Abstraktion und Recht im Kontext

Dies ist die vierte Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.

Law in Context als innerwissenschaftliche Bewegung

Die Anfänge der Rechtssoziologie waren von einem Pathos der Lebensnähe und des Wirklichkeitsbezugs getragen. Interdisziplinarität sollte mittelbar über ein besseres »Verständnis« auf das Recht Einfluss nehmen. Dieses, wenn man so will, hermeneutische Unternehmen mündete in weitreichenden Interdisziplinaritätsforderungen. Die Formel Law in Context führt wieder zum Verständnisansatz zurück:

»›Kontext‹ ist der zentrale Brückenbegriff des Denkens über ›Verfassung‹ zu anderen Kulturwissenschaften hin, insbesondere zu Philosophie und Ethik, Religion und Pädagogik, aber auch zu Politikwissenschaften, Ökonomie und Ökologie, so fragmentarisch der Brückenschlag bleibt. Kontext meint: ›Verständnis durch Hinzudenken‹.«[1]

In den 1980er Jahren wuchs unter dem Titel »Law in Context« in und um das European University Institute (EUI) in Florenz eine innerwissenschaftliche Bewegung, von der Francis Snyder sagt:

»Their teaching and scholarship dramatically enlarged the methods and theoretical perspectives in EU legal studies. All believed that law could be understood best by placing legal institutions, rules, dispute settlement processes, and legal professionals in their social, economic, political and cultural contexts.« [2]

Entsprechend erhielt das seit 1990 erscheinende European Law Journal den Untertitel »Review of European Law in Context«. Seit 1970 erscheint bei Cambridge University Press die Buchreihe »Law in Context«. Auf der Verlagsseite heißt es dazu:

 »The series is a vehicle for the publication of innovative monographs and texts that treat law and legal phenomena critically in their cultural, social, political, technological, environmental and economic contexts. A contextual approach involves treating legal subjects broadly, using materials from other humanities and social sciences, and from any other discipline that helps to explain the operation in practice of the particular legal field or legal phenomena under investigation.«

Ein Blick in die Liste der inzwischen 96 Titel zeigt die Konturenlosigkeit des Kontextbegriffs. Sanne Taekema/Jeanne Gaakeer/Marc Loth können »Recht in context« als Titel ihrer 2020 in 6. Aufl. erschienenen Einführung in die Rechtswissenschaft nutzen.

Die anfängliche Begeisterung ist dahin. Snyders Erklärung scheint zu sein, dass der interdisziplinäre Ansatz von Law in Context inzwischen so weit verbreitet ist, dass er seinen Neuigkeitswert verloren hat. Meine Erklärung wäre, dass dieser Ansatz nicht über den alten Verständnisansatz der klassischen Rechtssoziologie hinausgelangt ist. Er scheitert daran, dass er dem Kontext keine Grenzen zieht.

Kontext und Abstraktion

Der »Kontext« hat seinen Ursprung im Sprach­zusammenhang, und von dort hat er einen Siegeszug als Metapher angetreten. Die Kontextformel als Interdisziplinaritätsforderung stellt in Frage, was eigentlich durch Recht fraglos gestellt werden soll, nämlich die Unabhängigkeit genereller Regeln von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund ebenso wie von den Umständen des Einzelfalls. Regelbildung bedeutet Abstraktion und damit Dekontextualisierung. Die Forderung, Recht im Kontext zu betrachten, kehrt diesen Vorgang um. Für die Rechtspolitik ist solche Umkehrung selbstverständlich. Auch die Rechtsanwendung kommt nicht ohne Rücksicht auf den Kontext aus, denn Regeln müssen ausgelegt werden, und Auslegung ist immer kontextabhängig. Aber was heißt das? Klar ist nur, dass Auslegung stets aus dem sprachlichen Kontext und gelegentlich aus dem Systemzusammenhang schöpft. Dahinter öffnet sich als »Kontext« die weite Welt.

Der Kontext ist grenzenlos, wenn man ihn nicht, wie Ulrich Haltern, spezifiziert.[3] Haltern will für ein »vertieftes Verständnis« insbesondere das Europarecht »mit seiner Gemengelage von Interessen und Einflüssen, die reiner Rationalität zuwiderlaufen«, dessen Entwicklung »in ihrem historischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontext nachzeichnen«. Daraus sollen sich »drei Kreise der rechtswissenschaftlichen Arbeit« ergeben. Den inneren Kreis bildet die Rechtsdogmatik. Im zweiten Kreis steht das law in action, das heißt, die Wirkungen und Wirkungsbedingen des Rechts, die es interdisziplinär aufzuhellen gilt. Ein dritter äußerer Kreis beleuchtet das Recht als kulturelles Phänomen und Symbol. Diesen Kreis will Haltern allerdings »nur im Ausnahmefall« betreten. Doch die Kontextformel hat sich verselbständigt.

Die Kontextformel lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die Jurisprudenz schon mit dem Eintritt in die semantische Interpretation und vor einer explizit sozialtechnologischen Zweck-Mittel-Betrachtung unvermeidlich mit Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit arbeitet. Der Gesetzgeber hatte Vorstellungen über die gesellschaftlichen Zustände, die er mit seinen Gesetzen beeinflussen wollte. Jede einzelne Norm trifft auf einen Ausschnitt aus der Realität, oder, in der Ausdrucksweise von Friedrich Müller, auf den Normbereich.[4] Müller und seine Schule verbinden mit diesem Begriff freilich mehr, nämlich eine Überwindung der Trennung von »Recht« und »Wirklichkeit«, denn Ausschnitte der Wirklichkeit seien jeweils Bestandteile der Rechtsnormen. Diesen Anspruch lösen sie nicht ein. Der Begriff bleibt aber für die Interpretation von Normen hilfreich. Der Normbereich ist enger als der gesamtgesellschaftliche Kontext, aber doch weiter als der Normtatbestand.

Es geht um Kenntnisse über den Regelungsbereich des Rechts, über die Arbeitswelt, über familiale Beziehungen, Wohnverhältnisse, Lebensverhältnisse von Immigranten und Asylanten, Techniken und Technologien, über moderne Medien und Umweltprobleme und nicht zuletzt über Kriminalität und Wirtschaft. Die Liste lässt sich leicht verlängern. Wissen über die Wirklichkeit ist für die Rechtsgewinnung mehr oder weniger überall relevant. Insofern ist Auslegung immer kontextabhängig. Aber diese pauschale Aussage hilft nicht weiter. Der Wissenshorizont ist unendlich. Es fällt nicht schwer, Weltwissen und Alltagstheorien der Juristen zu kritisieren. In jedem Einzelfall lässt sich das Wissen der an der Rechtsgewinnung beteiligten Juristen als defizitär behaupten. Das ist, denkt man an das Konzept der bounded rationality von Herbert A. Simon, trivial.

Man muss allerdings davon ausgehen, dass die (Wert-)Urteile, mit denen Juristen die Komplexität der Welt abarbeiten, »irgendwie« von ihrem Weltwissen geprägt werden. Dieses Wissen resultiert in erster Linie aus Erfahrung und Allgemeinbildung. Der Bildungskanon der Juristen war lange vom römischen Recht geprägt. Die erforderlichen Lateinkenntnisse waren in eine breitere humanistische Bildung eingebettet. Bildung hatte immer schon starke historische, philosophische und politische Komponenten. Die rasante Entwicklung postklassischer Nachbarwissenschaften lässt das klassische Bildungsideal als defizitär erscheinen. Das führt dazu, dass die Juristen mit der Kontextformel aufgefordert werden, ihr Weltwissen mit den modernen Nachbarwissenschaften aufzubessern. Die Schwerpunkte einer »guten« Allgemeinbildung haben sich verlagert. Aber die Ablösung der klassischen humanistischen Allgemeinbildung durch eine wie auch immer inhaltlich gefüllte modernere hat nichts mit Interdisziplinarität in der Jurisprudenz zu tun.

Kontext als Weltkunde für Juristen

Rüdiger Lautmann hat 1973 prophezeit:

»Wo Juristen mit Annahmen über die gesellschaftliche Realität operieren, werden sie dies auf dem Niveau der Sozialwissenschaften tun.«[5]

Die Prophezeiung konnte gar nicht in Erfüllung gehen. Gebraucht würde eine wissenschaftlich fundierte Weltkunde für Juristen. Dafür reicht weder das Angebot der Gesellschaftswissenschaften noch die Aufnahmekapazität der Jurisprudenz. Das ist jedoch kein Defizit. Die Rechtswissenschaft verfügt über einen eigenen, innerdisziplinären Zugang zur Realität. Die Rechtswirklichkeit drängt sich der juristischen Praxis in dem Fallmaterial auf, das in Rechtsprechung in Schrifttum ausgebreitet wird. Es geht um die Fälle, mit denen Anwälte und Richter tagtäglich konfrontiert sind. Jeder Jurist begegnet ihnen zu Hunderten und zu Tausenden. Sieht man auf Gericht und Anwaltschaft als Institution, sind es Millionen. Das sind keine bloßen Zahlen in der Statistik, sondern die Mehrzahl dieser Fälle wird sorgfältig aufbereitet. Die empirische Sozialforschung hat es schwer, der Fülle des Materials, das von Gerichten und Juristen mit großem Aufwand recherchiert, publiziert und regelmäßig auch diskutiert wird, etwas entgegenzusetzen. So ist und bleibt die Berufspraxis eine wichtige Schnittstelle zum sozialen Kontext.

Sozialwissenschaftler distanzieren sich von der Vorstellung einer Selbstaufklärung der Jurisprudenz durch Erfahrung, indem sie das in der Berufspraxis erworbene Wissen als deformiert zurückweisen (»Juristenempirie«). Aber sie können zur Korrektur nur punktuell wissenschaftlich aufbereitetes Material anbieten, und selbst, wo solches vorhanden ist, gibt es kaum eindeutige Ergebnisse, sondern meistens konkurrierende Theorieangebote. Eine laufende Kontrolle von Alltagstheorien und Berufserfahrung ist nicht möglich. Sensibilisierung für den historischen und sozialen Kontext des Rechts in der juristischen Ausbildung, fortlaufende Reflexion während der Berufspraxis und punktuelle Vergewisserung müssen als Ersatz ausreichen.

Der Kontext ist grenzenlos. Am Ende bleibt von der Kontextformel nicht mehr als eine Generalklausel für Interdisziplinarität.

Kontext und Bilateralismusargument

Das Recht und die herkömmliche Rechtsdogmatik werden immer wieder kritisiert, weil sie sich auf eine Zweiparteien‐Sicht des Rechtsstreits beschränkten, die auf eine Interessenabwägung zwischen den Beteiligten hinausläuft. Gefordert wird, darüber hinaus den gesellschaftlichen Kontext in den Blick zu nehmen.[6] Diese Forderung läuft auf Berücksichtigung der gesellschaftlichen Wirkungen juristischer Entscheidungen hinaus. Man kann insoweit von einem Bilateralismusargument sprechen. Das Argument hat zwei Seiten. Im Interdisziplinaritätsdiskurs wird es zur Kritik der Zweiparteien‐Sicht des Rechtsstreits. Die Zweiparteien‐Sicht lässt sich aber mit guten Gründen auch verteidigen.

Die Verteidigung unternimmt James L. Coleman jedenfalls für das Gebiet des Schadensrechts (tort law).[7] Er wendet sich gegen die ÖAR, die bekanntlich Effizienz zum Prinzip hat mit der Folge, dass die die Wirksamkeit von Recht im Vordergrund steht.

In der Formulierung von Mathis (S. 292):

»Coleman kritisiert diesen fallexternen Bezug, weil die spezifische Beziehung zwischen Geschädigtem und Schädiger nicht berücksichtigt werde. Man analysiere dabei ex ante hypothetische Schadensfälle unter dem Gesichtspunkt der Kosten- und Risikominimierung. In Tat und Wahrheit habe aber ein Gericht ex post reale Schadensfälle zu beurteilen, die zwei ganz konkrete Parteien beträfen, die aufgrund des Schadensereignisses miteinander in einer normativen Beziehung stünden.«[8]

Deshalb muss das Prinzip der korrektiven Gerechtigkeit im Vordergrund stehen und nicht rechtspolitisch gedachte Effizienz. Zur Verteidigung des prozessualen Bilaterismus lässt sich auch Ronald Dworkins Einwand gegen die Berücksichtigung fallexterner Folgen heranziehen. Dworkin argumentierte, der Richter dürfe nur die durch Regeln und Prinzipien vorgegebene Entscheidung suchen, denn anderenfalls schaffe er neues Recht, so dass der Verlierer nicht wegen einer Verletzung bestehenden Rechts verurteilt werde, sondern weil ex post facto eine neue Pflicht geschaffen wurde (Bürgerrechte ernst genommen, S. 149).

Ähnlich argumentiert Huster  im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz.[9] Dazu unterscheidet er zwischen rechtsinternen und externen= politischen Zielen von Gleichbehandlung bzw. Ungleichbehandlung. Externe Ziele richten sich auf die Verfolgung kollektiver Güter. Rechtsintern bleibt dagegen die Durchsetzung von Rechtsprinzipien und die Abgrenzung von Interessensphären. Mit einem leicht abgewandelten Beispiel von Huster: Gleichbehandlung im Steuerrecht erfordert nicht, dass jeder die gleichen Steuern zahlt, sondern nur, dass all gleichmäßig nach ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden. Wie aber, wenn bei gleicher Leistungsfähigkeit B eine Steuervergünstigung für eine wirtschaftspolitisch erwünschte Investition gewährt wird? Huster will nicht ausschließen, dass rechtspolitische Ziele als Grund für eine Ungleichbehandlung herhalten. Wichtig ist jedoch, dass damit die rechtsinterne Betrachtungsweise verlassen wird, die auf Gleichbehandlung allein im vergleichenden Blick auf die unmittelbar Beteiligten abstellt. In unserem Zusammenhang geht es allgemeiner um die Frage, ob die Entscheidung im Parteienstreit von externen Konsequenzen abhängen soll. Mehr oder weniger hat jede Entscheidung über einen Parteienstreit auch externe Folgen. Aber es macht doch einen Unterschied, ob diese bloß als Nebenfolge eintreten oder ob sie mit der Entscheidung intendiert werden.

Im Streit zwischen Privatpersonen, etwa zwischen Mieter und Vermieter über die Verwendung von Videoaufzeichnungen, sollte es im Gerichtsverfahren allein um die Interessenabgrenzung zwischen den Beteiligten gehen. Dagegen darf der Fall nicht zum Anlass genommen werden, allgemeine rechtspolitische Ziele zu verfolgen, etwa Kriminalprävention oder Verhinderung von Mietprozessen. Wie so oft, bleibt auch hier die Grenze zwischen rechtsinternen Zwecken und rechtspolitischen Zielen unscharf, und zwar schon deshalb, weil die Interessenabgrenzung zwischen den Beteiligten nicht wie der Schlichtungsspruch des Kadis ausfallen soll, sondern als Ausdruck einer generalisierbar gedachten Regel. Aber der Schwerpunkt der Rechtsanwendung liegt doch auf der Bewertung der spezifischen Interessen der Beteiligten und ggfs. deren Abgrenzung.

