Kritik der Soziobiologie Teil II

Keine nichtbiologische Disziplin hat sich so intensiv mit der Übertragung der Evolutionstheorie auf ihren Objektbereich befasst wie die Ökonomie. [1] Wirksam war und ist nicht zuletzt die über Jahrzehnte durch Friedrich A. von Hayek entwickelte Theorie der kulturellen Evolution, die auf spontane Ordnungen abstellt, die sich durch Versuch und Irrtum entwickeln.[2] Aus größerer Distanz könnte man sogar meinen, dass auch Planung und Organisation sozusagen unter der Hand evolutorischen Mustern folgen, wobei letztlich ökonomische Effizienz als Selektionsmechanismus wirkt. In der »kulturellen« Entwicklung des Wirtschaftsgeschehens ist sicher auch Platz für die Spieltheorie. In den 1980er Jahren wurde die Theorie der ökonomischen Evolution durch Autoren angeschoben, die die Quelle für eine Entwicklung der Wirtschaft auf der Schiene des Neoinstitutionalismus in der Entwicklung der formellen und informellen Institutionen suchten.[3] Spätestens hier kippt der Angelpunkt der Evolution vom Individuum zur Gruppe und/oder zur Institution und/oder Organisation

Ob zwischen der biologischen und der kulturellen Evolution eine scharfe Trennlinie besteht, ist ein Problem für sich. Damit befassen sich die genannte Dual-Inheritance-Theorien, die auf Robert Boyd und Peter J. Richerson zurückgehen.[4] Boyd und Richerson nehmen an, dass die biologische und die kulturelle Evolution getrennte Wege gehen, dass die biologische Evolution eine genetische Kapazität für kulturelle Evolution bereitstellt. Günter Dux ist das nicht genug. Er postuliert einen »Hiatus zwischen Organismus und Welt«, den die Evolution nicht mehr genetisch habe überbrücken können und der durch die Konstruktionen des Geistes ausgefüllt werde.[5] Wieweit die kulturelle Evolution auf die genetische Basis einwirkt, bleibt eine offene Frage.

Die biologische Kapazität für eine kulturelle (und das heißt immer auch soziale) Evolution ist das Thema der evolutionären Psychologie. Sie beschreibt das Gehirn als eine Art Computer, der von der Evolution auf die Lösung von Problemen optimiert wurde, die sich der Menschheit in ihrer Entwicklungsgeschichte gestellt haben. Eine Schule, die auf Jerry A. Fodor zurückgeht[6] und bald Konkurrenz von Leda Cosmides und John Tooby erhielt[7], sieht in den neuronalen Netzwerken des Gehirns aber keinen universalen Denkapparat, sondern ein Ensemble von je für sich komplexen Systemen, die von der Evolution für spezifische kognitive Aufgaben entwickelt wurden, etwa für das Sprachvermögen, für Gesichtserkennung[8], Erkennung der Eigengruppe, Partnerwahl, Fluchtverhalten oder sozialen Austausch. Für die verschiedenen Probleme soll es jeweils spezialisierte instinktartige circuits oder Module geben. Und – »natürlich« möchte man sagen – sind einige Module auch geschlechtsspezifisch ausgebildet. Es fehlt allerdings ein definitiver Katalog der einschlägigen Module.[9] Der Laie hat daher den Eindruck, wenn immer ein automatischer Prozess im Gehirn vermutet wird, postuliert man ein neues Modul. So schließt Pinker aus Statistiken, nach denen bei Stiefeltern die Wahrscheinlichkeit der Kindesmisshandlung größer ist als bei leiblichen Eltern, auf angeborene Elternliebe. Damit fordert er die Frage nach der Entwicklung von Kindern heraus, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen.[10] Wenn es denn Unterschiede gäbe, so ließen sie sich vermutlich auch ohne Rückgriff auf die Biologie erklären.

Die beiden größten Aufreger sind Aussagen der Soziobiologie zur Vererblichkeit von Intelligenz und zum Sexualverhalten. 1994 erschien »The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life«[11]. Es lässt sich wohl nicht ausschließen, dass (die Grundlage der Intelligenz) vererblich ist. Aber das Ausmaß der genetischen Vererbung und ihr Gegenstück, der sog. Flynn- Effekt, sind nach wie vor im Streit. Zitierrekorde hält ein Aufsatz, in dem Robert L. Trivers die evolutionäre Entwicklung de Partnerwahlverhaltens thematisierte.[12] Der Kernsatz:

»The relative parental investment of the sexes in their young is the key variable controlling the operation of sexual selection. Where one sex invests considerably more than the other, members of the latter will compete among themselves to mate with members of the former.«

Damit hatte Trivers das (heute so genannte) Bateman-Prinzip auf den Menschen übertragen, wonach dasjenige Geschlecht, das größere Aufwendungen zur Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses einsetzt, die Partnerwahl bestimmt. Daran schließen die bekannten Thesen an: Männer haben einen stärkeren Sexualtrieb als Frauen[13], sie sind, auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht aggressiver; Frauen sind wählerischer, bevorzugen aber aggressive Männer und entscheiden letztlich über die Vereinigung (female choice[14]). Immer wieder stoßen Psychologen auf universelle Muster für die Attraktivität von Sexualpartnern. Aber Männer wissen von Natur aus noch nicht einmal, wie der Geschlechtsverkehr zu vollziehen ist.[15] Eine ursprüngliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern muss nicht mit einer genetischen Programmierung zu tun haben, sondern folgt schlicht daraus, dass allein Frauen die Kinder austragen und ihnen anfangs Brustnahrung anbieten können.

Die modulare Theorie des Geistes bietet sich an, um zu erklären, warum psychologische Tests eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die anscheinend nicht erlernt sind, ferner, warum sich je nach Sachthema mit Hilfe von EECs und MRT-Scans recht präzise unterschiedliche Gehirnareale als aktiv identifizieren lassen.[16] Es ist aber bisher noch keines der behaupteten Module direkt beobachtet worden. Ihre Existenz wird stets nur aus Reaktionen von Versuchspersonen und peripheren Eigenschaften des Gehirns gefolgert. Die modulare Theorie des Geistes ist daher in der Psychologie keineswegs allgemein akzeptiert[17] (und daher schreibe ich »Module« ab hier in Anführungszeichen). Es bleibt immerhin:

»Das menschliche Gehirn stellt ein komplexes System dar mit hochgradig koordinierten Interaktionen zwischen großen spezialisierten Gruppen von Neuronen, den neuronalen Netzwerken. Die Dynamik und Formbarkeit dieser Netze [wird] oft als Neuroplastizität bezeichnet.«[18]

Europlastizität bedeutet wohl, dass es sich um selbstlernende Systeme handelt.

Zu den kognitiv arbeitenden »Modulen« des Geistes treten die Emotionen. Davon gibt es nach Jaak Panksepp[19] genau sieben mit einer neuronalen und damit letztlich genetischen Basis.Die Emotionen lenken den kognitiven Apparat im Sinne evolutionärer Funktionalität:

»An emotion is a mode of operation of the entire cognitive system, caused by programs that structure interactions among different mechanisms so that they function particularly harmoniously when confronting cross-generationally recurrent situations — especially ones in which adaptive errors are so costly that you have to respond appropriately the first time you encounter them.«[20]

Zwei der kognitiven »Module« sind für die Rechtstheorie besonders interessant, das Sprachvermögen und das Moralvermögen. Ein angeborenes Sprachvermögen hatte bekanntlich Noam Chomski ohne direkte psychologische Grundlage als »generative Grammatik« postuliert, weil er es für ausgeschlossen hielt, dass die strukturellen Gemeinsamkeiten der wohl 6000 unterschiedlichen Sprachen allein durch Lernprozesse erklärbar seien.[21] Steven Pinker spricht von einem Sprachinstinkt.[22] Nachdem John Rawls eine Analogie des sense of justice mit dem Sprachvermögen angedeutet hatte[23], haben Marc Hauser und John Mikhail[24] eine angeborene moralische Grammatik behauptet. Sie können sich immerhin auf Evolutionstheoretiker stützen, die einen gewissen Altruismus als Anpassungsstrategie annehmen, und auf Psychologen, die in ihren Experimenten immer wieder unerwartetem Altruismus begegnen. Freilich hat man bisher weder ein Sprachgen noch ein Gerechtigkeitsgen gefunden. Gefunden hat man nur bestimmte Erregungsmuster des Gehirns bei der Befassung von Versuchspersonen mit Sprach- oder Gerechtigkeitsaufgaben. In umgekehrter Richtung, also von bestimmten nervösen Erregungsmuster zu inhaltlichen Reaktionen der Versuchspersonen führt keine Verbindung. Auch hier gilt wieder: Es fehlt der direkte Beweis, doch alles klingt plausibel, so plausibel, dass man meint, man hätte es sich selbst ausdenken können.

Auch für die kulturelle Evolution kann man wieder fragen, auf welcher Aggregationsebene sie angreift, auf der Ebene einzelner Zeichen oder Propositionen, auf der Ebene von Normen oder von Institutionen. Dazu hat Richard Dawkins eine spezielle Theorie. Sein biologischer Ausgangspunkt ist das egoistische Gen (selfish gen). Dessen Egoismus ist keine psychische Eigenschaft, sondern eine rein biologisch-mechanische, die darin besteht, dass Gene sich selbst reproduzieren können.

»What, after all, is so special about genes? The answer is that they are replicators. … The gene, the DNA molecule, happens to be the replicating entity  that prevails on our own planet.«[25]

Dawkins gibt den Symbolen, die er, ohne Bezug auf Emerson, zum Grundelement kultureller Evolution erklärt, einen eigenen Namen, indem er sie als Meme benennt. Das Kunstwort »Mem« leitet er vom griechischen mimesis (μίμησις = Nachahmung) her, und es soll auch als bloßer Name das »Gen« nachahmen.[26]

»Examples of memes are tunes, ideas, catch-phrases, clothes fashions, ways of making pots or of building arches. Just as genes propagate themselves in the gene pool by leaping from body to body via sperms or eggs, so memes propagate themselves in the meme pool by leaping from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.«[27]

Als evolutionär aktiv erweisen sich die Meme, indem sie sich replizieren. Als Mimetik hat sich inzwischen eine Denkrichtung entwickelt, die solche Symbole zu identifizieren versucht, die sich besonders reproduktiv verhalten.[28] Es scheint mir aber doch ziemlich abenteuerlich, mit der evolutorischen Eigendynamik der Meme die gesamte soziokulturelle Entwicklung erklären zu wollen.

Erklären – das ist ein wichtiges Stichwort. In der Tat lassen sich ex post viele Entwicklungen als evolutionäres Geschehen erklären. Aber die Evolutionstheorie versagt, wenn sie Entwicklungen prognostizieren soll. Die Theorie des evolutionären Dreischritts ist so abstrakt, dass sich daraus schwerlich konkrete Hypothesen ableiten lassen. Es kommt hinzu, dass Zufall und menschliche Innovationen sich nicht prognostizieren lassen. Erst recht taugt die Evolutionstheorie – schon aus diesem Grunde – nicht für eine naturalistische Ethik.

Die Soziobiologen – wenn man sie eimal kompakt so nennen darf – sind nicht so naiv, dass sie alles für gut und richtig halten, was die Natur ihrer Meinung nach in den Menschen hineingelegt hat. So verweist Pinker auf die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses und betont, dass jede Entscheidung von einer Wertvorstellung ausgehen müsse.[29] Aber die Wertvorstellungen ihrerseits werden wohl doch durch die Überzeugung von der Macht biologischer Prägung beeinflusst. Das zeigt sich relativ deutlich in den Stellungnahmen zum Geschlechterverhältnis. Auch wenn die Soziobiologie sich bemüht, normative Aussagen zu vermeiden, so wird ihr doch entgegengehalten, dass sie wertende, insbesondere diskriminierende Schlussfolgerungen »suggeriere«.

»Normvorstellungen diffundieren auch aus rein deskriptiven Beschreibungen: Was als Istzustand festgehalten wird, erhält bei fehlender begleitender und deutlicher Verurteilung durch die (implizite) normative Kraft des Faktischen eine Form von Weihe. Beschreibung und Erklärung moralisch abgelehnter Verhaltensweisen tragen zu ihrer Enttabuisierung bei. Soziobiologische Theoriebruchstücke wie Maximierung der eigenen Reproduktion oder genetische Fitnesskategorien können lebensweltliche Kontakte und Verhaltensweisen prägen.«[30]

Die Evolution des Lebens auf der Erde hat wohl sechs Millionen Jahre und damit eine schwer vorstellbar lange Zeit in Anspruch genommen. Die Formierung der Gene, die den Homo Sapiens auszeichnen, soll im Pleistozän, also vor etwa 2,5 Millionen Jahren begonnen haben und mit der neolithischen Revolution, also etwa vor 15.000 Jahren abgeschlossen gewesen sein.[31] Daher besteht ein gewisser Konsens., dass die Entwicklung auf Steinzeitniveau stehen geblieben ist [32],, so dass einige er evolutionär verfestigte Anpassungen unter den Bedingungen der Moderne unfunktional sein dürften. Es wird aber auch geltend gemacht, dass die genetische Evolution unter bestimmten Umständen sehr viel schneller ablaufen kann. Erbfeste Merkmale wie Gesichtsschnitt, Haarformen und Körperbau entstehen, evolutionsbiologisch betrachtet, in relativ kurzen Zeiträumen, wenn Individuen einer bestimmten Art unter spezifischen Bedingungen getrennt leben und sich fortpflanzen. So soll sich die menschliche Hautfarbe innerhalb weniger Jahrtausende verändert haben.

Unklar ist (mir) die Bedeutung der genetischen Diversität für die biologische Evolution. Eine geschlechtliche Fortpflanzung ist grundsätzlich nur zwischen Individuen derselben Art möglich. Innerhalb einer Art gibt es jedoch stets auch erhebliche physiologische Unterschiede, von denen einige auch auf genetische Unterschiede zurückzuführen sind. Letztere vererben sich nach den Mendelschen Regeln. Das ist der Ausgangspunkt für die Züchtung von Pflanzen und Tieren. Wenn es um Menschen geht, halten wir »Züchtung« für indiskutabel. Im Zusammenhang mit der »Bell-Kurve« wurde jedoch heftig darüber gestritten, ob unterschiedliche Intelligenz ein Zeichen genetischer Diversität sei und ob ggfs. eine unbewusste Steuerung der Partnerwahl Einfluss auf das allgemeine Intelligenzniveau nehmen könnte. Die Globalisierung mit ihren Wanderungsbewegungen wirbelt verschiedene Populationen durcheinander, mögen sie sich genetisch auch nur minimal unterscheiden. In bestimmten Kulturen sind Verwandtenheiraten so häufig, dass sie vermutlich Einfluss auf den Genpool haben. Man kann deshalb nicht ausschließen, dass sich dieser Genpool auch in der kurzen historischen Zeit verändert hat. Es gibt vermutlich auch unter Menschen die relativ kurzfristig wirksame Populationsgenetik[33]. Es besteht aber die Gefahr, dass von phänotypischer und physiologischer Diversität unmittelbar auf Gendiversität zurückgeschlossen wird. Daraus entstehen dann Streitfragen wie die, ob Intelligenz vererblich ist.

Wie gesagt, offen ist die Frage, ob und wie die kulturelle Evolution nicht nur indirekt, etwa über ihren über ihren Einfluss auf die Partnerwahl, sondern auch direkt auf die genetische Basis zurückwirkt. Insoweit mahnt die Langfristigkeit der biologischen Evolution noch eher zur Skepsis.

Die erst in den letzten Jahrzehnten von der Wissenschaft akzeptierte Epigenetik ist in ihrer Bedeutung noch nicht abzusehen. Jedenfalls bleibt die Standardantwort vom Steinzeitniveau des Gehirns unbefriedigend ist. Juristen spekulieren daher:

»Wenn wir annehmen, dass das Recht etwa 10.000 Jahre Entwicklungszeit hatte, hatte diese Kulturleistungen genügend Zeit, um sich in uns auch genetisch zu verankern.«[34]

Verankert sei dann ein Gefühl für »Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit«. Aber noch niemand hat solche Gefühle in bestimmten Genen verortet. Ich ziehe es daher vor, mit Hellmuth Mayer[35] sowohl Gemeinsamkeiten im menschlichen Verhalten als auch Unterschiede historisch-soziologisch zu erklären. Dazu übersehen wir mindestens die letzten 5000 Jahre ganz gut. In dieser Zeit haben sich Pfadabhängigkeiten herausgebildet, die so festgetreten sind, dass sie wie genetisch festgelegt erscheinen.

Soziobiologie und Evolutionspsychologie stehen vor dem Problem, dass sie ihre Annahmen nicht direkt empirisch prüfen können, weil sie Vorgänge erklären, die in der Vergangenheit liegen und sich nicht experimentell nachstellen lassen. Sie müssen sich daher mit indirekten Beweisen zufriedengeben. Die gängige Methode besteht darin, dass Forscher sich Verhaltensweisen ausdenken, von denen sie annehmen, dass sie fitnessmaximierend seien, um dann diese Verhaltensweisen mit Statistiken oder Laborexperimenten aufzufinden. Allein die Verbindung zu den Genen lässt sich als solche nicht belegen, sondern bleibt bloße Vermutung. Es wird unterstellt, dass Gene so reagieren, wie moderne Menschen sich die Evolution denken. Aber die Evolution »denkt« nicht. Sie hat viele Variationen hervorgebracht, die sich niemand hätte ausdenken können.

Als Literatur, die zu den soziobiologischen Grundlagen des Verhaltens herangezogen wird, handelt es sich nicht um genbiologische Spezialliteratur, sondern um Schriften, die allgemein die Funktionsweise der Gene behandeln. So lassen sich abstrakte Aussagen über die Funktionsweise der Gene mit kaum weniger allgemeinen Aussagen über rechtliche Grundprinzipien verkoppeln. Soziobiologie erscheint deshalb weithin als ein Spiegel des für elementar gehaltenen Rechtsbewusstseins und wird so zur biologischen Verdoppelung von verbreiteten oder erwünschten Verhaltensmustern.

Auch wenn sich menschliches Verhalten nicht aus den Genen ablesen lässt, bleibt eine evolutionstheoretische Betrachtung der Gesellschaft attraktiv.[36] Man muss die evolutionistische Soziobiologie und mit ihr Rechtsbiologie und Kriminalbiologie nicht völlig verwerfen. Der Mensch kommt nicht als tabula rasa zur Welt. So wie Kinder im äußeren Erscheinungsbild oft einem Elternteil ähnlich sind, lässt sich kaum bezweifeln, dass auch unterschiedliche Begabungen und Temperamente ebenso wie Kahlköpfigkeit vererbt werden können. Die Zwillingsforschung hat durchaus interessante Ergebnisse gebracht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Menschheitsgeschichte genetische Spuren hinterlassen hat. Die Frage nach Anlage oder Umwelt (nature or nurture) lässt sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen. Problematisch sind die soziobiologischen Ansätze jedoch, weil sie ihre Aussagen über das Verhalten von Menschen überziehen. Die Gene denken, fühlen und handeln ebenso wenig wie das Gehirn. Menschliches Verhalten wird durch die Gene (über viele Zwischenstationen) vielleicht in bestimmte Richtungen gedrängt, aber nicht gelenkt. Die Leine, mit der Kultur und Sozialverhalten mit den Genen verbunden sind, ist so lang[37], dass man sie nicht zurückverfolgen kann. Selbst Robert Plomin, der Herausgeber der seit 1970 erscheinenden Zeitschrift »Behavior Genetics« benennt in seinem Jubiläumsaufsatz von 2023[38] keine einzige direkte Verbindung zwischen einem Gen und einem bestimmten menschlichen Verhalten. Vererbt werden wohl Charakterzüge und vielleicht auch Intelligenz[39], ohne dass diese sich an bestimmten Genen festmachen ließen.[40] Handfeste Ergebnisse liefern die »Behavioral Genetics« nur, wenn es um Anomalien und Krankheiten geht.[41]

Alles in allem erscheinen die auf das Recht gemünzten Aussagen der Soziobiologie stark überzogen. Die genetischen Anlagen sind als Altruismus und Egoismus so divers, dass sie allein keine speziellen Verhaltensmuster steuern können. Die Aussicht auf eine vollständige Theorie der neuronalen Prozesse im Gehirn, die Aufschlüsse über alle sozialen Verhaltensweisen und kulturellen Produkte an die Hand geben könnte, ist so fern, dass wir mit dem Gehirn als Black Box denken und leben müssen. Das genetische Programm wirkt maximal, wie es Hellmuth Mayer formuliert hat, wie Gegenwind beim Fahrradfahren. Praktisch kann und muss man daher von einem universalen Sozialkonstruktivismus ausgehen, der sich von dem radikalen Sozialkonstruktivismus der Postmoderne allerdings darin unterscheidet, dass er die Realität der Natur akzeptiert.

