habe ich endlich doch noch Christoph Menkes »Kritik der Rechte«[1] von Anfang bis Ende gelesen. In diesem und – vielleicht – in weiteren Einträgen will ich festhalten, wie ich das Buch missverstanden habe.[2]

Die Rechte, die hier kritisiert werden, sind die subjektiven Rechte, die das moderne Recht charakterisieren. Vorab die Kernaussagen des Buches stark verkürzt: »Das bürgerliche Recht … berechtigt, und ermächtigt dadurch, den einzelnen dazu, nach seinem Belieben zu wollen und zu handeln. … Das Wollen des einzelnen zählt, worin auch immer sein Gehalt besteht; das subjektive Recht entkoppelt die rechtliche Macht des einzelnen von der Tugend oder der Vernunft, an die das traditionelle Recht seine Chance zur Durchsetzung band.« (196) »Der Grund aller Entgegensetzungen und Widersprüche, die im bürgerlichen Recht aufbrechen, ist … die Form der subjektiven Rechte.« (306) »In ihrer modernen Form sichern die Rechte zugleich Interessen und Willkür.« (97) »[Das Recht] muß definieren, was ein Interesse ist, welche Interessen es gibt und wann sie verwirklicht sind … Da Willkür das Vermögen der Wahl unter Absehung von Gründen ist, kann das Recht sie nur legalisieren, indem es sie nicht bestimmt.« (95) Diese »Doppelperformanz« des bürgerlichen Rechts führt zwar zur laufenden Selbstkritik mit dem Ergebnis von sozialen Reformen, die aber wiederum nur Ausbeutung und Zwang durch das Privatrecht befestigen. Die Selbstkritik des bürgerlichen Rechts hat nicht verstanden, worum es geht: Die moderne Form der Rechte ist in sich paradox (355). Hat man das mit M. begriffen, kommt die Revolution von selbst. Sie äußert sich freilich nicht in Gewalt, sondern in einer »Revolution des Urteilens« und in »Gegenrechten«.

Die Lektüre des Buches war durchaus angenehm. Anders als das Zitat am Ende des Eintrags vom 2. Februar 2016 befürchten ließ, ist der Text frei von sprachlichen Kontorsionen. Im Gegenteil, er besticht durch die Eleganz der Darstellung. Das Layout entspricht eher einem literarischen als einem wissenschaftlichen Werk. Die Sätze, wenn auch nicht immer ihre Aussage, sind klar und durchsichtig. Wiederholte Wiederholungen und Zusammen-fassungen bilden ein Stilelement, als ob dem Leser damit Argumente und Thesen eingehämmert werden sollen. Dem senilen Leser erleichtert dieser performative Stil die Lektüre. Ein Stilbruch ist die Grafik auf S. 304. Lästig ist die Wiedergabe der Anmerkungen als Endnoten. Vermisst werden Sachregister und Literaturverzeichnis.

Das Buch ist in vier Teile und fünfzehn durchgezählte Kapitel gegliedert. Außerhalb der Gliederung stehen die Einleitung und ein Schluss über »Recht und Gewalt«.[3] In Exkursen, die im Layout als solche erkennbar sind, setzt M. sich mit alten und postmodernen Autoren auseinander. Jeder Exkurs ist ein kleines Meisterstück der Darstellung, und sie alle tragen zur Verdeutlichung der Argumentation bei.

Warum ist so viel über das subjektive Recht gedacht und geschrieben worden? Auf der Oberfläche geht es um ein Definitionsproblem. Der Begriff des subjektiven Rechts wird mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet mit der Folge, dass man nicht selten aneinander vorbeiredet. Auf der einen Seite steht ein sehr weiter Begriff, der Rechtspositionen im Sinne absoluter Rechte (Eigentum, Persönlichkeitsrecht, Grundrechte) ebenso einschließt wie Gestaltungsrechte und Forderungen. Auf der anderen Seite steht ein enger technischer Begriff, der unter subjektiven Rechten nur klagbare Ansprüche versteht. Hinter der Kontroverse um den richtigen Begriff des subjektiven Rechts steckt das Dauerproblem der Rechtsphilosophie, nämlich die Frage, wieweit die Geltung des Rechts von seinem Inhalt abhängig ist. Gehört es zum Begriff des subjektiven Rechts, dass es gerecht ist, sei es, dass es ein (berechtigtes) Interesse schützt, sei es dass es im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit Gegenleistung oder Restitution bildet, sei es, dass es im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit Bedürfnisse zufrieden stellt? Oder genügt es, auf die Willensmacht des Rechtsträgers abzustellen? Im Hintergrund steht Karl Marx’ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Daran knüpft M. an mit der These, das subjektive Recht habe nicht gleiche Rechte für alle, sondern nur die »Gleichheit der Form der Rechte« gebracht (7).

Es handelt sich um eine relativ junge Problematik. In ursprünglichen Verhältnissen war in allen Rechtsbeziehungen Reziprozität im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit eingebaut. So wie heute noch der Käufer meistens sieht oder weiß, was er für sein Geld bekommt, waren alle Rechtsbeziehungen mehr oder weniger konkrete Tauschbeziehungen. Im modernen Recht ist die Gegenseitigkeit nicht mehr zu erkennen. Für sich betrachtet erscheint das subjektive Recht daher oft als ein ungerechtes Recht. Mit den Worten Luhmanns:

Ein Professor, der sich überarbeitet hat, wird nicht in der Universität wiederhergestellt, sondern im Sanatorium. Den Bau von Freibädern bezahlen nicht diejenigen, welche die Flüsse verunreinigen. Die Unfallopfer werden nicht in die Autofabriken gebracht, die Atombombe nicht auf die Physiker geworfen, die randalierende Jugend wird nicht von ihren Eltern und Lehrern niedergeknüppelt. Es muss mithin in erheblichem Umfang Mechanismen der Problemüberwälzung und eines indirekten Folgenausgleichs geben. Diese Umleitung wird durch abstrakte Medien wie Macht und Geld zu verbindlichen Entscheidungen getragen. … Juristisch ließe sich ein solcher indirekter Ausgleich ohne die Figur des subjektiven Rechts kaum organisieren.[4]

Viele sind heute der Ansicht, das subjektive Recht sei als »modernes« individualistisches Konzept überholt und müsse durch kommunitäre Vorstellungen ersetzt werden. Vielleicht sind wir sogar schon auf dem Wege dorthin. Dagegen steht die »rights explosion«[5] oder »rights revolution«[6] im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, die auf die Positivierung der Menschenrechte zurückgeht und noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.

Es gibt hier also ein großes Thema. Daher ist es nicht überraschend, dass das M.s Buch in Akademie und Medien auf Resonanz gestoßen ist.[7] M. entwickelt seine Kritik weitgehend in einer Diskussion mit der Rechtstheorie, wie sie im 19. Jahrhundert von Savigny, Ihering und Windscheid und später von Georg Jellinek und Kelsen auf den Weg gebracht wurde. Das war für mich der Grund, dem Buch so viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Rezensionen in den Medien fallen eher zurückhaltend aus. Sie halten dem Buch einen hohen Abstraktionsgrad und mangelnde Verständlichkeit vor, suchen vergeblich nach der angekündigten »neuen Revolution der Rechte« und sehen »großes Theoriekino«. In der Akademie wird die Qualität eines geisteswissenschaftlichen Textes wird an der Elaboration der Darstellung gemessen. Davon haben Auer und Möllers sich leiten lassen. Auer findet die »Kritik der Rechte« eindrucksvoll[8] und Möllers sogar furios. Er meint, »Menkes Buch [sei] von einer geradezu berückenden systematisch-begrifflichen Geschlossenheit. … die begriffliche Rigorosität [schaffe] ein neues eigenes Argument«[9]. Bis zu einer Kritik der Kritik dringen die Kritiker nicht vor. Das war aber in den für die SZ und die FAZ geschriebenen Rezensionen auch nicht zu erwarten. Hilfreich war deshalb die parallele Lektüre von Marietta Auers 2014 erschienener Monographie »Der privatrechtlichen Diskurs der Moderne«.

In der Form betreibt M. eine Begriffsphilosophie, die Juristen an die Begriffsjurisprudenz erinnert. Dabei helfen offene Allgemeinbegriffe wie Subjekt und Macht, Revolution und Krise, Naturalisierung, Materialismus und Positivität, Privatisierung und Politisierung sowie für die Metaebene Selbstreflexion, Dialektik und Ontologie. Aus den anscheinend beschreibenden oder analytischen Begriffen werden normativ aufgeladene Ergebnisse abgeleitet. Das funktioniert besser noch als bei der alten Begriffsjurisprudenz, weil die Begriffe so gegriffen werden, dass sie in sich oder in Kombination Widersprüche ergeben. Aus Widersprüchen lassen sich beliebige Schlussfolgerungen ziehen.

Dieser Umgang mit den Begriffen ist unhistorisch und unsoziologisch, denn er unterstellt, dass die Welt den Begriffen folgt, und nicht umgekehrt. M.s Begriffswelt führt ein Eigenleben. Sie lässt in der Schwebe, ob die Ideengeschichte des Liberalismus von Locke bis Rawls begrifflich analysiert oder ob die Wirkungsgeschichte dieser Ideen nachvollzogen werden soll. Entwicklung und Konflikte der Gesellschaft werden aus Begriffen rekonstruiert. Auf Luhmannesisch gesagt, M.s Begrifflichkeiten invisibilisieren die Realität des modernen Rechts.