Teleologische Gesetzesanwendung erzielt ihre Zukunftswirkung dadurch, dass sie die Entscheidung aus einer Regel ableitet, die als Präjudiz wirken kann. Auch wenn die Parteien, die das Gericht anrufen, damit für ihre eigene Zukunft handeln, so hängt die Entscheidung über die Berechtigung ihres Begehrens doch allein von vergangenen, gegenwärtig feststellbaren Tatsachen ab. Diese Tatsachen mögen sich als Indizien für eine Prognose über die Zukunft anbieten. Dabei geht es aber oft gar nicht um die Zukunft, an der die Parteien interessiert sind. Dann tragen die Beteiligten die Kosten für einen Zweck, den sie selbst gar nicht wollen.

Die Forderung die Zweiparteiensicht desProzesses durch Folgenberücksichtigung aufzubrechen, fällt in sich zusammen, weil die Gerichte nicht bloß einen einzigen Rechtsstreit zu entscheiden haben, sondern weil außerhalb und vor Gericht eine Myriade von subjektiven Rechten geltend gemacht wird. So wird der gesellschaftliche Kontext des indivduellen Rechtsgebrauchs durch den »Markt« der Rechte zum Selbstläufer.

Die umfangreiche Diskussion über die Zwecke der verschiedenen Gerichtsprozesse beschreibt die Rolle der Justiz in der Regel mit einer Doppelzuweisung: Zweck des Prozesses ist die Wahrung subjektiver Rechte und die Durchsetzung des objektiven Rechts. Das ist zwar allerhand, denn damit zeigt sich in der Geltendmachung von Rechten, welche Rechte die Bürger für wichtig halten und wo es an der Rechtsdurchsetzung fehlt. Aber die Doppelzuweisung greift zu kurz, weil die Gerichte subjektive Rechte nicht einfach feststellen, sondern sie laufend anpassen, ändern und oft überhaupt erst begründen. In der Lehre von den Prozesszwecken erscheint diese Funktion als Rechtsfortbildung. Auch das ist zu harmlos ausgedrückt. Die Wissensbestände sind wohl nicht so radikal verstreut, wie es von Hayek annahm. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Politik und Verwaltung verfügen über große und bewährte Bestände. Aber dieses Wissen resultiert zu einem guten Teil aus der Einforderung und Abwehr subjektiver Rechte. Beim Aufbau und der laufenden Pflege der Wissensbestände fällt der Justiz eine Schlüsselrolle zu. Die Justiz ist das Fieberthermometer der Gesellschaft, das aktuelle Probleme anzeigt. Der »Markt« der eigennützigen subjektiven Rechte ist produktiv und innovativ, weil er Rechte gegeneinander abgrenzt, in Schranken weist oder neu erfindet.

Die Bilaterismuskritik lässt sich mit Kants Instrumentalisierungsverbot verallgemeinern. Wo immer sich Parten in einer individuell spezifischen Beziehung gegenüberstehen, stellt sich die Frage, ob sie nicht als bloßes »Objekt« behandelt werden, wenn ihr Konflikt zum Anlass für die Herbeiführung von Effekten genommen wird, die über die Parteibeziehungen hinaus gehen. In aller Schärfe stellt sich das Problem im Strafrecht. Darf die Strafe so bemessen werden, dass sie andere abschreckt? Dort hilft die Formel Kants, der Täter müsse zuvor für strafbar (=schuldig) befunden werden, ehe noch daran gedacht werden dürfe, aus der Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.[10] Wenn man fordert, dass auch zivil- und öffentlich-rechtliche Rechtsfolgen in dem Sinne präventiv ausgewählt werden, dass sie in der Gesellschaft etwas bewirken, dann muss man sich wohl mit dem Instrumentalisierungsverbot auseinandersetzen. Gegenüber der öffentlichen Verwaltung als Streitpartei trägt es sicher nicht. Das Bilaterismusargument verliert auch an Gewicht, wenn der Prozess zwischen Parteien stattfindet, die überindividuelle Interessen repräsentieren; dann sind rechtspolitische Argumente eher legitim. Man könnte wohl geltend machen, dass sich Formen strategischer Prozessführung entwickelt haben, die auf sozialen Wandel abzielen. Aber ob unabhängig davon Individuen härter herangezogen werden dürfen, um allgemeine soziale Ziele zu erreichen, bedarf mindestens der Diskussion, die jedenfalls in der Rechtssoziologie vermieden wird.

Einer Instrumentalisierung der Parteien kommt es mindestens sehr nahe, wenn Karl-Heinz Ladeur der Rechtsprechung empfiehlt, »tentativ durch Ausprobieren von neuen Zurechnungen zu operieren, ohne daß die Wirkungen angesichts des strategischen Handlungspotenzials der Akteure und der dadurch erzeugten Folgen genau abgeschätzt werden können«.[11] Ex post mag es dem Beobachter so erscheinen, als ob die Rechtsprechung sich über Versuch und Irrtum einer brauchbaren Lösung nähert. Wenn ein Fall zur Entscheidung ansteht, ist jedoch schwer vorstellbar, dass die Richter sich überlegen, sie könnten mit der Partei XY einmal ausprobieren, ob eine bestimmte Lösung sich bewährt. Auch hilft es der Rechtsprechung nicht, wenn die Rechtstheorie ihr erklärt, jedes Urteil sei ein kleiner Schritt auf dem Wege der Evolution des Rechts. So wenig wie Eltern, die ein Wunschkind zeugen, dabei an der Evolution des Menschengeschlechts mitwirken wollen, verfolgen Gerichte die Absicht, mit konkreten Urteilen die Evolution des Rechts zu befördern. Wenn man auf Evolution abstellt, ist die Kritik der Zweiparteiensicht des Rechtsstreits ohnehin unreflektiert, weil sie auf einzelne Prozesse sieht und nicht auf das Prozessgeschehen insgesamt.

Weitere Fortsetzungen zu folgenden Themen könnten sich anschließen:

  • die Metapher als Brücke zwischen abstrakt und konkret
  • abstrakte Werte und konkrete Zwecke
  • Personalisierung vs. Individualisierung
  • die Stufenbaulehre als Verbindung zwischen einer abstrakten Geltungstheorie und der konkreten Rechtsquellenlehre.

[1] Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 11.

[2] Francis Snyder, Establishing Law in Context: An Insider’s Perspective, SSRN 2024, 4768055.

[3] Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext Bd. I, 3. Aufl. 2017.

[4] Friedrich Müller, Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, ARSP 56, 1970, 493-509.

[5] Die Fundstelle habe ich verloren. Ich kann daher nur allgemein verweisen auf Rüdiger Lautmann, Justiz vor den Toren der Jurisprudenz, 1971, sowie Soziologie und Rechtswissenschaft, in: Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaft Bd. 1, 1973, 35-48.

[6] Z. B. von Andreas Abegg, Die Bedeutung der Wissenschaft für das Recht, Ancilla Juris, 2006, 29-32; Harald Koch, Alternativen zum Zweiparteiensystem im Zivilprozeß: Parteiübergreifende Interessen und objektive Prozeßführungsrechte, KritV 4, 1969, 323-340.

[7] Jules L. Coleman, The Practice of Principle, 2003 (Lecture Two – Bilateralism, S. 13-24). Rezension von Robbie Moser, The Practice of Principle: In Defense of a Pragmatist Approach to Legal Theory, Dalhousie Journal of Legal Studies 12, 2003, 287-291.

[8] Klaus Mathis, Folgenorientierung im Recht, in: Stephan Kirste, Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften, 2016; ders., Effizienz statt Gerechtigkeit?, 4 Aufl. 2019, S. 107f.

[9] Stefan Huster, Rechte und Ziele, 1993, 164ff.

[10] Aus der Literatur: Dieter Schmidtchen, Prävention und Menschenwürde. Kants Instrumentalisierungsverbot im Lichte der ökonomischen Theorie der Strafe, in: FS Ernst-Joachim Lampe 2003, 245-274.

[11] Karl-Heinz Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74, 1988, 218-238, S. 236.

Ähnliche Themen

Die Allgemeinheit des Gesetzes als Ansatzpunkt der Rechtskritik

Dies ist die dritte Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.

Die Allgemeinheit des Gesetzes ist seit eh und je Stein des Anstoßes. Platon hat (durch den Mund des »Fremden« in dem Dialog »Politikos« [294a–d]) das (allgemeine) Gesetz mit einem »selbstgefälligen und ungelehrigen Menschen« verglichen: Gesetze in der Form allgemeiner Regeln müssen notwendig vereinfachen; sie sind deshalb von vornherein ungeeignet, »das wirklich Beste zu befehlen«. »Denn«, so fährt der »Fremde« in Platons Dialog fort, »die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals nichts sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgendeine Kunst etwas für alle und zu aller Zeit einfach darstelle.« Das aber versucht das Gesetz; es will für alle Betroffenen und alle Situationen eine bindende Regel festlegen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist eine doppelte Differenz: die zwischen den Menschen, wegen ihrer »Unähnlichkeit«, und die in der Zeit, weil »nichts Ruhe hält in den menschlichen Dingen«. Zwischen dem verallgemeinernden Gesetz und seinem stets verschiedenen Gegenstand liegt eine Kluft. Was für alle gerecht sein soll, wird nicht jedem gerecht. »Unmöglich also«, schließt Platons »Fremder«, »kann sich zu dem niemals einfachen das richtig verhalten, was durchaus einfach ist«.

Anarchisten plädieren daher für die Abschaffung des Gesetzes. Auch Platon dachte an eine radikale Lösung, die vielfach als Modell rechter Reaktion bis hin zum Führerstaat gedient hat. Wenn das Gesetz zu grob sei, so meinte er, dann bedürfe es des »weisen und guten« Herrschers, der »abweichend« vom Gesetz »Besseres als das Geschriebene« verordne. Das ist die platonische Idee des Philosophenkönigs.

Aristoteles dagegen formulierte die Lösung, mit der man bis heute versucht, die Balance zwischen dem allgemeinen Gesetz und der Einzelfallgerechtigkeit herzustellen.[1] Er sprach von der »Güte in der Gerechtigkeit«:

»… das Gütige … ist … eine Berichtigung der Gesetzesgerechtigkeit. Das hat seinen Grund darin, dass jegliches Gesetz allgemein gefasst ist. Aber in manchen Einzelfällen ist es nicht möglich, eine allgemeine Bestimmung so zu treffen, dass sie richtig ist. In solchen Fällen nun, wo es notwendig ist, sich allgemein auszudrücken, dies aber doch nicht so geschehen kann, dass alles richtig ist, da nimmt das Gesetz die Fälle sozusagen en bloc ohne allerdings zu übersehen, dass damit eine Fehlerquelle gegeben ist. Und trotzdem ist dieses Verfahren richtig, denn der Fehler liegt nicht im Gesetz und im Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache, denn so ist nun einmal die Fülle dessen, was das Leben bringt.

Wenn nun das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft und in diesem Umkreis ein Fall vorkommt, der durch die allgemeine Bestimmung nicht gefasst wird, so ist es ganz in Ordnung, an der Stelle, wo uns der Gesetzgeber im Stich lässt und durch seine vereinfachende Bestimmung einen Fehler verursacht hat, das Versäumnis im Sinne des Gesetzgebers selbst zu berichtigen: So wie er selbst die Bestimmung getroffen hätte, wenn er im Lande gewesen wäre, und wie er sie, wenn ihm der Fall bewusst geworden wäre, in sein Gesetz aufgenommen hätte. … Und dies ist das Wesen der ›Güte in der Gerechtigkeit‹: Berichtigung des Gesetzes da, wo es infolge seiner allgemeinen Fassung lückenhaft ist.«[2]

Seither beruft man sich auf den Gedanken der Billigkeit, um auch unter dem allgemeinen Gesetz dem Einzelfall gerecht zu werden. Allerdings blieb die offene Abweichung vom Gesetz unter Berufung auf die Unbilligkeit des Ergebnisses lange Zeit hindurch die höchst seltene Ausnahme. Heute bewirkt jedoch, ausgehend vom Verfassungsrecht, die durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip legitimierte »Abwägung« eine gewisse Erosion des allgemeinen Gesetzes.

Lübbe-Wolff behandelt das Problem als Dilemma des Gleichheitssatzes, der die Kehrseite des Allgemeinheitsprinzips bildet. Sie fördert dabei einige Phänomene zu Tage, die starre Regeln mildern, ohne sie aufzuheben. Auf harte Gesetze antworten milde Urteile. Auch werden harte Urteile nur zögerlich vollstreckt. Im Strafrecht hilft gelegentlich die Begnadigung.[3]

Eine modisch moderne Variante der Formkritik ist die Kritik des Juridismus oder gar Hyper-Juridismus. Der Ausdruck »Juridismus« geht auf den französischen Philosophen Foucault zurück, der damit das Phänomen der Verrechtlichung bezeichnete. Unabhängig von Foucault ist die Kritik an der zunehmenden Verrechtlichung mehr oder weniger aller Lebensverhältnisse Bestandteil der üblichen Kritik der Moderne. In die Allgemeine Rechtslehre ragt sie als Kritik subjektiver Rechte hinein. Damit habe ich mich seinerzeit aus Anlass eines Buches von Christoph Menke auseinandergesetzt:

Mehr als postmodernes Gewaltgeraune eines Schlangenmenschen? Prolegomena zur Lektüre der »Kritik der Rechte« von Christoph Menke (2. 2. 2016)

Die Selbstreflexion der Musik hilft bei der Kritik der »Kritik der Rechte« (14. 3. 2016)

Hauptsache Moral, welche ist egal. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« (1. 5. 2016)

Das subjektive Recht ein hohles Ei. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« II (9. 5. 2016)

Im Spiegelkabinett der Selbstreflexion. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« III (16. 5. 2016)

Alles ist politisch. Zu Christoph Menkes »Kritik der Rechte« IV (1. 7. 2016)

Schluss mit der Kritik der Rechte (25. 2. 2019)

Zusammenfassung aller Einträge in einem PDF (25. 2. 2019)

Fortsetzung


[1] Roger A. Shiner, Aristotle’s Theory of Equity, Loyola of Los Angeles Law Review 27, 1994, 1245-1264.

[2]  Nikomachische Ethik Buch V, 1137b, übersetzt von Franz Dirlmeier, 1979.

[3] Gertrude Lübbe-Wolff, Das Dilemma des Rechts: Über Strenge, Milde und Fortschritt im Recht, 2017.

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Braucht das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes eine ethische Begründung?

Dies ist die zweite Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.

Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes lässt sich ohne großen philosophischen Aufwand funktional rechtfertigen. Ein Recht aus lauter singulären Normen wäre schlicht unpraktisch. Nur ein allgemeines Gesetz kann Gleichheit gewähren. Die Gewaltenteilung fordert allgemeine Gesetze, andernfalls ließen Exekutive und Verwaltung sich nicht trennen. Aber auf einer Rechtsphilosophie-Tagung wird man sich damit nicht zufriedengeben.

Auf der Suche nach einer philosophischen Begründung des Allgemeinheitspostulats für die Gesetzgebung kann man, wie üblich, bei Aristoteles beginnen:[1]

»Am zweckmäßigsten ist es also, wenn gerecht erlassene Gesetze nach Möglichkeit alles selbst entscheiden und möglichst wenig den Richtern überlassen. … Der Kern der Sache aber liegt darin, dass der Gesetzgeber nicht nach dem Einzelfall, sondern zukunftsorientiert und für die Allgemeinheit entscheidet.« (Rhetorik 1354b)

Für die Tagung in Münster ist ein Vortrag von Johannes Hübner, Halle/Saale angekündigt: Was »unsere Vorgänger unerforscht gelassen haben«: Aristoteles über die Prinzipien der Gesetzgebung.