Zu den Neuerscheinungen von Krimphove und Montenbruck ist danach nur noch wenig zu sagen, denn mit der breiten Kritik der Soziobiologie haben sie sich nicht auseinandergesetzt. Vielmehr haben sie – mehr oder weniger naiv – ihre eigenen Vorstellungen über richtiges Recht in Natur und Gene transponiert.


[1] Dazu relativ neu Marco Lehmann-Waffenschmidt/Michael Peneder (Hg.), Evolutorische Ökonomik, 2022.

[2] Ich habe jetzt keine Originalarbeiten von  von Hayek nachgelesenUnder verweise deshalb auf die Referate von Christopher Holl, Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen, 2004, S. 92 ff, sowie . Wolfgang Kerber, Hayek, in: Marco Lehmann-Waffenschmidt/Michael Peneder, Evolutorische Ökonomik, 2022, S. 513-522. In der Literatur werden u. a. genannt:: Friedrich A. von Hayek, Nature vs. Nurture once Again, Encounter 36, 1971, 81–83; Law, Legislation and Liberty. The Political Order of a Free People, Bd. 3, 1979; ders., The Fatal Conceit. The Errors of Socialism, 1988 (Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus, 1996).

[3] Kenneth Boulding, Evolutionary Economics, 1981; Christopher Holl, Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen. Von Hayeks Institutionenökonomik und deren Weiterentwicklung, 2004; Richard R. Nelson/Sidney G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982; Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990; Michael North, Rechtsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte: Institutionelle Faktoren in der Wirtschaftsentwicklung des Alten Reiches, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 135, 2018, 401-407 (guter Überblick).

[4] Robert Boyd/Peter J. Richerson, A Simple Dual Inheritance Model of the Conflict between Social and Biological Evolution, Zygon Jounal of Religion & Science 11, 1976, 254–62; Peter J. Richerson/Robert Boyd, Not by Genes Alone: How Culture Transformed Human Evolution, Chicago: University of Chicago Press, 2005, und jetzt Gillian R. Brown/Peter J. Richerson, Applying Evolutionary Theory to Human Behaviour: Past Differences and Current Debates, Journal of Bioeconomics 16, 2014, 105-128.

[5] A. a. O. (Fn. 15) S. 41f und passim.

[6] Jerry A. Fodor, Modularity of Mind: An Essay on Faculty Psychology, in: Jonathan Eric Adler (Hg.), Reasoning, 2008, 878–914.

[7] Leda Cosmides/John Tooby, From Evolution to Behavior: Evolutionary Psychology as the Missing Link, in John Dupré (Hg.), The Latest on the Best: Essays on Evolution and Optimality, 1987, 276–306; dies., The Psychologicyal Fopundations of Culture, in: Jerome H. Barkow/Leda Cosmides/John Tooby, The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, 1992, S. 19-136; dies., Cognitive Adaptations for Social Exchange, ebd. S. 163-228; dies., Evolutionary Psychology: A Primer, 1997.

[8] Der Laie würde eher nach einem Modul für Mustererkennung suchen, das ähnlich, wie die selbstlernenden Systeme künstlicher Intelligenz arbeitet.

[9] Wie die Module zusammenarbeiten, erläutert Steven Pinker in seinem Buch »How the Mind Works«, 1997 (Wie das Denken im Kopf entsteht, 1998/2011).

[10] Diese Frage hat Marc Regnerus untersucht (How Different Are the Adult Children of Parents Who Have Same-Sex Relationships? Findings from the New Family Structures Study, Social Science Research 41, 2012, 752-770), Seither gilt Regnerus in LGBT-Kreisen als Anti-Gay-Researcher. Eine Nachuntersuchung der von Regnerus benutzten Daten durch Cheng und Powell kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede nur gering seien (Simon Cheng/Brian Powell, Measurement, Methods, and Divergent Patterns: Reassessing the Effects of Same-Sex Parents, Social Science Research 52, 2015, 615-626). Zum Thema Joachim-Müller Jung, Leben Kinder homosexueller Partner schlechter? FAZ 2018.

[11] Richard J. Herrnstein/Charles A. Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, 1994.

[12] Robert L. Trivers, Parental Investment and Sexual Selection, in: Bernard Campbell, Sexual Selection an the Descent of Man, 1972, 136-179. Ein anderer Autor, der diese Linie verfolgt, ist David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019. Das Buch enthält ausführliche Kapitel über Challenges of Sex and Mating sowie über Challenges of Parenting and Kinship. 2023 Buss ein »Oxford Handbook of Human Mating« herausgegeben.

[13] Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518; dies., Erotic Capital: The Power of Attraction in the Boardroom and the Bedroom, 2011, deutsch als Erotisches Kapital. Das Geheimnis erfolgreicher Menschen, 2011; dies., The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century, International Sociology 30, 2015, 314-335. Referat auf der Tagung der Nordic Association for Clinical Sexology NACS 2012, S. 27.

[14] Diese These wird populärwissenschaftlich ausgebreitet von der Biologin Meike Stoverock, Female Choice, 2021.

[15] Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen, 1977, S. 202f.

[16] Als Beispiel sei eine neuere Publikation angeführt: Sabrina Turker u. a., Cortical, Subcortical, and Cerebellar Contributions to Language Processing: A Meta-Analytic Review of 403 Neuroimaging Experiments, (2023) Psychological Bulletin 2023, https://doi.org/10.1037/bul0000403.

[17] Philip Robbins, Modularity of Mind, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition); David Pietraszewski/Annie E. Wertz, Why Evolutionary Psychology Should Abandon Modularity, Perspectives on Psychological Science 17, 2022, 465–490.

[18] So formulieren George M. Ibrahim/Michael Taylor, Krebszellen manipulieren Neuronen, Spektrum der Wissenschaft Heft 10, 2023, S. 22.

[19] Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions, New York, NY 1998. Für eine im Internet verfügbare Kurzfassung vgl. Jaak Panksepp, The Affective Brain and Core Consciousness: How Does Neural Activity Generate Emotional Feelings?, in: Handbook of Emotions, hg. von Michael Lewis u. a., 2008, 47-67. Panksepp fand im Laufe der Zeit sieben biologisch im Hirn verankerte Emotionen, die er, um sie vom üblichen Sprachgebrauch abzusetzen, in Großbuchtaben schrieb: SEEKING/Expectancy, RAGE/Anger, FEAR/Anxiety, LUST, CARE/Nurturing, PANIC/Sadness Und PLAY/Social Joy.

[20] A. a. O. S. 20.

[21] Noam Chomsky, Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use, 1986; ders., Aspects of the Theory of Syxntax, 1965. Zu einer kompetenten Stellungnahme zu Chomskys Theorie sehe ich mich außer Stande. Ich orientiere mich bisher an der Stellungname von Günter Dux, Sprache. Ihre Genese als Problem der Erkenntniskritik, in: ders., Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017, 227–254.

[22] Steven Pinker, Der Sprachinstinkt, 1998 (The Language Instinkt, 1994).

[23] John Rawls, A Theory of Justice, 1971, hier zitiert nach der Auflage von 1999, dort S. 41. Von einem angeborenen Gerechtigkeitsinn ist bei Rawls keine die Rede. Die Seite beginnt mit dem Satz »Let us assume that each peson beyond a sertain aage and possessed of the rquisite intellectual capacity develops a sense of justice unde normal social cirsumstances.« Der letzte Absatz der Seite beginnt dann »A useful comparison hier is with the problem of describing the sense of grammaticalness that we have for the sentences of our native Language.« Eine Fußnote verweist auf Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syxntax, 1965, S. 5-9.

[24] John Mikhail,. Universal Moral Grammar: Theory, Evidence and the Future, Trends in Cognitive Sciences, 11, 2007, 143-152; ders., Elements of Moral Cognition: Rawls’ Linguistic Analogy and the Cognitive Science of Moral and Legal Judgment, 2011; ders./Matthias Mahlmann, Cognitive Science, Ethics and Law, ARSP Beiheft 102, 2005, 95-102. Kritisch: Lando Kirchmair, Morality between Nativism and Behaviorism: (Innate) Intersubjectivity as a Response to John Mikhail’s »universal moral grammar«, Journal of Theoretical and Philosophical Psychology 37, 2017, 230–260.

[25] Dawkins S. 247f:

[26] Dawkins S. 249: »We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of imitation. ›Mimeme‹ comes from a suitable Greek root, but I want a monosyllable that sounds a bit like ›gene‹. I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme.«

[27] Dawkins S. 249.

[28] Susan Blackmore, The Meme Machine, 2000; Werner J. Patzelt, Was ist »Memetik«? In: Benjamin P. Lange (Hg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur, 2015, 52–61.

[29] Wie Fn. 5, S. 242. Dazu Heiner Rindermann, Evolutionäre Psychologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Ethik, Journal für Psychologie 11, 2003, 331–367, S. 359.

[30] Rindermann S. 360.

[31] Eine differenziertere Zeittafel bei Lampe S. 36f.

[32] Leda Cosmides/John Tooby, Evolutionary Psychology: A Primer, 1997, S. 924.

[33] Vgl. Samir Okasha, Population Genetics, The Stanford Encyclopedia of Philosophy 2023.

[34] Heussen, RphZ 4, 2019, 294-322, S. 320.

[35] Hellmuth Mayer , Die gesellige Natur des Menschen, 1977.

[36] In Bielefeld fand Anfang September der Weltkongress Behaviour 2023 statt. From foraging starlings to fat humans: an ethological approach to the food insecurity-obesity paradox lautet der Titel eines Vortrags. Hilft es uns, wenn wir wissen, das Stare futter hamstern und Menschen vielleicht noch ein Hamster-Gen haben und deshalb bei bei reichlichem Angebot zu viel essen?

[37] Die Metapher von der langen Leine stammt von Edward O. Wilson.

[38] Robert Plomin, Celebrating a Century of Research in Behavioral Genetics, Behavior Genetics 53, 2023, 75-84.

[39] Karl-Friedrich Fischbach/Martin Niggeschmidt, Erblichkeit der Intelligenz. Eine Klarstellung aus biologischer Sicht, 2 Aufl. 2019.

[40] Plomin verweist auf eine Studie von Chabris u. a., nach der sich zwölf Gene, die für Intelligenz verantwortlich gemacht wurden, in mehreren Studien als irrelevant erwiesen.

[41] Darauf konzentriert sich der Band von Robert Plomin/John C. DeFries/Valerie S. Knopik/Jenae M. Neiderhiser, Behavioral Genetics, 6. Aufl. 2013.

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Kritik der Soziobiologie Teil I

Im Eintrag über Ernst-Joachim Lampes »Historiogenese des Rechts« habe ich auf zwei weitere Neuerscheinungen hingewiesen:

Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen, Duncker & Humblot, Berlin, DOI https://doi.org/10.3790/978-3-428-58217-4. 322 S.

Axel Montenbruck, Naturethik; Bd. 1 »Universelle Natur- und Schwarmethik«, 2021, Bd. 2 »Biologische Natur- und Spielethik«, Bd. 3 »Naturalistische Kriminologie und Pönologie«, im Open Access bei der FU Berlin.

Beide Titel sind von Benno Heussen, der sich kurz zuvor seinerseits auf die »Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts« begeben hatte[1], lobend rezensiert worden. Das kann nicht auf sich beruhen. Zunächst will ich auf das Buch von Krimphove eingehen, wiewohl vermutlich viel von dem Gesagten auch für das Machwerk Montenbrucks gilt, das durchgehend zu lesen ich mich bisher geweigert habe.

Um das Buch von Krimphove einzuordnen, ist ein Rückblick auf die Soziobiologie – teilweise spricht man auch von Biosoziologie – notwendig, denn trotz aller Beteuerungen des Autors über die Neuartigkeit und Interdisziplinarität seines Ansatzes, handelt es sich im Kern um eine evolutionsbiologische Ausmalung des Rechts. Es ist lange her, dass ich mich mit dieser Thematik befasst habe. Die folgenden Ausführungen dienen daher der Selbstverständigung. Für den Kenner bieten sie nicht Neues. Vielleicht helfen sie dem, der sich näher mit der Materie befassen will, insbesondere durch die Literaturhinweise, zu einem schnelleren Einstieg. Vorab sei daher auf einige Übersichtsarbeiten hingewiesen, die mir besonders geholfen haben: Als Einstieg diente die immer noch nicht überholte Kritik der Soziobiologie von Dirk Richter.[2] Erst relativ spät habe ich die noch zwei Jahre ältere Stellungnahme von Heiner Rindermann[3] entdeckt, (die Richter ignoriert) und die mir interessant erscheint, weil sie detaillierter auf die (zweifelhafte) Beweiskraft evolutionstheoretischer Argumentation und deren normative Implikationen eingeht. Ein ordentliches Referat über Erträge der Evolutionsbiologie bietet die Dissertation von Patrick Riordan.[4] Eine ausführliche Analyse der Beziehungen von Soziologie und Biologie von den Anfängen bis heute bieten Russel K. Schutt und Jonathan H. Turner.[5] In einem zweiten Teil entwickeln sie eigene Vorstellungen über eine evolutionsbiologisch informierte Soziologie.[6] Mein Eindruck geht dahin, dass man in der Soziologie etwas Abstand vom kulturellen Konstruktivismus gewonnen und (wieder) stärker an Evolutionstheorie[7] und darüber auch an Biologie[8] anzuknüpfen versucht.

Die Kombination von Evolutionstheorie und Soziobiologie, um die es hier geht, fand und findet nicht nur in Publikumsmedien ein großes Echo. Sie stand als »Rechtsbiologie« zeitweise auch bei Juristen hoch im Kurs.[9] Von dem amerikanischen Juristen Edwin Scott Fruehwald stammen zusammenfassende Darstellungen von Ergebnissen, die für das Recht relevant sein sollen. Sie sind kurz, klar und lesbar geschrieben und zudem leicht zugänglich, so dass darauf für einen ersten Eindruck verwiesen werden kann. Was Fruehwald affirmativ berichtet, wirkt auf mich allerdings weitgehend wie eine Spekulation von Amateur-Evolutionsbiologen. Es ist schwer vorstellbar, dass das alles wirklich auf der Gen-Ebene nachgewiesen ist. Es scheint vielmehr so, dass geläufige individualpsychische und soziale Phänomene (um nicht zu sagen Stereotype) in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und von dort in die Biologie hineininterpretiert werden. Auf diesem Wege suchen Juristen ihre Vorstellungen von der Welt und deren Recht in den Genen. Was auch immer ihnen an Trivial-Psychologie und Soziologie durch den Kopf geht, findet eine natürliche Erklärung. Dahinter steht die vage Hoffnung, in der »Natur« eine Stütze für die immer wieder schwierigen Entscheidungen zu finden, die die Jurisprudenz zu treffen hat. Das ist im Grunde auch schon der Tenor meiner Kritik an dem Buch Krimphoves.

Die Soziobiologie wurde von Edward O. Wilson (Sociobiology. The New Synthesis, 1975) und Richard Dawkins (The Selfish Gene,1976) auf den Weg gebracht und alsbald durch eine evolutionäre Psychologie flankiert. Diese Soziobiologie löste einen Wissenschaftskrieg[10] aus, der mit Protesten und Sprechverboten der aktuellen Auseinandersetzung der Community der Transmenschen und ihrer Unterstützer mit dem Feminismus von Kathleen Stock ähnelt. Einen Höhepunkt erreichte der Nativismus, also die Annahme, dass Persönlichkeitszüge und kulturelle Universalien biologisch programmiert sind, mit Steven Pinkers »Blank Slate« 2002.[11] Ich staune aber immer wieder, wie differenziert Bericht und Stellungnahme Pinkers – die ich bislang nicht selbst gelesen hatte – ausfallen. Das gilt auch für seinen Bericht über den »Wissenschaftskrieg«, in dem er geltend macht, dass die Kritiker der Soziobiologie die einschlägigen Texte gar nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen haben.

Die Soziobiologie steht unter dem Verdacht eines biologischen Reduktionismus und genetischen Determinismus. Ihr wird die Unterwanderung einer (kritischen) Sozialwissenschaft durch biologistische Pseudoempirie vorgeworfen. Aus feministischer Sicht wird die (begründete) Befürchtung geäußert, dass Soziobiologie Vorstellungen von Heterosexualität und Monogamie sowie eine evolutionär funktionale Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern rechtfertigen könnte.[12] Die Soziobiologie ist schließlich ist Gegenstand der Kapitalismuskritik: In Dawkins egoistischem Gen spiegelt sich der homo oeconomicus mit seinem Nutzenkalkül. Deshalb kritisieren Deus u. a., »die evolutionistische Deutung der Gesellschaft als hoch individualisierter Überlebenskampf aller gegen alle sei nichts anderes als eine Projektion kapitalistischer Marktmachtverhältnisse auf die gesamte belebte Natur«.[13]

Das Determinismusproblem ist auch in diesem Zusammenhang unlösbar. Der Vorwurf des Reduktionismus trifft besonders Edward O. Wilson, der die Soziobiologie als neue Einheitswissenschaft begründen wollte, die auch Sozial- und Geisteswissenschaft einschließen soll. Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften.[14] Ohne Bezug auf Wilson, aber mit ausführlicher Stellungnahme zum Evolutionsgeschehen meint Günter Dux, den Geist »erkenntniskritisch« retten zu können.[15] Es führt kein Weg daran vorbei: Der menschliche Geist, Gedanken und Erinnerungen, Handlungen und Gefühle und schließlich auch das Bewusstsein entstehen aus dem Zusammenspiel elektrochemischer Signale im Nervensystem. Die üblichen Stichworte Autonomie und Emergenz des sozial-kulturellen Systems sind nur Rettungsringe. So sehr ich mit dem Rettungsversuch von Dux sympathisiere, so meine ich doch, dass wir uns insoweit mit einer Philosophie des Als-Ob begnügen müssen und können.

Die weitere Grundsatzkritik ist in dem Sinne ideologisch, als sie erklärt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Insbesondere der Vorwurf der Rechtfertigung des status quo ist noch gegen jede empirische Sozialforschung erhoben worden. Triftig ist nur eine sachlich-inhaltliche Kritik, die geltend macht, dass die Soziobiologie eine falsche Evolutionstheorie zugrunde legt oder dass die Theorie zusammen mit der verfügbaren Empirie die behaupteten Ergebnisse nicht trägt.

Kritik an der zugrunde gelegten Evolutionstheorie kam schon aus dem Kollegenkreis von Wilson, nämlich von Richard Lewontin und Stephen Jay Gould. Ihre Kritik litt freilich darunter, dass beide die genzentrierte Soziobiologie von Wilson und Dawkins mit Überschriften wie »Biology as Social Weapon« polemisch bekämpften. Die Frage nach der »richtigen« Evolutionstheorie öffnet ein weites Feld, das ich nicht übersehe. Meine Kritik beschränkt sich daher auf die These, dass die gängige Soziobiologie, zumal in ihrer Form als Rechtsbiologie, ihre Aussagen maßlos überzieht. In diesem Sinne hatte Jay Gould die Aussagen der Soziobiologie mit den »Just So Stories« verglichen, mit denen Rudyard Kipling erklärte, wie der Leopard zu den Flecken auf seinem Fell und der Elefant zu seinem Rüssel kam. Die Soziobiologie habe nur Geschichten ohne empirische Falsifizierbarkeit erfunden. Zentrales Problem, so Gould, bleibe die biologisch ungeklärte Verbindung einzelner Gene zum Verhalten.[16]

Bei aller Skepsis gegenüber der Sozial- und Rechtsbiologie muss man mit der modernen Kognitionswissenschaft doch davon ausgehen, dass das Gehirn mit seinen neuronalen Netzwerken kein »unbeschriebenes Blatt« im Sinne einer neutralen Rechenmaschine ist. Alles andere wäre schlicht unrealistisch. Doch wie weit und wie konkret die Evolution menschlichen Kognitionsapparat vorprogrammiert hat, ist nach wie vor die große, weitgehend offene Frage. Konsens gibt es wohl darüber, dass grundsätzlich durch die »Vorprogrammierung« keine einzelne Handlung definitiv determiniert wird, ausgenommen vielleicht der Saugreflex des Säuglings. Vielmehr wird allgemein anerkannt, dass eine Besonderheit des Menschen eben darin besteht, dass sein Kognitionsapparat eine Reflexionsfähigkeit mit sich bringt, die Automatismen überspielen kann. So beteuern denn auch die Autoren, die das evolutionär geprägte Programm näher beschreiben, wie Wilson, Dawkins[17] und Pinker, dass sich aus der »Natur« nur Wahrscheinlichkeiten, jedoch kein Determinismus für die kulturelle Entwicklung insgesamt und für das Individuum ergebe. Doch die Kritiker glauben solchen Beteuerungen nicht. In manchen Juristenköpfen ist der Evolutionsgedanke so mächtig, dass er sie auf bestimmte Inhalte hin mitreißt. Deshalb habe ich versucht, mich noch einmal selbst zu vergewissern, was Sache ist.

