Ästhetische Diskriminierung – heute mit JURIS und Bourdieu

Der Eintrag zur ästhetischen Diskriminierung vom 15. Januar 2017 verlangt nach einer Fortsetzung.

In der fachjuristischen Literatur habe ich nur eine Stellungnahme zum Thema gefunden, nämlich Michael Duchstein, Ästhetische Kriterien in der Personalauswahl, NJW 2013, 3066-3068. Duchstein kommt zu dem Ergebnis, der Arbeitgeber dürfe seine Personalentscheidung auch auf ästhetische Gründe stützen. Lehne er einen Bewerber auf Grund seines Aussehens ab, liege darin zwar ein Element der Abwertung. Aber eine Abwertung sei noch keine verbotene Diskriminierung. Das AGG verbiete es dem Arbeitgeber nicht, einen Bewerber wegen seines Übergewichts abzulehnen. Doris Dörrie hat aus der Problematik schon 2010 einen Film gemacht (»Die Friseuse«). Eine Ablehnung, so Duchstein, sei sogar zulässig, wenn das Aussehen, auf das der Arbeitgeber aus Gründen der Präsentation Wert lege, auf dem Alter des Bewerbers beruhe. Damit hat Duchstein, soweit ich sehe, bei Juristen keinen Widerspruch gefunden. JURIS kennt etwa fünftausend Urteile, in denen die Ausdrücke Ästhetik oder ästhetisch vorkommen, doch nie in Kombination mit dem AGG. Wenn nicht bloß von ästhetischer Chirurgie die Rede ist, sondern nach ästhetischem Empfinden gefragt wird, dann vor allem im Zusammenhang mit dem Denkmalsschutz. Dennoch sollte Duchsteins Äußerung nicht das letzte Wort bleiben. Ästhetische Urteile haben ein so erhebliches Diskriminierungspotential, dass sie nicht generell freigesprochen werden können.

Von Bourdieu[1] haben wir gelernt, dass das ästhetische Urteil zugleich ein Distinktionsurteil darstellt, so dass die ästhetische Diskriminierung letztlich eine soziale bedeutet. Bekanntlich reproduziert sich für Bourdieu die Klassenstruktur der Gesellschaft auch über das kulturelle Kapital.[2] Zu ihm gehört ein bestimmter Habitus, und der wiederum prägt Lebensstil, Kunstgeschmack und ästhetische Kompetenz. Die ästhetische Kompetenz setzt sich zusammen aus der Fähigkeit zur Dekodierung von Kunst mit Hilfe spezifischen Interpretationswissens und aus impliziten Wissensbeständen, die sich aus wiederholten und intensiven Begegnungen mit Kunstwerken ergeben. Ganz gleich, wie sich das relative Gewicht dieser Komponenten bemisst, in jedem Fall glaubt man gerne, dass ihr Erwerb nicht sozial neutral ist. Als Klassentheorie ist Bourdieus Lehre vom sozialen Kapital mit seiner ästhetischen Kompetenz allerdings umstritten. Aber seine Habituslehre genügt, um die diskriminierende Potenz von Geschmacksurteilen plausibel zu machen.

Das Problem spitzt sich damit auf die Frage zu, ob das ästhetische Urteil einen Eigenwert hat, ähnlich wie wissenschaftliche Aussagen, diskurserprobte ethische Urteile oder auch künstlerische Aussagen, die den Schutz nicht nur der Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG), sondern auch der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 III GG) genießen. Wollte man die Frage verneinen, so würde man dreihundert Jahre Ästhetikphilosophie von Baumgarten über Kant und Hegel bis Adorno und Goodman als Geschwätz verwerfen.

Bourdieus »anti-kantianische ›Ästhetik‹ « (1982, S. 81) geht nicht so weit, den Eigenwert ästhetischer Urteile definitiv zu verneinen. Aber sie zeigt zwei Vorstufen reiner ästhetischer Urteile, die, im Habitus verankert, sozial determiniert sind, nämlich Geschmacksurteile, die den Lebensstil bestimmen, und die Ästhetisierung als »Wahrnehmung und Dechiffrierung der eigentlichen Stilmerkmale« (S. 95). Zusammen machen sie den ästhetischen Sinn als Sinn für Distinktion aus.

Die Freiheit des ästhetischen Urteils gilt nicht in gleicher Weise für schlichte Geschmacksurteile, die nicht bis zur Ästhetisierung vordringen. Aber wo liegt die Grenze? Hier kann man tiefer in die Ästhetik-Literatur einsteigen. Aber die Grenze wird unscharf bleiben und kann letztlich nur normativ gezogen werden. Ästhetische Urteile sind nicht den Experten vorbehalten (Wissenschaftlern, Kritikern, Künstlern, Journalisten oder der neuen Zunft der Satiriker). Jedermann, auch Vermieter und Arbeitgeber, dürfen ästhetische Urteile haben und äußern. Eine Einschränkung gibt es eher hinsichtlich der Frage, was Objekt ästhetischer Urteile sein darf. Was den Anspruch erhebt, Kunst zu sein, muss sich selbstverständlich ein ästhetisches Urteil gefallen lassen, und zwar auch in der rohen Form des Geschmacksurteils. Problematisch sind Geschmacksurteile, die sich auf Aussehen und Lebensführung von konkreten Menschen beziehen, solange diese sich nicht selbst einem ästhetischen Urteil stellen wie insbesondere Künstler und Schriftsteller. Solche Urteile können diskriminierend sein. Doch bis zur Grenze der Beleidigung stehen sie unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Daher sind als Auswahlkriterium im Privatrechtsverkehr, soweit das AGG einschlägig ist, sind auch Geschmacksurteile zulässig, soweit sie nicht mittelbar einen der Diskriminierungsgründe des § 1 AGG realisieren.

Nachtrag: Friederike Wapler, Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2015. Das Gutachten zeigt eine bemerkenswerte Form der Argumentation mit rechtstatsächlichen Argumenten, mit der man sich das eigentliche Werturteil erspart. Abstrakt formuliert lautet das Argument: Es gibt in der sozialen Wirklichkeit kein Entweder-Oder, sondern stets Übergänge und Ausnahmen. Daher dürfen auch rechtlich keine Grenzen mehr gezogen werden. Dazu passt der lesenswerte Eintrag Merkel, Oakeshott und die Ehe für alle von Oliver Weber auf seinem Blog.

Nachtrag vom 25. Juli 2018: Zum Thema nunmehr der Sammelband von Lotte Rose/Friedrich Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland. Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung,  2017.

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[1] Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 1982 [La distinction, 1979].

[2] Als Referat und zur Einordnung Hans-Peter Müller, Kultur, Geschmack und Distinktion. Grundzüge der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27/1986 »Kultur und Gesellschaft«, 162-190.

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