Auf der Saarbrücker Tagung von 1990 referierte Georg Meggle über »Das Universalisierbarkeitsproblem in der Moralphilosophie«.[2] Meggle betätigte sich hier als Logiker, der aufzeigt, was es bedeutet, von einem ethischen Urteil zu sagen, es sei universell. Ich will hier nur festhalten, dass Meggle eingangs betont, der Ausdruck Universalisierbarkeit sei mehrdeutig. Das Universalisierungsprinzip dürfe nicht mit dem Verallgemeinerungsprinzip und auch nicht mit dem Generalisierungsprinzip verwechselt werden. Meggle definierte wie folgt:

  • Das Universalisierungsprinzip besagt, dass »in einer Situation etwas nur dann geboten ist, wenn dasselbe in jeder Situation, die der erstgenannten hinsichtlich jeder universellen Eigenschaft gleicht, ebenfalls geboten ist.«
  • Das Verallgemeinerungsprinzip besagt, »dass »eine Handlung nur dann erlaubt ist, wenn es auch erlaubt ist, dass alle Leute sie vollziehen«.
  • Das Generalisierungsprinzip besagt, »daß moralische Urteile für möglichst viele Situationen einschlägig sein sollten.« Meggles Beispiel: »In allen Situationen, in denen durch eine Lüge kein Menschenleben gerettet wird, sollst du nicht lügen.«[3]

Meggles Definition des Universalisierungsprinzips verträgt sich wohl mit Niklas Luhmanns Vorstellung von dem Verbot der Selbstexemtion als Grundprinzip der Moral.[4] Juristen verwenden den Begriff aber inklusiver. Sie subsumieren darunter die utilitaristischen Verallgemeinerungsgrundsätze[5] ebenso wie den kategorischen Imperativ und sogar die Goldene Regel, die Meggle ausdrücklich ausgenommen hatte. Wollte man Meggles Definition folgen, so wäre universal nur ein Naturrecht, das wie ein empirisches Gesetz schlechthin Geltung hätte. Anklänge an diesen Ton hat immerhin die Diskussion um die universelle Geltung von Menschenrechten.

Im Tagungsthema für Münster erscheint »universell« als Gegenbegriff zu  »partikulär«, jedoch wird keines der beiden Stichworte in den Vortragsthemen aufgenommen. Dagegen war »Universalität« auf den Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in der IVR in Halle (Saale) 2010) und Luzern 2011 über »Gleichheit und Universalität« ein Schwerpunkt. Julia Hänni, die in Münster mit Vortrag über » Abstraktion in der Methodik der Rechtsfindung antritt, hielt dort einen Vortrag über »Universalisierung«.[6]

Ich bin auf das Stichwort »Universalisierung« in einem viel kleineren Zusammenhang gestoßen, nämlich bei dem Versuch, mir darüber Klarheit zu verschaffen, wie man durch Analogien moralische und rechtliche Probleme lösen kann. Dabei führt die Suche nach der originären Analogie auf die Frage, ob die Betrachtung eines Falles zu einem singulären Verpflichtungsurteil führen kann, das sich auch in einem ähnlichen Fall bewährt, ohne dass dafür eine Regel notwendig wäre, eine Frage, die in der Moralphilosophie als Gegensatz zwischen Partikularismus und Generalismus verhandelt wird. Dazu bietet der Eintrag vom 16. 6. 2022 über Analogie – induktiv, deduktiv oder originär? allerdings nicht mehr als am Ende einige Literaturhinweise. Dort fehlt ein Hinweis auf Jonathan Dancy, den wohl prägnantesten Vertreter eines moralischen Partikularismus.

Bei der Definition der Verallgemeinerung kann man etwas deutlicher werden als Meggle. Für Juristen gilt: Was nicht geboten oder verboten ist, ist freigestellt. Eine Erlaubnis ist also nur eine Ausnahme von einem Gebot oder Verbot. Die Definition sollte also lauten, wenn eine Handlung geboten oder verboten ist, dann ist sie für alle Leute ceteris paribus, aber ohne Ansehen der Person, geboten oder verboten. Damit wäre sie allgemeines Gesetz. Meggles Definition ist insofern unglücklich, als das Stichwort »Verallgemeinerung« die Verallgemeinerungsgrundsätze des Regelutilitarismus[7] aufruft. Der erste Grundsatz – von mir Abstraktionsprinzip genannt, weil er vom Einzelfall absieht  – fragt, ob eine Handlung im Allgemeinen gute oder schlechte Folgen hat. Der zweite Grundsatz – das Kumulationsprinzip – fragt nach den kumulierten Wirkungen gleichartiger Handlungen. Die Beachtung diese Grundsätze wird meistens auf allgemeine Gesetze hinauslaufen. Aber die Allgemeinheit des Gesetzes setzt nicht unmittelbar eine regelutilitaristische Qualifizierung voraus.

Ich folge Meggle darin, dass es sinnvoll ist, zwischen Verallgemeinerung und Generalisierung zu unterscheiden. Allgemeinheit des Gesetzes verlangt nicht ohne Weiteres Generalisierung, wiewohl sie typisch mit Generalisierung einhergeht. Als Gegenbegriff zur Generalisierung nennt Meggle Individualisierung:

»Unter der Überschrift ›Generalisierung vs. Individualisierung wären etwa die Fragen zu diskutieren, ob Verhaltenskodizes viele mögliche Fälle einzeln durchspielen oder eher allgemein verfahren sollten und ob überhaupt eine Kodifizierung denkbar ist, die Einzelfällen gerecht wird.«

Es geht also nicht nur um Einzelfallgerechtigkeit, sondern auch darum, wie differenziert (individuell) Gesetze sein können und sollen. So hat der Gesetzgeber oft die Wahl zwischen einer abstrakten Regelung und einer Regelung durch konkrete Aufzählung (Enumeration). Postmodern inspirierte Autoren werden hier auch den Rechtspluralismus gegen monistisch-etatistisches Rechtssystem ins Spiel bringen.

Als Gegenbegriff zu »generell« ist im Tagungsthema von »kontextuell« die Rede. Auch der Kontext taucht in den Vortragsankündigungen nicht wieder auf. Das ist bemerkenswert, denn das Universalrezept zum Umgang mit dem abstrakt-generellen Gesetz heißt bei vielen heute »Recht im Kontext«. Dieses Thema verlangt nach einem eigenen Eintrag »Abstraktion und Recht im Kontext«.

Festzuhalten bleibt: Das Prinzip der Allgemeinheit des Gesetzes bedarf nicht unbedingt einer philosophisch-moralischen Begründung. Es ergibt sich hinreichend als Erfordernis praktischer Rationalität, wenn man sich positivistisch für einen formalen Rechtsstaat entschieden hat.

Fortsetzung


[1] Zur Ablehnung von Einzelfallgesetzen durch Aristoteles ausführlich Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, 82ff.

[2] ARSP-Beiheft 45, 1992, 143-156.

[3] Alle Ziate von S. 143.

[4] Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1980, S. 29.

[5] Zu diesen Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2 Aufl. 1977.

[6] ARSP-Beiheft 128, 2012, 141-150.

[7] Zu diesen Norbert Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2 Aufl. 1977.

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Die Allgemeinheit des Gesetzes

Dies ist die Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.

Das Recht hat sich mit Hilfe der Sprache seine eigenen Abstraktionen geschaffen. Der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts ist die Formulierung allgemeiner Regeln, die nur wenige Kriterien für relevant erklären und von den vielen Besonderheiten, die jeder konkrete Fall mit sich bringt, absehen. Dieser Modus führt dazu, dass alles Recht die Gestalt einer Regel annehmen muss, die für alle gleichartigen Fälle Geltung beansprucht. Die Allgemeinheit des Gesetzes ist damit das erste und wichtigste Formerfordernis des positiven Rechts.

In diesem Sinne hieß es bereits in dem Eintrag vom 2. 1. 2021 über Form und Inhalt als Kaskade: Die Form des positiven Rechts ist Allgemeinheit. Hier lässt sich einwenden, dass die Allgemeinheit des Rechts keine Form bildet, sondern eine Struktur darstellt. Das gilt jedenfalls dann, wenn man unter »Form« die konkrete Erscheinung oder Gestalt versteht, in der ein Inhalt wahrgenommen werden kann. Dann müsste die Form als materielles Medium im Gegensatz zur Struktur sichtbar oder greifbar sein, etwa als Ton, Schrift oder Beurkundung. Struktur wäre dagegen die abstrakte und damit unsichtbare Relation von Elementen innerhalb eines Systems. Dieser auf phänomenologische Wahrnehmbarkeit reduzierte Formbegriff ist jedoch zu eng. Die moderne Rechtstheorie im Allgemeinen und die Allgemeine Rechstlehre im Besonderen verstehen sich zwar als Strukturtheorie.[1] Doch bei Bierling, Somló und Kelsen wir diese Theorie explizit zur Rechtsformenlehre. Hans Nawiaski bezeichnet die Rechtsform als Struktur des Rechts.[2] Es ist hier nicht der Ort, um allgemein über Formbegriff und Strukturbegriff zu sinnieren.[3] Im Hinblick auf das allgemeine Gesetz ist es jedenfalls prägnanter, von einer Form als von einer Struktur zu reden. Das wird deutlich, wenn man vom Substantiv »Form« auf das Adjektiv »formal« übergeht. So gelingt es, die von Lon L. Fuller aufgezählten Formprinzipien des positiven Rechts als solche zu verstehen, und so gelingt es, zwischen einem formalen und dem materialen Rechtsstaat zu unterscheiden wie im der Eintrag vom 4. 12. 2020:  Der EU-Rechtsstaatsmechanismus ist kein Mechanismus.

Für die IVR-Tagung in Münster ist ein Vortrag von Christoph Bezemek, Graz über  »Die Allgemeinheit des Gesetzes zwischen Fullers Funktionstheorie und Kelsens Strukturtheorie« angekündigt. Vielleicht erfahren wir dort, dass Fuller die Allgemeinheit des Gesetzes wegen ihrer ethisch-moralischen Funktion schätzte, während Kelsen darin nur ein für die  Geltung des Rechts notwendiges Organisationsprinzip erblickte.

Die juristische Gesetzesvorstellung ist so alt und grundlegend, dass man sich darüber streiten kann, ob sie im Mittelalter zum Vorbild der naturwissenschaftlichen Gesetzesvorstellung geworden ist oder ob gerade umgekehrt die Naturrechtler der Aufklärungszeit sich an dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff orientiert haben. Spätestens im 19. Jahrhundert verbindet das Konzept allgemeiner Gesetze mit Ideen des politischen Liberalismus, insbesondere mit dem Postulat der Herrschaft des Gesetzes (rule of law). Seither jedenfalls wird dieser Gesetzesbegriff als rational[4] oder, wenn man ihn abwerten will, als rationalistisch gekennzeichnet. Für Max Weber bedeutete die Entscheidung nach generellen Regeln den Höhepunkt der Rechtsentwicklung zur formalen Rationalität.

Bei Max Weber wird vermutlich auf der Tagung in Münster Christoph Möllers anknüpfen mit einem Vortrag über »Allgemeines Gesetz als Modus der Legalität«. Ob es dazu noch etwas Neues gibt?

Die Kehrseite des allgemeinen Gesetzes ist das Gleichheitspostulat. Die gleiche Behandlung gleicher Fälle lässt sich wohl[5] nur über allgemeine Gesetze erreichen. Deshalb ist es ein Erfordernis des Rechtsstaats, dass grundsätzlich nach allgemeinen Regeln verfahren wird.

Allgemeinheit des Gesetzes fordert nur, dass persönliche Eigenschaften der Betroffenen nicht von Fall zu Fall unterschiedlich berücksichtigt werden. Die Gleichheitssätze in Verfassungen und Menschenrechtserklärungen verlangen mehr. »Abstrakt« könnte das allgemeine Gesetz die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen oder gar von Freien und Sklaven zulassen. Aus der naturrechtlichen Gleichheitsvorstellung folgt aber die politische Forderung, dass bestimmte persönliche Eigenschaften weder bei der Gesetzgebung noch bei der Gesetzesanwendung einen Unterschied machen sollen.

Die Allgemeinheit des Gesetzes verlagert die Konkretisierung in die Anwendung des Gesetzes und erzeugt damit die Notwendigkeit der Interpretation, welche die zentrale Aufgabe der Rechtswissenschaft ausmacht. Die Kritik der Rechtsform setzt an der Allgemeinheit der Gesetze an. Sie trifft aber nur die relativ wenigen Fälle, in denen die Gesetze eine klare Sprache sprechen, die im konkreten Fall zu einem unangemessenen Ergebnis führt. Der Normalfall ist eine Interpretationsfähigkeit, die das allgemeine Gesetz anpassungsfähig macht.

Die Allgemeinheit der Regel impliziert Dauerhaftigkeit. Rechtsgesetze sind jedoch, im Gegensatz zu Naturgesetzen, nicht ewig, sondern änderbar. Die moderne Gesetzesflut, die zum größten Teil aus Gesetzesänderungen besteht, stellt die Allgemeinheit des Gesetzes auf eine harte Probe. Man spricht von einer Temporalisierung des Rechts. Sie ändert aber nichts daran, dass Gesetze für die Dauer ihrer Geltung als allgemein verstanden werden können. Eine gewisse Absicherung der Allgemeinheit gegenüber der laufenden Änderung liegt in dem Verzicht auf Rückwirkung von Gesetzen.

Unterhalb des Gesetzes gibt es viele singuläre Normen.  Individuelle Rechtssätze, die, anders als Urteile und Verwaltungsakte, nicht aus generellen Normen abgeleitet werden, finden sich hauptsächlich in Verträgen. Es wäre höchst unpraktisch, ist aber denkbar, dass das gesamte Recht nur aus einer Menge von individuellen Imperativen bestünde, die auf Grund ihrer Quelle, eines irgendwie als Rechtssetzer tätigen Imperators, als Recht erkennbar wären und die sich mit einmaliger Anwendung erledigt hätten. Aus »praktischen Gründen« enthalten jedoch ausnahmsweise auch Parlamentsgesetze individuelle Normen, so z.B. das Gesetz über die »Südumfahrung Stendal« (BVerfGE 95, 1). Der Regelfall ist jedoch das allgemeine Gesetz, das auf eine unbestimmte Anzahl von Fällen anwendbar ist.

Der Gesetzgeber entscheidet »unter dem Schleier des Nichtwissens« (Rawls), d. h, ohne zu wissen, wer konkret im Einzelfall von dem Gesetz betroffen sein wird. Die Anwendung im Einzelfall ist Aufgabe der Behörden und Gerichte. Als Einzelfallgesetz bezeichnet man ein solches, dass zwar allgemein formuliert ist, de facto aber nur einen besonderen Fall betrifft. Das Gesetz über die »Südumfahrung Stendal« war dagegen ein Maßnahmegesetz. Maßnahmegesetze installieren keine auf Dauer angelegte Ordnung. Sie verfolgen einen relativ konkreten Zweck und machen sich, wenn sie erfolgreich sind, selbst überflüssig. Die Unterscheidung vom Einzelfallgesetz und von allgemeinen Gesetzen ist schwierig.[6] Einen begriffsprägenden Beiklang erhielt das Maßnahmegesetz durch Ernst Fränkel. 1941 veröffentlichte er im amerikanischen Asyl das Buch »The Dual State«.[7] Darin stellte er als Wesenszug des »Dritten Reiches« die Verdrängung des Rechtsstaats durch einen Maßnahmenstaat heraus.