Evolution fragt nach der Fitness von Lebewesen, dass heißt nach ihren Chancen, zu überleben und sich zu reproduzieren. Ein Lebewesen (Organismus) ist ein physisch abgegrenztes Etwas, das seine Grenze gegenüber der Umwelt über eine gewisse Zeit halten und sich während dieser Zeit reproduzieren kann. Alles hängt von der der Entstehung und Änderung, der Speicherung und dem Austausch von Information ab. Für die biologische Evolutionstheorie sind letztlich die in DNA und Chromosomen gebündelten Gene für die Speicherung und Weitergabe der Informationen maßgeblich, die das Leben ausmachen. Die Evolutionstheorie fragt, wie Umwelt und Zufall die Information variieren, selektieren und durch Replikation (Vererbung) stabilisieren.

Ein zentrales Problem für eine an Darwin orientierte Evolutionstheorie bereitet die Frage, auf welcher Ebene die natürliche Auswahl greift. Sind es die Gene, Organismen als Individuen, Gruppen von Organismen, Arten oder Ökosysteme? Da die Evolutionstheorie auf dem Axiom aufbaut, dass »Leben« durch einen endogenen Imperativ zum Selbsterhalt und zur Fortpflanzung bestimmt ist, wäre diese Einheit gewissermaßen definitionsgemäß egoistisch (selfish).[18] Der »neue Darwinismus« der Soziobiologie setzt auf Individuen und ihre Gene.

Man sollte erwarten, dass Lebewesen alle Ressourcen »egoistisch« auf ihr Überleben und ihre Fortpflanzung verwenden. Aber im Tierreich gibt es zahlreiche Beispiele von Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick altruistisch wirken, z. B. die Sammeltätigkeit von Arbeitsbienen oder Warnrufe von Vögeln. Die Funktion altruistischer Verhaltensweisen ist daher eines der Rätsel der Evolutionstheorie. Dawkins sagt von seinem Buch:

»My purpose is to examine the biology of selfishness and altruism.«[19]

Diese Frage haben vor ihm schon andere Biologen gestellt und grundsätzlich beantwortet. Im Prinzip werden drei Erklärungen angeboten, die zeigen, dass der Altruismus evolutionär sinnvoll ist, weil er auf Umwegen der Fitness dient: Verwandtenselektion (inclusive fitness[20] oder kin selection[21]), Reziprozität[22] und ESS-Theorie[23]. Die Verwandtenselektion arbeitet mit der These der inclusive fitness. Das heißt, sie geht davon aus, dass dem Reproduktionsimperativ gedient ist, wenn Verwandte überleben und sich reproduzieren, die jedenfalls teilweise die gleichen Gene tragen. Der Reziprozitätsmechanismus besteht darin, dass ein Individuum mit kleinem Einsatz anderen zu größerem Gewinn verhelfen kann und damit die Chance erhält, seinerseits in den Genuss solchen Gewinns zu gelangen. Die ESS-Theorie besagt, dass ein Tit for Tat eine »evolutionär stabilen Strategie« darstellt, eine Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist.

Die Tierverhaltensforschung hat viele Beobachtungen beigebracht, die den Altruismus mit einer oder mehreren dieser drei Theorien als evolutionär erfolgreich erklären können. Dazu tritt die Evolutionspsychologie auf den Plan, um diese Frage jedenfalls grundsätzlich zu bejahen.[24] Mit zahlreichen Experimenten haben Psychologen immer wieder aufgezeigt, dass Menschen nicht ausnahmslos egoistisch handeln, sondern nicht ganz selten ein altruistisches Verhalten an den Tag legen, vor allem aber, dass sie unfaire Aufteilungen regelmäßig missbilligen.[25] Mit MRT-Scans identifiziert man bestimmte Hirnareale, die aktiv werden, wenn Versuchspersonen einschlägige Fragen beantworten. So genannte maximale Altruisten sollen über ein größeres Amygdala-Volumen verfügen, und die bei altruistischen Entscheidungen aktiven Hirnregionen reagieren verstärkt auf das Peptidhormon Oxytozin.[26] Aus solchen Experimenten nährt sich die Überzeugung, dass ein gewisser Altruismus schon genetisch angelegt sei. Alles klingt plausibel oder gar logisch. Doch es handelt sich um bloß um einen schwachen Indizienbeweis, der mit Analogien und Metaphern arbeitet. Die Kausalkette zwischen dem Verhalten und den Genen bleibt offen. Die vorgefundenen Zusammenhänge lassen sich auch sozialkonstruktivistisch plausibilisieren.

Wenn Ethologen überzeugt sind, dass ein gewisser Altruismus und ein Sinn für Fairness bereits genetisch programmiert sind, dann muss doch in Erinnerung gerufen werden, dass der im Evolutionsgeschehen angelegte Altruismus stets als erklärungsbedürftige Ausnahme von dem primären Egoismus-Imperativ der Evolution angesehen wurde. Wenn schon prosoziales Verhalten genetisch pogrammiert ist, dann liegt es nahe, beinahe mit einem Erst-recht-Schluss, auch a-soziale Verhaltensweisen wie Aggressionen und Territorialverhalten, einen In-Group-Mechanismus und allgemeiner Ethnozentrismus auf die Gene zurückzuführen. In der Tat können Psychologen solche Verhaltensweisen ähnlich belegen wie altruistisches Verhalten. Wenn aber sowohl Egoismus als auch Altruismus eine biologische Basis haben, wie sollen diese widersprüchlichen Anlagen konkrete Handlungen programmieren?

Die biologische Evolutionstheorie endet dort, wo Eigenschaften und Fähigkeiten nicht über die Gene weitergegeben, sondern von den Individuen gelernt werden. Aber natürlich lernt nicht jedes Individuum neu, so dass die Frage auftaucht, wie die Lerninhalte tradiert werden. Die Antwort bereitete der Entomologe Alfred E. Emerson vor, indem er auf Symbole als funktionale Äquivalente der Gene verwies:

»The higher mammals can learn a remarkably wide variety of things. I knew a dog that would respond to over one hundred words and phrases purely by sound. Higher mammals certainly can do a lot of learning. What they do not do is to symbolize their signals in such a fashion as to pass learning on to the next generation or to another individual directly. In other words, what they pass on is through the germ plasm rather than through symbolization. This gives rise to the marked difference between animals and humans in cultural evolution—the evolution of accumulated symbolic systems and communication systems.«[27]

Kultur besteht also aus Lerninhalten, die in irgendeiner Weise symbolisch gespeichert sind. Symbole sind mithin das kulturelle Analogon zu den Genen.

Damit stellt sich die weitere Frage, ob die Gesetze der Evolution auch für die Entwicklung der Kultur gelten. Davon geht man heute grundsätzlich aus.[28] Es handelt sich um eine multidisziplinäre Evolutionstheorie, die besagt, dass in allen Realitätsbereichen »blind-variation-and-selective-retention« wirksam sind, dass aber die Möglichkeit sach- und fachspezifischer Besonderheiten besteht. Es wird also akzeptiert, dass auch die Entwicklung der Kultur im Dreischritt von Variation, Selektion und Stabilisierung erfolgt. Allerdings ist dabei wohl nicht nur der Zufall am Werk, sondern ebenso menschliche Kreativität und Wahlhandlungen, die in Zustimmung und Ablehnung münden. Auch Niklas Luhmann hat bekanntlich diesen Dreischritt zur Grundlage seiner Evolutionstheorie gemacht.[29] »Natürlich« verzichtet Luhmann darauf, die Evolution an den Genen fest zu machen. Er setzt dafür ganz auf Kommunikation. Stichweh findet Luhmanns

»originären Beitrag … darin …, dass er Evolutionstheorie als Konflikttheorie entwirft. Es ist für ihn die Möglichkeit, ›nein‹ zu sagen, auf eine Erwartung mit der Negation dieser Erwartung zu reagieren, die die Dynamik soziokultureller Evolution freisetzt.«[30]

Auf allen Ebenen wird die Spieltheorie ins Spiel gebracht. Trivers hatte schon 1971 die Gene auf Reziprozität getrimmt[31]. 1973 entwickelten John Maynard Smith und George R. Price das Konzept einer »evolutionär stabilen Strategie«, einer Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist.[32] Der Mathematiker Ken Binmore hat sich in zwei dicken Bänden darum bemüht, die Idee einer Verhandlung unter dem Schleier des Unwissens von John Rawls in die Spieltheorie zu übersetzen.[33] Eine zusammenfassende Darstellung, die sich an ein nicht mathematisch vorgebildetes Publikum wendet, ist 2005 unter dem Titel »Natural Justice« erschienen.[34] Wir erfahren, dass reziproker Altruismus, das heißt Altruismus in Erwartung einer Gegenleistung, ein evolutionär stabiler Mechanismus ist, auf den sich ein fairer Gesellschaftsvertrag bauen lässt. Was Binmore über Reziprozität, Fairness und Gleichheit schreibt, ist höchst plausibel, endet aber genau in den abstrakten Formeln der Moralphilosophie, die er durch exakte Wissenschaft ersetzen möchte. Vor allem aber: Auch der Mathematiker kommt nicht ohne die Gene aus:

»So how did our unique style of cooperation evolve? Because relatives share genes.« (2005 S. 8). »We must look at the deep structure of human social contract written into our genes.« (2005 S. 14).

Freilich dauert es sehr lange, bis der Gen-Pool sich neuen Herausforderungen anpasst (2005 S. 157). Dass sich die kulturelle Evolution mit Hilfe der Spieltheorie erklären lässt, leuchtet ein. Aber wie die Gene das Spielen gelernt haben sollen, bleibt dem Laien verborgen. Aber auch ein Experte wie Luigino Bruni verortet die evolutionäre Spieltheorie ganz in der kulturellen Evolution. Die evolutionäre Bedeutung spieltheoretisch erfolgreicher Strategien soll darin liegen, dass sie nicht von Rationalität und Maximierungsverhalten abhängt, sondern allein von Nachahmung, die man sich analog zur biologischen Reproduktion nach Dawkins Modell der Memetik vorstellen soll.[35]

Teil II folgt hier.


[1] Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts. Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 4, 2019, 294-322.

[2] KZfSS 57, 2005, 523-542.

[3] Heiner Rindermann, Evolutionäre Psychologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Ethik, Journal für Psychologie 11, 2003, 331–367, S. 359. Rindermann ist später in politische Kontroversen geraten, zunächst, als er 2010 in der FAZ dem umstrittenen Autor Thilo Sarrazin bescheingte, dessen »Thesen seien ›im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar›‹ « (Andreas Kemper, Sarrazins deutschsprachige Quellen, in: Michael Haller/Martin Niggeschmidt (Hg.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz, 2012, 49–67), später durch einen Artikel über Immigranten als »Ingenieure auf Realschulniveau« im Focus-Magazin vom 17. 10. 2015. Dazu lesenwert ein ausführliches Hintergrundgespräch.

[4] Patrick Riordan, Attraktivität und Partnerschaft Wie tragfähig sind evolutionäre Überlegungen zu partnerschaftlichen Beziehungen?, München 2016. Online verfügbar unter https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19213/1/Riordan_Patrick.pdf.

[5] Russell K. Schutt/Jonathan H. Turner, Biology and American Sociology, Part I: The Rise of Evolutionary Thinking, its Rejection, and Potential Resurrection, The American Sociologist 50, 2019, 356–377.

[6] Jonathan H.Turner/Russell K. Schutt/Matcheri S. Keshavan, Biology and American Sociology, Part II: Developing a Unique Evolutionary Sociology, The American Sociologist 51, 2020, 470–505.

[7] Z. B. Rudolf Stichweh, Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften. Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[8] Z. B. Sebastian Schnettler, Evolutionäre Soziologie, Soziologische Revue 39, 2016, 507–536.

[9] Aus der einschlägigen Literatur: Richard D. Alexander, The Biology of Moral Systems, 1987; John H. Beckstrom, Sociobiology and the Law: The Biology of Altruism in the Courtroom of the Future, 1985; Wolfgang Fikentscher/Michael T. McGuire, A Four-Function Theory of Biology for Law, RTh 25, 1994, 1-20; Edwin Scott Fruehwald, Law and Human Behavior, A Study in Behavioral Biology, Neuroscience, and the Law, 2011; ders., An Introduction to Behavioral Biology for Legal Scholars, 2010/2014, SSRN 1627363; Margaret Gruter, Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft, 1976; dies./Manfred Rehbinder (Hg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, 1983; Roger D. Masters; The Ethological Basis of Trust, Property and Competition: An Evolutionary Approach to Comparative Legal Culture, Rechtstheorie 23, 1992, 407-427; ders./Margaret Gruter (Hg.), The Sense of Justice: Biological Foundations of Law, 1992; Werner Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten, 1983; Anne C. Thaeder, Die soziobiologische Erklärung der menschlichen Natur bei E. O. Wilson, in: Anne C. Thaeder (Hg.), Geistwesen oder Gentransporter, 2018, 91-181; Eckart Voland, Soziobiologie, 4. Aufl. 2013; ders., Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie, 2007; ders., Wir erkennen uns als den anderen ähnlich, Deutsche Zf Philosophie 55, 2007, 739-749; Wolfgang Wickler/Wolfgang Fikentscher, System und Außenanbindung epigenetischer Verhaltenssteuerung, RTh 30, 1999, 69-77. Kritisch: Erhard Blankenburg, Die Rechtsbiologie – Renaissance des Naturrechts auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 6, 1985, 135-140; Brian Leiter/Michael Weisberg, Why Evolutionary Biology Is (so Far) Irrelevant to Law, 2007, SSRN 892881; Hubert Rottleuthner, Argumentation und Korrelation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, FS Thomas Raiser, 2005, 579-598.

[10] Darüber berichtet Ullica Segerstrale, Defenders of the Truth. The Battle for Science in the Sociobiology Debate and Beyond, 2000. Aus demselben Jahr stammt die Dissertation von Jeremy Freese, What Should Sociology Do About Darwin? Evaluating Some Potential Contributions of Sociobiology and Evolutionary Psychology to Sociology, auf die Riordan (wie Fn. 4) vielfach Bezug nimmt. Von Freese auch: Genetics and the Social Science Explanation of Individual Outcomes, American Journal of Sociology 114, 2008, Supplement 1-35, sowie The Limits of Evolutionary Psychology and the Open-endedness of Social Possibility, Sociologica 2, 2006, 1-12.. Die jüngste materialreiche und lesenswerte Stellungnahme, die ich gefunden habe, stammt von Anja Maria Steinsland Ariansen: »Quiet is the New Loud«: The Biosociology Debate’s Absent Voices, The American Sociologist 52, 2021, 477–504.

[11] Ich zitiere nach der 2. Auflage der deutschen Ausgabe von 2018.

[12] Z. B. Giordana Grossi/Suzanne Kelly/Alison Nash/Gowri Parameswaran, Challenging Dangerous Ideas: A Multi-Disciplinary Critique of Evolutionary Psychology, Dialectical Anthropology 38, 2014, 281-285)

[13] Fabian Deus/Anna-Lena Dießelmann/Luisa Fischer/Clemens Knobloch, Einleitung der Herausgeber, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Neoevolutionismus. Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft, 9-43, S. 15.

[14] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 2000 [Consilience. The Unity of Knowledge, 1999].

[15] Günter Dux, Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017.

[16] Stephen Jay Gould, Sociobiology: The Art of Storytelling, New Scientist 1976, 530-533.

[17] Richard Dawkins, The Selfish Gene [1976], zitiert nach der Jubiläumsausgabe 2016, S. XVI: »One of the dominant messages of The Selfish Gene (reinforced by the title essay of A Devil’s Chaplain) is that we should not derive our values from Darwinism, unless it is with a negative sign. Our brains have evolved to the point where we are capable of rebelling against our selfish genes.«

[18] Dawkins S. VIIIf.

[19] Dawkins S. 2.

[20] William D. Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour, Journal of Theoretical Biology 7, 1964, 1-16 (Teil I), 17-52 (Teil II). Dazu als kurze aktuelle Würdigung: Geoff Wild, Pillars of Biology: »The Genetical Evolution of Social Behaviour, I and II«, Applied Mathematics Publications 7, 2023, https://ir.lib.uwo.ca/apmathspub/7.

[21] Den Begriff hat wohl zuerst John Maynard Smith ins Spiel gebracht: Kin Selection and Group Selection, Nature 201, 1964, 1145-1147. Hamilton sprach zunächst von inclusive fitness.

[22] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[23] Nachweise in Fn. 32.

[24] David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019; Linda R. Caporael, Evolutionary Psychology: Toward a Unifying Theory and a Hybrid Science, Annual Review of Psychology 52, 2001, 607–628; Joseph Henrich/Michael Muthukrishna, The Origins and Psychology of Human Cooperation, Annual Review of Psychology 72, 2021, 207–240.

[25] Detlef Fetchenhauer/Hans-Werner Bierhoff, Altruismus aus evolutionstheoretischer Perspektive, Zeitschrift für Sozialpsychologie 35, 2004, 131–141.

[26] R. Hurlemann/N. Marsh, Neue Einblicke in die Psychobiologie altruistischer Entscheidungen, Der Nervenarzt 8, 2016, 1131–1135.

[27] Alfred E. Emerson, Homeostasis and Comparison of Systems, in: Roy R. Grinker (Hg.), Toward a Unified Theory of Behavior, 1956, 147-154, S. 151.

[28] Diese Auffassung stützt sich vor allem auf da Werk des amerikanischen Sozialpsychologen und Methodologen Donald T. Campbell (1916-1996). Die Diskussion nahm ihren Ausgang von Campbells Artikel »On the Conflicts Between Biological and Social Evolution and Between Psychology and Moral Tradition« (American Psychologist 30, 1975, 1103-1126; näher Franz M. Wuketits, The Philosophy of Donald T. Campbell: A Short Review and Critical Appraisal, Biology and Philosophy 16, 2001, 171–188).

[29] Für das Recht hatte Niklas Luhmann schon relativ früh eine Evolutionstheorie entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132ff. Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«.

Auch andere Juristen, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts nur an die biologische Theorie an, so in erster Linie Fögen und Teubner, Amstutz und Vesting. Christoph Henke (Über die Evolution des Rechts, 2010), der sich der Evolutionstheorie ohne die Brille der Systemtheorie nähert, distanziert sich ausdrücklich von einer Biologie genetischer Vererbung, nutzt aber gleichfalls das Schema von Variation, Selektion und Stabilisierung, um die Rechtsentwicklung analog zur biologischen Theorie zu erklären.

[30] Rudolf Stichweh, Die soziokulturelle Evolution menschlicher Gesellschaften. Zur Komplementarität von Differenzierungs- und Evolutionstheorie, Historische Zeitschrift 2023, im Druck.

[31] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[32] John. Maynard Smith/G. R. Price, The Logic of Animal Conflict, Nature 1973, 15–18. Maynard Smith hat das Thema intensiv weiter verfolgt: Evolution and the Theory of Games: In situations characterized by conflict of interest, the best strategy to adopt depends on what others are doing, American Scientist. 64, 1976, 41-45; Evolution and the Theory of Games, 1982; Evolutionary Genetics. 2. Aufl. 1988; John Maynard Smith/Eörs Szathmáry, Evolution. Prozesse, Mechanismen, Modelle, 1996. Dagegen platziert Robert Axelrod sein berühmtes Tit-for Tat nicht in den Genen, sondern als Strategie egoistischer Akteure: Robert Axelrod, The Emergence of Cooperation Among Egoists, American Review of Political Science 75, 1981, 306–318; ders., The Evolution of Cooperation, 1984; dt. Die Evolution der Kooperation, 2000.

[33] Game Theory and the Social Contract I: Playing Fair, 1984, Bd. II: Just Playing, 1988.

[34] Beiträge zu einem »Symposium on Kenneth Binmore’s Natural Justice« findet man in Heft 1 der Zeitschrift »Analyse & Kritik« 28, 2006;Rezensionen: Giacomo Sillari, Economics and Philosophy 24, 2008, 287-295, Achim Kemmerling, PVS 48, 2007, 773-775; Karl Widerquist, Utilitas 21, 2009, 529-532.)