In der Sache führt M. einen Angriff auf den klassischen und ebenso auf den modernen Rechtsliberalismus. Er hält seinen Angriff für vernichtend. Daher sind alle, die der Ansicht sind, dass dieser Liberalismus die Basis ihres Staates und seiner Gesellschaft und auch die Basis der westlichen Welt bildet, zu einer Verteidigung des Liberalismus aufgerufen. Bisher ist der Aufruf ungehört verhallt. In der Akademie gehört es heute zum guten Ton, mit der Liberalismuskritik zu kokettieren, auch wenn man keine Alternative vorweisen kann.

Zu den subjektiven Rechten, denen die Kritik M.s gilt, gehören über das klassische Privatrecht hinaus die sozialen Teilhaberechte sowie die Grund- und Menschenrechte. Die Grundrechte wären ein guter Ausgangspunkt, um die praktischen Konsequenzen und die noch unausgeschöpften Möglichkeiten der Form des subjektiven Rechts in Augenschein zu nehmen. Diese Möglichkeiten hatte schon der von M. ausgiebig rezipierte Georg Jellinek angelegt, wenn er sagte, dass »Wille und Interesse oder Gut … im Begriffe des Rechts [nicht] nothwendig« zusammengehören, und wenn er das Recht darüber hinaus von der Betroffenheit individueller Interessen überhaupt befreite[10]. Was daraus geworden ist, deutet die von M. geschätzte Feministin Wendy Brown an, wenn sie vom Ortswechsel vieler sozialer Bewegungen von der Straße in den Gerichtssaal spricht[11]. Aber M.s Analyse, die dem Begriff des subjektiven Rechts eine innere Widersprüchlichkeit attestiert, verbaut sich den Blick für die Möglichkeiten, die in der Form des subjektiven Rechts stecken.

Durch die Betonung der Begriffsarbeit und die eingehende Auseinandersetzung mit der analytischen Rechtstheorie wirken die Thesen des Buches analytisch und verstecken ihre Normativität. M. kritisiert das moderne Recht, weil »das Gesetz … nicht mehr die gerechte Vorschrift sittlichen Tuns, sondern die äußere Begrenzung von Bezirken natürlicher Tätigkeiten gegeneinander« ist. Das moderne Recht sei egalitär, aber ohne Moral, denn die Bezirke natürlicher Tätigkeit würden als gleich behandelt, anders als zuvor der für die Zumessung von Rechten maßgebliche Status im Gemeinwesen (S. 59). Auer meint, »die Rückkehr zu einem sittlichen Rechtsverständnis im Sinne der Vormoderne« habe M. bei seiner Kritik »natürlich« nicht im Sinn. Was dann, fragt sich der Leser, wenn ihm von dem »neuen Recht« auch nur eine Form vorgestellt wird?

Auer lobt, M. habe seine Thesen historisch verankert. Doch er hat sich mit Athen und Rom einen bequemen Ankergrund ausgesucht. Sehr viel steiniger ist die nationalsozialistische ebenso wie die international-sozialistische Rechtserneuerung. Beide haben die Entwicklung noch einmal zurückgedreht, indem sie subjektive Rechte mit einer objektiven Bindung versehen haben, die von M.s Sittlichkeitsbegriff gedeckt ist, der verlangt, »daß die Inanspruchnahme der Rechte durch ein geteiltes Ethos reguliert ist« (S. 272).

Ein zentrales Element der Moderne und damit auch des Liberalismus ist die Skepsis gegenüber moralischer Gewissheit. Sie wird von M. nicht gewürdigt. Daher wirkt die Emphase, mit der er immer wieder den Verlust der Sittlichkeit im Recht beklagt, wie eine Einladung an das einzige zeitgenössische Recht, das durchgehend moralisch verankert ist, nämlich an die Scharia (= Modell Riad).

Diese meine Kritik der Kritik verlangt nach näherer Begründung. Eine Fortsetzung ist deshalb geplant, aber noch nicht gesichert.

[1] Christoph Menke, Kritik der Rechte, Suhrkamp, Berlin 2015, 485 S. 29,95 EUR..

[2] M. = Menke. Zahlen in Klammern sind Seiten des Buches. Kursivschrift in Zitaten folgt dem Original.  Eckige Klammern in Zitaten enthalten Ergänzungen, die den Sprachfluss sicherstellen sollen.

[3] Zu diesem Schluss bereits der Eintrag vom 2. Februar 2016 Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen?.

[4] Niklas Luhmann, Zur Funktion der »subjektiven« Rechte, JbRSozRTh 1, 1970, 321/327 f.

[5] Robert A. Licht, Old Rights and New (The Rights Explosion), Washington, D.C., 1993.

[6] Bruce A. Ackerman, The Civil Rights Revolution, Cambridge, Mass., 2014; Charles R. Epp, The Rights Revolution. Lawyers, Activists, and Supreme Courts in Comparative Perspective, Chicago 1998; Michael Ignatieff, The Rights Revolution, Toronto 2000; Cass R. Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the Regulatory State, Cambridge, Mass., 1993; Samuel Walker, The Rights Revolution. Rights and Community in Modern America, New York 1998.

[7] Marietta Auer, Sittlichkeit ist halt perdu, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10;  Hannah Bethke, Ruf nach Revolutionierung der Gleichheit, Deutschlandradio Kultur am 11. 12. 2015; Christoph Fleischmann, Rezension, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Christoph Möllers, Jenseits des Eigenwillens, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Tom Wohlfahrt, Die Möglichkeit der Rechte, Blogbeitrag vom 26. 1. 2016.

[8] Das ist ein bißchen überraschend, denn M. folgt keineswegs der Devise Auers, »die soziale Praxis ernst zu nehmen« (Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 5).

[9] Möllers a. a. O.

[10] Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44, 71.

[11] Wendy Brown, Die Paradoxien der Rechte, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011,  454-473, S. 454. In diese Richtung deutet auch Möllers, wenn er auf »vielen um Emanzipation kämpfenden Gruppen [hinweist], die erst durch die gemeinsame Einforderung von Rechten politisch vergemeinschaftet wurden.«

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Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands Teil II

Soweit ging es um den Rechtsschöpfungsprozess (jurisgenerative process) in einer, wie Cover sagt, imaginären Welt, in der sich das Recht allein aus dem »hermeneutischen Impuls« – the human need to create and interpret texts –, entwickeln würde. Das ergibt ein idyllisches Bild:

»Law would develop within small communities of mutually committed individuals who cared about the text, about what each made of the text, and about one another and the common life they shared. Such communities might split over major issues of interpretation, but the bonds of social life and mutual concern would permit some interpretive divergence.« (S. 40)

Aber:

»the jurisgenerative principle by which legal meaning proliferates in all communities never exists in isolation from violence. Interpretation always takes place in the shadow of coercion. And from this fact we may come to recognize a special role for courts. Courts, at least the courts of the state, are characteristically ›jurispathic‹.« (S. 40)

Es gibt zu viel Recht, und dem begegnen die Gerichte, indem sie gewaltsam ein Recht anerkennen und die anderen Rechte vernichten.

»Modern apologists for the jurispathic function of courts usually state the problem not as one of too much law, but as one of unclear law. The supreme tribunal removes uncertainty, lack of clarity, and difference of opinion about what the law is. This statist formulation is either question begging or misleading.« (S. 42)

Kommentatoren[1] verstehen diese Stelle als implizite Ausein-andersetzung mit gängigen Theorien über die richterliche Rechtsfindung. Doch Cover begnügt sich damit, die richterliche Tätigkeit in Zweifelsfällen als eine negative zu behaupten: law-killing statt law making[2]. Das klingt nach Super-Hobbes.

Auf jeden Fall handelt es sich um eine Schlüsselstelle in Covers Text. Sie erweckt den Eindruck, als ob Gewalt erst mit den Gerichten in die Welt kommt. Diesem Eindruck tritt Cover zwar im nächsten Abschnitt entgegen. Doch Beweislast und Gewichte sind jetzt verteilt. Cover spielt mit dieser Ambivalenz, um das plurale Recht aufzuwerten. Das plurale Recht ist das eigentliche Recht. Richter sind nicht Pathologen des Rechts, sondern selbst pathologisch.

Immerhin bleibt ein Argument für die Aufwertung pluralen Rechts. Seine Bildung geht mit Engagement (commitment) einher (S. 45).[3] Einige Interpretationen sind gar mit Blut geschrieben (S. 46). Und es ist gelebtes Recht. (Dagegen müssen Richter ihr Recht nicht selbst »leben«.) Damit ändert sich für Cover die Wertung des zivilen Ungehorsams, stammt er doch aus einer jurisgenerative community out of which legal meaning arises the integrity of a law of its own (S. 47). Und daraus folgen unvermeidbar Konflikte mit dem staatlichen Recht.

»Commitment, as a constitutive element of legal meaning, creates inevitable conflict between the state and the processes of jurisgenesis.« (S. 46)

Die Richter machen sich die Sache nicht leicht, dennoch,

»all judges are in some way people of violence« (S. 47).

Dramatischer noch kommt dieser Aspekt zwei Jahre später in »Violence and the Word« zur Sprache.