Eigentlich sollte das Grundgesetz nach schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik und bösen Erfahrungen in der Nazizeit Einzelfall- und Maßnahmegesetze verbieten.[8] Doch das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes ist in Art. 19 I 1 GG nur schwach verankert, nämlich nur für solche Gesetze, welche Grundrechte einschränken. Es wird aber anerkannt, dass der Rechtsstaat als Institution auf allgemeine Gesetze angewiesen ist. Damit Gewaltenteilung funktionieren kann, braucht es die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative und als Bindeglied zwischen den dreien das Gesetz.

Es wäre voreilig, der Allgemeinheit des Gesetzes ein Ende vorauszusagen, weil die Digitalisierung einen personalisierten Zugriff auf die einzelnen Bürger gestatten könnte.[9] Die Wirtschaft verfügt längst über einen Datenstrom, der es ihr gestattet, dem Einzelnen mit oder ohne Nachfrage Angebote zu machen, die zu seiner Bedarfs- und Risikostruktur passen. In der Rechtsanwendung hat eine datenbasierte Personalisierung mit dem Vorstrafenregister und dem Flensburger Verkehrszentralregister Einzug gehalten. Für die Rechtssetzung sind personalisierte Imperative nicht undenkbar. Es gibt sie schon in Gestalt von Verträgen und individuell zugemessenen Sanktionen Erlaubnissen und Verboten. Sie beruhen jedoch stets auf allgemeineren Gesetzen. Die Verwaltung wird mit einiger Sicherheit mehr und mehr digitalisiert. Das automatisierte Mahnverfahren kann man als den Beginn einer digitalisierten Justiz ansehen. Bestrebungen der Politik, eine Geschlechtswahl durch Willenserklärung zu ermöglichen, kann man als Einstieg in ein personalisiertes Recht interpretieren. Personalisiertes Recht wird unvermeidlich zu neuen Kategorisierungen führen. Die werden dann früher oder später wieder durch Gleichheitsforderungen in Frage gestellt werden. Bevor man weiß, wie sich die Dinge konkret weiterentwickeln, ist es schwer, normative Beurteilungsmaßstäbe zu finden. Ein Schreckgespenst personalisierten Rechts ist das chinesische Sozialkreditsystem.

Ohne allgemeine Gesetze gibt es also keine Gewaltenteilung, keine Rechtsanwendungsgleichheit und keine Rechtssicherheit. Für den Einzelfall bietet die Allgemeinheit des Gesetzes einen Schutz vor Willkür. In der Allgemeinheit der Rechtsnorm, so H. L. A. Hart[10] steckt der Kern der Gerechtigkeit:

»Somit haben wir bereits selbst dann, wenn die schlimmsten Gesetze gerecht angewandt werden, im bloßen Begriff der Anwendung einer allgemeinen Rechtsregel zumindest den Kern der Gerechtigkeit.«

Das klingt ganz anders als die Kritik des Fuller-Buches »The Morality of Law« (1964) im Harvard Law Review 78, 1965, 128, die die Hart-Fuller-Kontroverse[11] auslöste.

Die Allgemeinheit des Gesetzes ist Ansatzpunkt für die Rechtskritik. Dazu folgt ein weiterer Eintrag.

Fortsetzung


[1]  Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004, 5ff.

[2] Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1948, S. 4.

[3] Ich ziehe den Formbegriff an dieser Stelle vor, weil er mit »Inhalt« einen prägnanten Gegenbegriff hat. Der Strukturbegriff wird erst in spezifischen Kontexten gehaltvoll. Einen solchen Kontext bietet die kognitionspsychologische Theorie der strukturellen Analogie. Ein Beispiel gibt die Metapher vom Staat als Maschine. Staat und Maschine haben äußerlich nichts gemeinsam. Vergleichbar ist nur die Relation oder Funktion der unterschiedlichen Bestandteile zu zueinander, die unsichtbare Strukur. Die Theorie geht zurück auf einen Aufsatz von Dedre Gentner, Structure‐Mapping: A Theoretical Framework for Analogy, Cognitive Science 1983, 155-170.

[4] Robert Alexy: »Voraussetzung praktischer Rationalität« (Theorie der Grundrechte, 1985, 90ff).

[5] Die Alternative wäre eine Bindung an Präjudizien. Nach sozusagen herrschender Meinung funktioniert die aber nur, wennn man dem Präjudiz eine Regel entnimmt.

[6]  Grundlegend Ernst Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, 221-236; Konrad Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963.

[7] Der Doppelstaat. Recht und Justiz im Dritten Reich, 1974.

[8] Konrad Sahlfeld, Die Einzelfallgesetzgebung – ein Streiflicht, in: FS für Paul Richli, 2011, 837-855. Sahlfeld erinnert daran, dass Klaus Stern (Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 712ff) das Verbot von Einzelfallgesetzen stärken wollte, während das Bundesverfassungsgericht sich scheut, Gesetze aus einem derart formalen Grunde zu vernichten. Wichtige Literatur zur Allgemeinheit des Gesetzes: Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Christian Starck (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 10-48; Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes. Über einen notwendigen Garanten der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie, 2009; ders., Die Funktion des allgemeinen Gesetzes, in: Winfried Kluth/Günter Krings (Hg.), Gesetzgebung, 2014, 95-121.

Nüchterner bilanziert Zoldan die Vor- und Nachteile von Einzelfallgesetzen. Sie könnten den politischen Prozess korrumpieren, eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zur Folge haben und als Einmischung des Gesetzgebers in Justiz und Verwaltung die Gewaltenteilung stören. Gelegentlich sei solche Gesetzgebung aber auch von Vorteil, etwa bei lokalen Problemen oder zur Unterstützung unterprivilegierter Minoritäten und ausnahmsweise sogar zur Herstellung von Gleichbehandlung. Wünschenswert seien jedoch Sicherheitsvorkehrungen für das Gesetzgebungsverfahren wie qualifizierte Mehrheiten und besondere Partizipationsmöglichkeiten (Evan Craig Zoldan, Legislative Design and the Controllable Costs of Special Legislation, 2018, SSRN 3259678.).

[9] Cass R. Sunstein erwägt den Einstieg in personalisiertes Recht mit den sog. default rules (Deciding by Default, University of Pennsylvania Law Review 162, 2913, 1-58, S. 48ff). Aus der neueren Literatur: Philip Maximilian Bender, Grenzen der Personalisierung des Rechts, 2022; Hans Christoph Grigoleit, Distinctions and Clarifications for the Debate on Personalized Law, 2021, SSRN 4150745; Sandra Gabriel Mayson, But What Is Personalized Law?, University of Chicago Law Review Online, 2021 = SSRN 4100511.

[10] Herbert L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, 284.

[11] Zu dieser Peter Cane (Hg.), The Hart-Fuller Debate in the Twenty-First Century, 2010; Kristen Rundle, Forms Liberate. Reclaiming the Jurisprudence of Lon L. Fuller, 2012; Daniel Priel, Reconstructing Fuller’s Argument Against Legal Positivism, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 26, 2013 = SSSRN 2244594; Frederick Schauer, Fuller and Kelsen — Fuller on Kelsen, ARSP Beiheft 163, 2020, 309-318 = SSRN 3607099.

 

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Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken

»Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« lautet das Generalthema der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster stattfinden soll. Dazu der Untertitel: »Rechtsphilosophie zwischen Abstraktion und Konkretion«. Der Eröffnungsvortrag von Ulfried Neumann ist überschrieben »Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken«. Genau das war das Thema der IVR-Tagung in Saarbrücken vor 35 Jahren. Dazu referierte damals Arthur Kaufmann.[1] Die Thematik ist anscheinend unerschöpflich.

Es liegt nahe zu fragen, wie sich die Vorstellungen über das Verhältnis von Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken über  die 35 Jahre seit der Tagung von 1990 verändert haben. Die Frage habe ich an   ChatGPT und an Microsoft Copilot gestellt. Die Antworten sind gar nicht schlecht. Aber das mag jeder selbst ausprobieren. Ich will hier den Versuch unternehmen, meine Beobachtung des Rechts unter dem Aspekt von konkret und abstrakt zu ordnen, zusammenzufassen und vielleicht auch zu ergänzen, indem ich zusammentrage, was auf Rsozblog und in meinen Notizen zum Thema zu finden ist. Wie immer auf Rsozblog geht es mir nicht darum, die wissenschaftliche Literatur zu bereichern, sondern darum (unter den virtuellen Augen der Öffentlichkeit) die eigenen Gedanken zu ordnen.

Beginnen müsste man wohl damit, dass man abstrakt über Abstraktion  nachdenkt, und das heißt konkret über Begriffsbildung. Dazu steht einiges in dem Eintrag »Abstrakt und Konkret« vom 10. 1. 2021. Dort steht bereits der Hinweis, dass der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts die Formulierung allgemeiner Regeln ist. Daher muss die Allgemeinheit des Gesetzes zum Thema werden. Historisch hat sich die Rechtswelt vermutlich vom Fall zur Regel entwickelt. Regeln entstanden erst aus der Vorbildwirkung von Einzelfallentscheidungen. Sie waren zunächst bloß, wie es in der Digestenstelle D. 50,17,1 heißt, ein Kurzreferat des Falles (»breviter enarrat«). In der Moderne hat sich Priorität umekehrt. Die Regel steht vor dem Fall. Der Weg dahin führte über Juristen, die sich das »Referat« von Fällen zum Beruf machten, zu Autoritäten, die Regeln setzen. Daraus ist die Allgemeinheit des Gesetzes als Grundprinzip des modernen Rechtsstaats gewachsen. Die Frage steht im Raum, wieweit dieses Prinzip in der Postmoderne gelitten hat.

Am Beginn steht also das Verhältnis von Fall und Regel. Dazu gab es auf der Tagung von 1990 einen Vortrag von Lüderssen[2] (mit denen ich nicht viel anfangen kann). Auf Rsozblog finden sich gleich drei Einträge zum Thema. Der erste Eintrag vom 20. August 2025, überschrieben Casus und Regula, beginnt mit einer Auflistung von Fragen, die sich aus dem Verhältnis von Fall und Regel, von konkret und abstrakt ergeben, um dann, ausgehend von der Digestenstelle  D. 50, 17 auf den (angeblichen?) Methodenstreit der Prokulianer und Sabinianer über den Vorrang von casus oder regula einzugehen. Der Folgebeitrag vom 1. 11. 2015  erinnert an die daran anschließende Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen. Der abschließende Eintrag vom 11. 11. 2015 handelt von dem Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«. Das Verhältnis von Fall und Regel ist noch einmal im Eintrag vom 22. 11. 2022 Thema im Zusammenhang mit der Analogie, genauer, mit er Frage, ob die Verwertung eines Präjudizes die Anwendung einer der präjudiziellen Entscheidung entnommenen Norm bedeutet oder ob es unmittelbar die Ähnlichkeit des Falles ist, die die Folgeentscheidung bestimmt.

Zum Verhältnis von Fall und Regel will ich noch einige Sätze über

Einzelfallvorbehalt und Verallgemeinerungsgrundsatz

ergänzen: Kann man sich ein Recht ohne Regeln vorstellen? Schon die Römer waren sich nicht einig, ob der gerechten Lösung des Einzelfalls oder einer regelgeleiteten Entscheidung der Vorrang gebühre. Ohne Regel kann man nicht subsumieren, sondern muss abwägen. Aber die Abwägung kann doch in verschiedener Absicht erfolgen. Sie kann zum Ziel haben, eine Regel zu formulieren, um sie dann auf den Fall anzuwenden. Die Abwägung kann sich aber auch darauf beschränken, den Streitfall nur aus seinem Kontext heraus einer Lösung zuzuführen.

Der praktische Unterschied zwischen einer bloßen Einzelfallabwägung und einer regelbewussten Entscheidung liegt darin, dass letztere den konkreten Fall aus größerer Distanz betrachtet, weil sie gleichzeitig andere Fälle bedenkt, auf welche die Regel anwendbar sein könnte. Eine Regel bedeutet immer eine Abstraktion. Der Tatbestand muss griffig gehalten werden. Eine Regel kann daher nie alle Umstände des Falles berücksichtigen, sie ist immer nur eine Faustregel. Regeln sagen nicht nur, was für die Entscheidung relevant sein soll; wichtiger noch, sie verbieten die Berücksichtigung aller nicht genannten Umstände als irrelevant. Eine regelbewusste Entscheidung führt dazu, viele Umstände des Einzelfalles, die den Parteien und auch manchen Beobachtern bedeutsam erscheinen mögen, für unerheblich zu erklären. Die Einzelfallabwägung geht näher an den Fall heran. Sie kann mehr und konkretere Details aus seinem Umfeld berücksichtigen. Nichts ist von vornherein unwichtig. Im Idealfall ergeht die Entscheidung aufgrund »aller Umstände des Einzelfalles«.

Allgemein gedachte Gesetze machen den Kern des modernen Rechts aus. Für eine Einzelfallabwägung ist grundsätzlich kein Platz. Der Grundsatz kennt drei Ausnahmen. Die erste Ausnahme, ist der Fall, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu einem für untragbar gehaltenen Ergebnis gelangt. Dann gestattet der Gedanke der Billigkeit im Einzelfall eine Abweichung.[3] Der zweite Fall ist derjenige, dass das Gesetz eine Lücke zu haben scheint. H. L. A. Hart stellte in diesem Fall die Entscheidung in das richterliche Ermessen. Dworkin dagegen hätte die Entscheidungen in Prinzipien gesucht. Der Dritte Fall ist dem zweiten ähnlich, nur dass die Lücke insofern offen ist, als das Gesetz mit absichtlich unbestimmten Begriffen arbeitet. Für diesen Fall steht das Gericht vor der Frage, ob es sich auf den Einzelfall konzentrieren oder bedenken soll, dass seiner Entscheidung eine Regel entnommen werden könnte.[4]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Abwägung im Einzelfall zur Methode der Wahl gemacht. Es weigert sich, als Ergebnis der Abwägung »Vorrangbedingungen« zu formulieren. Pawlowski hat auf die grundlegende Bedeutung dieses Vorgangs hingewiesen: An sich ist die Güter- oder Interessenabwägung ein herkömmliches Konzept, um unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen. Doch mit einer Güterabwägung ist es nicht getan. Es soll sich um eine »Güterabwägung im Einzelfall« handeln. Am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts:

»So wurde – und wird – das Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung von Privatbriefen und Tagebüchern bereits im vergangenen Jahrhundert damit begründet, dass dem Interesse des Verfassers nach derartigen Aufzeichnungen an der Achtung seine Privatsphäre größeres Gewicht beizumessen sei, als dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit – was z.B. J. Kohler ausführlich mit rechtsvergleichenden Belegen dokumentiert hat. Diese ›Abwägung‹ führt aber dann zu dem generellen Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung derartiger Schriftstücke. Die Abwägung wird hier also als Mittel zur Ableitung neuer allgemeiner Rechtssätze eingesetzt.