[35] Luigino Bruni, Reziprozität, 2020, S 126ff.

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Ernst-Joachim Lampe erklärt das Recht rückwärts

Der Wandel des Rechts wird oft wie selbstverständlich als Evolution bezeichnet. Aber es ist nicht klar, ob für die Gesellschaft und ihr Recht die gleichen Gesetze der Evolution gelten wie für die belebte Natur. Es ist im Gegenteil höchst fraglich, ob und wie man den Wandel des Rechts als Teil der kulturellen Evolution mit Hilfe der von Charles Darwin (1809-1882) begründeten Evolutionstheorie erklären kann.[1]

Auf den ersten Blick scheint alles von der Antwort auf die Frage nach der ontologischen Verfasstheit der Welt abzuhängen. Ist die Welt ein Kontinuum, das sich von der unbelebten und belebten Natur bis zur Gesellschaft, der Kultur und dem Recht erstreckt? Oder gibt es zwischen Natur und Gesellschaft eine Bruchlinie, wie sie etwa in dem Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft vorausgesetzt zu werden scheint? Wer die erste Position einnimmt, wird für eine universelle Evolutionstheorie plädieren, das heißt, für eine direkte oder analoge Anwendung der Theorie Darwins auf Kultur und Recht. Wer dagegen die dualistische Antwort bevorzugt, wird eine Übertragung der biologischen Theorie auf die Gesellschaft ablehnen und die Evolutionstheorie nur als Heuristik und ihre Begriffe allenfalls metaphorisch heranziehen wollen. In diesem Sinne machen die philosophische Anthropologie, aber auch Sozial- und Kulturwissenschaften, geltend, dass die Entwicklung von Kultur und damit auch von Recht anderen Regeln folgt als die biologische Evolution.

2021 sind gleich drei Monografien erschienen, die das Recht »genetisch« erklären und dabei auf Evolution und mehr oder weniger stark auch auf deren biologische Basis abstellen:

Ernst-Joachim Lampe, Historiogenese des Rechts. Der Beitrag des Rechts zur sozialen Evolution des Menschen (Historische Rechtsanthropologie); Dieter Krimphove, Rechtsethologie. Die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Ferner hat der Strafrechtler Axel Montenbruck eine dreibändige »Naturethik« vorgelegt: Bd. 1 »Universelle Natur- und Schwarmethik«, 2021, Bd. 2 »Biologische Natur- und Spielethik«, Bd. 3 »Naturalistische Kriminologie und Pönologie«.

Krimphove und Montenbruck sind von Benno Heussen, der sich kurz zuvor seinerseits auf die »Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts« begeben hatte[2], positiv rezensiert worden.[3] Aber nur der Band von Lampe ist ernst zu nehmen. Darauf will ich mich heute konzentrieren. Die Texte von Krimphove und Montenbruck laufen auf einen unkritischen retrograden Naturalismus hinaus. Dazu werde ich in einem weiteren Eintrag auf Rsozblog Stellung nehmen.

Der Strafrechtler Ernst-Joachim Lampe hatte bereits 1970 einer »Rechtsanthropologie« vorgelegt. 1987 folgte der Band »Genetische Rechtstheorie. Recht, Evolution und Geschichte«, der vorübergehend die Diskussion über eine evolutionstheoretische Aufarbeitung der Rechtsgeschichte[4] belebt hat. Nun hat Lampe er noch einmal die »Historiogenese« des Rechts aufgearbeitet und dabei eine unglaubliche Fülle von Material verarbeitet, darunter auch viel ältere, heute oft vergessene Literatur. Entsprechend ist die Lektüre der 1021 Textseiten eine Zumutung, wiewohl die umfangreichen »erzählenden« Abschnitte durchaus interessant ausfallen. Der Autor kann schreiben. Er bietet eine Weltgeschichte des Rechts, vollständiger als die bekannten Werke von Seagle und Wesel. Ich bin gespannt, wie die Fachhistoriker, in deren Geschäft er sich damit einmischt, die Darstellung würdigen. Mich hat sie deshalb interessiert, weil Lampe die Rechtsgeschichte als evolutionäres Geschehen betrachtet, ohne, wie die Bücher von Krimphove und Montenbruck, in einen darwinistischen Naturalismus abzugleiten.

Lampe verzichtet zwar »auf eine gründliche Kritik der soziobiologischen Begründung von Rechtsnormen«[5]. Aber er bleibt vorsichtig:

» … Deshalb haben alle Versuche, durch Übertragung der im biologischen Bereich geltenden Entwicklungsgesetze auch die psychischen und kulturellen Entwicklungsprozesse zu erklären, sich in der Vergangenheit als nicht zielführend erwiesen, sondern nur die selbstverständliche Erkenntnis bestätigt, dass unter komplexeren Verhältnissen differenziertere Tendenzen oder gar Einmaligkeiten die Entwicklung beherrschen. Der Titel meiner Untersuchung ist daher nicht so zu verstehen, dass ich die Erkenntnisse zur Darwinschen Evolutionstheorie als biologische Variante einer Allgemeinen Evolutionstheorie begreife, die sich per analogiam auch auf die Rechtsentwicklung anwenden lässt.« (S. VII)

In der Folge unterscheidet Lampe zwischen »Bioevolution«, »Psychoevolution« und der Rechtsentwicklung als Teil einer sozialen Evolution, die vor allem auf schöpferischen Prozessen beruht (S. IXf). Als »Historiogenese« baut er sich seine eigene Evolutionstheorie mit Orthogenese und Anagenese als einer Tendenz zu einer irreversiblen Höherentwicklung (S. 638ff, 657).

»[Der Biologe] begreift Evolution als Entstehung und Untergang von Arten. Der Anthropologe denkt anders. Er begreift den Menschen nicht nur als eine besondere biologische Art, sondern auch als Schöpfer und Geschöpf von Kultur. Und er definiert kulturelle ›Evolution‹ nicht nur, Darwin folgend, als ›Veränderung‹, sondern auch, Spencer folgend, als Veränderung durch spontan schöpferische, eigendynamische Kräfte, die ihn ›orthogenetisch‹ bzw. unumkehrbar (›irreversibel‹) vervollkommnen, indem sie ihm die Entfaltung immer reicherer Möglichkeiten (die ›Anagenese‹) eröffnen. Kulturverfall und Zusammenbruch fallen daher nicht unter seinen Evolutionsbegriff; sie sind Devolutionserscheinungen.« (S. 607)

Diese Tendenz gilt freilich nur, wenn man das Große und Ganze betrachtet. Im Bereich konkreter Rechtskulturen »hat es eine ununterbrochene Evolution i. S. einer geradlinig verlaufenen Anagenese niemals und nirgends gegeben.« Die Frage, ob das Lernen bzw. Verlernen von kulturellen Fähigkeiten als individuelles Lernen in den Menschen oder in Strukturen, also für das Recht in der Entwicklung von Normen und Institutionen stattfindet, beantwortet der Jurist Lampe nach sorgfältiger Diskussion der Meinungslager am Ende mit einer »Vereinigungstheorie, welche die Verteilung der Anteile von Psychogenese und Soziogenese, je nach der historischen Situation als offen ansieht« (S. 658).

Nicht so klar wird, wieweit die Psychogenese ihrerseits sozialkonstruktivistisch biologisch genetisch erklärt werden muss. Zwar distanziert sich Lampe von der Rechtsbiologie, mit der er früher geliebäugelt hatte[6]. Ganz verzichtet er aber nicht auf den Rückgriff auf die Gene: »Für die Funktionen des Rechts wurden vor allem zwei genetisch überlieferte Bedürfnisse leitend: diejenigen nach einer vorhersehbaren und nach einer gerechten Welt.« (S. 361). Die »biopsychische Basis« (S. 357), das »Psychogramm … [hat jeder Mensch] nur teilweise ererbt, während es großenteils epigenetisch geprägt wird« (S. 611). Diese Basis zeigt sich für Lampe im »Rechtsbewusstsein« und seiner »Psychogenese«, ein Thema, dass ihn schon früher beschäftigt hatte.[7] In einer Fußnote (Nr. 222 auf S. 68) erfahren wir:

»Offenbar ist die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genetisch nur unvollkommen vorgeprägt und weitestgehend epigenetisch entwicklungsfähig und somit unterschiedlichen Umwelt- und Kultureinflüssen gegenüber ›plastisch‹.«

Was genau man sich unter Epigenese vorzustellen hat, bleibt jedoch offen. Die Erläuterung erschöpft sich darin, dass Lampe auf ein Konzept der »epigenetischen Entwicklung sozialer Beziehungen in Kleingruppen« (S. 558) Bezug nimmt, für das in Fn. 557 die »Entwicklung von intrafamiliären Beziehungen [als] Prototyp der Epigenese aller auf Dauer ausgerichteter Beziehungssysteme« zitiert wird. So ist es denn vor allem das Rechtsbewusstsein, dass von der Anagenese, von der evolutionären Höherentwicklung profitiert.[8]

Die Ausführungen über »Gesetzmäßigkeiten in der Genese von Rechtsbewusstsein« (S. 514ff) beklagen, dass die Entwicklung von Moral und Recht von der Psychologie nur phänomenologisch beschrieben werde, dass es jedoch an phylogenetischen Untersuchungen fehle. Das Zwischenergebnis der Literaturauswertung lautet:

»Unbestritten ist ein spezielles Rechtsbewusstsein dem Menschen nicht einmal keimhaft angeboren, sodass es unter günstigen kulturellen Bedingungen lediglich auszureifen bräuchte. Angeboren sind dem Menschen lediglich gewisse normative Grundregeln ohne spezifisch juristische Relevanz wie das schon genannte Verbot, andere zu schädigen, und das Gebot, anderen in Notlagen zu helfen. Angeboren sind ihm ferner – wahrscheinlich nicht vom Anbeginn seiner Entwicklungsgeschichte, wohl aber spätestens seit 15.000 Jahren ‒ die Fähigkeiten, Verhaltensnormen auszubilden und sich nach ihnen auszurichten. Zusätzlich zu den angeborenen Grundregeln kann er insbesondere diejenigen Verhaltensnormen erlernen, die in seiner Gemeinschaft speziell gelten. Zur Vervollkommnung dieser Fähigkeiten bedarf er freilich einer umfangreichen Einarbeitung in die Kultur seiner Gemeinschaft, die er aber schon in frühester Kindheit beginnt und ab dem Zeitalter der Pubertät verstärken und kritisch hinterfragen kann.« (S. 537)

Lampe ist anscheinend davon überzeugt, dass auch seither die psychischen Qualitäten des Menschen mit ihren »neuronalen Substraten« evolutionär entwickelt und so ein komplexeres Rechtsbewusstsein möglich gemacht haben. Aber:

»Soweit erkennbar, ist derzeit das Bewusstsein selbst der zivilisatorisch am weitesten fortgeschrittenen Völker noch immer nicht hoch genug entwickelt, um die Achtung und den Schutz von Menschenrechten als immanentes Gebot nicht nur zu erleben, sondern es auch an die nachfolgende Generation genetisch (!) weiterzugeben.« (S. 540)

Also doch wieder ein Kokettieren mit den Genen.

Die Ausgangshypothese von der Höherentwicklung des Rechtsbewusstseins, die im weiteren Verlauf mit vielen Differenzierungen bejaht wird, formuliert Lampe als Frage,

»ob der Evolution des Rechts

    • innerhalb des Gefühlsbereichs eine immer klarere Fähigkeit zugrunde lag, (objektives) Recht und Unrecht, Rechtsgrund und Rechtsfolge, (subjektives) Recht und Pflicht sowie Freiheit und Ordnung zu unterscheiden;
    • innerhalb des rationalen Bereichs eine Erweiterung der Fähigkeit korrespondierte, Allgemeinbegriffe sowie generelle Regeln zu bilden, die es erlauben, soziale Prozesse zu identifizieren, sie Personen als Urhebern zuzurechnen und zweckmäßig darauf zu reagieren;
    • innerhalb des Ich-Zentrums eine immer differenziertere Unterscheidung zwischen Gut und Böse sowie ein Wille entsprachen, die subjektive Verantwortlichkeit dafür und die soziale Reaktion darauf gerecht zu bemessen und zu verteilen.« (S. 42).

Ich verzichte darauf, Lampes Geschichtserzählungen zu referieren und springe zu den letzten 40 Seiten, auf denen Lampe unter der Überschrift »Ergebnis: Die Verrechtlichung der neuzeitlichen Lebenswelt« seine Zeitdiagnose ausbreitet.

Die Verrechtlichung zeigt sich für Lampe im Anwachsen der Staatsaufgaben, die Anagenese in der Überlegenheit des Rechtsstaats, der durch die Ausrichtung auf individuellen Rechtsschutz und Gewaltenteilung charakterisiert ist. Dessen Alternativen, die von einer philosophischen oder theologischen Gesellschaftstheorie ausgehend, Recht lediglich instrumentell benutzten, müssten an der Komplexität »aufgrund der technisch-technologischen Revolution geschaffenen ökonomischen und sozialen Verhältnisse« scheitern (S. 988).

Die Evolution habe offenbar in der menschlichen Vernunft den Fortschritt erkannt (S. 989). Zu den rationes, die hier durchdekliniert werden, gehört eine ratio voluntatis, die die Toleranz und Billigkeit vereinigt. Sie soll überall dort greifen, » wo außerhalb des naturwissenschaftlichen Bereichs Meinungen die Stelle von Erkenntnissen vertreten«. Sie legitimiert »die Geltung voneinander abweichenden (Rechts-)Meinungen, wenn alle zu ›vertretbaren‹ Ergebnissen führen« (S. 1012). Freilich sei mit der »Fähigkeit zu vernünftigen Entscheidungen keineswegs ein Wille zu vernünftigem Handeln verbunden«, denn evolutionär habe menschliches Handeln die Sicherheit instinktiv-gefühlsmäßiger Determination verloren, »ohne jedoch eine den Verlust ausgleichende Determination durch die Vernunft gewonnen zu haben« (S. 989f). An die Stelle einer natürlichen Determination muss daher eine Rechtsverfassung treten. Deren Bestandteile werden in einem sechsstufigen Pyramidenmodell mit den Inhalten der modernen westlichen Rechtskultur ausgestattet. Das geht im Detail so weit, dass auch die Einrichtung von Gütestellen nach § 15a EGZPO zur »individuale Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates« gehören kann (S. 999).

Überlegungen zur »sozialen Gerechtigkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Staates« (S. 1000ff) veranlassen den Verfasser nicht nur etwa zu der Feststellung:

» … ist Grundlage des nationalen Wohlstands der Reichtum an menschlicher und tierischer Arbeitskraft, der durch den Einsatz von technischen Geräten und elektrisch betriebenen Maschinen einerseits verstärkt, andrerseits um die zur Erzeugung der technischen Geräte und der Elektrizität benötigten Mittel vermindert wird. Deshalb wird es heute mehr denn je als wichtig angesehen, dass die Mittel zur Elektrizitätserzeugung von der Natur in Form von Wind- und Wasserkraft bereitgestellt werden, ohne dass dadurch an anderer Stelle ein Energieverlust eintritt.« (S. 1001)

Sie geben auch Anlass zu einem Vergleich der sozialpolitischen Vorstellungen von John Rawls, Roland Dworkin und Amartya Sen, der aber keine Lösung bietet, so dass Lampe sein eigenes sozialpolitisches Gerechtigkeitsmodell präsentiert: Die ratio utilitatis gebietet es, allen Menschen eine Beschäftigung anbieten, die nicht nur einen ausreichenden Familienunterhalt gewährt, sondern auch die Entfaltung von Interessen und Talenten ermöglicht (S. 1006f).

Erhellend die Beobachtung, »im Bereich der ausgleichenden Sozialpolitik [sei] gegenüber früher eine Veränderung eingetreten, weil der Austausch zwischen den Anbietern und den Verbrauchern von Produkten fast ausschließlich über Händler verläuft und der Staat infolgedessen in der Lage ist, ausgleichende Normen sowohl für den allgemeinen Handelsverkehr als auch für spezielle Handelsmärkte zu erlassen« (S. 1011), irritierend die Bemerkung, das Problem der Todesstrafe sei komplizierter, als es allgemein dargestellt werde (1012), beachtenswert die Ausführungen zur Globalisierung, die von der Beobachtung ausgehen, dass die Zahl allein der europäischen Staaten in der Neuzeit von mehr als 500 im 16. Jahrhundert  auf etwa ein Zehntel geschrumpft sei mit der Folge einer Übermacht der großen Staaten im Globalisierungsgeschehen; interessant Erörterungen der Frage, ob und in welchem Umfang unter den Bedingungen der Globalisierung souveräne Staaten berechtigt oder gar verpflichtet sind, in Not- und Katastrophenlagen und bei schweren Menschenrechtsverletzungen in die Sphäre anderer Staaten einzugreifen.  Das Buch endet mit der

»Lehre aus Vergangenheit …, dass soziale Evolution unvermeidlich die Umwelt destruiert.« (S. 1021).

Diese Andeutungen über den Inhalt werden den klugen Ausführungen nicht gerecht, mit denen Lampe seine Zeitdiagnose ausbreitet. Nichts ist trivial. Alles erscheint plausibel, auch wenn es sich »theoretisch« oder gar »logisch« nicht aus der Geschichte ableiten lässt. Ob der Aufwand einer Weltgeschichte des Rechts und Ihre Einkleidung in eine Evolutionstheorie dafür erforderlich war? Er war mindestens hilfreich.


[1] Darwin selbst hätte die Frage eher verneint. Er definierte: »Ein moralisches Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, seine vergangenen und zukünftigen Handlungen oder Beweggründe mit einander zu vergleichen und sie zu billigen oder zu mißbilligen. Zu der Annahme, daß irgend eines der niederen Thiere diese Fähigkeit habe, haben wir keinen Grund.« (Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 5. Aufl. 1890, S. 122). Darwin war also kein moralischer Evolutionist, im Gegenteil, Moralität galt ihm »als das prinzipielle Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier« (Nicola Erny, Darwin und das Problem der evolutionären Ethik, Zeitschrift für philosophische Forschung 57, 2003, 53-73, S. 64).

[2] Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts. Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 4, 2019, 294-322.

[3] RPhZ 8, 2022, 241-256 und 480-493.

[4] Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002; Hans-Peter Haferkamp, Rechtsgeschichte und Evolutionstheorie, in: Ludwig Siep (Hg.), Evolution und Kultur, 2011, 35-60.

[5] S. 97 Fn 358.

[6] S. 998 ist zu lesen: » Über die Befunde der Psychologie hierzu habe ich in meiner Rechtsanthropologie, über die Befunde der Ethologie haben u. a. Margaret Gruter und Hagen Hof in ihren Veröffentlichungen berichtet.« Dazu heißt es in Fußnote 781: » Die ethologischen Befunde haben M. Gruter (1976; 1993) und H. Hof (1996) ebenfalls als für das (nicht nur deutsche) Recht verbindlich erklärt. Weitere Nachweise aus der US-amerikanischen Literatur bei W. Fikentscher (2016), p. 240 ff.« In dem mit 52 Seiten ungewöhnlich langen Literaturverzeichnis fehlen jedoch die Titel von Gruter und Hof.

[7] Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997.

[8] S. 514ff, 546, 658f, 686,

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Rechtssoziologie unter fremdem Namen gerät zur Triviallogie

Oft wird beklagt, es gebe zu wenig Rechtssoziologie. Dabei wird leicht übersehen, wie viel Rechtssoziologie unter fremdem Namen betrieben wird. Insbesondere in Soziologie, Sozialpsychologie und Ethnologie wird man immer wieder fündig. Deshalb habe ich mich zeitweise bemüht, hier auf Rsozblog auf einschlägige Forschungen anderer Disziplinen hinzuweisen. Selbstverständlich richtet sich der Blick dabei gelegentlich auch auf die entsprechenden Bochumer Fakultäten. So konnte ich vor bald vier Jahren notieren: In Bochum gibt es wieder Rechtssoziologie.

Nun wird im Newsletter der Sektion Rechtssoziologie in der DGS vom 9. 8. 2023 als neues Mitglied der Sektion Prof. Dr. Birgit Apitzsch vom Lehrstuhl für Arbeit Wirtschaft und Wohlfahrt in der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität begrüßt, die wohl schon im Oktober 2021 nach Bochum berufen wurde. Ihr Publikationsverzeichnis bietet eine ganze Reihe von Titeln, die man der Rechtssoziologie zurechnen kann. Sie befassen sich nicht zuletzt mit Legal Techs und dem Zugang zum Recht. Ich habe bisher nur einen Text gelesen, der in Zusammenarbeit mit Berthold Vogel entstanden ist.[1] Da habe ich nun freilich gestaunt, wie gestandene Soziologen mit Aufwand und Jargon Trivialitäten verbreiten.[2] Das war bisher eine Spezialität der Kulturwissenschaften. Es wird gejammert, der Stand der professionssoziologischen Forschung zur Justiz sei beklagenswert. Aber dann erfährt man außer Gendersternchen nicht Neues. Es wird nur bestätigt, dass Justizjuristen sich über ihre Arbeitsbelastung beklagen, im Arbeitsalltag aber nicht so aufsässig sind, wie es die Autoren wohl erwartet hatten, und dass sie die »strukturell« zu erwartenden Auseinandersetzungen ihren Berufsorganisationen überlassen.