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. … A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur.«

Gewalt ist nicht genug. Folter kommt hinzu, und die beginnt schon mit der Befragung im Verfahren.[4] Es ist ja richtig, dass wir die Justizverlierer gerne vergessen. Doch selbst unter dem Eindruck der in den USA noch immer aktuellen Todesstrafe, angesichts der Tatsache, dass in Gefängnissen Gewalt an der Tagesordnung zu sein scheint (und auch noch in der Zeit nach Guantanamo) sind das starke Worte; sie werden mehr durch historische als durch aktuelle Beispiele unterfüttert. Für Cover sind die Verlierer auch der modernen Justiz alle kleine Märtyrer.[5] Er fügt allerdings hinzu:

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

So differenziert Covers weitere Ausführungen auch sein mögen: der Ton macht die Musik, und der Ton ist sehr laut.[6]

Zurück zu »Nomos and Narrative«. Die injustice of official law gilt für Cover als ausgemacht, wenn die community sich in Law-Review-Artikeln eine Gegenmeinung gebildet hat (S. 47). Es ist die committed action, die (echtes) Recht von bloßer (Rechts)-Literatur unterscheidet (S. 49). Wer sich für sein Recht engagiert, für den ist die Gewalt des Staates ein bloßes Faktum:

»If there is a state and if it backs the interpretations of its courts with violence, those of us who participate in extrastate jurisgenesis must consider the question of resistance and must count the state’s violence as part of our reality.« (S. 53)

Bemerkenswert, dass Cover hier in die Wir-Aussage überwechselt. Und noch einmal:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office.« (S. 53)

Versöhnlich heißt es aber weiter »judges are also people of peace«. Sie kleiden ihr Tun, damit es nicht als nackte Gewalt erscheint, ihrerseits in Narrative wie das vom Gesellschaftsvertrag oder vom Wohlfahrtstaat (S. 54). Bei der Ausübung ihrer Tätigkeit distan-zieren sie sich mit Narrativen über richterliche Unabhängigkeit mehr oder meist weniger von der Exekutive, die unmittelbar über die Gewalt verfügt. Hier leuchtet eine kleine, versöhnende Vision auf:

»It is possible to conceive of a natural law of jurisdiction. In elaborating such a law … a judge might appeal to narratives of judicial resistance …. He might thus defend his own authority to sit in judgment over those who exercise extralegal violence in the name of the state. In a truly violent, authoritarian situation, nothing is more revolutionary than the insistence of a judge that he exercises such a ›jurisdiction‹ – but only if that jurisdiction implies the articulation of legal principle according to an independent hermeneutic … «

In den Folktales of Justice knüpft Cover daran wieder an, um in der jüdischen Tradition nach Narrativen vom mutig unabhängigen Richter zu suchen. Ein modernes Beispiel eines solchen Narrativs mit der »gesture of speaking truth to power« findet er dort am Ende im Russell-Tribunal zum Vietnam-Krieg.

Nomos and Narratives beschließt ein Abschnitt, der doch noch die Verdienste des imperial law, für das Staat und Richter stehen, würdigt (S. 60ff).

»But the Temple has been destroyed – meaning is no longer unitary; any hermeneutic implies another.«

Deshalb muss eine übergreifende Rechtsordnung für Frieden sorgen. Aber einen neutralen Standpunkt gibt es dafür nicht.

»Judges are like the rest of us. They interpret and they make law.« (S. 67).

Die Wortgewalt Covers hat mich nicht davon überzeugt, dass Gewalttätigkeit das hervorstechende Merkmal staatlichen Rechts sei. Ohnehin hätte dieses Attribut keine direkten Konsequenzen. Ebenso wenig überzeugt sie mich von der Qualität gesellschaft-lichen Rechts. Seine Aufwertung gesellschaftlichen Rechts macht vor Kelsens Räuberbanden keinen Halt. Auch fundamentalistische Religionen, rassistische oder mafiöse Zirkel haben ihren Nomos, und Cover bietet keinen Maßstab, um diesen den Respekt zu verweigern.[7] Wenn eine Stellungnahme zu zivilem Ungehorsam gefordert ist, ziehe ich Martin Krieles nüchterne Stellungnahme[8] vor.

Richtig und wichtig bleibt freilich, dass es keine hermeneutisch überlegene Position für staatliche Rechtsanwender gibt (S. 42). »The judge [is] armed with no inherently superior interpretive insight« (S. 54). Richter sind nicht per se klüger als alle anderen. Insofern ist es sicher richtig zu sagen, dass staatliches Recht dem »gesellschaftlichen« nicht a priori überlegen ist. Aber diese Einsicht ist eher trivial. Wem Gott ein Amt gibt, dem mag er auch Verstand geben. Richterämter werden nicht von Gott vergeben. Richtig und wichtig ist ferner, dass Gerichte selten oder nie normative Ideen neu erfinden, sondern stets nur eine Auswahl unter dem Normmaterial treffen, dass an sie herangetragen wird. Aber die Kür ist keine gewaltsam-willkürliche Vernichtung der Alternativen, sondern eine bedachte Wahl. Nur ein imperial law, das an die Stelle einer Interpretation aus Leiden und Leidenschaft eine Interpretation aus distanzierter Vernunft jedenfalls versucht, hat die Chance, die positive Pluralität zu gewährleisten, die Cover in eine Fußnote verbannt hat.

Richard K. Sherwin, der Cover als einen in der Wolle gefärbten Illiberalen kritisiert, der romantischem Märtyrertum das Wort rede, will dann doch noch eine Lehre ziehen:

»In light of the foregoing critique, perhaps Cover’s most valuable contribution may be put as follows: Only after reencountering (or, if we are fortunate, by anticipating) the chaotic violence spawned by radically opposing beliefs do we come to appreciate (perhaps even strongly enough to practice) the wisdom of liberal constraint. Repulsing the chaos of polynomial fecundity on the one side and totalitarian belief on the other, liberalism finds the bounds within which untrammeled discourse may safely flourish.«[9]

Covers Rückgriff auf jüdische Rechtstradition ist in meinem Refereat zu kurz gekommen. Mit Absicht. Vorläufig sei dazu auf die kundige und ausgewogene Würdigung von Suzanne Last Stone verwiesen.[10]

 

[1] Wie Franklin G. Snyder, Nomos, Narrative, and Adjudication: Toward a Jurisgenetic Theory of Law, William and Mary Law Review 40, 1998, 1623-1729, S. 1629, 1634.

[2] Snyder S. 1624.

[3] In einer Fußnote bezieht Cover sich dazu auf Heidegger, Sein und Zeit. Wenn man allerdings so verallgemeinernd Interpretation und Engagement zusammenbindet, entsteht die Frage, was plurale Interpretation von richterlicher unterscheidet.

[4] Violence and the Word, S. 1603.

[5] Violence and the Word, S. 1604.

[6] Auf die m. E. missglückte Argumentation mit dem Milgram-Experiement (S. 1613ff) hatte ich schon hingewiesen.

[7] Snyder, Nomos, Narrative, and Adjudication, 1627; Richard K. Sherwin, Law, Violence and Illiberal Belief, The Georgetown Law Journal 78, 1999, 1785-1835, S. 1831.

[8] Recht und Ordnung, ZRP 1972, 213-218. Schon zuvor hatte Kriele einen Weg über Anthroposophie und Katholizismus zum Mystiker eingeschlagen. Darüber berichtet er auf seiner Webseite http://www.martinkriele.info/. Literarisch und als Rechtswanwalt hat er sich für kleinere Religionsgemeinschaften und Sekten eingesetzt. Er würde jetzt wohl auch Gefallen an den Texten Covers finden.

[9]A. a. o. S. 1835.

[10] In Pursuit of the Counter-Text: The Turn to the Jewish Legal Model in Contemporary American Legal Theory, Harvard Law Review 106, 1993, 813-894.

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Robert M. Cover und seine Jurisprudenz der Leidenschaft und des Widerstands

Im Eintrag vom 2. Februar habe ich mit kritischem Unterton aus Texten von Robert M. Cover zitiert. Nun gibt es Anlass, etwas ausführlicher auf Covers Texte einzugehen. Im Eintrag vom 1. Dezember 2015 hatte ich am Ende auf eine neue Veröffentlichung von Marietta Auer hingewiesen: Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz[1]. Auer deutet die Freirechtlehre von Kantorowicz als »interpretativen Rechtspluralismus«. Bemer-kenswert wird diese These durch ihre Begründung mit Hilfe rabbinischer Interpretationskultur. Diese These fordert zur Stellungnahme heraus.

Solche Stellungnahme braucht einige Vorbereitung. Auer findet den »Schlüssel« zu ihrer These »in der von der Rechtswissenschaft erst kürzlich wiederentdeckten Tradition des jüdischen Rechts, deren Fruchtbarkeit für das Verständnis der Normen- und Interpretationskonflikte im multipolaren Rechtspluralismus der Gegenwart seit einiger Zeit erkannt« werde (S. 789). Als Gewährsmann dient ihr vor anderen Robert M. Cover. Deshalb will ich mich hier zunächst auf dessen Texte einlassen.

Robert M. Cover (1943-1986) hält in den USA Zitierrekorde, ist in Deutschland aber nur Kennern vertraut. Continue reading

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Begriffe, Konzepte, Konzeptionen und »essentially contested concepts«

Hier ein kleiner Baustein für die Allgemeine Rechtslehre [1]Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.: Früher war ein Konzept im Deutschen eigentlich nur der Entwurf (eines Textes). Heute redet man auch in wissenschaftlichen Texten (nach unserem Eindruck zunehmend) von Konzepten und Konzeptionen. Dabei wird nach unserem Sprachgefühl die »Konzeption« – gerade umgekehrt wie im Englischen – eher in weiterem Sinne verwendet.