Im Rahmen des neuen Konzepts dient die Abwägung dagegen der Entscheidung des Einzelfalles. Dies wird z.B. besonders deutlich in dem abweichenden Votum Rupp-v. Bruennecks in der ›Mephisto-Entscheidung‹ des Bundesverfassungsgerichts. Sie stützte nämlich ihre Ablehnung der Mehrheitsentscheidung unter u.a. darauf, dass die Mehrheit bei ihrer Abwägung zwischen dem Grundrecht der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Romanfigur das Emigrantenschicksal des Autors (Klaus Mann) nicht berücksichtigt habe. Das macht deutlich, dass es bei dieser Art Abwägungen um Argumente geht, die nicht verallgemeinerungsfähig sind: Man wird nicht davon ausgehen können, dass Emigranten allgemein die Befugnis zuerkannt werden kann, das Persönlichkeitsrecht von Nicht-Emigranten stärker zu beeinträchtigen als andere Bürger. Die ›Abwägung‹ orientiert sich hier vielmehr an der Biographie (an der ›Geschichte‹) zweier Einzelpersonen mit allen ihren Implikationen.« [5]

In der Aufgabe des Allgemeinheitsgrundsatzes zugunsten der Abwägung im Einzelfall sieht Pawlowski einen grundsätzlichen Wandel des Rechtsdenkens und der Rechtskultur. Die Ursache dieses Wandels findet er darin, dass Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht nicht aus Normen, sondern unmittelbar aus Werten abgeleitet werden.[6] Das hat zur Folge, dass selbst dort, wo Regeln vorhanden sind, diese im Einzelfall in einem »Anwendungsdiskurs« aufgeweicht werden.[7] Anwendungsdiskurse gehen zwar von einer Regel aus. Die soll dann aber in Anwendungssituationen auf ihre »Angemessenheit« geprüft werden. Das Prinzip der Angemessenheit umfasst vor allem die Berücksichtigung aller Umstände der Situation. Als Folge wird den Regeln nur eine Art Prima-Facie-Geltung zugebilligt und der konkreten Entscheidung von vornherein die Verallgemeinerungsfähigkeit genommen. Maus  spricht kritisch von einer faktischen Remoralisierung des Rechts durch die Werte-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.[8]

Soweit es keine Regeln gibt und Regeln auch gar nicht das Ziel sind, ist die Abwägung offen für den fallweisen Zugriff auf politische oder moralische Gesichtspunkte oder für den Rückgriff auf konkret anschauliche Vorstellungen von ausgleichender Gerechtigkeit. Solche Moralisierung nennt man gewöhnlich Kadijustiz. Die Bezeichnung ist nicht unbedingt abwertend gemeint. Es gibt, angefangen bei dem Urteil des Königs Salomo, viele wunderbare Beispiele. Aber Kadijustiz ist eine andere Art der Gerechtigkeit, nämlich solche in Ansehung der Personen und ihrer Relationen.[9] Es ist alte juristische Tradition, politische oder moralische Gesichtspunkte nur ganz ausnahmsweise heranzuziehen, wenn die Anwendung einer Regel im Einzelfall zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

Regelbewusstes Entscheiden ist nicht unbedingt »rationaler« als die fallorientierte Abwägung. Die unvermeidliche »Irrationalität« wird nur vom konkreten Fall auf die abstraktere Regel verlagert. Ob man sich der Entscheidung mit einer Regel nähert, von der man unter ganz besonderen Umständen abweicht, oder ob man von vornherein auf die besonderen Umstände des Falles abstellt, läuft auf eine unterschiedliche Verteilung der Argumentationslast hinaus. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass sich auch der Gleichheitssatz, ja vielleicht sogar die Grundrechte, in Argumentationslastregeln erschöpfen.

Regelbildung ist grundsätzlich nicht das Ziel der Rechtsprechung.[10] Die Gerichte haben Einzelfälle zu entscheiden. Doch diese Funktionsbeschränkung gilt nur, solange Regeln vorhanden sind. Fehlt es an einer Regel, so ist Rechtsfortbildung gefordert. Auch wenn man nicht so weit geht wie Langenbucher[11], die die Ausarbeitung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, die in künftigen Gerichtsurteilen als Entscheidungsgrundlage dienen kann, zum Ziel der Rechtsfortbildung erklärt, so bleibt der Grundsatz der Verallgemeinerung, nach dem man sich jede Einzelfallentscheidung als regelgeleitet vorstellt, doch die regulative Idee, die der Entscheidung ihre Rechtsqualität verleiht. Dazu muss die Regel gar nicht abstrakt ausformuliert werden. Aber sie sollte jedenfalls aus dem Präjudiz rekonstruierbar sein und eine Rekonstruktion nicht durch einen Einzelfallvorbehalt abgeblockt werden. Die Verfassungsrechtsprechung neigt dazu, regelverachtend die in Gesetz und Dogmatik vorhandenen Strukturen »durch immer feiner ziselierende und letztlich nur im Einzelfall und in der Einzelfallgerechtigkeit ein Ende findende Verhältnismäßigkeitsüberlegungen« aufzulösen.[12] Sie sollte stattdessen, um es mit Alexy zu formulieren, Vorrangbedingungen festlegen, unter denen das eine oder andere der konkurrierenden Rechtsgüter zu weichen hat.

Fortsetzung:
Die Allgemeinheit des Gesetzes


[1] Arthur Kaufmann, Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 1992, 77-100. In der ersten Hälfte des Vortrags zählt Kaufmann auf, was er alles nicht behandeln will. In der zweiten Hälfte unterbreitet er die These von der Universalisierbarkeit eines negativen Utilitarismus.

[2] Klaus Lüderssen, Regel und Fall, ARSP-Beiheft 45 1992, 129-142.

[3] Franz Bydlinski, Allgemeines Gesetz und Einzelfallgerechtigkeit, in: Christian Starck (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 49-79;

[4] Nicht hierher gehören die Fälle in denen die Generalisierung in einem Gesetz generell angreifbar ist, insbeondere weil sie gegen Grundrechte verstößt. So können Gesetze allgemeine, personenbezogene Merkmale verwenden, die sich unter Gleichheitsgesichtspunkten als diskriminierend erweisen. Das ist das Thema von Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung. Verfassungsrechtliche Grenzen statistischer Diskriminierung, 2008. Britz sprich von »Generalisierungsunrecht«.

[5] Hans-Martin Pawlowski, Allgemeines Persönlichkeitsrecht oder Schutz der Persönlichkeitsrechte?, JbRSozRTh 12, 1987, 113-132, S. 118.

[6] Hans-Martin Pawlowski, Werte versus Normen, ZRph 2004, 97-110.

[7] Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988, S. 188.

[8] Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 1989, 191–210, 199.

[9] Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3 Aufl. 1999, 25 ff.

[10] Auf der IVR-Tagung 1990 referierten Jörg Berkemann und Günter Ellscheid zum Thema »Probleme der Regelbildung in der richterlichen Entscheidungspraxis« (ARSP-Beiheft 45, 1992, 7-22, und 23-35). Berkemann ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Rechtsprechung Normen zu bilden hat, und konzentrierte sich auf eine Kritik der Methodenlehre. Ellscheid begann (S. 23)  mit der Feststellung: »Der Gleichheitssatz verlangt, dass der Richter, soweit er bei einer Konkretisierung und Fortbildung des Rechts Entscheidungs- oder Ermessensspielräume hat, diese nach einheitlichen, und das kann nur heißen, fallübergreifenden Kriterien ausfüllt, also die Regel angibt, nach der er entchieden hat und daß er eine etwa von ihm aufgestellte Regel nicht leichtfertig wieder aufgibt.«, um sich dann Problemen der Abwägung bei der Konkretisierung von Grundrechten und unbestimten Rechtsbegriffen zu widmen.

[11] Katja Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996.

[12] Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401–409, S. 408.

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Was Juristen über Wissen wissen müssen

Der Begriff des Wissens ähnlich schwer zu fassen wie der des Rechts.[1] Es fehlt an einer allgemein geteilten Definition. Die Tendenz geht dahin, den Wissensbegriff so aufzulösen, dass alles und jedes mit ihm verknüpft werden kann. Wenn man die Reihe der Komposita aus der Einleitung Trutes zu dem von H. C. Röhl herausgegebenen Sammelband[2] aufruft, kann einem schnell schwindelig werden: Wissenserzeugung, Wissensdistribution, Wissensinfrastruktur, Wissenssoziologie, Wissensforschung, Allgemeinwissen, Sonderwissen, Entscheidungswissen, Wissensbestand, Wissenskontext, öffentliches und nichtöffentliches Wissen, Experten- und Laienwissen, Erfahrungs-, Fakten-, Regel- und Rezeptwissen, explizites, formalisiertes und informelles Wissen, Wissensordnung, Wissensqualität, Wissensregime, Wissenshierarchie, Wissensgrundlage, Wissensasymmetrie und nicht zuletzt Wissenschaft und Nichtwissen.[3]

Um nicht in die Tiefen der Philosophie und Erkenntnistheorie einzutauchen, verenge ich das Thema auf satzförmiges (propositionales) Wissen. Wissen kann also alles zum Inhalt haben, was durch Sprache transferierbar ist. Ich lasse damit phänomenologisches Wissen (ich weiß, wie sich Schmerz anfühlt) und implizites Wissen außer Betracht. Polanyis berühmtes Dictum »one can know more than one can tell« kehren wir um: Wir können mehr als wir wissen.

»We know a person’s face, and can recognize it among a thousand, indeed among a million. Yet we usually cannot tell how we recognize a face we know. So most of this knowledge cannot be put into words.«[4]

Es kommt zunächst nicht darauf an, ob der Inhalt der Sätze richtig oder falsch, wahr oder gerechtfertigt, plausibel oder absurd ist. Intersubjektive Transferierbarkeit heißt nämlich nicht, Transmissibilität der Akzeptanz einer Proposition ihrem Inhalt nach, sondern lediglich Möglichkeit des gleichsinnigen Verständnisses. Zur weiteren Eingrenzung des Themas bewährt sich die Verwendung von Gegenbegriffen[5].

Wissen und Information: Man unterscheidet Zeichen, Daten und Informationen. Nackte Zeichen – die Buchstabenreihe oder die Zahlenreihe, einzelne Bits oder Bytes, die nach dem ASCII-Standard oder Unicode arrangiert sind oder als Pixel einen Bildpunkt definieren – stehen für sich. Sie werden zu Symbolen, wenn sie in einer Weise zusammengefügt sind, dass sie zu Bedeutungsträgern werden, die in Sätzen verwendet werden können wie Worte oder Bildzeichen. Zeichen werden zu Daten, wenn sie mit Sachverhalten beliebiger Art verknüpft sind. Daten als solche haben noch keinen Verwendungsbezug. Es handelt sich um Informationen im Speicher- und Transportzustand.[6] Daten enthalten potenziell Informationen. Werden Daten als Informationen wahrgenommen, so werden sie zu Wissen. Informationen treten zunächst vereinzelt auf. Aus Wetterdaten erhalte ich die Information, dass es 11. 11. 2024 um 12 Uhr in Düsseldorf geregnet hat. Eine solche isolierte Information wird man kaum als Wissen ansprechen. In der Regel werden erst viele singuläre Informationen zu relevantem Wissen zusammengefügt. So ergibt sich aus einzelnen Wetterinformationen Klimawissen. Der Wissensbegriff ist also auf Steigerung oder Vermehrung angelegt, indem möglichst viele Informationen kombiniert werden.

Daten, Information und Wissen sind auch Rechtsbegriffe. Doch findet man in keiner der einschlägigen Vorschriften universelle Definitionen. Art. 4 Nr.1 DSGVO und § 1 BDSG definieren nicht eigentlich, was Daten sind, sondern qualifizieren bestimmte Daten als personenbezogen. § 2. IFG betrifft informationshaltige Daten im Speicherzustand, ebenso § 2 III UIG. Dagegen geht es in § 5 TMG um bestimmte Inhalte als Information. Als Information in diesem Sinne kann man auch Geschäftsgeheimnisse i. S.von § 2 I 1 GeschGehG einordnen. § 312f III BGB spricht von »digitalen Inhalten, die nicht auf einem körperlichen Datenträger bereitgestellt wurden«. Das entspricht § 202a II StGB. Danach sind Daten, die gegen das Ausspähen geschützt sind, »nur solche, die elektronisch, magnetisch oder sonst nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert sind oder übermittelt werden«. Diese Definition passt auch auf Daten, die in § 12a EGovG als offene qualifiziert werden.

Objektiv(iert)es Wissen und subjektives Wissen (Kenntnis): Wissen, so sagt Schrader, sei personaler Natur, nämlich von Menschen wahrgenommene, verstandene Information. Er weist darauf hin, dass das BGB z. B. in § 1472 II Wissen und Kenntnis synonym verwendet.[7] In rechtlichem Zusammenhang kommt es in der Regel nicht auf das irgendwo vorhandene Wissen, sondern auf subjektives Wissen = Kenntnis bestimmter Personen von bestimmten Tatsachen an. Nur subjektives Wissen kann moralisch und rechtlich zugerechnet werden. Nur für subjektiv vorhandenes Wissen gilt scientia potestas est (Francis Bacon): Wissen ist Macht. Aber Wissen ist grundsätzlich nicht an Personen gebunden. Es wird auf vielfältige Weise personenunabhängig gespeichert und transportiert. Von objektiviertem Wissen kann man sprechen, wenn es irgendwie in wiedergewinnbarer Form geäußert worden ist, und sei es auf Keilschrifttafeln, die nur Archäologen entziffern können. Der Gegenbegriff verweist in diesem Zusammenhang also nicht auf »Objektivität«, sondern nur darauf, dass das Wissen irgendwo auf der Welt durch Zeichen oder Symbole als Information festgehalten und so zum Objekt geworden ist.

Privates und externalisiertes Wissen: Nicht mitgeteilte Gedanken oder Beobachtungen (»Ich habe die Idee, dass … ; »ich wollte nicht, dass mein Schlag tödlich ist«, »ich fürchte mich vor der Zukunft«, »ich habe einen Blitzeinschlag gesehen«) bleiben privat. Gedanken müssen erst externalisiert werden, so dass sie von anderen wahrgenommen werden können, um als Wissen relevant zu werden. Normalerweise geschieht die Externalisierung durch einen Kommunikationsakt des Wissensträgers, also durch Wort, Schrift oder andere Zeichen. In juristischem Zusammenhang ist oft privates als subjektives Wissen relevant. Es wird gelegentlich auch durch Indizien zugänglich gemacht oder es wird durch eine Pflicht zur Kenntnisbeschaffung ersetzt, wie in § 932 II BGB.

Wissen und Unwissen: Von Unwissen zu reden macht nur Sinn, wenn Wissen unabhängig von subjektivem Wissen vorhanden ist. Wenn man weiter fragt, gerät man schnell in die Abgründe der Erkenntnistheorie. Jedenfalls lässt sich Unwissen nur behaupten, wenn andere mindestens über subjektives Wissen verfügen, dass sie für wahres Wissen halten.

Wissen und Irrtum: Irrtum (z. B. in § 119 II BGB) setzt Wissen als Gegenbegriff voraus. Das Begriffspaar macht jedoch nur für empirisches Wissen Sinn. Empirisches Wissen ist nicht unbedingt Faktenwissen, jedenfalls nicht im Alltagsverständnis dieses Begriffs. Normen, Werte und Religion sind als solche keine Fakten. Aber was über diese drei gesagt oder geschrieben wird sowie die Überzeugungen anderer sind doch Fakten, die man wissen kann. Insoweit ist Wissen über Normen, über ihren Inhalt und ihre Geltung, empirisches oder Faktenwissen, über das man irren kann.

Wahres und falsches Wissen: Die Wahrheitsfrage zielt auf den Inhalt der Sätze, die als Wissen zirkulieren. Radikaler Skeptizismus will uns sagen, dass praktisch alles, was wir zu wissen glauben, angezweifelt werden könne. Es lohnt es sich nicht, hier in die Wahrheitstheorien einzusteigen. Wir gehen davon aus, dass mindestens Sätze mit analytischem, logischem und empirischem Gehalt wahrheitsfähig sind. In juristischem Zusammenhang geht es meistens um die Frage, ob empirisches Wissen wahr oder falsch ist. Der Empirie zugänglich ist schon die Externalisierung des Wissens auf einen Wissensträger und die anschließende Wahrnehmung. Hier zeigt sich wieder das Phänomen der Sprachstufen. Es gibt also wahres Wissen über falsches Wissen, so wenn wir erfahren, dass Menschen annehmen, der Klimawandel sei allein durch Sonnenfleckenaktivitäten verursacht.