[1]Birgit Apitzsch/Berthold Vogel, Der öffentliche Auftrag der Justiz. Die Wahrnehmung professioneller Autonomie durch Richter*innen und Staatsanwält*innen. In: Birgit Blättel-Mink (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, 2021.

[2] Das kann ich auch selbst.

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Der halbierte Naturalismus der Philippa Foot

Der Aristotelische Naturalismus will Natürlichkeitsargumente wieder hoffähig machen.[1] Zu einiger Prominenz hat es Philippa Foot gebracht. So hatte ich einige Hoffnung auf ein gutes Ende des Natural Turn in ihre 2001 erschienene Abhandlung »Natural Goodness« gesetzt.[2] Die Hoffnung wurde geweckt, weil Foot die »Lebensform« der Spezies Mensch zur Basis ihres Naturalismus macht. Auf den ersten Blick bietet sie damit eine anthropologisch begründete Ethik. Doch, wie so oft, der erste Blick täuscht.

In dem von Thomas Hoffmann und Michael Reuter herausgegebenen Sammelband »Natürlich gut« mit »Aufsätzen zur Philosophie von Philippa Foot« (2010) wird einige Kritik geübt. Aber die Zustimmung oder gar Bewunderung überwiegt. Zwei Kritikpunkte bleiben unterbelichtet, die Zirkularität des Arguments[3] und die Lücke, die der Sprung von der subrationalen ersten Natur des Menschen zu seiner zweiten kulturellen Natur hinterlässt[4]. An diesen beiden Kritikpunkten will ich meine Enttäuschung festmachen.

Foot will »über etwas schreiben, das man ›natürliche Qualität und natürlichen Defekt bei Lebewesen‹ (natural goodness and defect in living things) nennen kann« (S. 18). Sie verankert ihren ethischen Naturalismus in der Natur des Menschen, indem sie dessen Fähigkeit, sich an Gründen zu orientieren, als wesentliches Merkmal seiner »Lebensform« postuliert. Diese Fähigkeit nennt sie praktische Rationalität. Normative Urteile im eigentlichen Sinne fordern ein in irgendeiner Weise durch Willen und Verstand gelenktes Verhalten ein, wie es nur dem Menschen möglich ist. Menschen verfügen, wie schon die meisten Tiere, über soziale Fähigkeiten. Sie haben darüber hinaus ein Selbstbewusstsein, dass ihnen zu intellektuellen Fähigkeiten verhilft, darunter die auch die Empfänglichkeit für Gründe. »Denn das Handeln nach Gründen ist eine grundlegende Weise menschlichen Verhaltens.« (S. 36) Es ist »Tatsache, daß Menschen Wesen mit der Fähigkeit sind, Handlungsgründe anzuerkennen und entsprechend zu handeln« (S. 43). Unzugänglichkeit für Gründe gilt Foot als natürlicher Defekt. Somit gehört praktische Rationalität zur Natur des Menschen.

Für das Konzept der Lebensform bezieht sich Foot (S. 46ff) ausführlich auf einen Aufsatz von Michael Thompson[5] – und weckt dadurch die Hoffnung auf eine anthropologische Grundlegung. Michael Thompson hat den Begriff der Lebensform ausgearbeitet. Er meint, die üblichen Definitionen des Lebens mit einer Liste von »Merkmalen des Lebendigen«[6] bildeten eine stabile Einheit, so dass man in einen Zirkel gerate, wenn man eines von ihnen separat zu erläutern versuche. Leben zeige sich nicht im Abstrakten, sondern werde nur in lebendigen Individuen wirklich. Zwischen dem abstrakten Begriff des Lebens und dem konkreten Individuum steht die Spezies (Gattung, Art), die Thompson »Lebensform« nennt. Über die Lebensformen lassen sich daher allgemeine Aussagen machen[7]. Hinsichtlich solcher Aussagen über die Spezies oder Lebensform spricht Thompson von naturhistorischen Urteilen (natural-historical judgements). Diese Benennung leitet er von Aussagen ab, wie man sie typisch in Wander- und Naturführern findet, wenn es dort etwa heißt: Hier leben Rotluchse. Die Fellfarbe der Körperoberseite reicht von blassgelb bis rötlich braun. Im Frühling bringt der weibliche Rotluchs zwei bis vier Junge zur Welt. Später lernen die Jungen, Kaninchen, Hasen und andere Kleintiere zu jagen[8]. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Allsätze, denn die Aussage muss nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen, sondern um Urteile über typische Eigenschaften, die auch dann »wahr« sind, wenn sie nicht bei allen Individuen zutreffen. Man hat auch schon Rotluchse mit schwarzem Fell gefangen.

Thompson verwendet einigen Aufwand darauf zu begründen, dass Aussagen über eine Lebensform allgemeingültige Urteile sind, wiewohl sie nicht auf jedes Exemplar der Gattung zutreffen. Dazu bemüht er insbesondere die Kategorienlehre des Aristoteles. Diese Bemühungen laufen darauf hinaus, dass sich Lebensformen durch typische Eigenschaften und Prozesse auszeichnen, mit einem anderen Ausdruck, durch Normalität.

Spannend wird Thompsons Gedankengang durch die anschließende Frage, ob naturhistorische Urteile, also allgemeine Aussagen über eine Spezies oder Lebensform, normativer Art sind[9]. Seine Antwort schillert, ist aber doch letztlich negativ. Naturhistorische Urteile scheinen jedoch einen »verborgenen normativen Unterbau«[10] zu haben. Sie liefern die Maßstäbe oder Standards für die Exemplare der Gattung. Der Züchter wird ein Pferd nach seinem Körperbau als wohlgebildet und geeignet für den Rennsport einstufen, der Kenner eine Rose als besonders schönes Exemplar ihrer Gattung. Von einer Katze mit drei Beinen könnte man sagen, sie sei defekt, von einer Pflanze, die wuchert, sie sei krank. Mit solchen Aussagen werden normative Kategorien, die eigentlich nur menschlichem Verhalten gelten, auf die subrationale Natur angewendet. Normalität, Anormalität und Anomalien = »natürliche Defekte« sind stets »lebensformrelativ«. Dabei handelt es sich zwar um »künstliche Kategorien«[11]. Aber letztlich sind alle Begriffsbildungen künstlich. »Naturhistorische Urteile«, welche die Lebensform einer Spezies beschreiben, seien deshalb nicht normativ.

Foot entwickelt an Hand der Lebensformen ein Konzept »natürlicher Normen« (S. 44ff).

»In meiner Sicht steht moralische Bewertung nicht im Gegensatz zur Tatsachenbehauptung, sie hat vielmehr mit Tatsachen einer besonderen Art zu tun – genauso wie Bewertungen solcher Dinge wie Sehvermögen und Geör bei Tieren sowie anderer Aspekte ihres Verhaltens. Ich denke, niemand würde etwas anderes als eine Tatsache darin sehen, daß mit dem Gehör einer Glucke etwas nicht in Ordnung ist, die das Schreien ihres eigenen Kükens nicht ausmachen kann – ebenso wie mit dem Sehvermögen einer Eule, die im Dunkeln nicht sieht. Nicht weniger offensichtlich ist es, daß es Bewertungen gibt, die auf der Lebensform unserer eigenen Spezies basieren – Bewertungen des Sehvermögens von Menschen, ihres Gehörs und Gedächtnisses, ihrer Konzentration usw. die objektiv sind und Tatsachen zum Ausdruck bringen. Warum scheint es dann so abwegig, daß sich auch die Bewertung des menschlichen Willens an Tatsachen der menschlichen Natur und des Lebens unserer Spezies orientieren muß?« (S. 42f)

Was natürlich gut ist, ist für jede Spezies verschieden. Nur die formale Struktur der Bewertung bleibt gleich (S. 72). Die Analogie lautet dann, »daß Menschen darauf angewiesen sind, daß Moral vermittelt und befolgt wird« (S. 33), ähnlich »wie die Bienen auf Stacheln« (S. 66; ein Vergleich, der auf Peter T. Geach zurückgeht). Offen bleibt damit zunächst die Frage nach dem Inhalt von Moral oder Tugend.

Natürliche Normen kommen nur Lebewesen zu. Sie ergeben sich aus »aristotelischen Kategorien«, das sind solche Eigenschaften einer Spezies, die »unmittelbar oder mittelbar, mit Selbsterhaltung (zum Beispiel durch Verteidigung oder Nahrungsaufnahme) oder mit der Fortpflanzung des Individuums (wie beim Nestbau) zu tun haben« (S. 51). Es geht um Aussagen, »die mit der Teleologie der Lebewesen[12] dieser Art zu tun haben« (S. 51). Daraus werden Normen abgeleitet, die von einem Exemplar der betreffenden Spezies sagen, »daß es (dieses Individuum) so ist wie es sein sollte, oder aber, daß es in einer bestimmten Hinsicht mehr oder weniger defekt ist« (S. 54).

»Die Frage ist also, ob Eigenschaften und Vollzüge von Menschen in Bezug auf ihre Rolle im menschlichen Leben gemäß dem Schema der natürlichen Normativität bewertet werden können, das wir bei Pflanzen und Tieren entdeckt haben.« (S. 61)

An dieser Stelle ist die Frage nur noch rhetorisch, war sie doch zuvor schon positiv beantwortet worden. Nun ist man gespannt, aus welchen »Eigenschaften und Vollzüge von Menschen« natürliche Normen abgelesen werden sollen.

»Begrifflich wird die Qualität von Eigenschaften und Vollzügen durch den spezieseigenen Bezug auf Überleben und Fortpflanzung bestimmt; denn nichts anderes als Überleben und Fortpflanzung nach der Art der jeweiligen Spezies ist das Gute in der botanischen und zooologischen Welt. An diesem Punkt kommen die Fragen ›Wie?‹, ›Warum?‹ und ›Wozu?‹ An ein Ende. Das ist natürlich anders, wenn wir uns mit Menschen beschäftigen. … Die Teleologie des Menschen erschöpft sich nicht im Überleben allein.« (S. 64f).

Da würde man gerne zustimmen. Doch wo bleibt die Natur? Aristotelisch notwendig sei, was für Gutes erforderlich sei (S. 68). Aber was ist das menschlich Gute, wenn es nicht bloß in Selbsterhaltung und Fortpflanzung besteht und die Bewertung menschlichen Handelns »dieselbe begriffliche Struktur hat wie die Bewertung von Vollzügen in der sub-rationalen Welt des Lebendigen« (S. 72)?. Die »Lebensform« einer Spezies zeigt sich nicht in einer Momentaufnahme, sondern in der »Naturgeschichte«.

»Es gibt wahre Aussagen wie ›Menschen machen Kleider und bauen Häuser‹, die sich vergleichen lassenmit ›Vögel haben federn und bauen Nester‹. Und so gibt es auch Aussagen wie ›Menschen führen Regeln ein und erkennen Rechte an‹.« (S. 75).

Regeln und Recht mit welchem Inhalt? Der Inhalt ergibt sich nicht aus biologischen und psychischen Merkmalen des Menschen, sondern aus seiner Rationalität, von der Foot zeigen will, »daß es Merkmale gibt, die all den Bewertungen gemeinsam sind, die man ›Bewertungen des rationalen Willens des Menschen‹ nennen kann« (S. 96). Dazu erfahren wir, wie praktische Rationalität arbeitet, vor allem, dass sie keinen Unterschied macht zwischen moralischen und anderen Vernunfturteilen. Foot zitiert das harm principle John Stuart Mills, nachdem nur solche Handlungen moralischer Beurteilung zugänglich sind, die sich auf andere Menschen oder die Gesellschaft negativ auswirken, und erklärt, dass bloß törichte oder selbstzerstörerische Handlungen nach der gleichen Logik bewertet werden. Wenn Rationalität nicht zu Ergebnissen gelangt, die nach der Vorstellung Foots rational sind, ist sie mit einem natürlichen Fehler behaftet.

In welche Richtung der »rationale Wille des Menschen« führen müsste, um nicht als fehlerhaft zu gelten, zeigt das 6. Kapitel, nämlich zu »Glück und Wohl« des Menschen. Das eigentliche, »tiefe« Glück findet Foot nach dem Vorbild des Aristoteles in tugendmäßiger Betätigung – im Gegensatz zu trivial kindlicher Zufriedenheit oder gar dem Lustgewinn aus boshaftem Verhalten. So gerne der Leser diesen Überlegungen zustimmen möchte, so sehr muss er bezweifeln, dass es sich insofern um eine kulturelle Universalie handelt, die als natürliche Lebensform des Menschen gelten kann. Wenn das Streben nach »Glück und Wohl« in diesem höheren Sinne zur natürlichen Lebensform des Menschen gehörte, wären Moralphilosophie und Ethik wohl überflüssig.

Das Buch endet mit einem lesenswerten Kapitel über Immoralismus, wie ihn Platon dem Sophisten Thrasymachos in den Mund legt und wie ihn Nietzsche als eigene Überzeugung verkündet. Hier erfahren wir, dass reine Freundschaft, echte Barmherzigkeit und wahre Liebe zur Gerechtigkeit natürliche Qualitäten der Spezies Mensch bilden.

»Wenn Nietzsche bestritt, daß Handlungsbeschreibungen wie ›Verletzung‹, ›Unterdrückung‹ ›Vernichtung‹ usw. notwendig einen Widerspruch zur Tugend der Gerechtigkeit – ungerechtes Handeln – signalisieren, daß also derartige Handlungen moralisch als solche falsch seien, dann gab es dafür keine stimmige psychologische Grundlage. Seine Auffassung ist meines Erachtens völlig verkehrt und zudem gefährlich. Selbstverständlich widerstreitet sie den Prinzipien der natürlichen Normativität, wie sie in diesem Buch erläutert wurden.« (S. 148)

Um Nietzsche die »psychologische Grundlage« abzusprechen, muss man wohl von der Vorstellung von psychischen und moralischen Grundintentionen ausgehen. Das wäre aber gerade der psychologische Naturalismus, den Foot vermeiden will. Ihr Naturalismus ist indirekter. Er wird durch die praktische Rationalität vermittelt, die zur Lebensform des Menschen gehört. Doch diese Vermittlung läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Praktische Rationalität, wie sie Foot versteht, ist mehr als bloße Reflexivität. Sie hebt den struggle of life nicht nur technologisch auf die Ebene der Zweck-Mittel-Rationalität, sondern verhilft ihm zugleich zu moralischen Schutzvorkehrungen. Foots praktische Rationalität orientiert sich definitionsgemäß an Handlungszielen, die etwas Gutes für den Menschen darstellen.[13] Oder in (unkritisch gemeinten) Formulierungen von Pauer-Studer: Praktische Rationalität richtet sich nach den Bedingungen der Moral: »In Natural Goodness reduziert Foot praktische Rationalität auf eine Konzeption guter Gründe, die von den Tugenden her vorgegeben werden.«[14]. Foots praktische Vernunft ist von vornherein eine werthaft verfasste Vernunft. So wird in die Lebensform des Menschen hineingelegt, was danach als natürliche Normativität herausgeholt wird.

Foots Naturalismus ist nicht nur zirkelhaft, sondern auch inkonsequent, sozusagen ein halbierter Naturalismus, halbiert, weil der immer wieder angestellte Vergleich mit den Lebensformen von Pflanzen und Tieren nicht durchgehalten wird. Der Sprung von der subrationalen ersten Natur zur praktischen Rationalität lässt eine Lücke. Die Analogie zu pflanzlichen und tierischen Lebensformen bleibt unvollständig, wenn Rationalität als einziges Merkmal herausgegriffen wird. Damit lässt Foot alle Probleme hinter sich, die daraus folgen, dass der Mensch nicht nur Geist, sondern auch Leib ist. Diese Lücke wird indirekt von Anton Leist angesprochen:

»Wenn man … nur die Bedeutung des logos für eine zweite, eben kulturell herausgearbeitete menschliche Natur betont, übersieht man leicht die nötigen biologischen Voraussetzungen für diese zweite Natur.«[15]

Um die Lücke zu schließen, müsste man die empirische Anthropologie zu Rate ziehen. Deren Minimalaussage wäre wohl: Die Lebensform des Menschen unterscheidet sich von der tierischen wohl dadurch, dass alle Handlungen, die der Lebenserhaltung und Fortpflanzung dienen, ihren Weg durch das Bewusstsein nehmen können und damit praktischer Rationalität zugänglich sind. Doch damit ist die Biologie nicht abgeschafft. Menschliches Gedeihen gibt es nur in der Verbindung von Körper und Geist. Zur Lebensform des Menschen gehören unabdingbar unter anderem die Heterosexualität und historisch vielleicht auch der Kleinstamm und/oder die Kleinfamilie.[16] Foot weist solche Gedanken gleich zu Beginn zurück, indem sie sich dagegen verwahrt, der Lebensform des Menschen eine bestimmte Sexualmoral zu entnehmen, indem sie sagt:

 » …that by natural goodness I emphatically do not mean the goodness thought by many to belong for instance, to some but not other sexual practices because some but not others are ›natural‹.« (2001 S. 3 = 2014 S. 18).

Dieser Vorbehalt wird für den Leser um so unverständlicher, je länger er liest, wird er doch geradezu »emphatisch« mit natürlichen Lebensformen konfrontiert. Die ständige Bezugnahme auf solche Lebensformen fordert dazu heraus, die Möglichkeit eines normativen Rekurses auf die subrationale erste Natur jedenfalls zu bedenken, so wie es heute selbstverständlich ist, wenn menschliches Verhalten gegenüber der außermenschlichen Natur in Rede steht. Foot und Thompson richten sich zwar an philosophische Fachkollegen. Sie müssen aber damit rechnen, dass auch unbedarfte Juristen, die einen Alltagsnaturalismus mitbringen, ihre Texte lesen. Juristen könnten Foot etwa mit der Frage konfrontieren, ob eine Verfassungsbeschwerde gegen den 2017 geänderten § 1353 I 1 BGB moralisch zulässig oder gar geboten wäre. Gefordert ist deshalb eine Erklärung, was genau den moralischen Rekurs auf natürliche Lebensformen einschränkt oder gar blockiert. Die Antwort, die Foot geben könnte, liegt nahe: Die Empfänglichkeit für Gründe führt zu der Überzeugung, dass die relevante Gleichheit zwischen Menschen stärker ist als alle Abweichungen von einer typischen Lebensform. Wenn es um Moral und Recht geht, ist der Gleichheitssatz stärker als die subrationale Natur. Wenn also Heterosexualität die typische »Lebensform« des Menschen sein sollte, folgte daraus keine Sexualmoral. Homosexualität und Transsexualität sind und bleiben Teil der Natur des Menschen, auch wenn sie aus der »Lebensform« herausfallen. Die Möglichkeit der Reflexion über biologische Funktionalität macht es möglich, Sexualität von der Reproduktionsfunktion gedanklich und dann auch praktisch zu trennen. Deshalb mag man z. B. Menschen, die sich gegen eigene Kinder entscheiden, aus anderen Gründen loben oder tadeln, man kann ihnen aber jedenfalls keinen Verstoß gegen die Natur vorwerfen. Ich würde aber nicht so weit gehen, die rechtliche Privilegierung der Bio-Ehe, wie sie in vielen Staaten noch immer Gesetz ist und wie sie zum Programm einiger politischer Parteien auch in Europa gehört, als Menschenrechtsverletzung oder umgekehrt als naturrechtlich fundierte Forderung einzuordnen. Diversität ist auch für politische Programme angesagt.

Was bleibt für den Natural Turn? Ein weitergehender Naturalismus kommt nur für solche Urteile in Betracht, die keine Verbindlichkeit für Dritte beanspruchen. In diesem Sinne steht es jedem frei, bewusst für natürlich gehaltenen Lebensformen nachzuleben, und zwar durchaus auch im Verein mit anderen. Man wird es auch für zulässig halten können, dass Menschen, so wie sie sich für Bio-Lebensmittel entscheiden, Bio-Lebensformen bevorzugen, sich für Bio-Sex, Bio-Ehe und Bio-Familie einsetzen und Reproduktionsmedizin und Human Enhancement ablehnen, so wie andere gentechnisch veränderte Lebensmittel ablehnen. Auch ein Bio-Feminismus, der als Differenzfeminismus für die Geschlechter unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft sieht, ist solange vertretbar, wie er beschreibend »Glück und Wohl« der Betroffenen in den Blick nimmt, ohne einen Lebensstil vorzuschreiben oder gar rechtliche Einschränkungen zu akzeptieren.