In den USA unterscheidet man zwischen »concepts« und »conceptions«. Lawrence B. Solum erläutert die Unterscheidung in seinem Legal Theory Lexicon: »Concept« bezeichnet einen relativ allgemeinen Begriff. Das Musterbeispiel ist Gerechtigkeit. Aber man kann auch an Schuld, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Rechtswidrigkeit, Kausalität, Irrtum und viele andere Begriffe denken. »Conception« dagegen ist eine spezielle Theorie über den Inhalt des allgemeinen Begriffs, etwa die Interpretation von Gerechtigkeit als ausgleichende Gerechtigkeit oder als soziale Gerechtigkeit, oder Vorsatztheorie und Schuldtheorie für den Rechtsirrtum im Strafrecht. »Conceptions« sind (umstrittene) inhaltliche Ausfüllungen des allgemeineren Begriffs. Man kann also »concept« mit »Begriff« und »conception« mit »Theorie übersetzen.

Eine besondere Klasse bilden die essentially contested concepts, eine Begriffsschöfung von Walter B. Gallie [2]Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167-198; ders., Philosophy and the Historical Understanding, 1968, 157-191.. Gemeint sind sehr allgemeine Begriffe mit normativem Gehalt, die ein Themenfeld abdecken, deren Inhalt aber notorisch umstritten ist. Beispiele sind Demokratie und Rechtsstaat, Gleichheit. Wir werden diese Begriffsbildung für die Einordnung des notorisch umstrittenen Rechtsbegriffs nutzen.

Nachtrag vom 15. 10. 2016: Ein »Handout zum Jugendhilfetag Frankfurt (Oder) 2010« zeigt ein anderes Verständnis der Begriffe, wie es in der (Sozial-) Politik gebräuchlich ist: Ein Konzept ist danach ein »theoretisch wie empirisch gut begründeter Handlungsplan«. Die Konzeption dagegen ist einerseits » ein fließender Prozess. Sie umfasst die gesamte konzeptionelle Arbeitsphase – im Gegensatz zur Organisations- oder zur Realisierungsphase.« Andererseits versteht man unter Konzeption die alles prägende Leitidee eines Plans. Beispielsweise bemängeln die Kommentatoren der einschlägigen Medien gern, dass in der Gesundheitsreform keinerlei Konzeption stecke.« [3]Als Quelle wird auf einen Blogeintrag auf Konzeptionerblog von 2006/2007 verwiesen. Den Eintrag finde ich nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.
2 Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56, 1956, 167-198; ders., Philosophy and the Historical Understanding, 1968, 157-191.
3 Als Quelle wird auf einen Blogeintrag auf Konzeptionerblog von 2006/2007 verwiesen. Den Eintrag finde ich nicht.

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Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen? Prolegomena zur Lektüre der »Kritik der Rechte« von Christoph Menke

Die Postmoderne mit ihrem Gewaltgeraune ist eigentlich schon passé. Doch es erscheinen immer wieder neue Texte, die sich mit der Gewalt des Rechts und dem Recht der Gewalt befassen.

Einige Trivialitäten vorab:
1. Der Gewaltbegriff ist so vielfältig, dass man am besten immer dazu sagt, welche Art der Gewalt gemeint ist, physische Gewalt, strukturelle Gewalt (Galtung) oder symbolische Gewalt (Bourdieu). Man kann die Gewalt auch qualifizieren etwa als Staatsgewalt, Polizeigewalt, elterliche Gewalt usw. usw.
2. Mit dem Recht verbindet sich die Vorstellung der physischen (Gewalt) als letztem Sanktions- und Durchsetzungsmittel, mit staatlichem Recht auch die Vorstellung des Gewaltmonopols.
3. Eine Funktion des Rechts besteht darin, physische Gewalt auszuschließen und unkörperliche Gewalt zu begrenzen. Dazu ist freilich die Drohung mit Gewalt und gelegentlich ihr Einsatz erforderlich.
4. Nicht ganz selten ist das sich gewaltfeindlich gebende Recht selbst erst durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen.
5. Das Strafrecht kennt den Unterschied zwischen vis absoluta und vis compulsiva. Aber damit sind die Probleme nicht gelöst. [1]Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.

Die englische und die französische Sprache unterscheiden zwischen force und violence. In beiden Sprachen ist violence eher die körperliche Gewalt. Dennoch sprach Galrung von structural violence und Bourdieu von violence symbolique, wiewohl doch beidegerade eine unkörperliche Gewalt im Blick hatten. Es handelt sich um eine sicher beabsichtigte contradictio in adjectu. Diese rhetorisch immer mitgeführte contradictio bringt den ganzen Gewaltdiskurs zum Schillern. Im Hintergrund steht immer die körperliche Gewalt. Sie macht den Gewaltbegriff zu einem Faszinosum oder gar Mysterium. Thematisiert werden Mythos und Tragödie. Allenfalls noch die Todesstrafe. Bei der Beantwortung konkreter und aktueller Fragen, der Frage etwa, welche und wieviel Gewalt an der Grenze zulässig sein soll, hilft das alles wenig.

Der kanonische Text zu dem schwierigen Verhältnis von Recht und Gewalt stammt von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1920/1921). [2]Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.

Benjamin hat die Stichworte für die weitere Diskussion geliefert. Er hat insbesondere auch die Verknüpfung des Themas mit Mythologie und Theologie vorgedacht. Sein Essay gipfelt in einer Analogisierung von proletarisch-revolutionärer und göttlicher Gewalt. Eine gute Darstellung und Einordnung bietet Raul Zelik in seinem Blog. [3]Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.

Die postmoderne amerikanische Diskussion ist vom Mysterium der Gewalt des Rechts fasziniert, ohne dass sie über Benjamin weit hinausgekommen wäre. In der Einleitung zu ihrem Sammelband »Law’s Violence« [4]Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995. schreiben Sarat und Kearns:

»The essays collected in Law’s Violence explore that mystery. Each recognizes that violence, as a fact and a metaphor, is integral to the constitution of modern law, and that law is a creature of both literal violence, and of imaginings and threats of force, disorder, and pain. Each acknowledges that in the absence of such imaginings and threats there is no law, and that modern law is built on representations of aggression and disruption. Law is, in this sense, an extended meditation on a metaphor.«

Auch in Deutschland wurde Robert M. Covers Essay »Violence and the Word« [5]Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992. viel beachtet. Covers Text beginnt dramatisch:

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. This is true in several senses. Legal interpretive acts signal and occasion the imposition of violence upon others: A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur. When interpreters have finished their work, they frequently leave behind victims whose lives have been torn apart by these organized, social practices of violence.«

Auch wenn Cover sich nach Umwegen über Folter und Märtyrertum mäßigt (S. 1601),

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

so bleibt doch eine existentialistische Verkopplung von Recht und Gewalt. Sie führt dazu, Rechtsanwendung schlechthin für »gewalttätig« zu halten:

»Legal interpretation is (1) a practical activity, (2) designed to generate credible threats and actual deeds of violence, (3) in an effective way.«

Die Sache wird auch dadurch nicht besser, dass Cover sich auf Milgram beruft, um die institutionalisierte Richterrolle als genuin gewalttätig zu charakterisieren. Das geht so weit, dass Cover an anderer Stelle [6]Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68. Richter schon deshalb als gewaltätig ansieht, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen zurückweisen:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office. Confronting the luxuriant growth of a hundred legal traditions, they assert that this one is law and destroy or try to destroy the rest.« (S. 53)

Dieser pathetische Text wird gerne von Anhängern eines normativen Rechtspluralismus zitiert, denn hinter den »hundred legal traditions« verbergen sich deren Schützlinge.

Im Mittelpunkt von Derridas »Force de Loi« [7]Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991. steht eine »dekonstruktive« Lektüre von Benjamins »Kritik der Gewalt«. Derrida vermeidet es, im Titel von »Violence de Loi« zu sprechen und sucht nach der Gesetzeskraft als einer force juste ou nonviolente. Freilich kommt hier eine neue Mehrdeutigkeit hinein, wenn violence die Bedeutung ungerechter Gewalt erhält, die dann auch wieder unkörperlich sein kann. Es ist immerhin tröstlich, dass Derrida – eher unerwartet – bei seiner Benjamin-Lektüre die Gerechtigkeit, so fern und unerreichbar sie auch sein mag, gegenüber der Gewalt in Schutz nimmt.

In Deutschland hat Christoph Menke den postmodernen Gewaltdiskurs zunächst in der Teubner-Festschrift [8]Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96. und später in einer Monographie aufgenommen. [9]Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011. Natürlich ist die Gewalt paradox.

»Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt … Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt … Beide Feststellungen stehen im Gegensatz zueinander, aber keine von ihnen kann bestritten werden; beide sind wahr.« (Menke 2009 S. 83)

Da haben wir das Paradox. Es resultiert aus einem merkwürdigen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff. Mit dem gleichen Recht könnte ich sagen: Menke ist paradox, denn Menke schläft und Menke wacht. Menkes Gewalt-Buch habe ich danach nicht mehr gelesen. [10]Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.