Wissen und Überzeugung: Aus der Kenntnis von Begriffskonstruktionen, Konzepten und Normen folgt nicht unmittelbar deren Billigung oder gar Übernahme. Analoges gilt für Wissen über Religion und Kultur.

Wissen und Glauben: Zu Propositionen (Behauptungsätzen) kann man unterschiedliche Einstellungen haben. Wissen kommt nur bei solchen Propositionen in Betracht, die man für wahr halten kann. Glauben kann man auch Sätze, von denen klar ist, dass sie sich nicht beweisen lassen. Man kann aber auch an beweisbare Sätze glauben, ohne dass der Beweis erbracht ist.

Sicheres und unsicheres Wissen: Sicherheit oder Unsicherheit kann sich auf Kenntnis oder auf den Gegenstand des Wissens beziehen. Ich weiß mit Sicherheit, dass die Erde rund ist, bin aber unsicher, wer das als erster behauptet hat. Ich weiß sicher, dass unsicher ist, wie sich das Covid-19-Virus ohne den Lockdwon ausgebreitet hätte.

Eigenes Wissen und übernommenes Wissen: Empirisches Wissen im engeren Sinne kommt aus eigener Anschauung und Erfahrung. Das meiste Wissen wird jedoch übernommen. Für die eigene Lebenswelt hat man vielleicht noch den Eindruck, man kenne sie aus Erfahrung. Doch der Eindruck täuscht. Schon meinen Lebenslauf kenne ich zum Teil nur aus Berichten von Eltern und Verwandten. Das Weltwissen dagegen stammt mehr oder weniger vollständig aus sekundären, tertiären oder noch weiter entfernten Quellen. Man lernt es mehr oder weniger planmäßig in Familie und Schule, aus Büchern und anderen Medien oder beiläufig im Umgang mit anderen Menschen. Die Qualität dieses Wissens wird in der Regel gar nicht hinterfragt. Sie ergibt sich unmittelbar aus der sozialen Beziehung zur Wissensquelle. Das Recht begegnet dem sekundären Wissen mit Vorsicht. Aus dem Common Law kennt man die hearsay-rule, die es verbietet, Wissen aus zweiter Hand als Beweismittel zu verwenden, da der Gegner den Sprecher nicht ins Kreuzverhör nehmen kann.

Aktuelles und abrufbares Wissen: Was Menschen als Wissen aufnehmen, bleibt nur zu einem kleinen Teil präsent. Das meiste verschwindet in der Erinnerung. Von dort lässt es sich mehr oder weniger genau abrufen, kann aber auch ganz verloren gehen. In juristischem Zusammenhang entsteht dann oft die Frage, ob ein Mensch verpflichtet ist, seiner Erinnerung aufzuhelfen, sei es mit individueller Anstrengung, sei es mit Hilfe extern gespeicherten Wissens wie Notizen, Akten oder Dateien.

Persönliches Wissen und Akten- oder Datenwissen: Rechtlich relevante Kenntnisse werden typischerweise planmäßig in Akten und Dateien zur Wiedergewinnung festgehalten, von Privaten meist nur in wichtigeren Angelegenheiten. Arbeitsteilige Organisationen müssen solche Informationen schon deshalb speichern, damit unterschiedliche Personen darauf zugreifen können. Viele Aufzeichnungen, Akten und Dateien müssen auch von Rechts wegen vorgehalten werden, etwa für Steuer- und Bilanzzwecke. Was in den Akten ruht, ist denen, die darüber verfügen, nicht immer alles bekannt. Wieweit Aktenwissen rechtlich relevantes Wissen darstellt, hängt daher von Aufzeichnungs- und Wiedergewinnungspflichten ab.

Triviales und relevantes Wissen: Normalerweise will niemand wissen, dass ich heute zum Frühstück genau drei Tassen Kaffee ohne Milch und Zucker getrunken habe. So gibt es unendlich viel irrelevantes und kaum weniger triviales Wissen. Triviales Wissen kann aber im Rechtsstreit schnell relevant werden. Der Hausverkäufer, der morsche Stellen im Gebälk gesehen hat, muss von dieser Information dem Käufer Mitteilung machen, will er eine Mängelhaftung vermeiden.

Einzelfallwissen und gesammeltes Wissen: Vor Gericht streitet man sich meistens um Einzelfallwissen: Hat A am 2. Januar bei XY ein paar Schuhe bestellt? Ist B am 3. Januar auf der XY-Straße mit seinem PKW über 50 kmh gefahren? Hat C drei Kinder, die als Erben in Betracht kommen? In Unternehmen und Behörden wachsen aus vielen solcher Einzelfälle Datensammlungen. Diese Daten werden schon als solche, wenn man sie zur Kenntnis nimmt, zu Wissen. Sie können darüber hinaus ausgewertet werden, um generelles Wissen zu erzeugen. Im Hintergrund stehen detaillierte Rechtsnormen, welche die Sammlung und Verwendung solcher Daten regeln.

Einzelfallwissen und generelles Wissen: Wissenschaft, von der Geschichte einmal abgesehen, interessiert sich für generelles Wissen, das heißt für solches, das sich nicht in einem Ereignis erschöpft, wie es die folgenden Sätze beschreiben: Am 1. Mai hat es geregnet. V hat K am 1. Mai den PKW verkauft. In juristischen Zusammenhängen kommt es dagegen oft auf Einzelfallwissen (Kenntnis) an. Wusste V, dass der verkaufte PKW einen Mangel hatte? In der Literatur unterscheidet man gerne zwischen Wissen, dass, Wissen, warum und Wissen, wie (z. B. Wohlrapp). Wissen, dass ist Einzelfall- oder gesammeltes Wissen. Generelles Wissen antwortet auf die Warum-Frage. Die Frage Wissen, wie ist zweideutig. Sie erwartet als Antwort den Verweis entweder auf unreflektiertes Können oder auf Verfahrensregeln. Das forensich relevante Einzelfallwissen wird auch als Zustands- oder Tatbestandswissen bezeichnet. An die Unterscheidung von Einzelfallwissen und generellem Wissen lässt sich die Differenzierung von (Wissen über) Falltatsachen und Rechtstatsachen anknüpfen.

Individuelles und soziales Wissen: Soziale Erkenntnistheorie (Social Epistemology) betont die soziale Konstituierung und Vernetzung von Wissensbeständen. Danach ist Wissen kein gesicherter Bestand, der bei Bedarf abgerufen wird. Wissen wird vielmehr im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation ständig neu konfiguriert. Mit Alvin Goldman kann man drei Ebenen der Wissenskonsolidierung unterscheiden, nämlich die individuelle Ebene, die Gruppenebene und die Systemebene. Epistemologie ist als Erkenntnistheorie die Lehre vom richtigen Wissen. Wissenssoziologie fragt aus empirischer Sicht, wie sich subjektive Wissensbestände in der Gesellschaft entwickeln. Social Epistemology ist die Erkenntnistheorie des kulturellen Konstruktivismus, die behauptet, dass die Suche nach einem objektiv wahren oder richtigen Wissen verfehlt sei, weil Wissen von vornherein nur als soziales Phänomen in Betracht komme. Wer dagegen die Frage nach empirischer Wahrheit nicht verwirft, zieht die Wissenssoziologie zu Rate, um zu klären, wie sich subjektives Wissen in den Köpfen der Menschen bildet, das dann als soziales Wissen seine Wirkung tut.

Instrumentelles und wertbildendes Wissen: Wissen kann im Rahmen der Zweck Mittel-Relation dazu dienen, bestimmte Handlungsziele zu erreichen. Wissen ist also erforderlich, um Recht als Mittel zum Zweck einzusetzen. Dazu gibt es viele Überlegungen, woher die Entscheidungseinstanzen – Parlamente, Behörden, Gerichte – ihr Sachwissen beziehen. Es liegt jedenfalls nicht einfach so, dass man zu jeder Aufgabe das notwendige Wissen irgendwo nachschlagen oder einen Experten fragen könnte. In diesem Zusammenhang aber wichtiger: Bevor man Wissen instrumentell einsetzt, muss man sich ein Ziel gebildet haben. Die Zielbildung hängt ihrerseits von Wissen, insbesondere über den Ausgangszustand, ab. Zwar beruht die Zielbildung letztlich auf einem Werturteil. Doch dieses Urteil stützt sich auf vielerlei Wissen.

Wissensdurst und Wissenverbote: Wissen ist eine positive Ressource, denn nicht zuletzt gilt: Wissen ist Macht. Eine lange Reihe von Rechtsnormen regelt daher den Erwerb, die Organisation und die Weitergabe von Wissen. Verboten ist z. B. die Forschung an Embryonen. Geboten ist die Geheimhaltung bestimmter Wissensbestände, verboten folglich ihre Weitergabe. Weitgehende Verbote betreffen insbesondere die Datensammlung zur Gewinnung von Wissen.

Fakten- und Normenwissen: Für die folgenden Abschnitte sei noch einmal wiederholt, dass auch das Wissen über die Existenz von Normen als Faktenwissen in Betracht kommt. Insofern gibt es empirisches Wissen über das (positive) Recht, und zwar sowohl als objektives Wissen wie auch subjektiv als Rechtskenntnis.

»Wissen und Recht« sind keine Antonyme, sondern eine Verlegenheitsüberschrift wie law & something, »Recht und Gesellschaft«, »Recht und Kultur« usw. Es gibt praktisch kein Rechtsthema, das man nicht in irgendeiner Weise aus einer Wissensperspektive behandeln könnte. Das demonstriert, gekonnt und mit vielen Nachweisen, Laura Münkler in dem einleitenden Beitrag »Wissen − ein blinder Fleck des Rechts?«, um eine Forschungslücke und damit Bedarf für den von ihr herausgegebenen Sammelband »Dimensionen des Wissens im Recht« (2019) zu begründen.


[1] Mein Favorit aus der allgmeinen (d. h. , nicht auf das Recht bezogenen Literatur, ist Duncan Pritchard, What is this Thing Called Knowledge?, 5 Aufl. 2023.

[2] Hans Christian Röhl (Hg.), Wissen – zur kognitiven Dimension des Rechts, 2010.

[3] Wer es komplizierter will, lese Helmut F. Spinner, Das modulare Wissenskonzept des Karlsruher Ansatzes der integrierten Wissensforschung, in: Karsten Weber u. a. (Hg.), Wissensarten, Wissensordnungen, Wissensregime, 2002, 13-46.

[4] Karl Polanyi, The Tacit Dimension, 1966, S. 4.

[5] Vgl. Klaus F. Röhl, Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz, Rechtsphilosophie 2022, 96–118.

[6] Angelina Zier, Investitionsschutz für Maschinendaten, 2022, S. 9.

[7] Paul Tobias Schrader, Wissen im Recht, Definition des Gegenstandes der Kenntnis und Bestimmung des Kenntnis-standes als rechtlich relevantes Wissen, 2017, S. 12 Fn. 81.

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber. Teil 2: Construction als loyaler Umgang mit dem Gesetz

Lieber schrieb seine Methodenlehre nicht nur für Juristen, sondern auch für Politiker und Laien. Jeder Bürger kommt in die Lage und sollte imstande sein, Gesetze zu verstehen.

» … every citizen of a free country is not only permitted to form his opinion upon all prominent features of his government, fundamental laws, public men, and important measures, but it is his duty to do so.« (S. 76)

Im Vorwort des Buches bezieht Lieber sich auf eine aktuelle Auseinandersetzung um die amerikanische Verfassung und betont, »to find some firm and solid foundations of right and morality, in the rolling tides of party actions«, wolle er eine politische Ethik (für den Umgang mit der Verfassung) schreiben. Denn ohne eine Methode, die auf guten Glauben (good faith) gebaut sei, würden Rechtstexte zu »desperate weapons in the hands of the disingenuous«.

Zunächst gilt es, noch einmal klarzustellen: Liebers Ansatz würde man heute kommunikationstheoretisch nennen. Kommunikation besteht für Lieber in der erfolgreichen Übertragung von Gedanken durch Worte oder andere Zeichen von einer Person zu anderen. Interpretation beschränkt sich darauf, den Gehalt solcher Kommunikation zu ermitteln. Ziel der Textinterpretation ist für Lieber eine schlechthin subjektive Interpretation:

»Understanding or comprehending a speaker or something written, means attaching the same signification or sense to the words which the speaker or writer intended to convey.« (S. 23)

Die einzig richtige Bedeutung des Textes ist, was der Autor ausdrücken wollte.

»The sole legitimate object of all interpretation is to find out the true sense and meaning, not to impart them; but since this true sense is occult, we may be bound to use various means to arrive at it to the best of our ability, and according to the conscientious desire of finding the true sense.« (S. 66)

Es geht also um das, was in der Literatur als speakers meaning oder utterer‘s meaning geläufig ist.[1] Man kann daher Interpretation im Sinne Liebers nicht als semantische oder als Wortauslegung einordnen. Auch wenn solche Interpretation auf die sozial übliche Bedeutung abstellt und den sprachlichen und sozialen Kontext heranzieht, so geschieht das doch nur, um die vom Sprecher intendierte Nachricht zu erfassen. Lieber ist, wenn man so will, Regelskeptizist, freilich aus anderen Gründen als die modernen Regelskeptiker, hält er doch eine gelingende Kommunikation auch über Regeln grundsätzlich für möglich. Aber die Kommunikation mit dem Gesetzgeber bleibt aus vielerlei Gründen immer unvollkommen, so dass Anwender des Gesetzes praktisch immer durch construction nachhelfen muss. Ich bleibe bei dem englischen Begriff construction, weil »Konstruktion« in der (post-)modernen Methodenlehre nicht bloß, wie bei Lieber, die wohlwollend konstruktive Ergänzung der Interpretation, sondern einen konstruktivistischen Umgang mit Normtexten meint, der Interpretation im Sinne des Verstehens dessen, was der Regelautor sagen wollte, für unmöglich, aber mindestens für unwichtig hält.

Construction ist zunächst Textergänzung, läuft aber oft auf Rechtsfortbildung hinaus.