Nachtrag: Eine in ihrer Ausführlichkeit kaum noch lesbare Stellungnahme von Richard Friedrich Runge, Eine kritische Theorie der Tugendethik, 2022, ist im Internet frei zugänglich (Campus Wissenschaft).


[1] Vgl. Christian Kietzmann, Ethik und menschliche Natur. Literatur zum Aristotelischen Naturalismus, Philosophische Rundschau 65, 2018, 175-196. Einen neueren Sammelband (Martin Hähnel (Hg.), Aristotelian Naturalism. A Research Companion, 2020) habe ich nur durchgeblättert.

[2] Deutsche Übersetzung von Michael Reuter: Die Natur des Guten, 2004. Ich zitiere nach der Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe von 2014 (Seitenzahlen in Klammern im Text).

[3] Dem Einwand der Zirkularität am nächsten kommt Gerlinde Pauer-Studer, wenn sie Foot vorhält, sie könne »nicht beides behaupten: dass zum einen Verletzungen der Zweck-Mittel-Effektivität ein allgemeines Rationalitätsdefizit sind und dass zum anderen praktische Rationalität nicht zweckneutral ist« (S. 182).

[4] Den Einwand der Lücke zur anthropologischen Basis hat Anton Leist im Blick: Naturalismus bei Foot und Hursthouse, in: Thomas Hoffmann/Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut, 2010, 121-148.

[5] Michael Thompson, The Representation of Life, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Hg.), Virtues and Reasons 1995, 247-296. Überarbeitete Fassung in Michael Thompson, Life and Action, 2008; deutsch als: Leben und Handeln, 2011.

[6] 2011 S. 46ff.

[7] S. 65.

[8] S. 83.

[9] S. 96ff.

[10] S. 105.

[11] S. 101.

[12] Anton Leist (wie Fn. 4, S. 133) kritisiert, solche Teleologie sei im Rahmen der modernen Biologie seit Darwin eindeitig falsch und könne deshalb nur alltagssprachlich gemeint sein. Dagegen verteidigt Kietzmann das Konzept der Lebensform von Thompson und Foot als Redeweise, die auch vor dem Hintergrund er Evolutionstheorie angemessen bleibe (S. 185ff). Der Kritik von Leist könnte man begegnen, indem man die Spezies als System setzt und auf die Funktion der für relevant gehaltenenen Eigenschaften innerhalb einer Lebensform abstellt. Damit würde die »natürliche Normativität« allerdings zur bloßen Funktionalität, und es würde klar, dass Foot mit ihrer Redeweise schon den von Thompson apostrophierten »verborgenen normativen Unterbau« einzieht.

[13] Thomas Hoffmann/Michael Reuter, Auf dem Weg zum natürlich Guten Eine Einführung in die Moralphilosophie Philippa Foots, in: dies. (Hg.), Natürlich gut, Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, 2010, 1-24, S. 13.

[14] Wie Fn. 3, S. 172f)

[15] Wie Fn. 4, S. 127.

[16] Dazu verweise ich auf Hellmuth Mayer, Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht, 1977. Dieses Buch habe ich in mehreren Einträgen auf Rsozblog gewürdigt.

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Frege und die Frage nach dem Geist der Geisteswissenschaften

Die traditionelle Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften hat an Bedeutung verloren. Man orientiert sich eher an der Unterscheidung zwischen sciences und humanities und differenziert letztere in Lebens- und Kulturwissenschaften. Moderne Rechtswissenschaft ist durch die Vielfalt ihrer Ansätze gekennzeichnet. Dennoch bleibt die Einordnung der Jurisprudenz als Geisteswissenschaft so zentral, dass die Frage nach Gegenstand und Methode der Geisteswissenschaften jedenfalls aufgeworfen werden muss, auch wenn keine definitive Antwort in Ausicht steht.

Es liegt nahe, Gedankeninhalte als solche, also unabhängig von ihren Trägern, als objektiven Geist zu kennzeichnen. Diese Benennung ist gefährlich. Sie lässt sich nicht verwenden, ohne dass Hegel in den Sinn kommt, der bekanntlich in seiner »Philosophie des Geistes«, dem Dritten Teil der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«, zwischen subjektivem, objektivem und absolutem Geist unterschied. Objektiver Geist ist bei Hegel mehr als ein bloßer Gegenstand der Betrachtung. Er bezeichnet das einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder einem Volk gemeinsame Überindividuelle, das im Bewusstsein der Menschen auch als deren »subjektiver Geist« präsent sein kann, das aber zugleich »objektiv« im Sinne von vernünftig, richtig und historisch notwendig sein soll. Recht, Staat und Sittlichkeit bilden für Hegel geradezu das Dasein des Geistes, auf das sich die Geisteswissenschaften richten.[1]

Philosophen unterscheiden Immanenz und Transzendenz. Unter Immanenz wird die erfahrbare Welt verstanden, während Transzendenz ein Jenseits bezeichnet, zu dem Menschen nur im Gedankenflug Zugang haben. Dieser Ausgangspunkt legt eine dualistische Unterscheidung von Leib und Seele, Natur und Geist nahe. Das wäre der berühmte oder berüchtigte cartesianische Dualismus. Im 19. Jahrhundert beförderten die enormen Erfolge der Naturwissenschaften die Vorstellung, dass auch Gesellschaft und Geist naturwissenschaftlich erklärt werden könnten. Aus dem Dualismus schien ein psychologischer Monismus (Materialismus, Physikalismus) zu werden. Die Philosophie sah sich vor der Frage, ob die Geisteswissenschaften neben Soziologie und Psychologie noch einen Platz behaupten könnten.

Nicht alles ist Psyche oder »Vorstellung«, meinte der Mathematiker Gottlob Frege:

»Sonst enthielte die Psychologie alle Wissenschaften in sich oder wäre wenigstens die oberste Richterin über alle Wissenschaften. Sonst beherrschte die Psychologie auch die Logik und die Mathematik.«[2]

»Gedanken« haben Inhalte, die bestehen bleiben, wenn sie von ihren menschlichen Trägern losgelöst (abstrahiert) werden. Frege schrieb deshalb:

»Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muss anerkannt werden.«[3]

So postulierte Frege mit dem dritten Reich der Gedanken oder des Geistes einen ontologischen Trialismus. Fast gleichzeitig, aber unabhängig von Frege entwickelten die Juristen Gustav Radbruch und Hermann Kantorowicz einen Trialismus eigener Art.

Als Neukantianer lösten Radbruch und Kantorowicz das Problem des psychologischen Monismus, indem sie einen Methodendualismus postulierten. In einer Formulierung des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der sich dazu in der ersten Fußnote (auf S. 91) auf »die philosophischen Lehren Windelbands, Rickerts und Lasks« bezogen hatte:

»Die Kantische Philosophie hat uns über die Unmöglichkeit belehrt, aus dem, was ist, zu schließen, was wertvoll, was richtig ist, was sein soll. … Sollenssätze, Werturteile, Beurteilungen können nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur auf andere Sätze gleicher Artgegründet werden. … Das ist das Wesen des Methodendualismus[4]

Radbruch ging also nicht »ontologisch« von einem besonderen Objektbereich der Geisteswissenschaften aus, sondern hob auf die Methode des Umgangs der Wissenschaft mit ihrem Gegenstand ab. So sollte der Gegenstand der Wisssenschaft aus der Methode entstehen.[5] (Bald darauf wird es besonders Hans Kelsen sein, der immer wieder betont, dass die Methode ihren Gegenstand konstituiere.)

Um die Methode ging es auch Hermann Kantorowicz. Auch er behandelte Sein und Sollen als grundsätzlich verschiedene Bereiche, die unterschiedlicher Methoden zu ihrer Erforschung bedürfen. Klar war, dass das Sein (auch des Rechts) der Empirie zugänglich ist. Klar war auch, dass sich aus dem Sein keine Sollenssätze ableiten lassen. Problematisch blieb damit, wie denn mit Rechtssätzen als Sollenssätzen überhaupt wissenschaftlich umgegangen werden könnte. Für Radbruch galt:

»Sollenssätze sind nur durch andere Sollenssätze begründbar und beweisbar. Eben deshalb sind die letzten Sollenssätze unbeweisbar, axiomatisch, nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig.«[6]

Wegen dieses Bezugs auf verschiedene wissenschaftlich nicht belegbare Endpunkte spricht man von Relativismus. Wenn man jedoch von bestimmten höchsten Werten ausgeht, lässt sich immerhin systematisch = wissenschaftlich entwickeln, wie das Recht gestaltet werden soll und die Rechtswirklichkeit daraufhin überprüfen, ob sie den vorausgesetzten Wertenfolgt. Das ist die Lehre des systematischen Relativismus.

Aus dem Methodendualismus wurde bei Radbruch später ein »Trialismus der Betrachtungsweisen«, den er allerdings nur andeutete:

» … daß … mit der bloßen Antithese von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Wert nicht auszukommen ist, daß vielmehr zwischen Wirklichkeitsurteil und Wertbeurteilung die Wertbeziehung, zwischen Natur und Ideal der Kultur ihr Platz gewährt werden muß: die Rechtsidee ist Wert, das Recht aber wertbezogene Wirklichkeit, Kulturerscheinung. So wird der Übergang vollzogen von einem Dualismus zu einem Trialismus der Betrachtungsweisen. … Dieser Trialismus macht die Rechtsphilosophie zu einer Kulturphilosophie des Rechts.«[7]

In einer Fußnote bezog Radbruch sich u. a. auf Emil Lask und Kantorowicz. Bei Lask ist zu einem Trialismus nichts zu finden[8]. In seiner »Rechtsphilosophie« heißt es nur, »aller Streit um die bloße Methodologie« werde »erst in einem System überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung« finden[9]. Bei Kantorowicz ist dagegen zu lesen:

»Jeder Gegenstand der Erkenntnis, und so auch der Staat, kann auf die grundlegend verschiedene Weisen betrachtet werden: er muß sich als ein Stück Wirklichkeit erfahren, als ein Sinngebilde konstruieren, auf seinen Wert hin beurteilen lassen. … Dies ist die erkenntnistheoretische Grundlage, von der ich ausgehe; man kann sie als Drei-Weltenlehre oder erkenntnistheoretischen Trialismus bezeichnen.«[10]

Ausführlicher erklärt Kantorowicz seinen Trialismus – ohne diesen Begriff zu verwenden – in einem Aufsatz von 1928:

Bezüglich ihres Gegenstandes können die Wissenschaften in drei Gruppen eingeteilt werden: 1. Wirklichkeitswissenschaften, 2. Sinneswissenschaften, 3. Wertwissenschaften. … Ein Rechtsanwalt erklärt seinen Klienten: ›1. Ihr Fall fällt unter ein veraltetes, aber wenn es richtig ausgelegt wird, noch geltendes Gesetz, und Sie müßten den Prozeß daher eigentlich gewinnen. 2. Dieses Gesetz steht jedoch im Widerspruch zu unseren modernen Ansichten und erscheint daher ungerecht. 3. Also wird der Richter Braun, den ich zufällig kenne, das Gesetz so eng auslegen, daß Sie den Prozeß verlieren werden.‹ Hier befaßt sich der erste Satz mit dem Sinn, der zweite mit dem Wert und der Dritte mit der Wirklichkeit.«[11]

»Geist« findet man sicher in der »Welt des Sinnes (objective meaning), die ausschließlich aus »Sinngebilden (ideal‹ things)« bestehen soll. Aber auch »Werte« erscheinen uns, anders als die Werturteile konkreter Menschen, als »geistige« Phänomene. Kantorowicz verwendet an dieser Stelle einen weiten Wertbegriff:

»Die Welt der Werte umfasst den logischen (oder theoretischen) Wert der Wahrheit, den ästhetischen Wert der Schönheit und die ethischen (oder praktischen) Werte der Sittlichkeit, der Gerechtigkeit, der Sittsamkeit usw.«[12]

Diese Gleichstellung von Wahrheit mit Schönheit und Gerechtigkeit macht die Sache schwierig. Schwieriger noch wird, es, wenn Kantorowicz für die Werte objektive und notwendige Geltung postuliert. Von den Werten heißt es nämlich weiter, sie seien, anders als Sinngebilde,

»nicht …ohne Beziehung zur Wirklichkeit, sondern positiv oder negativ mit ihr verbunden, d. h., sie sollten oder sie sollten nicht verwirklicht werden. Dies ›Dasein-sollen‹ (ought-to-being), diese Geltung (validity) der Werte ist eine objektive und notwendige, d. h. die Werte sind gültig unabhängig von unserem Wissen und unserem Willen. … Die objektive Gültigkeit der Werte schließt jedoch nicht ihre Allgemeingültigkeit in sich, d. h. sie hat nicht für alle gleich bindenden Charakter. Die Allgemeingültigkeit ist freilich gewiß im Falle des theoretischen Wertes, da mehr als eine Wahrheit logisch undenkbar ist. Doch sie ist nur wahrscheinlich im Falle des ästhetischen Wertes und höchst unwahrscheinlich im Falle praktischer Werte. Daher ist die Gültigkeit praktischer Werte nur eine relative … .«[13]

Zum Umgang mit den praktischen Werten erläutert Kantorowicz anschließend, was wir bei Radbruch als systematischen Relativismus kennen gelernt haben. Das Verhältnis des Trialismus zum Methodendualismus wird daraus aber nicht klar. Er erschließt sich vielleicht, wenn man Radbruchs Lehre von der Rechtsidee dazwischenschaltet.[14] In dem Radbruch-Zitat von S. 128 hieß es, die Rechtsidee sei der Wert. Eine Seite zuvor las man, Recht sei »die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen«. »Gerechtigkeit« heißt in diesem Zusammenhang nur, dass das Recht einen Wertbezug hat, nicht aber welchen. Der Trialismus soll dann diesen Wertzusammenhang für verschiedene Gerechtigkeitskonzepte ausbuchstabieren und fällt damit unter den systematischen Relativismus.

Aus heutiger Sicht erscheint bemerkenswert, dass Radbruch und Kantorowicz nicht auf die Drei-Welten-Lehre Gottlob Freges Bezug zu nahmen, die sie anscheinend gar nicht kannten. Auch die heutigen Interpreten von Radbruch und Kantorowicz wie Muscheler,[15] Auer[16], Saliger[17]oder Zhao[18] stellen diesen Bezug nicht her. Umgekehrt erwähnt ein neues Buch von Neves, das sich ausführlich auf Freges Drei-Welten-Lehre stützt, weder Radbruch noch Kantorowicz (und auch nicht Popper).[19] Eine Erklärung bietet vielleicht der Umstand, dass Kantorowicz und Radbruch ihren Trialismus ausdrücklich nicht als ontologisch, sondern als erkenntnistheoretischen oder Methodentrialismus einordneten, während Freges Trialismus ontologisch zu sein scheint. Aber was bleibt von der objektiven und notwendigen Gültigkeit der praktischen Werte, wenn ihnen die Allgemeingültigkeit abgesprochen wird? Doch wohl nur ein ontologischer Status in der Transzendenz. Daher ist der Abstand zu Frege wohl doch nicht so kategorial. So hat der Germanist Friedrich Vollhardt kein Problem damit; die Erkenntnistheorie Heinrich Rickerts, (auf die Radbruch und Kantorowicz sich beziehen) mit Freges Ansatz zu vergleichen.[20] Was bei letzterem zur »dritten Welt« gehört, erscheint bei Rickert als eine Art transzendentaler Wirklichkeit. Deshalb hier noch einmal die Frage: Wo bleibt der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaft.

Freges Drei-Welten-Lehre ist insofern eng, als sie als »Gedanken«, die jenseits von Natur und Psyche eine eigene Wirklichkeit bilden, nur wahrheitsfähige Sätze anerkennt. Damit bleiben wesentliche Aspekte des Rechts außerhalb der drei Wirklichkeiten. Hier hilft eine Erweiterung der Lehre Freges durch Karl R. Popper: Danach

»… besteht die Welt aus mindestens drei ontologisch verschiedenen Teilwelten; oder, wie ich sagen werde, es gibt drei Welten: Die Welt 1 ist die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen Zustände; die Welt 2 ist die geistige Welt, die Welt unserer psychischen Erlebnisse (Wünsche, Hoffnungen, Gedanken …), die Welt 3 ist die Welt der intellegibilia oder der Ideen im objektiven Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens, die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der gültigen Argumente an sich und die Welt der ungültigen Argumente an sich, die Welt der Problemsituationen an sich.«[21]

Poppers Welt 3 ist weiter als die dritte Welt Freges.

»By world 3 I mean the world of the products of the human mind, such as languages; tales and stories and religious myths; scientific conjectures or theories, and mathematical constructions; songs and symphonies; paintings and sculptures. But also aeroplanes and airports and other feats of engineering.«[22]

Freges dritte Welt – das sind in der Sprache Poppers die nicht materialisierten Gegenstände, also mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten, die gelten, unabhängig, ob sie schon entdeckt worden sind. Poppers Welt 3 dagegen ist ein Produkt menschlichen Verstandes.[23] Dort finden sich Gegenstände, die einmal als Kulturerzeugnisse »materialisiert« waren: Theorien, Sprache, Literatur, Kunstwerke. Auch Rechtsnormen snd hier zu finden. Popper nennt die amerikanische Verfassung (Tanner Lecture S. 145). Popper bezweifelt zwar am Ende der Tanner Lecture, dass Computer denken können. Aber künstliche Intelligenz oder vielmehr die ihr zugrunde liegende Software müsste in Poppers Welt 3 gehören.[24]

»Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt, noch abstrakter als physikalische Kräfte, aber nichtsdestoweniger wirklich … .«[25]

In der Tanner Lecture betont Popper den Unterschied zwischen Gedankenprozessen, die in Welt 2 ablaufen, und dem Gedankeninhalt, der in die Welt 3 gehört, am Beispiel der Relativitätstheorie Einsteins. Wenn immer jemand diese Theorie referiert, kritisiert, daraus Konsequenzen ableitet usw., geht es um konkrete Gedankenprozesse in Welt 2. Unabhängig von diesen Gedankenprozessen existiert die Theorie jedoch abstrakt in Welt 3. Das wäre selbst dann der Fall, wenn sie falsch wäre. Ein anderes Beispiel Poppers liefert die Sprache: Eine konkrete Sprache mit ihren Vokabeln gehört in Welt 2. In die Welt 3 fällt, was bei der Übersetzung von einer in die andere Sprache als Inhalt gleich bleibt.

Der Trialismus von Frege und Popper ist im Unterschied zu demjenigen von Radbruch und Kantorowicz nicht methodisch, sondern ontologisch. Die »dritte Welt« ist immateriell, aber sie ist doch wirklich, denn sie kann in die materielle Welt hineinwirken. Die von ihren Trägern, also von Menschenköpfen und Medien losgelösten Gedanken werden als einen Teil der erkennbaren Wirklichkeit behandelt. Zugleich können Gedanken aus Welt 3 in der Welt 1 und 2 kausal für Veränderungen werden. Erfahrbar ist die dritte Welt der Gedanken allerdings nur, soweit sie in irgendeiner Weise ihren Niederschlag in einem materiellen Kommunikations­medium gefunden hat, und sei es so flüchtig wie das gesprochene Wort oder eine bloße Geste. Das gilt umgekehrt auch für die Kausalität von Gedanken.

Dagegen fehlt der Gedankenwelt ein inhärenter Zusammenhang im Sinne des Hegelschen objektiven Geistes. Sie ist nicht in sich vernünftig oder gerichtet. Aber vielleicht entwickelt sie sich im Sinne einer ungerichteten Evolution. Die Gegenstände in Poppers Welt 3 bilden zwar kein System, aber auch kein bloßes Sammelsurium.

»What is most characteristic of this kind of world 3 object is that such objects can stand in logical relationships to each other.«[26]

Es soll wohl nicht jeder simple Gedanke in die Welt 3 gelangen wie z. B.: Morgen wird es regnen. Aber der Qualitätsfilter bleibt undeutlich. Ausgeschlossen werden anscheinend simple Protokollsätze, die eine individuelle Beobachtung festhalten. In Welt 2 verblieben wohl triviale Gedanken, wie sie jedem Menschen unzählig durch den Kopf gehen und ausgesprochen werden, wie sie im Meer der Akten und Presseerzeugnisse, der Notizen und sozialen Netzwerke ihren Niederschlag finden.