Nun ist 2015 von demselben Autor eine »Kritik der Rechte« erschienen. Auch dieses Buch hatte einen Vorläufer. In der Zeitschrift für Rechtssoziologie erschien 2008 der Aufsatz »Subjektive Rechte: Zur Paradoxie der Form«. Ich habe ihn gelesen, aber nicht verstanden, obwohl ich versucht habe, meine Paradoxien-Allergie vorübergehend zu unterdrücken. [11]Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben … Continue reading Das war schwierig genug, belässt Menke es doch nicht bei den einfachen Paradoxien der Systemtheorie Luhmanns, sondern arbeitet mit einem dreifachen reentry und der »Parodie der Paradoxie«. Ach nein, das war ein Freudscher Schreibfehler. Richtig heißt es natürlich »Paradoxie der Paradoxie«.

Das eigene Unverständnis zu begründen ist so schwierig wie die Begründung der offensichtlichen Unbegründetheit. Da hilft nur Evidenz, wie sie allein ein Zitat herstellen kann.

»Die Systemtheorie rekonstruiert die paradoxe Struktur des selbstreflexiven Rechts: Die Paradoxie des reflexiven Rechts besteht darin, dass es sich in sich auf sein Anderes bezieht, dass es sich selbst in seinem Unterschied reflektiert. Die Systemtheorie verkennt aber (oder: nimmt nicht ernst genug), dass die Paradoxie hier nicht nur in der logischen Struktur besteht: dass das Recht sich selbst auf sein Anderes bezieht. Der Selbstbezug des Rechts aufs Andere hat nicht nur eine paradoxe Struktur, sondern deshalb auch einen paradoxen Status, eine paradoxe Existenz im Recht. Die paradoxiegenerierende Selbstreflexion des Rechts ist im Recht ebenso anwesend, nämlich: ausgedrückt in der Form des subjektiven Rechts, wie abwesend, nämlich: verstellt durch die Form des subjektiven Rechts. Die Wirklichkeit, die Seinsweise des Paradoxes ist selbst paradox: fort und da, da und fort. Der dekonstruktive Schritt über die Systemtheorie hinaus besteht darin, die Paradoxie der Paradoxie zu denken.« (2008 S. 101)

Ich bewundere diesen Text wie die Kontorsionen eines Schlangenmenschen.

Das Buch wollte ich danach eigentlich nicht mehr anfassen. Aber hat es so viele positive Rezensionen [12]Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, … Continue reading erhalten, dass ich es doch zur Hand genommen habe. Ich habe zunächst von hinten zu lesen begonnen. Die letzten fünf Seiten (403-407) stehen unter der Überschrift »Recht und Gewalt« (und sie ersparen vielleicht die Lektüre des gleichnamigen Buches).

»Das Recht hat keine Macht über seine Gewalt. Darin liegt die eigentliche Gewalt – die Gewalt der Gewalt – des Rechts: Die Gewalt der rechtlichen Gewalt ist ihre Unbegrenzbarkeit und Unkontrollierbarkeit.« (S. 403)

Anscheinend kennt der Autor ein »neues Recht«, mit dem alles besser wird. So jedenfalls endet das Buch auf S. 406f:

»Das neue Recht gibt daher das bürgerliche Programm auf gegen die Gewalt – die Gewalt überhaupt – zu sichern. Aber gerade indem das neue Recht die Gewalt der Veränderung übt, bricht es den (›mythischen‹) Wiederholungszwang, dem alle Rechtsgewalt bisher unterliegt. Denn als verändernde dankt die Gewalt, jedes Mal wieder, mit dem Erreichen ihres Ziels ab. Das neue Recht ist daher das Recht, dessen Gewalt darin besteht, sich aufzulösen: die Gewalt, die mit ihrer Ausübung ›sofort […] beginnen wird abzusterben.‹ [13]Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt. Die Gewalt des neuen Rechts ist die Gewalt der Befreiung.«

Da bin ich gespannt, ob das mehr ist als postmodernes Gewaltgeraune. Vielleicht berichte ich darüber. Vielleicht auch nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Zum Bedeutungswandel des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Dietrich Busse in: ders. (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, 259-275.
2 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204.
3 Raul Zelik, Wie revolutionär ist die Revolution? Zu Walter Benjamins »Kritik der Gewalt«, Juni 2014.
4 Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995.
5 Yale Law Journal 95, 1985-86, 1601-1629, wieder abgedruckt in dem Band von Martha Minow/Michael Ryan/Austin Sarat (Hg.), Narrative, Violence, and the Law, The Essays of Robert Cover, Ann Arbor 1992.
6 Robert M. Cover, Nomos and Narrative, The Supreme Court, 1982 Term – Foreword, Harvard Law Review 97, 1983-84, 4-68.
7 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991.
8 Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96.
9 Christoph Menke, Recht und Gewalt, Köln 2011.
10 Eine ausführliche Rezension von Hendrik Wallat in der »Roten Ruhr Uni«.
11 Auf der Suche nach Verständnishilfe habe ich mit Hilfe von Google Scholar einige Zitationen nachgeschlagen. Aber selbst die üblichen Verdächtigen, die den Aufsatz eigentlich verstanden haben sollten, begnügen sich mit Sympathiebekundungen.
12 Hannah Bethge vom 27. 1. 2016 in Deutschlandradio Kultur; Marietta Auer, FAZ vom 27. 1. 2016 S. 10 »Sittlichkeit ist halt perdu«; Christoph Fleischmann, WDR 3 vom 6. 11. 2015; Annette Wilmes, Gedanken zu einer neuen Revolution, Deutschlandfunk vom 21.12.2015; Christoph Möllers, Süddeutsche Zeitung vom 22. 12. 2015.
13 Dieses Binnenzitat wird in einer Endnote auf Lenin zurückgeführt.

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Paradoxien – Absinth der Rechtstheorie, neu angeboten von Philipp Sahm

In der interessanten Schweizer E-Zeitschrift Ancilla Juris ist soeben ein Artikel von Philipp Sahm mit dem Titel »Paradoxophilia« erschienen. [1]Philipp Sahm, Paradoxophilia, Ancilla Iuris 2015, 99-124. Darin versucht der Autor, offenbar ein Schüler Teubners, die Figur der Paradoxie für die Rechtstheorie zu retten. Dazu holt er sie zwar eine Stufe aus der Sphäre des Übersinnlichen herunter. Er besteht indessen darauf, dass sich letztlich alle Rechtsprobleme, für die zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten zu entscheiden ist, als Paradoxie darstellen lassen.

Sahm ist überzeugt,

»that by sharpening one’s analytical weapons, it is possible to establish a connection between law and paradoxes and speak about them without falling victim to obscurantism or poltergeists.« (S. 1)

Er will zeigen, dass das Rechtsentscheidungen und Paradoxien strukturell analoge Probleme aufweisen, und meint darüber hinaus, Recht sei im Sinne des Gödel-Theorems notwendig unvollständig.

Der Artikel ist gekonnt strukturiert und elegant geschrieben. Er verwertet viel Literatur, darunter manches, was ich nicht kannte. Dennoch: Sahm verkauft Absinth.

Jean Clam hat die (rhetorisch gemeinte) Frage gestellt, »ob nicht das ganze Gerede vom Paradox nichts anderes [sei], als eine hyperbolische Rhetorik von Legitimation suchenden Theorien«. [2]Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, Zeitschrift für Rechtsoziologie 21,2000, 109-143, S. 114. Die Antwort fällt natürlich negativ aus, wenn man sich einen neuen Paradoxiebegriff zurechtbastelt:

»Die wichtigste Einsicht darin, was ein Paradox ist, gründet in der Abwehr der Vorstellung, das Paradox sei ein (logischer) Widerspruch, eine endgültige Hemmung der Denkbewegung, das denkerische Zeugnis der Realunmöglichkeit von etwas.« (Clam S. 133.)

Aber wenn ein Paradox kein Paradox ist, ist es kein Paradox. So bastelt sich auch Sahm Schein-Paradoxien, indem er gängige Entscheidungsprobleme mit hochprozentigem Paradoxietalk übergießt. Das macht zunächst einen hübschen Louche-Effekt und später ist man betrunken. Wenn man am Ende wieder aufwacht, ist nicht ein einziges Problem gelöst oder auch nur klarer zu sehen, dass man nicht mit den alten Begrifflichkeiten von Dezision und Werturteil längst im Blick hatte. Die Kritik an der Luhmann-Teubnerschen Paradoxologie, die Sahm in einer früheren Arbeit jedenfalls in einer Fußnote noch erwähnt hatte, [3]Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2013, http://ssrn.com/abstract=2284145, S. 8 Fn. 53. wird nunmehr schlicht ignoriert. [4]Meine eigene Kritik der Juristenparadoxologie habe ich in § 12 und 12 der Allgemeinen Rechtslehre (3. Aufl. 2008) S. 102-108 und früher schon in der FS Blankenburg (1998) zu Papier gebracht.