»Construction is the drawing of conclusions respecting subjects, that lie beyond the direct expression of the text, from elements known from and given in the text – conclusions which are in the spirit, though not within the letter of the text.« (S. 56)

Lieber betont wiederholt, dass construction, weil sie sich vom Text entfernt, gefährlich sei. Sie steht deshalb unter dem Gebot der Loyalität zum Text:

»For the very reason that construction endeavors to arrive at conclusions beyond the absolute sense of the text, and that it is dangerous on this account, we must strive the more anxiously to find out safe rules, to guide us on the dangerous path.« (S. 64)

Construction muss sich mehr oder weniger vom Text entfernen. Dafür verwendet Lieber das Bild konzentrischer Kreise, die sich um den Text legen, und auf denen die Lösung möglichst nahe am Mittelpunkt gesucht werden soll. Vorbildlich ist insoweit § 7 des Österr. AGBGB.[2]

»Construction is either close, comprehensive, transcendant, or extravagant, similar to the corresponding species of interpretation.« (77)

Anders formuliert:

»In the most general adaptation of the term, construction signifies the representing of an entire whole from given elements by just conclusions. Thus it is said, ›a few actions may sometimes suffice to construe the whole character of a man‹. (S. 61)

Da ist zunächst das Lückenproblem:

»Construction is likewise our guide, if we are bound to act in cases which have not been foreseen, by the framers of those rules, by which we are nevertheless obliged, for some binding reason, faithfully to regulate, as well as we can, our actions respecting the unforeseen case.« (S. 56)

»If the codes of some countries declare, that if in certain cases the judge can find no law precisely applicable, he shall be guided by the spirit of the provisions enacted for those cases, whicli resemble most that under consideration, they authorize construction according to the first part of our first definition.« (60)

Grundsätzlich ist alo Analogie das Mittel der Wahl:

»Analogy, or rather parallel reasoning in this signification of construction, is the essential means of effecting it.« (S. 59)

Dazu wird in einer Fußnote Analogie bestimmt als Proportionalität genau in dem Sinne wie sie bei Aristoteles definiert war[3], allerdings ohne Aristoteles zu erwähnen. Wo Analogie nicht hilft, muss man auf allgemeine Prinzipien zurückgehen, soweit sie sich erkennen lassen. Im Zweifel kann man davon ausgehen, dass Moral als das höchste Prinzip einschlägig ist.

»If the text is itself a declaration of the fundamental principles, which we are bound to follow in a certain sphere of actions, and of certain fundamental forms, which are to regulate our actions, in this case, construction signifies the discovery of the spirit, principles, and rules, that ought to guide us according to the text, with regard to subjects, on which that declaration is silent, but which nevertheless belongs to its province. (S. 58f)

»For instance, morality is one of the chief ends of all human life; without it no state can exist. This is the superior principle.« (59)

Eine teleologische Betrachtung kann helfen zu erkennen, was der Autor der Norm kommunizieren wollte.

»It is, as will be seen presently, construction alone which saves us, in many instances, from sacrificing the spirit of a text or the object, to the letter of the text, or the means by which that object was to be obtained, and without construction, written laws, in fact any laws or other texts, containing rules of actions, specific or general, would, in many cases, become fearfully destructive to the best and wisest intentions, nay, frequently, produce the very opposite of what it was purposed to effect. (S. 57f)

Construction ist sodann erforderlich, wenn innerhalb von Gesetzen oder zwischen Verfassung, Gesetzen und Präjudizien Widersprüche aufscheinen.

»Or there may exist principles or rules of superior authority, and the problem of construction then is to cause that which is to be construed to agree with them. In this case the principles and rules of superior authority are ›the subjects that lie beyond the direct expression of the text›‹ mentioned in the definition.(59)

Or if a law be passed, parts of which are contrary to the fundamental law of the state, it is called construing the law, when the proper judges declare these parts to be invalid.« S. 60«

Und immer wieder: Das alles hat nach Treu und Glauben zu geschehen:

»The proper principles of construction are those which ought to guide us in good faith and conscience.« (S. 58)

Man könnte meinen, Lieber habe Philipp Hecks berühmte Formulierung, der Richter schulde dem Gesetzgeber »denkenden Gehorsam«[4] vorweggenommen. Heute wird die Hecksche Formel nur noch als rechtshistorische Reminiszenz zitiert, wenn an die Interessenjurisprudenz erinnert wird. Das hat auch etwas damit zu tun, dass das Wort »Gehorsam« vielen Menschen heute schwer über die Lippen geht und dass die Formel sich in der Nazizeit leicht missbrauchen ließ. In der Sache kenne ich jedoch keine bessere Kurzformel für die Probleme einer Methodenlehre, die die Gesetzesbindung ernst nimmt. Vielleicht wird die Formel eher akzeptierbar, wenn wir mit Hilfe Liebers von loyale Auslegung sprechen.


[1] Herbert Paul Grice, Utterer’s Meaning, Sentence-Meaning, and Word-Meaning, Philosophy, Language, and Artificial Intelligence: Resources for Processing Natural Language 1988, 49–66.

[2] Die Vorschrift lautet: Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.

[3] Vgl. den Eintrag Vollständige (kognitive) und normative Analogien vom 31. Mai 2022.

[4] Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 1914, 1–318, S. 20; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 106f..

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Grundstückszufahrten sollen besteuert werden

Bochum, den 1. April 2025

In Bochum denkt man[1] seit heute über eine Gemeindeabgabe auf Grundstückszufahrten nach. Die (politischen) Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland sind notorisch klamm. Sie sind für ihre Finanzen weitgehend auf das Wohlwollen von Bund und Ländern angewiesen. Sie können für besondere Leistungen wohl Gebühren und Beiträge erheben, haben aber nur eine kümmerliche Kompetenz zur Erhebung eigener Steuern. Praktisch wird diese Kompetenz vor allem zur Erhebung von Hundesteuern genutzt. Daher liegt es nahe, sich Gedanken darüber zu machen, wie man das Besteuerungs- und Abgabenrecht der Gemeinden besser ausschöpfen könnte.

Die meisten innerörtlichen Grundstücke verfügen über eine Zufahrt zu einer öffentlichen Straße.[2] Sie sind bei der Nutzung des Straßenraums privilegiert, weil das Parken vor Grundstücksein- und -ausfahrten, auf schmalen Fahrbahnen auch ihnen gegenüber, nach § 12 Abs. 3. Nr. 3 StVO verboten ist. Einfahrten fallen daher grundsätzlich unter den abgabenrechtlichen Begriff der Sondernutzung.

Aus den Straßen- und Wegegesetzen der Länder ist das allerdings nicht ganz einfach abzulesen. Das SGV. NRW besagt in  18 Abs. 1 S. 1:

Die Benutzung der Straßen über den Gemeingebrauch hinaus ist unbeschadet des § 14a Abs. 1 Sondernutzung.

20 Abs. 1 Satz 2 bestimmt dann aber:

Die Anlage neuer oder die wesentliche Änderung bestehender Zufahrten oder Zugänge zu einer Landesstraße, einer Radschnellverbindung des Landes oder einer Kreisstraße außerhalb von Ortsdurchfahrten gilt als Sondernutzung.

Daraus könnte man den Umkehrschluss ziehen wollen, dass Grundstückszufahrten in anderen als den in § 20 genannten Fällen keine Sondernutzung bedeuten, sondern unter den Gemeingebrauch nach § 14 SGV fallen. Aber diesen Schluss verbietet § 14a SGV, wenn dort in Abs. 1 ein gesteigerter Straßenanliegergebrauch nur für den Fall für zulässig erklärt wird, dass der Anliegergebrauch »den Gemeingebrauch nicht dauernd ausschließt oder erheblich beeinträchtigt oder in den Straßenkörper eingreift«. Durch das Parkverbot wird der Gemeingebrauch der Straße dauerhaft und damit auch erheblich eingeschränkt. Außerdem greifen Grundstückszufahrten baulich durch eine Absenkung des Rinnsteins oder eine anderweitig erkennbare Gestaltung in den Straßenkörper ein. Für die Einstufung von Zufahrten als Sondernutzung spricht ferner, dass die Anlage solcher Zufahrten grundsätzlich genehmigungspflichtig ist. Gemeingebrauch ist aber gerade nicht von Genehmigungen abhängig, sondern stützt sich unmittelbar auf die Widmung der Straße.

Der Parkdruck auf öffentlichen Straßen ist längst so erheblich, dass Parkraum zu einem Wirtschaftsgut geworden ist. Die Kommunen bewirtschaften ihn entweder durch Parkuhren oder durch Gebühren für das Anwohnerparken. Bei Parkuhren kommt man, wenn man nur einen Achtstundentag an Wochentagen berechnet, je nach Höhe der Parkgebühr, auf einen Betrag in der Größenordnung von 200 bis 400 EUR. Die Anwohnerparkgebühren liegen bisher niedriger, aber einige Städte sind auch hier schon in die Größenordnung von 300 EUR vorgestoßen. Da erscheint es angemessen und zur Gleichbehandlung sogar geboten, auch Grundstückseinfahrten entsprechend zu bepreisen.

Wäre eine solche Gebühr ausgeschlossen, weil Grundeigentümer schon  Grundsteuer zahlen? Im Gegenteil. Die Grundsteuer ist eine kleine Vermögenssteuer. Ein große Vermögenssteuer fehlt, weil die Erhebung praktisch schwer durchführbar ist. Grundstücke zählen aber zu den wichtigsten und beständigsten Vermögensbestandteilen, und deshalb besteht kein Grund, Grundstücke durch kostenlose Sondernutzungen weiter zu privilegieren. Das Problem ist allein, dass nach bisheriger Rechtslage Grundstücksabgaben aller Art zu den Betriebskosten gehören, die auf die Mieter umgelegt werden können. Diese Rechtslage gehört dringend geändert.

Wie dem auch sei, die Rechtslage ist so deutlich, dass eine mutige Gemeinde binnen eines Jahres, spätestens zum 1. April 2026, den Versuch starten sollte, eine Sondernutzungsgebühr für Grundstückszufahrten einzuführen. In Bochum wären die Sondernutzungssatzung vom 24. Dezember 1987 in der Fassung vom 23. Januar 2025 und der zugehörige Gebührentarif entsprechend zu ändern. § 3 über den Straßenanliegergebrauch könnte einen zweiten Absatz erhalten, der lautet:

Die Sondernutzung durch Grundstückszufahrten bedarf über die bau- und straßenbaurechtlichen Erfordernisse hinaus keiner zusätzlichen Erlaubnis, ist jedoch wie erlaubnispflichtige Sondernutzungen gebührenpflichtig.

Wie hoch sollte man die Abgabe ansetzen? Einen Orientierungspunkt geben die Gebühren für da Anwohnerparken. 300 EUR jährlich für eine Einfahrt erscheinen nicht unangemessen. Mit welchem Aufkommen wäre zu rechnen? Die Grundstückszufahrten werden anscheinend nicht gezählt. In Bochum gab es 2023 58.600 Wohngebäude, davon 33.300 Ein- und Zweifamilienhäuser. Man darf wohl damit rechnen, dass eine Stadt wie Bochum etwa über 50.000 Zufahrten verfügt. Der ergäbe für eine Stadt wie Bochum immerhin einen Betrag von 15 Millionen. Das erscheint bei einem Haushalt von 1,7 Milliarden beinahe lächerlich zu sein. Im Vergleich zu den Hundesteuereinnahmen von 2,8 Millionen hört sich der Betrag aber schon besser an. Probleme bereitet allerdings bei das bei kommunalen Gebühren zu beachtende Kostendeckungsprinzip. Das scheint jedoch bei Sondernutzungsgebühren keine große Rolle zu spielen.

Alternativ wäre an eine Aufwandsteuer nach Art. 105 Abs. 2a GG in Verbindung mit § 3 KAG NW zu denken. Nach der gängigen Definition der Aufwandsteuer könnten dann aber wohl nur die Zufahrten privat genutzter Grundstücke besteuert werden.

Die Rechtslage ist also nicht ganz einfach. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.


[1] Also mindestens ein Bürger.

[2] Das Föderale Informationsmanagement (FIM) hat ein Datenfeld »Antrag Gehwegüberfahrten Zustimmung«. Dort heißt es unter Definition:

»Eine Gehwegüberfahrt bzw. eine Zufahrt ist die für die Benutzung mit Fahrzeugen bestimmte oder geeignete Verbindung von anliegenden Grundstücken oder von nicht-öffentlichen Wegen mit einer Straße. Innerorts benötigen Sie für die Anlage einer neuen oder Änderung einer bestehenden Zufahrt keine Sondernutzungserlaubnis. Hier ist darauf hinzuwirken, dass die Zufahrt verkehrssicher ausgestaltet wird, sodass eine vorherige Rücksprache mit der zuständigen Straßenbauverwaltung sinnvoll ist. Außerhalb der Ortsdurchfahrt stellen Zufahrten eine erlaubnispflichtige Sondernutzung dar. Wenn Sie eine baugenehmigungspflichtige bauliche Anlage neu errichten oder erheblich ändern und in diesem Zuge eine Zufahrt bauen oder ändern, dann wird über die Zufahrt im Zuge des Baugenehmigungsverfahren entschieden. Zuständig hierfür ist die jeweilige Baugenehmigungsbehörde. Wenn Sie eine baugenehmigungsfreie bauliche Anlage neu errichten oder erheblich ändern und in diesem Zuge eine Zufahrt bauen oder ändern, dann entscheidet bei Zufahrten außerorts an Landes und Kreisstraßen die jeweilige Straßenbaubehörde über die Anlage der Zufahrt.«

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber.  Teil 1: Die Interpretation

Nachdem Francis Lieber im vorhergehenden Eintrag als Person vorgestellt wurde, nun zum Inhalt seiner Methodenlehre. Ich zitiere aus der Buchausgabe, die 1839 im Verlag von Charles C. Little und James Brown in Boston erschien. Der vollständige Titel lautet:

»Legal and Political Hermeneutics, or Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics, with Remarks on Precedents an Authorities.«[1]

Lieber schrieb seine Methodenlehre nicht nur für Juristen, sondern auch für Politiker und Laien. Jeder Bürger kommt in die Lage und sollte imstande sein, Gesetze zu verstehen.

» … every citizen of a free country is not only permitted to form his opinion upon all prominent features of his government, fundamental laws, public men, and important measures, but it is his duty to do so.« (S. 76)

Im Vorwort des Buches bezieht Lieber sich auf eine aktuelle Auseinandersetzung um die amerikanische Verfassung und betont, »to find some firm and solid foundations of right and morality, in the rolling tides of party actions«, wolle er eine politische Ethik (für den Umgang mit der Verfassung) schreiben. Denn ohne eine Methode, die auf guten Glauben (good faith) gebaut sei, würden Rechtstexte zu »desperate weapons in the hands of the disingenuous«. Deshalb wolle er seine Überlegungen nunmehr systematisch in einem Buch zusammenfassen.

Das erste Kapitel des Buches beginnt mit einem Absatz von dem Roberta Kevelson sagt, man habe den Eindruck, hier spreche Peirce:[2]

»There is no direct communion between the minds of men ; whatever thoughts, emotions, conceptions, ideas of delight or sufferance we feel urged to impart to other individuals, we cannot obtain our object without resorting to the outward manifestation of that which moves us inwardly, that is, to signs. There is no immediate communion between the minds of individuals, as long as we are on this earth, without signs, that is, expressions perceptible by the senses.« (S. 13) …

»Signs, in this most comprehensive sense, would include all manifestations of the inward man, and extend as well to the deeds performed by an individual, inasmuch as they enable us to understand his plans and motives, as to those signs used for the sole purpose of expressing some ideas ; in other words, the term would include all marks, intentional or unintentional, by which one individual may understand the mind or the whole disposition of another, as well as those which express a single idea or emotion … .« (S. 14)

Und so geht es weiter:

»The signs which man uses, the using of which implies intention, for the purpose of conveying ideas or notions to his fellow-creatures, are very various, for instance, gestures, signals, telegraphs, monuments, sculptures of all kinds, pictorial and hieroglyphic signs, the stamp on coins, seals, beacons, buoys, insignia, ejaculations, articulate sounds, or their representations, that is phonetic characters on stones, wood, leaves, paper, &;c., entire periods, or single words, such as names in a particular place, and whatever other signs, even the flowers in the flower language of the East, might be enumerated.