Popper bemüht sich zwar, seine Konstruktion gegen die Ideenwelt Platons abzusetzen.[27] Die Welt 3 soll keine päexistenten, sondern nur von Menschen gemachte Gegenstände beinhalten. Sie bilden ein »evolutionäres Produkt« der Welt 2. Man kann sich aber schwer vorstellen, dass abstrahierte Gedankeninhalte wieder verloren gehen. Es wirkt auch inkonsequent, dass anscheinend nur Gedanken, die einem (undefinierten) Qualitätsanspruch genügen, die Welt 3 erreichen. In der Schulphilosophie ist Poppers Welt-3-Realismus wenig Beifall gefunden.

Popper spricht von der Welt 3 auch als einer Welt objektiven Wissens. Der Wissensbegriff bringt neue Probleme mit sich. Ich ziehe es daher vor, mit Nicolai Hartmann von der dritten Welt des Geistes als von objektiviertem Geist zu sprechen.

»Wir haben es ausschließlich mit dem Geist in den Grenzen unseres Erfahrungsfeldes zu tun, mit dem, was allein wir kennen und nachweisen können, dem ›empirischen Geist‹.«[28]

Der ontologische Status des objektivierten oder empirischen Geistes kann für Juristen dahinstehen. Sie können den Trialismen Freges und Poppers jedenfalls so viel abgewinnen, dass sie das Universum der Gedanken in vielen Zusammenhängen losgelöst von ihren Trägern behandeln, so als ob es sich wirklich um eine dritte Wirklichkeit handelte. [29]

Der Gedanken sind so viele wie Sand am Meer und Blätter im Wald. Ein Als-Ob-Trialismus in Anlehnung an Frege und Popper lässt offen, mit welcher Methode man die Welt des Geistes erforschen kann. Am Ende kommt man doch wieder auf die klassischen Methoden der Geisteswissenschaften zurück. Das gilt vorab für die Hermeneutik, ist doch die dritte Welt des Geistes immer nur über Kommunikationsangebote zugänglich, die interpretiert werden müssen. Stets gilt es, aus der Überfülle der Gedanken einen Ausschnitt zu wählen. Unvermeidbares Selektionskriterium bleibt dabei ein Wertbezug. Immerhin legt der Trialismus nahe, die Geisteswissenschaften auf eine mit allen anderen Wissenschaften gemeinsame Rationalität zu verpflichten.

An erster Stelle ist die Informationstheorie zu nennen, denn der Informationsbegriff wird gerne mit dem Sinnbegriff verglichen, wie er um die Wende zum 20. Jahrhundert die Philosophie entwickelt hat.

  • Niklas Luhmann hat auch Kommunikation und Beobachtung zu universalen Konzepten gemacht. Information wird zur Kommunikation, wenn sie absichtsvoll mitgeteilt und diese Mitteilung von anderen beobachtet und als solche verstanden wird. Hier findet die geisteswissenschaftliche Tradition der Hermeneutik Anschluss.
  • Als universelles Konzept dient seit jeher der Systemgedanke. Der Systemgedanke ist besonders hilfreich, wenn es um komplexe Phänomene geht. Das sind solche, die aus vielen, oft sehr einfach gebauten Teilchen oder Agenten bestehen, die durch ihr Zusammenspiel das für das System charakteristische Verhalten zustande bringen. Das Verhalten der einzelnen Teilchen ist oft relativ gut erforscht und verstanden. Aber das genügt nicht, um den (emergenten) Gesamteffekt zu erklären. Klassisches Beispiel ist das Gehirn. Es ist aufgebaut aus Milliarden relativ einfacher Synapsen, deren Funktion gut erforscht und verstanden ist. Durch ihre Verschaltung bringt das Gehirn unglaubliche Leistungen wie Lernen, Vergessen, Fühlen und Bewusstsein hervor, die sich noch längst nicht voll erklären lassen. Genauso sind die Handlungen einzelner Akteure in Märkten oder Gesellschaften relativ gut bekannt. Wie aus deren Wechselwirkungen Aufschwung oder Rezession, Spekulationsblasen oder Börsenralleys werden, bleibt dagegen weitgehend unverstanden. Zunächst hat man Systeme notgedrungen als Black Box behandelt, das heißt, man hat sich mit der bloßen Tatsache zufriedengegeben, dass aus der Verknüpfung einzelner Elemente zu einem System ein neues »emergentes« Gesamtverhalten entsteht. Im Laufe der Zeit ist aber eine Reihe von Konzepten hinzugekommen, die jedenfalls partiell eine Brücke von dem Verhalten der Systemelemente auf das Gesamtsystem schlagen. Norbert Wiener wollte nach 1945 mit der Kybernetik eine Universalwissenschaft zu Erklärung des Innenlebens aller Systeme begründen. Dieser Anspruch ist zwar nicht eingelöst worden. Geblieben ist aber die Idee der Rückkopplung und des Regelkreises.
  • Zu den universellen Rationalitäten zählt die Idee der Evolution, deren glänzende Formulierung Darwin vor 150 Jahren (1849) gelungen war. Evolution ereignet sich überall, wo Leben ist. Eine wichtige Anpassungsstrategie der meisten Lebewesen, die zur Erhaltung der Art beiträgt, ist die Überproduktion von Samen und Nachkommen. In der dritten Welt des Geistes beobachten wir eine Überproduktion von Gedanken, von Normen, Ideen und Kritik. Da drängt sich die Frage auf, welche (Rechts-)Gedanken sich durchsetzen. Die Evolution des Rechts ist ein großes Thema der Rechtssoziologie. Sie beobachtet den sozialen Wandel nicht nur, aber auch als Wirkung von Gedanken.[30]
  • Gedanken sind so häufig wie Sand am Meer. Aber sie sind alle nicht so unverbunden wie einzelne Sandkörner. Sie bilden Ketten oder Gebäude und sind vielfach untereinander vernetzt. Daher ist auch die Netzwerktheorie relevant, die sich zu einem transdisziplinär wichtigen Instrument entwickelt hat.[31]
  • Die Spieltheorie zeigt einen Weg von der individuellen zu einer strukturellen Rationalität.[32] Im Objektbereich des Rechts hat die Spieltheorie Bedeutung für die Suche nach (alternativen) Konfliktlösungen gewonnen.

[1] Zur Orientierung können Lexikon-Einträge dienen, z. B. Siegfried Blasche: Geist, objektiver. In: Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2008. Verwiesen sei zudem auf das Buch des französischen Rechtsphilosophen Jean-François Kervégan, Die verwirklichte Vernunft. Hegels Begriff des objektiven Geistes, 2019.

[2] Gottlob Frege, Der Gedanke – eine logische Untersuchung, Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 2, 1918-1919, 58-77, S. 75. (Abgedruckt in den Sammelbänden Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, 5. Aufl. 2003, sowie in: Gottlob Frege, Kleine Schriften, 1967)

[3] Ebd. S. 69.

[4] Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie [1914], hier zitiert nach der 5. Aufl. 1956, dort S. 97.

[5] Als Begründer einer geisteswissenschaftlichen Methode gelten Wilhelm Dilthey (1833-1911), Wilhelm Windelband (1848-19015) und dessen Schüler Heinrich Rickert (1863-1936). Dilthey hat die Geisteswissenschaften auf die Hermeneutik ausgerichtet hat. Der Neukantianer Windelband stellte in seiner Straßburger Rektoratsrede von 1894 über »Geschichte und Naturwissenschaft« die Geschichtswissenschaft als »idiographische« (individualisierende) den »nomothetischen« (generalisierenden) Naturwissenschaft gegenüber. Diese Charakterisierung wurde von Rickert für alle Kulturwissenschaften verallgemeinert, aber auch relativiert, insofern als Rickert das Material, dass die Geisteswissenschaften erforschen, durch seinen Bezug auf Werte konstituiert sah, die ihm Sinn verliehen. »Sinn« wurde zum Synonym für »Geist«.

Die Begriffe Geisteswissenschaft und Kulturwissenschaft wurden weithin gleichsinnig verwendet. Mit dem cultural turn der Postmoderne hat der Begriff der Kulturwissenschaften dagegen als universale Gesellschaftswissenschaft neue Bedeutung erhalten; vgl. dazu Rechtssoziologie-online § 15.

[6] Ebd. S. 100.

[7] A. a. O. S. 118.

[8] Vgl. Jing Zhao, Die Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs unter dem Einfluss von Emil Lask, 2020, S.222.

[9] Emil Lask, Rechtsphilosophie (Sonderdruck aus einer Festschrift für Kuno Fischer), 1905;

[10] Staatsauffassungen, 1925, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 69-81, S. 69.

[11] Hermann Kantorowicz, Staatsauffassungen, Jahrbuch für Soziologie I, 1925, 101-114, hier zitiert aus dem Sammelband Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, dort S. 64f.

[12] Hermann Kantorowicz, Legal Science. A Summary of its Methodology, Columbia Law Review 28, 1928, 679-707, zitiert nach der Übersetzung als: Die Rechtswissenschaft – eine kurze Zusammenfassung, in: Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, 83-99, S. 86.

[13] Ebd.

[14] Zhao a. a. O S. 213, 222ff)

[15] Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht. Ein Versuch über Hermann Kantorowicz, 1984.

[16] Marietta Auer, Der Kampf um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft – Zum 75. Todestag von Hermann Kantorowicz, ZEuP 2015, 773-805, S. 803.

[17] Frank Saliger, Radbruch und Kantorowicz, ARSP 93, 2007, 236-251.

[18] A. a. O.

[19] Henrique Gonçalves Neves, Die Geltung als Tatsache, 2022. Viel anfangen kann ich mit diesem Buch, einer Dissertation, die von Alexy betreut wurde, nicht,

[20] Friedrich Vollhardt, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, KulturPoetik 3, 2003, 279-285.

[21]  Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl., 1998, S. 160.

[22] Karl R. Popper, The Tanner Lecture on Human Values, 1978, S. 144.

[23] Popper setzt sich mit Frege nicht ernsthaft auseinander. Er zitiert nur die Fußnote 5 von Freges Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung«, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik NF 100, 1892, 25-50, dort S. 32. Sie lautet vollständig: »Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein.«, nicht aber den Gedanken-Aufsatz von 1918/1919.

[24] Dazu Walter Hehl, Wechselwirkung. Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern, 2016; dort Kap 10 »Und wo bleibt der Geist?«.

[25] Karl R. Popper, Die Welten 1, 2 Die Welten 1, 2, und 3,, und 3, in: Popper/John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 1982, 61-77, S. 74.

[26] Tanner-Lecture S. 158)

[27] Die Welten 1, 2, und 3, S. 69ff.

[28] Nicolai Hartmann,.Das Problem des geistigen Seins, 1933, S. 51)

[29] Auch Juristen reden von objektiviertem Geist, so Helmut Coing in den »Grundzügen der Rechtsphilosophie« (Aufl. 1976, S. 287):

»Die Rechtsordnung ist mit anderen Worten ›geistiges Sein‹ und zwar ›objektiviertes‹ oder fixiertes geistiges Sein, d. h. ein in einem Text niedergelegter geistiger Gehalt.«

Soweit, so gut. Aber dann packt Coing in das »geistige Sein« mehr hinein, nämlich eine Geltungstheorie. Insoweit hat ihn Ulfried Neumann in einer Rezension (Neuere Schriften zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Philosophische Rundschau 28, 1981, 189-216, S. 191ff) gehörig zurechtgewiesen. Eine Normativierung des objektiven Geistes sei in Hartmanns Philosophie nicht angelegt. Das geistige Sein habe per se keinen Geltungsanspruch wie eine Rechtsnorm. So könne der Gesetzgeber die mit dem Gesetzestext in die Welt gesetzten Gedanken durch einen actus contrarius nicht wieder aus der Welt schaffen.

[30] Niklas Luhmann hatte schon relativ früh eine Evolutionstheorie des Rechts entworfen, die zentrale Begriffe der biologischen Evolutionstheorie – Variation, Selektion und Stabilisierung – übernahm (Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1, 1970, 3-22 = Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11-34; Rechtssoziologie Bd. 1, 1972, S. 132 ff.). Mit der Umstellung auf die autopoietische Systemtheorie kam Luhmann der Biologie noch ein Stück näher, denn die Systeme wurden »lebendig« und ihre Evolution nun zum Herzstück seiner großen Bücher (RdG und GdG). Im »Recht der Gesellschaft« von 1995 handelt das ganze 6. Kapitel (S. 239-296) von der »Evolution des Rechts«. Darin wird der Evolutionsbegriff »in Anlehnung an die Theorie Darwins« benutzt. In der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1997) trägt das umfangreiche Kapitel 3 (181 Seiten) die Überschrift »Evolution«. Auch andere Autoren, die sich auf die autopoietische Systemtheorie stützen, lehnen sich für die Entwicklung des Rechts an die biologische Theorie an.

[31] Dazu meine eher zurückhaltende Einschätzung: »Die Rechtstheorie ist schlecht vernetzt«, in: Aarnio Aulis u. a. (Hg.), Positivität, Normativität und Institutionalität des Rechts, Festschrift für Werner Krawietz zum 80. Geburtstag, 2013, S. 537-565.

[32] Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, 2001.

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Umwelt- und Klimaschutz treiben den Natural Turn voran

Während Philosophie und Soziologie auf Distanz zur Natur gehen, treiben Umwelt- und Klimaschutz – wenig überraschend – den Natural Turn voran. Die Mensch-Natur-Beziehung ist zum Thema geworden. Und »natürlich« gibt es auch eine neue einschlägige Zeitschrift: People and Nature.  Dort diskutiert man über Nähe und Distanz (connection bzw. disconnection) des Menschen zur Natur[1], man typisiert die Mensch-Natur-Beziehung[2] oder man verbindet die Naturvorlieben mit politischen Einstellungen[3].

Interessant, dass in dieser Diskussion die angebliche Nicht-Unterscheidbarkeit von Natur und Kultur keine Rolle spielt.

Nebenbei ganz interessant, wie in der letztgenannten Untersuchung die politischen Einstellungen operationalisiert werden:

In einer Pressemitteilung des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums Frankfurt, aus dem diese Untersuchung stammt, heißt es dazu, dass Interessensgruppen, in denen eine individualistische, eher konservative Weltanschauung dominiere, besonders Leistungen der Natur schätzten, welche der Versorgung dienten. Eher linke Interessensgruppen mit einem starken Gerechtigkeits- und Gemeinschaftssinn bevorzugten dagegen hauptsächlich kulturelle Ökosystemleistungen. Das ist schon eine merkwürdige Verkehrung der Begrifflichkeiten, wenn »konservativ« nicht (auch die Natur) bewahrend bedeutet.

Wichtiger aber: wie die Einstellungen hier operationalisiert werden, ist das Ergebnis zirkulär. Die Beziehung zur Natur lässt sich aus der Einstellung ableiten, ohne dass dazu jemand befragt werden müsste.


[1] Thomas Beery u. a., Disconnection from Nature: Expanding Our Understanding of Human-Nature Relations, People and Nature 5, 2023, 470-488.

[2] Lisa Lehnen u. a., Rethinking Irelationships with Entities of Nature, People and Nature 4, 2022, 596-611.

[3] Sopie Peter u. a., Cultural Worldviews Consistently Explain Bundles of Ecosystem Service Prioritisation across Rural Germany, People and Nature 4, 2021, 218-230.

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Die Verteidigung der natürlichen Ordnung

Zur Erinnerung: Die Reihe der Einträge zum Natural Turn soll die These begründen, dass der Interdisziplinaritätsimperativ die neue Formel für die »Natur der Sache« bildet. Was den Bereich des Rechts der Reproduktionsmedizin und der Gentechnik angeht, muss die Jurisprudenz auf die durch Gentechnik und Medizin eröffneten Perspektiven und die umfangreiche philosophische und soziologische Diskussion reagieren und ihre Schlüsse ziehen. Die Diskussion hat längst Dimensionen erreicht, die der Durchschnittsjurist nicht mehr adäquat übersehen und verarbeiten kann. In dieser Situation liegt es nahe, die Situation auf Natürlichkeitsargumente zu verkürzen. Meine These lautet dagegen: Die Berufung auf die Natur bedeutet keine (populistische?) Reduktion. Natürlichkeitsargumente sind vielmehr sachlich, politisch und philosophisch ernst zu nehmen. Das zeigt sich am Beispiel des reproduktiven Klonens.

Im Seinsbereich gibt es eine natürliche Ordnung der Welt. Die Naturwissenschaften betreiben erfolgreich deren Entzifferung. Wer sich heute für Moral oder Recht auf die Verteidigung der natürlichen Ordnung beruft, wenn er Reproduktionsmedizin generell oder auch nur für gleichgeschlechtliche Paare ablehnt, muss mit einem Sturm der Entrüstung rechnen. Aber es gibt einen Grenzfall, in dem die Berufung auf die natürliche Ordnung als Argument noch akzeptiert wird, nämlich den Fall des reproduktiven Klonens.[1] Die vielen Versuche, das Verbot reproduktiven Klonens, wie es in Art. 3 II der Grundrechte-Charta der EU positiviert ist, durch eine universalistische Ethik zu begründen, reichen anscheinend nicht aus. Man beruft sich auf das Prinzip der Menschenwürde oder auf ein Tabu. Aber das Prinzip ist unscharf, und Tabus fordern dazu heraus gebrochen zu werden. In dieser Situation wird »die Verteidigung der natürlichen Ordnung« als moralisches und letztlich auch als juristisches Argument angeführt.

Es besteht kein Grund, das Argument der Natürlichkeit für diese besondere Situation zu reservieren. Es ist ebenso wenig zwingend wie alle anderen Argumente dieser Art. Aber der Appell an die Natur hat eine schwer zu übertreffende Überzeugungskraft. Zwar kommt dann sofort wieder die Frage auf, was im konkreten Streitfall als natürlich zu gelten hat. Aber es ist nicht verboten, diese Frage zu stellen und Antworten zu versuchen. Die Suche ist nicht hoffnungslos. Es ist, wie auch sonst im Recht. Ein Übermaß an philosophischer Reflexion macht entscheidungsunfähig. Das zeigt Birnbachers Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus (oder Posthumanismus).[2]

Den Begriff der Gattungsethik hat Jürgen Habermas eingebracht.[3] Der Begriff bezeichnet eine Kategorie von Normen, die über die Individuen hinaus dem Schutz der Integrität der menschlichen Gattung dienen sollen. Schon zuvor hatten Juristen eine unverletzliche Menschenwürde nicht nur für Individuen, sondern auch für die Menschheit als Gattung postuliert.[4] Unter Transhumanismus wird die Auffassung verstanden, dass die Gattung über ihre überkommene biologische Ausstattung hinaus verbessert werden könne. Ein Zündfunke dieses Gedankens war Donna Haraways »Manifesto for Cyborgs« von 1985.[5]

Birnbacher bietet eine schulmäßig perfekte Erörterung des Gegensatzes zwischen Gattungsethik und Transhumanismus. Wie es die philosophische Anthropologie formuliert hat, ist der Mensch ein Mängelwesen, der allein mit seiner biologischen Substanz nicht lebensfähig wäre. Daher ist er immer schon auf die Künstlichkeit der Kultur angewiesen. Wenn aber Kultur zur Substanz des Menschen gehört, gibt es keine »natürliche« Grenze, an der sich die Ontogenese aufhalten ließe. Der Gattungsbegriff ist unbestimmt. Wo die Gattung Mensch endet, lässt sich weder genetisch noch genealogisch noch funktionell eindeutig bestimmen. Eine immerhin mögliche typologische Bestimmung bleibt historisch zeitgebunden. Birnbacher findet daher im Zweikampf zwischen Gattungsethik und Transhumanismus keinen Sieger.

Der Fehler in dieser Argumentation liegt darin, dass Birnbacher eine eindeutige Bestimmung der Gattungsgrenzen fordert. In der lebendigen Natur gibt es keine absoluten, unverrückbaren Grenzen. Aber es gibt doch Phänomene, die als universal wahrgenommen werden. Scharfe Grenzen gibt es nur in der Logik. Insbesondere binäre Denkmuster zur Ordnung der realen Welt sind immer (oft nützliche) Vereinfachungen.

Der Begriff der Gattung Mensch ist immerhin so brauchbar, dass bislang kein Fall bekannt geworden ist, indem man die Menschqualität eines Lebewesens nicht eindeutig hätte feststellen können. Gewissheiten darf man nicht beiseiteschieben, weil sie in dem Sinne kontingent sind, dass sie über (lange) Zeit verloren gehen könnten. Recht und Politik müssen mit solchen Gewissheiten leben.