Die Vergleichbarkeit von Paradoxien und Entscheidungssituationen soll sich daraus ergeben, dass in beiden Fällen eine Überfülle von Antwortmöglichkeiten gegeben ist. Beispielhaft werden das Lügner-Paradox und das Sorites-Paradox genannt. Paradoxien seien unentscheidbar, denn »paradoxes provide us with too many good answers«. Das ist aber nur für Rechtsentscheidungen zutreffend. Da gibt es in der Tat (oft) mehrere »vertretbare« Antworten. Und nur das zeigen die angeführten Beispiele aus der Rechtsprechung. Für Paradoxien dagegen gibt es nicht mehrere vertretbare Antworten, sondern entweder handelt es sich schlicht um Nonsens oder sie lassen sich analytisch auflösen. Das Sorites-Paradox ist ein bloßer Sophismus, denn die Haufeneigenschaft ist unabhängig von der Körnerzahl eine Frage der Gestalt; man kann auch sagen, eine gegenüber der Menge der Körner emergente Eigenschaft. [5]Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34. Das Paradox des lügenden Epimenides ist als semantische Antinomie gleichfalls nur ein Pseudoparadox, weil es sprachliche Mehrdeutigkeit ausbeutet. [6]Ebd. S. 94ff. Bleibt die Mehrdeutigkeit verborgen, ergibt sich das irritierende Phänomen der Unentscheidbarkeit: Wenn wir annehmen, es sei wahr, dass der lügende Kreter lügt, so ist der Satz falsch. Lügt er aber, so ist der Satz richtig. Die Antinomie »oszilliert« zwischen den beiden Wahrheitswerten. Wird die Mehrdeutigkeit aber aufgedeckt, so zeigt sich, dass ein Nonsens-Satz vorliegt. Das wird klar, wenn wir den Satz des Epimenides

Ich lüge jetzt.

umformen in den ausführlicheren Ausdruck

Ich sage jetzt einen falschen Satz.

Wenn ohne Einschränkung von einem »Satz« die Rede ist, ist gewöhnlich ein wahrer Satz gemeint. Für »Satz« können wir deshalb »wahrer Satz« einsetzen und erhalten:

Ich sage jetzt einen falschen wahren Satz.

In dieser Form ist der Satz offenbar widersprüchlich. In der verkürzten Fassung der Antinomie ist der Widerspruch jedoch nicht sogleich zu erkennen, weil »Satz« sich auch auf den Satz im grammatischen Sinne beziehen kann, und tatsächlich wird hier ja ein grammatisch korrekter Satz geäußert.

Ein interessanter Effekt ergibt sich, wenn wir den Wahrheitswert vertauschen.

Ich sage jetzt einen wahren Satz.

Ersetzen wir erneut »Satz« durch »wahren Satz«, so ergibt sich:

Ich sage jetzt einen wahren wahren Satz.

Der Satz ist also tautologisch. Paradoxien und Tautologien sind demnach miteinander verwandt. Beide ergeben sich aus der Vermischung von Objektsprache und Metasprache. Ob das eine oder das andere entsteht, hängt davon ab, ob in einem selbstbezüglichen Satz gleiche oder unterschiedliche Wahrheitswerte zusammentreffen.

Sahm bemüht sich zwar, die gängigen »Lösungen« für die angeführten Paradoxien zu referieren, scheut sich aber, den letzten Schritt zu akzeptieren, dass es sich um Sophismen handelt, für die es eine klare analytische Lösung gibt. Vielmehr werde zur Gewinnung einer Antwort stets eine neue Unterscheidung eingeführt. Damit bleibt Sahm, auch wenn der Ausdruck nicht fällt, bei der unter Paradoxologen so beliebten Paradoxieentfaltung, die Paradoxien als solche ontologisiert.

»Paradoxes and legal decision-making situations are equal in terms of their resolvability.« (Sahm S. 105)

Das wäre schlimm, wenn es so wäre. Rechtsprobleme sind keine Sophismen. Es gibt daher allerdings leider auch keine analytischen Lösungen.

»Furthermore, paradoxes and legal decision-making situations are equal in terms of their role as epistemic motors.« (Sahm S. 110)

Nun ja, es mag sein, dass Paradoxien und juristische Entscheidungsprobleme beide zum Nachdenken anregen. Es ist ja auch richtig, dass die in der Literatur gehandelten Paradoxie-Beispiele von unterschiedlicher Schwierigkeit sind und dass im Laufe der Zeit neue Lösungsvorschläge hinzugekommen sind, wie im Falle von Zenos Paradox von Achilles und der Schildkröte, wo sogar Sahm akzeptiert, dass das Paradox heute leicht zu lösen ist. Das hilft aber in der Sache wenig.

»Consequently, legal decision-making situations are paradoxical in the sense that they pose the same problem as paradoxes.« (Sahm S. 119)

Nein, sie stellen ganz andere Probleme, denn die Paradoxien, von denen hier die Rede war, sind logische Kunstfiguren ohne Entsprechungen in der realen Welt. Dort gibt es nur Rückkopplungen, Rekursivität oder Reflexivität, und die sind keineswegs paradox. Paradoxien sind hilfreich, weder um ein neues Licht auf die Offenheit juristischer Entscheidungen zu werfen noch um neue Lösungen zu finden. Vielleicht könnte die Beschäftigung mit Paradoxien das von Wittgenstein formulierte Problem des Regelfolgens oder vielmehr Kripkes Version dieses Problems als Scheinproblem entlarven. Aber Sahm meint eher im Gegenteil, Paradoxologie sei hilfreich, um die Differenz von Norm und Entscheidung aufzudecken. Da fallen die Paradoxien in eine offene Tür, wo sie wohl keinen Schaden mehr anrichten.

»Thus, law seems to be necessarily incomplete and always in need of and open to external completion in order to be applied. One could even consider this as a translation of the Gödelian incompleteness theorem from formal systems into legal systems. The paradoxicality shows the inherent limitations of law and explains why a self-contained and self-sufficient legal system is not possible.« (Sahm S. 120f.)

Die Berufung auf Gödel erinnert an Luhmanns missglückten Rückgriff auf den »Wiedereintritt der Form in die Form« von George Spencr Brown. [7]Dazu Allg. Rechtslehre S. 102ff. Wer sich eingehender mit den Laws of Form von George Spencer Brown beschäftigen will, kann folgendes Buch zu Rate ziehen: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas … Continue reading Wieso Gödel hier helfen kann, hat Sahm nicht weiter ausgeführt. So bleibt von Gödels Unvollständigkeitssatz nicht mehr als eine Metapher. Es ist deshalb wohl nicht ganz abwegig, an die Kritik von Sokal und Bricmont an der Verwendung von scientific metaphors im Postmodernismus zu erinnern, die besonders auch das Gödel-Theorem im Blick hat. [8]Alan D. Sokal/Jan Bricmont, Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals‘ Abuse of Science, New York 1998 Zusätzich irritiert, dass hier – wie so oft im Zusammenhang mit Paradoxien – sprachliche Mehrdeutigkeit ins Spiel kommt. Die »Entscheidungsoffenheit« des Rechts wird als Gegensatz zu self-containedness und self-sufficiency begriffen. Die letzteren Ausdrücke bezeichnen, zumal in einem Atemzug mit external completion, wohl eher Autonomie. Entscheidungsoffenheit des Rechts und Autonomie sind aber, jedenfalls nach meinem bisherigen Verständnis, keine Gegensätze.

Mit seiner letzten These gleitet Sahm wieder in die übliche Paradoxologie ab. Die These besagt nämlich, dass die juristische Methode als Paradoxie-Management zu verstehen sei. Da ist es wieder: Paradoxien werden nicht ausgeräumt, sondern sie werden gepflegt, gebügelt, ge- oder entfaltet, kurz, sie werden gemanagt.

Was Sahm höchst kunstvoll als Paradoxie widersprüchlicher Entscheidungsmöglichkeiten vorführt, ist nichts anderes, als das alte Werturteilsproblem in wenig nutzerfreundlicher Verpackung. Wenn man dagegen juristische Entscheidungen als Werturteile einordnet, ist das zwar nur die Benennung eines theoretisch letztlich ungeklärten Vorgangs. Trotzdem gewinnt man damit etwas, nämlich erstens vom Standpunkt der beobachtenden Rechtstheorie die Möglichkeit der Anknüpfung an eine lange (nicht nur) rechtsphilosophische Tradition, zweitens vom Standpunkt der entscheidenden Juristen die Möglichkeit die Möglichkeit zur Einbindung in einen größeren Argumentationszusammenhang und drittens vom Standpunkt sog. Stakeholder die Möglichkeit der Zurechnung der Entscheidung auf bestimmte Personen oder Gruppen mit der Folge, dass die Entscheider Verantwortung übernehmen und alle anderen Kritik üben können.

Die Paradoxologen haben sich eine eigene Sinnwelt aufgebaut, die als Diskurs im Foucaultschen Sinne funktioniert. Wer paradoxologisiert, gehört dazu, und wer dazu gehört, wird gehört. Lese ich doch eben bei Vesting [9]Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 191. ein Ladeur-Zitat [10]Karl-Heinz-Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 225. Ich habe das Zitat und seinen Kontext nicht nachgeprüft., dass die Funktion des Lehrers an öffentlichen Schulen kennzeichnen soll: » ›Vermittler einer symbolischen Ordnung‹ zu sein, ›die Individualität erst auf eine paradoxe Weise durch den Zugang zu einem in der Kultur eingelagerten kollektiven Gedächtnis eröffnen kann.‹ « In die Alltagssprache übersetzt, handelt es sich um eine blanke Trivialität: Der Lehrer öffnet seinen Schülern den Zugang zur Kultur. Kultur ist etwas Überindividuelles. An der Kultur können Schüler ihre (individuelle) Persönlichkeit entwickeln. Die Paradoxie ist in diesem Zusammenhang ebenso überflüssig wie die symbolische Ordnung und das kollektive Gedächtnis. Aber durch die Verwendung solcher hochgestelzten Vokabeln erhalten Texte jene Weihe, die sie für eine Jüngerschar attraktiv macht.