These signs then are used to convey certain ideas, and interpretation, in its widest meaning, is the discovery and representation of the true meaning of any signs, used to convey ideas.« (S. 17)

Lieber nahm damit vieles vorweg, was inzwischen Linguistik und Semiotik beigebracht haben; er nahm auch den Gedanken des sozialen Wandels auf, wenn er schrieb:

»A code is not a herbarium, in which we deposit law like dried plants. Let a code be the fruit grown out of the civil life of a nation, and containing the seed for future growth.« (S. 44)

Vor allem aber: Lieber unterschied zwischen Textauslegung (interpretation) und Konstruktion (construction) als Methode, zu Entscheidungen zu gelangen, wo der Text selbst nicht zu einem Ergebnis führt. In solchen Fällen sei eine vernünftige und flexible, von den hinter den Texten stehenden Prinzipien geleitete Entscheidung (conclusion) notwendig.

Zunächst aber erörtert Lieber Ziel und Möglichkeiten der Textinterpretation und begründet, warum der Text oft nicht zu einem Ergebnis führt, wie es Bürger und Juristen brauchen. Ziel der Textinterpretation ist für ihn eine schlechthin subjektive Interpretation:

»Understanding or comprehending a speaker or something written, means attaching the same signification or sense to the words which the speaker or writer intended to convey.« (S. 23)

Die einzig richtige Bedeutung des Textes ist, was der Autor ausdrücken wollte.

»The sole legitimate object of all interpretation is to find out the true sense and meaning, not to impart them; but since this true sense is occult, we may be bound to use various means to arrive at it to the best of our ability, and according to the conscientious desire of finding the true sense.« (S. 66)

Diese Bedeutung herauszufinden, ist aber gar nicht einfach, und das Ergebnis der Bemühungen führt nicht immer zum Ziel.

Die Kapitel I, II und IV des Buches befassen sich mit der Textauslegung. Die Ergebnisse werden in neun Grundregeln zusammengefasst (S. 120). Hier die wichtigsten:

    1. A sentence, or form of words, can have but one true meaning.
    2. There can be no sound interpretation without good faith and common sense.

Das wird besonders deutlich, wenn Lieber Interpretationen aufzählt, die die Ermittlung der einzig richtigen Textbedeutung verfehlen. In seiner Begrifflichkeit orientiert sich Lieber hier dabei an dem zeitgenössischen Standardwerk der theologischen Hermeneutik, nämlich an der erstmals 1762 erschienenen »Institutio Interpretis Novi Testamenti« des Leipziger Theologen Johannes August Ernesti.

Verfehlt ist zunächst die buchstabengetreue Interpretation (literal interpretation). Sie ist buchstäblich unmöglich:

»Literal interpretation ought to mean of course, that which takes the words in their literal sense, which is hardly ever possible, since all human language is made up of tropes, allusions, images, expressions relating to erroneous conceptions, Sic, for instance, the sun rises.« (S. 66)

Es folgt ein Beispiel: Ein Gastwirt hatte sein Lokal »Zur Krone« genannt. Scherzhaft erklärte er, er habe seinem Sohn die Krone vererbt. Daraufhin wurde er wegen Hochverrats angeklagt und verurteilt (S. 68).

Nicht ganz so kritisch ist die extensive Interpretation (interpretatio extensiva – called likewise liberal interpretation, S. 70). Sie versteht einen sprachlichen Ausdruck in seinem weitesten Sinne und ist im Zweifel angebracht, wenn es gilt, für den Betroffenen Milde walten zu lassen. Dagegen setzt sich die interpreatatio excedens über den Wortlaut hinweg (S. 70f).

Die Suche nach der »richtigen« Bedeutung des Textes folgt als interpretatio soluta allein den hermeneutischen Grundregeln. Anders die interpretatio limitata – restricted interpretation (S. 71), die sich die Suche nach der Textbedeutung durch ein übergeordnetes Prinzip vorgeben lässt, wie eine Bibelexegese, die davon ausgeht, dass der Text eine wahre Botschaft enthält und auch in sich nicht widersprüchlich sein kann.

»Limited or restricted interpretation (interpretatio limitata) takes place, if other rules or principles than the strictly hermeneutic ones, limit us.« (S. 71)

Lieber kennt auch die perspektivische oder voreingenommene Interpretation:

»Finally, interpretation may be predestined (interpretatio predestinata), if the interpreter, either consciously or unknown to himself, yet laboring under a strong bias of mind, makes the text subservient to his preconceived views, or some object he desires to arrive at.« (S. 72)

Dem Anwalt schließlich billigt Lieber eine opportunistische Interpretation zu, die er artful interpretation (interpretatio vafer[3]) nennt:

»A legal counsel is understood to produce everything favorable that can be brought to bear upon the case of his client, so that, the same being done on the other side, all that can be said for and against the subject, may be brought before the judges.« (S. 73)

Die interpretatio soluta, das unabhängige Textverständnis,  bleibt also der erste Schritt der juristischen Methode. Für sie gilt die dritte Regel:

  1. Words are, therefore, to be taken as the utterer probably meant them to be taken. In doubtful cases, therefore, we take the customary signification, rather than the grammatical or classical; the technical rather than the etymological – verba artis ex arte – tropes as tropes. In general, the words are taken in that meaning, which agrees most with the character of both the text and the utterer.

Diese Regel ist zentral. Wörter dürfen also nicht isoliert, Metaphern nicht wörtlich genommen werden.  Die Bedeutung eines Textes soll aus dem sprachlichen Kontext ergründet werden. Dabei geht es stets darum, den Sprachgebrauch des Autors zu erfassen.

»If we do not understand the word, we try whether its connexion in a sentence will shed light upon it; if we do not succeed, we endeavor to derive assistance from the period; if this be unavailing, we examine the whole instrument or work ; if that leads us to no more satisfactory result, we examine other writings, &c., of the same author or authority; if that does not suffice, we resort to contemporaneous writers, or declarations, or laws similar to that which forms our text.« (S. 119)

Die weiteren Regeln würden wir heute eher unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz von Normen und Prinzipien einordnen:

    1. The particular and inferior cannot defeat the general and superior.
    2. The exception is founded upon the superior.
    3. That which is probable, fair, and customary, is preferable to the improbable, unfair and unusual.
    4. We follow special rules given by proper authority.
    5. We endeavor to derive assistance from that which is more near, before proceeding to that which is less so.

Die neunte Regel leitet über zur Konstruktion:

    1. Interpretation is not the object, but a means; hence superior considerations may exist.

Sprachverständnis ist also nicht das letzte Ziel, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Es führt, wie gesagt, nicht immer zum Ziel. Daher gilt

»Construction is unavoidable.« (S. 121)

Dafür sind drei Gründe maßgeblich: Der sprachliche Ausdruck bleibt immer unvollkommen, denn es wird nicht alles ausbuchstabiert. Vor allem aber zweitens: Die zu regelnden Fälle sind komplex und in ihrer Varianz unvorhersehbar:

»Men who use words, even with the best intent and great care as well as skill, cannot foresee all possible complex cases, and if they could, they would be unable to provide for them, for each complex case would require its own provision and rule; times and require its own provision and rule.« (S. 121)

Und drittens: Die Verhältnisse ändern sich.

Mit den Regeln der Hermeneutik als textübersteigender Konstruktion soll sich eine weitere Fortsetzung befassen.


[1] Der Zusatz »Enlarged Edition« bezieht sich darauf, dass die ersten fünf Kapitel weitgehend schon in Aufsatzform in der Zeitschrift »American Jurist« Nr. XXXV von Oktober 1837 (S. 37-101) und Nr. XXXVI von Januar 1838 (S. 281-294) erschienen waren.

[2] Roberta Kevelson, Francis Lieber and the Semiotics of Law, Semiotics: Yearbook of the Semiotic Society of America, 1981, 167–177, S. 167.

[3] »Vafer« musste ich erst im Lexikon nachschlagen. Es bedeutet abgefeimt oder schlau.

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Die Juristische Methodenlehre von Francis Lieber (1800-1872)

Die deutsche Rechtswissenschaft hat Francis Lieber bisher nicht wahrgenommen, wiewohl der Staatsrechtler Hugo Preuß ihn 1886 als »Bürger zweier Welten«[1] gewürdigt hatte. Aber es lohnt sich, Lieber zu entdecken, denn er hat fast gleichzeitig mit Schleiermacher[2] und Savigny[3] eine »Hermeneutik« verfasst, die sich wie ein Lehrbuch der Juristischen Methodenlehre liest.[4] Nur ist sie moderner als das Methodenkapitel Savignys. Dass seine Methodenlehre hierzulande noch gar nicht und auch in den USA kaum rezipiert worden, liegt vielleicht daran, dass man Lieber in erster Linie als Enzyklopädisten und Politikwissenschaftler wahrgenommen hat. Vor allem aber hat man ihn als Verfasser der »Political Ethic« von 1838 in Erinnerung, die 1863 als General Orders 100 durch Präsident Lincoln zum amerikanischen Militärgesetzbuch wurde.[5] Inhaltlich wurde es bald von anderen Staaten übernommen und später zur Grundlage der Haager Konventionen von 1899 und 1907.

Nachtrag vom 13. 3. 2025: Der Nachtrag gehört hier an den Anfang, denn ich bin erst heute auf den Aufsatz von Stephan Meder aufmerksam geworden, der diesen und den folgenden Eintrag überflüssig macht:

Stephan Meder, Interpretation und Konstruktion. Zur juristischen Hermeneutik von Francis Lieber (1800 – 1872), JZ 2012, 529–584.

Dieser Aufsatz hat allerdings – ganz zu Unrecht – kein großes Echo gefunden und es insbesondere nicht geschafft, die Hermeneutik Liebers im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.

Ich will mich auf Rsozblog nur mit der Methodenlehre befassen, die Lieber 1839 unter dem Titel Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics erstmals veröffentlichte. Aber die Biografie ist so spannend, dass ich nicht bloß auf Wikipedia und ältere im Internet verfügbare Biografien[6] verweisen will, sondern heute nur ausführlich die einschlägigen Passagen aus der Lobrede des Präsidenten auf der Jahrestagung der American Society of International Law im April 1913 zitiere:

»He was born in Berlin on the 18th of March, 1800. His childhood was passed in those distressful times when the declaration of the rights of man and the great upheaval of the French Revolution had inspired through out the continent of Europe a conception of popular liberty and awakened a strong desire to attain it, while the people of Prussia were held in the strictest subjection to an autocratic government of inveterate and uncompromising traditions. In the meantime foreign conquest, with the object lessons of Jena and Friedland and the Confederation of the Rhine, threatened the destruction of national in dependence; and love of country urged Germans to the support of a government which the love of liberty urged them to condemn. It was one of the rare periods in which political ideas force themselves into the thought and feeling of every intelligent life, and, alongside with the struggle for subsistence, the average man finds himself driven by a sense of necessity into a struggle for liberty, opportunity, peace, order, security for life and property – things which in ordinary times he vaguely assumes to come by nature like the air he breathes. So the early ideas of the child were filled with deep im pressions of the public life of the time. He remembered the entry of Napoleon into Berlin after Jena. He remembered the humiliation of the peace of Tilsit. He remembered Schill, the defender of Colberg, and Stein, and Scharnhorst. He was a disciple of Doctor Jahn, the manual trainer of German patriotism. At fifteen, after the es cape from Elba, he enlisted in the Colberg regiment and fought under Blucher at Waterloo. He was seriously wounded in the Battle of Namur and had the strange and vital discipline of lying long on the battlefield in expectation of death. He was a member of patriotic societies and was arrested in his nineteenth year, and imprisoned four months on suspicion of dangerous political designs. He was excluded from membership in the German universities, except Jena, where he received his degree of Doctor of Philosophy in 1820. At twenty-one he made his way to Greece with a company of other young Germans, inspired, by a generous enthusiasm for liberty, to an unavailing attempt to aid in the Greek War of Independence. Returning penniless from Greece he found his way to Rome, became a tutor in the family of Barthold George Niebuhr, then Prussian Ambassador, and there he won the confidence and life-long friendship of that great historian whose influence in familiar intercourse both increased the learning and calmed and sobered the judgment of the impetuous youth. Returning to Prussia, he was again arrested and imprisoned for nearly a year upon charges of disaffection to the government. Released through the intercession of Niebuhr, he went to England, and after a year’s hard struggle there, he came, in 1827, to the United States and to Boston. Seeking employment he found it in taking charge of the Boston Gymnasium. Through Niebuhr’s good offices he became the American correspondent of a group of German newspapers. He devised a plan for the publication of an encyclopedia, and for this he secured a distinguished list of contributors and associates. He became its editor, and in 1829 the publication of the Encyclopedia Americana was begun. It was a distinct success. Lieber’s connection with it not only forced him to a broad and accurate knowledge of American life, but brought him in contact with a great range of leaders of American thought and opinion, and this association gave him an intimate knowledge of American social conditions and public affairs. Bancroft, and Hilliard, and Everett, and Story, and Nicholas Biddle, and Charles Sumner were among his friends. In June, 1835, he was made Professor of History and Political Economy in South Carolina College, and for twenty-two years he held that chair, until, in 1857, he was called to Columbia College to be Professor of Modern History, Political Science. International Law, Civil and Common Law. His connection with Columbia and his residence in New York continued until his death in October, 1872. In the meantime, to the service as adviser to the government, which I have already described, he added the classification and arrangement of the Confederate archives in the office of the War Department, and long served e archives in the office of the War Department, and long served as umpire under the Mexican Claims Commision of July 4,1868.

Lieber himself has said that his life had been made up of many geological layers. The transition from his adventurous youth to the life of an American college professor did indeed carry him from igneous to sedimentary conditions. Under the new conditions, however, his surpassing energy and capacity for application found exercise in authorship. His work on Political Ethics, published in 1838, and that on Civil Liberty and Self-Government, published in 1853, gave him high rank among writers upon the philosophy of government.«

Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass auch der Rechtsphilosoph John Austin (1790-1859) zu Liebers Freundeskreis gehörte.

Die Fortsetzung dieses Eintrags soll also Liebers Methodenlehre gelten.


[1] Hugo Preuß, Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten, Berlin, 1886.

[2] Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik [1838], hg. von Manfred Frank, 9. Aufl. 2011. Aus der Sekundärliteratur Jan Rohls, Schleiermachers Hermeneutik, in: Andreas Arndt/Jörg Dierken (Hg.), Friedrich Schleiermachers Hermeneutik, 2016, 27–55.

[3] Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, dort das IV. Kapitel von Buch I = §§ 32-51= S. 206-330. Aus der Sekundärliteratur Joachim Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779-1861), in: ders./Ralf Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 4. Aufl. 2024, 59–103.

[4] Francis Lieber, Legal and Political Hermeneutics, Or, Principles of Interpretation and and Construction in Law and Politics, Boston, 1839 (3. Aufl. postum 1880). Ich zitiere nach der im Internet Archive verfügbaren 1. Aufl. von 1839.

[5] 50 Jahre später widmete Elihu Root ihm dafür die Elihu Root,. Presidential Address auf dem 7. Annual Meeting der American Society of International Law (Francis Lieber, American Journal of International Law, 1913 453-469).

[6] Frank Freidel, Francis Lieber. Nineteenth-Century Liberal, 1967; Lewis R. Harley, Francis Lieber. His Life and Political Philosophy, 1899; Thomas Sergeant Perry (Hg.), Life and Letters of Francis Lieber, 1882. 2005 hat die University of South Carolina Lieber als ihr most illustrious faculty member in einem Sammelband mit 15 Beiträgen gewürdigt: Charles R. Mack/Henry H. Lesesne (Hg.), Francis Lieber and the Culture of the Mind, 2005.

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