Aus dieser Sinnwelt kann auch Sahm sich nicht befreien. Dennoch ist sein Versuch einer Para-Paradoxologie ein gewisser Fortschritt. Immerhin verzichtet er darauf, das Recht auf den Selbstwiderspruch des radikalen Konstruktivismus festzulegen und Luhmanns berüchtigte Paradoxie des Entscheidens auch nur zu erwähnen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Philipp Sahm, Paradoxophilia, Ancilla Iuris 2015, 99-124.
2 Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, Zeitschrift für Rechtsoziologie 21,2000, 109-143, S. 114.
3 Die Methodenlehre der soziologischen Jurisprudenz Gunther Teubners als eine Methodik der Generalklauseln, 2013, http://ssrn.com/abstract=2284145, S. 8 Fn. 53.
4 Meine eigene Kritik der Juristenparadoxologie habe ich in § 12 und 12 der Allgemeinen Rechtslehre (3. Aufl. 2008) S. 102-108 und früher schon in der FS Blankenburg (1998) zu Papier gebracht.
5 Röhl/Röhl, Allg. Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 34.
6 Ebd. S. 94ff.
7 Dazu Allg. Rechtslehre S. 102ff. Wer sich eingehender mit den Laws of Form von George Spencer Brown beschäftigen will, kann folgendes Buch zu Rate ziehen: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas Hölscher, George Spencer Brown, Eine Einführung in die »Laws of Form«, 2004. Von S. 245 bis 256 befasst sich Thomas Hölscher mit der Rezeption der Law of Forms durch Niklas Luhmann mit dem Ergebnis, dass Luhmann wohl doch Spencer Brown nicht ganz richtig interpretiert habe. Im Internet (GoogleBooks) verfügbar: Louis H. Kauffmann, Das Prinzip der Unterscheidung. Über George Spencer-Browns »Laws of Form« (1969), in: Dirk Baecker (Hg.), Schlüsselwerke der Systemtheorie, 2005, 173-190.
8 Alan D. Sokal/Jan Bricmont, Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals‘ Abuse of Science, New York 1998
9 Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, S. 191.
10 Karl-Heinz-Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 225. Ich habe das Zitat und seinen Kontext nicht nachgeprüft.

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Das Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«

Der letzte Einrag zu casus und regula schloss mit Frage nach der verbindlichen Kraft von Juristenrecht in Rom.

Ähnlich wie heute in Deutschland hatten Urteile in Rom keine präjudizielle Wirkung. [1]Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, … Continue reading. Aber das folgte eigentlich schon daraus, dass die Richter Laien waren und die rechtliche Beurteilung ihrer Fälle aus den Responsen und Consilien der Juristen bezogen. Letzlich war es die Autorität der Juristen, die ihren Entscheidungsvorschlägen Kraft verlieh. Diese Autorität bezogen sie aber aus ihrer Kennerschaft der Vorentscheidungen. Aus solcher Kennerschaft folgte eine gleichförmige und sichere Übung mit der Konsequenz, das »das Recht als solches weitgehend den Charakter allgemeiner Rechtssätze« [2]Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21. gewann. Anders sieht es Kaser, wenn er schreibt (S. 54f), zwar hätten die »römischen Juristen zum Zweck vereinfachter Darstellung aus vielfacher übereinstimmender Fallpraxis nicht selten gegenständlich meist eng begrenzte Regelsätze« gebildet. Doch diese Regeln hätten nur die Ergebnisse der Fallpraxis zusammengefasst, das heißt also sie hätten keine normative Geltung gehabt. Nun fällt es wohl leichter, im (neuen) Einzelfall von einer bloß induktiv aus (alten) Einzelfällen gewonnenen Regel abzuweichen, als von einem abstrakt verkündeten Gesetz, das mit dem Anspruch auf Befolgung daher kommt. Aber die faktische Folgebereitschaft ist mehr als ein Faktum. Modern gesprochen hört sie auf den Namen Rechtsprechungspositivismus. [3]Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: … Continue reading Auf Rom bezogen müsste sie Juristenpositivismus heißen.

Dem scheint das Paulus-Zitat im Wege zu stehen. Man kann versuchen, die übliche Lesart und damit das (römische) Regelproblem wegzuinterpretieren. Eine grober Versuch würde das Zitat für in sich unstimmig erklären, weil rerum narratio und causae coniectio sich auf die Sachlage beziehen und nicht auf die Rechtslage. Feiner hat es Richard Böhr versucht. [4]Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff. Er meint, ius und regula seien auch für Paulus keine Gegensätze gewesen, die regula vielmehr Bestandteil des ius. Deshalb gebe die Paulus-Stelle nichts dafür her, dass juristische Urteile nur induktiv aus der Beurteilung von Fällen gewonnen worden seien. Die Römer hätten praktisch zwei Wege gekannt, um regulae iuris zu gewinnen, nämlich induktiv aus mehreren Entscheidungen und durch Verallgemeinerung besonders überzeugender Einzelfallentscheidungen. Ohne solche Abstraktionen zur Regel könne man sich die Juristenarbeit nicht vorstellen.

Okko Behrends tritt auch hier wieder mit einer prägnanten These hervor: Die Lesart, die den Vorrang des Rechts vor der Regel betont, beruhe auf einer »romantisierenden Heroisierung« der klassischen römischen Jurisprudenz durch die Freirechtsschule, auf die die moderne Romanistik, insbesondere in der Person von Max Kaser, hereingefallen sei. [5]Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50. Zuvor habe man den Satz des Sabinus so verstanden, »daß eine einzelne Rechtsregel immer nur als Ausdruck des gesamten in Betracht kommenden Rechts gilt und daher, wo immer nötig, aus dem gesamten Recht zu korrigieren sei.« [6]Ebd. S. 49.

»Durch den Kunstgriff, das ›ius quod est‹ nicht mehr als die Gesamtheit der in Betracht kommenden Normen der Rechtsordnung, also als vorweg festliegendes Recht im allgemeinen Sinne zu verstehen, sondern auf das Recht des Einzelfalls, auf das Recht der entschiedenen Einzelfälle oder noch konsequenter auf das im Lebensverhältnis des zur Entscheidung stehenden Einzelfalls wirkende Recht zu beziehen, wurde dieser Ausspruch mit großer bis heute andauernder Wirkung zum Programmsatz einer als vorbildlich angesehenen induktiven, nur aus der Erfahrung schöpfenden, und intuitiven, den Umweg über abstrakte Begriffe verschmähenden Rechtsfindung, wie sie das Freirecht den Römern, dem klassischen Juristenvolk, beimaß.« (S. 49f.)

In der Tat scheint der von Paulus angeführte Satz des Sabinus zum Motto der Freirechtsschule geworden zu sein. Lombardi Vallauri meint:

»Wohl das beliebteste Zitat der Freirechtler ist der Spruch des Paulus: non ex regula jus sumatur, sed ex jure quod es regula fiat.« [7]Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.

Lombardi Valluri gibt dazu keine Nachweise, und ich habe nicht weiter nachgeforscht. Okko Behrends verweist auf Eugen Ehrlich und zitiert in Fußnote 46 auf S. 49 aus »Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft«:

»Es beruhen nicht die Entscheidungen auf den Rechtsregeln, sondern die Rechtsregeln werden aus Entscheidungen gezogen. Das Recht, auf dem die Entscheidungen beruhen, ist das ius quod est.« [8]Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur … Continue reading.

Aber wenn Ehrlich sich hier auf Paulus/Sabinus bezieht, so kaum, um daraus unmittelbar eine Rechtfertigung für die freie Rechtsfindung abzuleiten. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ehrlich war ganz und gar nicht der Auffassung, die römischen Juristen hätten den Umweg zur Rechtsfindung über abstrakte Begriffe und Regeln verschmäht. Vielmehr betont er 1903 – und ebenso zehn Jahre später in dem Kapitel über »Die römische Jurisprudenz« in seiner »Grundlegung der Soziologie des Rechts« von 1913 (dort S. 197-217), dass die außerordentliche Leistung der Römer darin bestanden habe, aus vielen Einzelfallentscheidungen zu allgemeinen Regeln vorzustoßen. Mir scheint, dass Behrends die Differenz zwischen dem »lebenden Recht« und den »Entscheidungsnormen«, die den Kern der Rechtssoziologie Ehrlichs ausmachen, vernachlässigt hat. Bei der Suche nach der regula im römischen Recht geht es um die von Ehrlich so genannten Entscheidungsnormen, und Ehrlich bewundert die römischen Juristen gerade dafür, dass sie das lebende Recht so trefflich in Entscheidungsnormen umgesetzt haben. Und nebenbei erfährt man von Ehrlich beinahe noch mehr über die Regelbildung bei den Römern als in den bisher von mir herangezogenen Texten:

» … auf welchem Wege die Ansichten der Juristen zu einem Bestandteil des vor Gericht verbindlichen Rechts, des ius civile, wurden, … lehrt wohl ein Blick auf die uns erhaltene juristische Literatur. Der Jurist führt seine Ansicht meist sehr bescheiden ein: et puto, magis arbitror, sed magis sentio, aequius est, magis est; nur sehr selten kommen so kräftige Wendungen vor wie existimo constituendum. Daran knüpft die disputatio an, nicht mehr auf dem Forum, sondern in der Literatur: et magis placuit, sed magis visum est, et magis putat Pomponius … et ego puto, secundum Scaevolae sententiam quam puto veram, et magis admittit (Marcellus) tenere eum, et est aequissimum, oder auch mit einer Ablehnung: quae sententia vera non est et a multis notata est, nec utimur Servii sententia; bis sich schließlich die Regel festsetzt: maiores constituerunt, Cassii sententia utimur, Labeo scribit eoque jure utimur, et hoc et Julianus admittit eoque iure utimur, haec Quintus Mucius refert et vera sunt, abolita est enim quorundam veterum sententia. Erst wenn man von einer Regel, die von einem Juristen angesprochen wird, sagen konnte: eoque iure utimur hat sie sich endgültig durchgekämpft.« [9]Grundlegung S. 214f.

Nur auf einem höchst modern anmutenden Umweg rechtfertigt Ehrlich die »freie Rechtsfindung«, nämlich weil die zunächst bei den Römern anzutreffende und mit der Rezeption in die Neuzeit übernommene Idee der Lückenlosigkeit »nie etwas anderes gewesen [sei] als ein Scheingebilde der juristischen Technik« [10]1903 S. 6 = 1967 S. 176.

Ich glaube eher, dass die Paulus-Stelle so gemeint war, wie sie üblicherweise verstanden wird. Dann schließt sich aber die Frage an, ob es sich dabei nur um die affirmative Wiedergabe der Meinung des Sabinus handelt oder ob der Sabinus zugeschriebene Satz die römische Rechtspraxis zutreffend wiedergibt. Der Eindruck, das römische Recht sei reines Fallrecht, geprägt von Judiz oder Urteilskraft, geschaffen aus Intuition oder kraft natürlicher Vernunft (naturaliter ratione) in Verbindung mit der auctoritas der Juristen mag dadurch entstanden sein, dass die meisten überlieferten Fallbeurteilungen nicht mit Gründen versehen sind. Horak hat jedoch gezeigt, dass dieser Eindruck trügt. Tatsächlich haben die Römer so viele Begründungen geliefert, dass er sagen kann:

»Nicht arational und autoritär, wie Schulz glauben machen will, sondern sowohl rational als auch autoritär müssen wir uns die römische Jurisprudenz denken. Sie wird sich darin von unserer heutigen Jurisprudenz nicht allzusehr unterschieden haben, in der oft genug neben den Gründen das Ansehen eines Autors eine entscheidende Rolle spielt.« (S. 75f)

Danach scheint mir, dass man die Sache zwar nicht an der Vokabel regula festmachen darf, dass es aber in der Tat unvorstellbar ist, dass die römischen Juristen keine aus Erfahrung und Überlegung gebildeten Regeln im Kopf gehabt hätten.

Von der römischen unterscheidet sich die moderne Diskussion dadurch, dass meistens einschlägige ausformulierte Normen vorhanden sind. Das hat zur Folge, dass man sich (nur noch) darüber streitet, ob überhaupt vorgängige Regeln möglich sind, denen sich durch Subsumtion eine Entscheidung entnehmen lässt (lex ante casum), oder ob das, was als Rechtsanwendung erscheint, letztlich produktive Rechtserzeugung ist (lex in casu). [11]Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«. Sehr groß ist der Fortschritt nicht. Um es mit dem Schlusswort von Horaks »Rationes Decidendi« zu sagen:

»Wenn die kleine Stichprobe indes nicht sehr trügt, dann zeigt sich, daß seit den Tagen der ausgehenden römischen Republik die Jurisprudenz zwar an Selbsterkenntnis und Selbstkritik ihren Methoden gegenüber sehr viel weiter gekommen ist, daß aber die juristische Praxis und zum Teil auch die Rechtslehre nicht wesentlich anders arbeiten, als es die römischen Juristen getan haben. Es ist zu bezweifeln, ob angesichts der unvermeidlichen Wertungen, ohne die die Jurisprudenz nicht zu existieren vermag, ein höherer Grad an Wissenschaftlichkeit erreicht werden kann. Die römische Jurisprudenz ist groß, weil sie diesen Standard an möglicher Wissenschaftlichkeit schon vor zweitausend Jahren erreicht hat.«

Nach einer langen Periode des Regelskeptizismus darf man heute wohl wieder sagen: Regeln haben Bedeutung und lassen sich anwenden, auch wenn jede Anwendung in irgendeiner, oft minimalen Weise auf die Regel zurückwirkt, indem sie die Regel festigt oder verändert. Nicht alle, aber viele Fälle fordern die Regel heraus, so dass sie im Zuge der Anwendung »übersetzt« wird. [12]Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von … Continue reading So war es auch schon bei den Römern. Das moderne Regelverständnis wird jedoch durch einen Gesichspunkt mitbestimmt, der den Römern noch fremd war. Zentral für Kants Freiheitsphilosophie und Ethik ist die Idee, dass man sich sittliches Handeln immer so vorzustellen hat, dass es einer Regel folgt. In die Jurisprudenz findet diese Vorstellung über den Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit Eingang. Rechtsanwendungsgleichheit setzt die Bereitschaft voraus, auch neuartige Fälle, für die eine Regel fehlt, stets unter dem Gesichtspunkt einer für alle gleichartigen Fälle gültigen Regel zu entscheiden, mag diese Regel auch erst im konkreten Fall zum ersten Mal aufgestellt und als solche nicht einmal ausgesprochen werden. [13]Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).

Luhmann hat sich an der Stelle, die Anlass der Überlegungen zu casus und regula war [14]Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula., dem sabinianischen Standpunkt vom Vorrang des Rechts vor der Regel angeschlossen. Damit folgt er kritiklos der freirechtlichen Okkupation des Paulus/Sabinus-Zitats, nach der die regula nicht mehr ist als ein unverbindlicher Entscheidungsvorschlag, dem kein darüber hinausgehender normativer Wert zukommt.

Dieser Ausgangspunkt ist zu brüchig für Luhmanns weitergehende These, im römischen Rechtsdenken habe die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung keiner sie legitimierenden Rechtsquelle bedurft. [15]Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«. Sie lässt sich schwerlich halten. Zwar gab es in Rom keine abstrakte Rechtsquellenlehre, aber durchaus handfeste Vorstellungen von verbindlichen Rechtsquellen, die sich freilich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. [16]Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und … Continue reading Das zeigt der so genannte Rechtsquellenkatalog des Gaius: Constant autem iura populi Romani ex legibus, plebiscitis, senatus consultis, constitutionibus principum, edictis eorum, qui ius edicendi habent, responsis prudentium. Rechtsquelle im soziologischen Sinne war anfangs vor allem die legitimierende Kraft der Tradition und die Autorität der Juristen, die sich ursprünglich aus dem Priesteramt ableitete. Später kamen Senat, Prätoren und Gerichtsmagistrate hinzu, in der Kaiserzeit dann selbstverständlich der Kaiser und die von ihm abgeleiteten Autoritäten, etwa der Juristen, die das Recht zu respondieren hatten. Und es gab auch innerhalb der Juristen reflektierende Überlegungen zur Rechtfertigung des Rechts. Dazu kursierten etwa Begriffe wie natura und aequitas, consuetudo und auctoritas, mos majorum und ius moribus introductum, voluntas populi oder gar tacitus consensus populi. Ohnehin passt Luhmanns Satz, »daß die Regel selbst als Bedingung für die daraus abzuleitende Entscheidung (k)einer sie legitimierenden Rechtsquelle« bedurft hätte, nicht so ganz zu der von ihm in Fn. 70 auf S. 523 angeführten Paulus-Zitat »non ex regula ius sumatur«. Eine Regel, die es gar nicht gibt, braucht auch keine Legitimation. Doch dann verlagert sich das Legitimationsproblem auf die Entscheider.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Max Kaser, Das Urteil als Rechtsquelle im römischen Recht, in: ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 42-64; Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 72.
2 Wolfgang Waldstein/Johannes Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11. Aufl. 2014, S. 45 Rn. 21.
3 Namensgebung angelehnt an Schlinks »Bundesverfassungsgerichtspositivismus«; vgl. Christoph Schönberger, Bundesverfassungsgerichtspositivismus – Zu einer Erfolgsformel Bernhard Schlinks, in: Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, 2014, 41-49.
4 Das Verbot der eigenmächtigen Besitzumwandlung im römischen Privatrecht, 2002, 47ff.
5 Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs-und Gestaltungsdenken, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im »Dritten Reich«, 1989, 34-80, S. 45-50.
6 Ebd. S. 49.
7 Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1971, S. 106.
8 Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 11 – nicht wie von Behrends angegeben S. 3 –, wieder abgedruckt in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, 1967, S. 170-202, dort S. 180.
9 Grundlegung S. 214f.
10 1903 S. 6 = 1967 S. 176
11 Zu diesem Gegensatz zwischen einer semantischen und einer konstruktivistischen Schule der Methodenlehre der Eintrag vom 6. Marz 2012 »Postmoderne Methodenlehre I«.
12 Zur Universalität der Interpretationsfähigkeit aller Kommunikation vgl. die Einträge Travelling Models VII: »No transportation without transformation« und »Zur Konvergenz von Rezeptionsästhetik und Reader-Response-Theorie«.
13 Darauf baut unsere Darstellung der Methodenlehre (Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 604. 665f).
14 Eintrag vom 20. August 2015: Casus und regula.
15 Das Recht der Gesellschaft S. 523; Zitat am Beginn des Eintrags »Casus und Regula«.
16 Abel Hendy Jones Greenidge, Introduction: Institutes of Roman Law, 1904; Max Kaser, Zur Problematik der römischen Rechtsquellenlehre [1978], wieder abgedruckt in ders., Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986, 9-41.

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