Gutmann weist den Gedanken einer restriktiven Biopolitik unter Berufung auf den Gedanken der Gattungsethik zurück als Versuch, »die verbürgten subjektiven Freiheitsrechte der Betroffenen klein zu reden und klandestin aus dem Prozess der Abwägung zu entfernen, bevor dieser begonnen« habe.[6] Tatsächlich liegt es wohl umgekehrt. Das Natürlichkeitsargument wird kleingeredet. Wenn es nicht zum Frankenstein-Argument deklassiert wird, wird es als »intuitiv« und »bloß rhetorisch« beiseitegeschoben.[7] Natürlichkeit ist natürlich nur eine »vermeintliche«. Gutmann ironisiert das Argument als Wunsch nach einer »mit verfassungsrechtlichen Weihen versehenen bioethischen Leitkultur«.[8] Indessen ist das Freiheitsargument nicht stringenter als das Natürlichkeitsargument. Der Freiheitsbegriff ist ebenso schwierig wie der Naturbegriff. Die Kantische Kompatibilitätsformel hat längst ausgedient. Freiheit wird an vielen Stellen zugunsten nicht individualisierter Gemeinschaftsgüter beschränkt. Die »grundrechtlich garantierte Fortpflanzungsfreiheit«[9] ist kein Erfolgsversprechen. Sie begründet kein Recht auf ein Kind.[10]

Politik und Jurisprudenz müssen Grenzen ziehen. In der jeweiligen historischen Situation müssen sie entscheiden, wieweit die technisch mögliche Verfügung über die Natur rechtlich beschränkt werden soll. Seitdem mit dem Klimawandel das Gefüge der natürlichen Umwelt ins Wanken geraten ist, besteht weithin Konsens, dass insoweit eine Kontrolle des technisch Möglichen notwendig ist. Eingriffe in das Genom überschreiten die nächste Schwelle, denn sie greifen »in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer Person ein« und verfügen damit über die Natur des Menschen wie  über Sachen.[11] Das bedeutet nicht, dass alle Eingriffe in das Genom von vornherein unzulässig wären. Aber sie lassen sich als Eingriff in die Natur kritisieren.

Politik und Jurisprudenz müssen sich entscheiden. Freilich finden auch Juristen nicht zu einem verbindlichen Ergebnis, wenn sie die Entscheidung auf die Menschenwürde abladen. Das zeigen die Sätze, mit denen Gutmann seine an Sorgfalt und Umsicht schwer zu überbietende Erörterung des Themas beendet:

»Die Prinzipien der Normenbegründung im liberalen Rechtsstaat verlangen, die Rechte der Individuen ernst zu nehmen. Der demokratische Souverän kann diesen Grenzen setzen und konkurrierende, individuelle wie kollektive Schutzgüter auszeichnen. Dies kann auf angemessene Weise geschehen, wenn der primär symbolische und expressive Diskurs über die Menschenwürde, der politische Entscheidungen gerade verhindern will, einer öffentlichen Debatte über Chancen und konkrete Gefahren der Humangenetik weicht.«[12]

Die öffentliche Debatte begnügt sich nicht damit, Chancen und Gefahren mehr oder weniger vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Sie endet früher oder später mit einer Wertung, der das Natürlichkeitsargument Gewicht hat.

Am Ende werden weder die analytische Ethik noch der juristische Fachdiskurs den Ausschlag geben. Die öffentliche Debatte wird von einer Grünstimmung getragen, und grün ist die Farbe der Natur. Noch ist ihr das Weltklima wichtiger als die Gattung Mensch. Die Bio-Welle hat die akademische Diskussion noch nicht erreicht. Als Wellenbrecher fungieren die Gender Studies. Dort wird das Natürlichkeitsargument zum Naturalisierungsargument umgedreht. So wird ein natural turn geradezu herausgefordert. Naturam expelles furca, tamen usque recurret.[13] Auch wenn du die Natur mit der Mistgabel austreibst, kehrt sie doch alsbald zurück. Dieses bekannte Horaz-Zitat lässt sich vordergründig »natürlich« dahin verstehen, dass die Natur sich zurückerobert, was man ihr abgerungen hat. Das heißt: Wenn du das Unkraut beseitigt hast, kommt es doch bald wieder. In einem übertragenen Sinne: Auch wenn wir in unseren ethischen und politischen Diskursen Natürlichkeitsargumente verbannen, kehren sie doch wieder zurück.

Natürlichkeitsargumente sind rechtspolitische Argumente unter anderen. Als solche sollten sie immerhin die Kraft haben, gegenüber Eingriffen in die Erbsubstanz zur Vorsicht zu mahnen. Dahinter steckt mehr als dumpfe Furcht vor dem Unbekannten, sondern eine handfeste Besorgnis vor einer Eugenik auf Gen-Ebene. In der jeweiligen historischen Situation lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen, ob neue Technologien in einer bisher nicht erprobten Weise in natürliche biologische Abläufe eingreifen. Dagegen lässt sich viel schwerer abschätzen, ob diese Technologien negative Folgen für Dritte, das heißt für die Familienstruktur im Allgemeinen, für den künstlich gezeugten Nachwuchs im Besonderen und für das menschliche Erbgut haben werden.

Das Natürlichkeitsargument hat immerhin die Kraft, gegenüber solchen Eingriffen zur Vorsicht zu mahnen und eine besondere Rechtfertigung zu fordern. Freiheitsbeschränkungen sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig.[14] Aber legitimationspflichtig sind heute auch Eingriffe in die Natur. Der wissenschaftliche Diskurs wird Natürlichkeitsargumente ehe beiseite schieben als der demokratisch politische Meinungskampf. Es wäre aber zu billig, diese Argumente als populistisch zurückzuweisen.


[1] Wolfgang van den Daele, Soziologische Aufklärung zur Biopolitik, Leviathan, Sonderheft Biopolitik 23/2005, 7-41, S. 29.

[2] Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006, S. 169ff.

[3] Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2002.

[4] Thomas Gutmann, »Gattungsethik« als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, in: Wolfgang van den Daele (Hg.), Biopolitik (Leviathan Sonderheft 23), 2005, 235-264, S. 247ff.

[5] Donna Haraway, Manifesto for Cyborgs, Socialist Review 80, 1985, 65-108, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, 1995, 33-72.

[6]Gutmann S. 259.

[7] Katharina Beier/Claudia Wiesemann, Reproduktive Autonomie in der liberalen Demokratie: Eine ethische Analyse, in: Claudia Wiesemann u. a. (Hg.), Patientenautonomie, 2013, 205-221.

[8] Gutmann S. 254.

[9]  Gutmann S. 259.

[10] Christian Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 2020, 12-20.

[11] Habermas S. 30.

[12] Gutmann S. 259.

[13]  Horaz, Episteln 1, 10, 24.

[14] Gutmann S.. 235.

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Naturschutz für den Menschen?

Naturschutz auch für den Menschen? Bio-Sex? Bio-Ehe? Bio-Kinder? Da wird die Sache heikel. Wer wäre »der Mensch«, der geschützt werden sollte? Die Frage nach der Natur des Menschen wird schnell zu einem normativen Unternehmen. Der Gedanke drängt sich auf, dass man sich seiner »Natur«, seinem »Wesen« entsprechend »menschlich« verhalten müsse. Wesensbestimmungen der menschlichen Natur haben zu unmenschlichen Konsequenzen geführt. Viele halten deshalb eine deskriptive Bestimmung der Natur des Menschen von vornherein für ausgeschlossen. Wer jedoch grundsätzlich die Unterscheidung von Sein und Sollen akzeptiert, wiewohl sie praktisch immer gefährdet ist, der wird auch Versuche einer wertfreien Bestimmung der »Natur« des Menschen nicht von vornherein abweisen.

Die Philosophie unterscheidet seit Aristoteles zwischen der ersten und der zweiten Natur. Die erste Natur ist die körperlich biologische. Die zweite Natur ist die kulturelle Ausformung der ersten. Die Begriffsbildung ist zwar philosophisch schwer beladen. Dennoch ist sie geeignet, um das Denken aus der konstruktivistischen Umklammerung zu befreien, das heißt, um den Menschen als soziales Wesen zu begreifen, ohne ihn vollkommen zu entnaturalisieren.[1]

Für die Bestimmung der Natur des Menschen steht mit der Anthropologie eine ganze Disziplin mit Ausprägungen als naturwissenschaftliche, philosophische und Sozialanthropologie bereit. Anthropologie ist in der kulturalistisch orientierten Sozialwissenschaft herzlich unbeliebt, weil sie im Verdacht steht, nach dem Einfluss genetischer Faktoren auf Kognitionen und Emotionen, auf Intelligenz und sexuelle Identität zu fragen. Für diese Abneigung kann man sich anscheinend auf den großen Kant berufen. Der hatte erklärt:

»[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet … werden.« (Metaphysik der Sitten, Einleitung II. a. E.)

Aber der Anschein trügt. Kants Ethik bleibt formal, das heißt, letztlich ohne Inhalt. Eine materiale Ethik muss die Kantischen Prinzipien verletzen. Sie muss Aussagen über die Welt aufnehmen, die a priori nicht zu haben sind. Für die Unterscheidung von Natur und Kultur ist Anthropologie jedoch wenig hilfreich.

Handfestere Aussagen findet man in Biologie, Psychologie und Medizin. Auch zwischen diesen Disziplinen und der Kultur gibt es unscharfe Grenzen, verändert doch Kultur auch körperliche Vorgänge, die lange als unveränderlich galten. Aber das ist nicht eigentlich das Problem. Biologen, Mediziner und Psychologen greifen ohne Schwierigkeiten auf die erste Natur des Menschen zurück, die ihnen mindestens als relative Unverfügbarkeit begegnet, und zwar relativ in mehrfacher Hinsicht, nämlich erstens zeitlich, zweitens statistisch und drittens durch die Wahl der Grundgesamtheit. Das zeigt sich gut am Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, das seit Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Zweigeschlechtlichkeit ist insofern relativ, als sie nicht bei allen Lebewesen, sondern durchgehend nur bei Säugetieren und beim Menschen anzutreffen ist. Zweigeschlechtlichkeit ist statistisch relativ, weil sie nicht bei allen Exemplaren, die zu einer grundsätzlich zweigeschlechtlichen Gattung gehören, ausgeprägt ist. Und sie ist zeitlich relativ, weil sie sich erst im Laufe der Evolution entwickelt hat und weil man sich vorstellen kann, dass sie im Zuge der Evolution auch wieder verloren geht. Aber in diesem relativen Rahmen ist Zweigeschlechtlichkeit eben doch unverfügbar. Dieser Rahmen erscheint uns als Normalität. Was aus der Normalität fällt, ist deshalb nicht unnatürlich. Das Anormale ist Teil der Natur. Das wertend normative Urteil ist damit offen, wiewohl es unreflektiert von der normativen Kraft des Faktischen getrieben wird.

Was folgt daraus? In unserem Kulturkreis wird keiner, den wir ernst nehmen, widersprechen, wenn wir sagen, aus der »Natur der Sache« folge, dass Homosexualität nicht unmoralisch und schon garkeine Straftat sein kann, weil sie zur Natur gehört. Naturalia non sunt turpia. Die Einmütigkeit endet aber schon, wenn jemand erklärt, aus der »Natur der Sache« ergebe sich, dass Homosexualität als Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX anzusehen sei, weil für Homosexuelle die Mehrzahl der Menschen als Geschlechtspartner ausscheidet und weil sie ohne Unterstützung Dritter keine Kinder bekommen können. Man wird sogleich entgegenhalten, damit werde ein natürlicher Zustand pathologisiert und in das binäre Geschlechterschema eingepasst. Zum Glück ist die Frage, ob Homosexualität als Behinderung subsumierbar ist, gegenstandslos, weil es keine Hilfemöglichkeiten oder gar Therapien gibt. Sie gegenstandslos aber auch deshalb, weil man aus § 9 SGB VIII Nr. 4 im Umkehrschluss folgern muss, dass die in Nr. 3 genannten nichtbinären Geschlechtlichkeiten nicht als Behinderungen anzusehen sind. Immerhin spricht das Natürlichkeitsargument für eine Privilegierung der traditionellen heterosexuellen Ehe. Doch insoweit ist der Zug längst abgefahren. Es bleibt nur noch Denkmalschutz.

Entscheidungsbedarf gibt es aber schon, wenn man fragt, ob Transsexualität und Intersexualität als Behinderung im Rechtssinne einzuordnen sind, denn hier ist medizinische Hilfe möglich, und sie wird auch gewünscht. Das ändert nichts daran, dass der Zustand ebenso natürlich ist wie ein Klumpfuss oder eine Hasenscharte. Die Situation der Betroffenen ist so individuell, dass Dritte sich schwerlich hineinversetzen können. Oft braucht es einen längeren Entwicklungsprozess, bis die geschlechtliche Identität subjektiv klar ist. Diesen Menschen darf man die sexuelle Selbstbestimmung, die eigentlich gar keine ist, nicht verwehren. Als Argument zulässig bleibt jedoch die Behauptung, die Natur spreche dagegen, fluide Geschlechtlichkeit schlechthin für wünschenswert zu halten. Dieses Argument wendet sich die Forderung nach einem Menschenrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als Jedermann-Recht. Hier wird das Dilemma der Differenz relevant. Man muss sich entscheiden, was schwerer wiegt, die Vermutung, dass ein unbeschränktes Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung eine gefährliche Jugendmode befördern könnte oder die Aussicht, dass die wirklich Betroffenen entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

Auch bei trivialeren Problemen sind Natürlichkeitsargumente einschlägig, so etwa bei Bekleidungsvorschriften im Schwimmbad. In Berlin war eine Frau mit ihrer Antidiskriminierungsbeschwerde erfolgreich, die beanspruchte, sich im Schwimmbad ebenso mit bloßem Oberkörper aufzuhalten wie Männer. Gleichberechtigung ist hier der falsche Ansatz. Das Natürlichkeitsargument spricht gegen die Heranziehung des Gleichheitssatzes, denn der Oberkörper einer Frau ist »natürlich« anders als der eines Mannes. Viel eher kommt eine unzulässige Freiheitsbeschränkung in Betracht. Da wäre dann abzuwägen, was schwerer wiegt, Bekleidungs-Freiheit oder die Befürchtung vor einer Sexualisierung öffentlicher Plätze. Befürworter des Brustfrei-Schwimmens erhoffen sich im Gegenteil eine Entsexualisierung der weiblichen Brust. Dagegen ließe sich wiederum als Natürlichkeitsargument vorbringen, dass die sexuell stimulierende Wirkung sekundärer Geschlechtsmerkmale biologisch verankert sein könnte. Allein darüber könnte man dann wieder lange streiten. Während dessen käme auf einer anderen Ebene die Diskussion auf, ob aus der Erlaubnis des Brustfrei-Schwimmens nicht alsbald ein sozialer Zwang zum Frei-Schwimmen werden könnte mit der Folge, dass sich die Liste der diskriminierenden Praktiken analog zum fat shaming um ein tit-shaming verlängerte. Man sieht, es gibt keine zwingenden Argumente pro oder contra. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Natürlichkeitsargumente nicht a limine unzulässig sind.

Natürlichkeitsargumente stützen einen Differenzfeminismus. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Daraus folgt aber nicht, dass man dem einen oder dem anderen Geschlecht irgendwelche gesellschaftlichen Positionen verwehren dürfte. Das Natürlichkeitsargument zieht jedoch gegenüber der Forderung, dass alle Geschlechter in allen gesellschaftlichen Positionen gleichmäßig repräsentiert sein müssten.

Streiten muss man über die Frage, ob auch erworbene, aber kontingente Verhaltensmuster des Menschen als natürlich gelten und damit als Basis für Natürlichkeitsargumente gelten können. Der Streit beginnt schon bei der Frage, ob es solche Muster überhaupt gibt, ob sie genetisch oder jedenfalls epigenetisch verankert sind oder ob es sich um sozialevolutionäre Errungenschaften bzw. Überbleibsel handelt. Ich habe mich auf die Sozialanthropologie Hellmuth Mayers bezogen. Mayer hatte die Vorstellung biologisch angelegter Verhaltensweisen zurückgewiesen, aber ein beträchtliches Erbe an Verhaltensmustern aus der Kleingruppenphase der Menschheitsgeschichte behauptet. Zwei Verhaltensmuser stehen immer noch und immer wieder zur Debatte: Männer zeigen ein stärkeres Wettbewerbsverhalten. Frauen haben eine größere Affinität zur Sorge für andere Menschen. Selbst wenn das zuträfe, folgte daraus kein Argument für ethische, politische oder juristische Normen. Der Gleichheitssatz ist stärker.


[1] Philip Hogh/Julia König, Bestimmte Unbestimmbarkeit. Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, 419–438, S. 421.

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Natur und Kultur: Natur als komparativer Begriff

Der Appell an die Natur weckt die stärksten moralischen Intuitionen. »Die Natur schreit uns an«, so der Philosoph Markus Gabriel im Interview mit Blick auf Corona-Pandemie und Klimawandel. Alle wollen es »grün« und »bio«. Es ist »natürlich« vollkommen richtig, dass sich aus der Natur unmittelbar keine ethischen oder juristischen Normen ableiten lassen. Natürlichkeit ist nur ein Argument unter vielen anderen. Das Problem mit diesem Argument ist, dass mächtige Diskurse es in Verruf gebracht haben. Während Natürlichkeit in der Alltagsmoral einen hohen Stellenwert besitzt, wird das Argument von der akademischen Ethik eher verachtet. Zwei spezifischere Diskurse haben das Natürlichkeitsargument besonders ins Abseits gestellt. Da war zuerst die antireligiöse Aufklärung mit ihrem Kampf gegen eine Kosmologie, die die Berufung auf Natürlichkeit einer Aufladung durch gottgewollte Normativität verdächtigte. Später kam der gendertheoretische Diskurs, für den sich hinter Natürlichkeitsargumenten soziale Zwänge verbergen.

Natürlichkeitsargumente im engeren Sinne sind solche, welche die Natur im Sinne von physikalischen und biologischen Vorgegebenheiten zur Begründung politischer, rechtlicher oder moralischer Forderungen anführen. Sie begegnen damit allen Einwänden, die mit Wesensargumenten verbunden sind, insbesondere »natürlich« dem Einwand, sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss. Dieser Einwand ist allerdings unbegründet, wenn das Argument nicht als zwingende Ableitung vorgetragen wird, sondern lediglich fordert, bei der Abwägung auch einen (näher bezeichneten) Gesichtspunkt der Natürlichkeit einzustellen. Natürlichkeitsargumente bringen aber ein anderes Problem mit sich, das schwerer auszuräumen ist, nämlich die Unterscheidung von Natur und Kultur.

Wenn der (evangelische) Theologe Thomas Kaufmann in einem Artikel über »Den radikalen Umbruch der Reformation« (FAZ vom 25. 10. 2021) am Ende formuliert:

»Ja – der Pflichtzölibat ist eine Konsequenz des priesterlichen Jungfräulichkeitsideals; der massenhafte Kindesmissbrauch ist auch eine Folge dieser rigiden, der menschlichen Natur widerstreitenden Norm.«

gibt es vermutlich Beifall. Wer dagegen unter Berufung auf die Natur die heterosexuelle Ehe und die aus Vater, Mutter und Kindern bestehende Familie verteidigt, stellt sich ins diskursive Abseits. Aus Sicht der Gender Studies wird ein »diskursiver Klassenkampf« geführt (Sabine Hark, Dissidente Partizipation, 2005, S. 34), in dem jede Berufung auf Natur und Biologie als frauenfeindlich und homophob gilt. Die Begründung lautet, dass Natur als solche nicht erkennbar sei: Alles ist Kultur. Das unausgesprochene Motiv für diese Ablehnung liegt »natürlich« darin, dass es eben doch natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt und dass sich die natürliche Normalität der Zweigeschlechtlichkeit schwerlich leugnen lässt mit der Folge, dass dadurch unerwünschte normative Konsequenzen nahegelegt werden.

Die Ansicht, dass man sich nicht auf Natürlichkeit berufen dürfe, weil zwischen Natur und Kultur nicht zu unterscheiden sei, ist in der Akademie heute »h.M.«[1]. Ich halte dagegen. Die Unterscheidung ist schwierig, deshalb aber nicht unmöglich. Daher sind Natürlichkeitsargumente nicht von vornherein ausgeschlossen.

Kultur als Gegenbegriff zu Natur versteht sich im weitesten Sinne unter Einschluss aller Technik. Das Antonym natürlich/künstlich bringt das Werden aller Erscheinungen, für die Natur in Anspruch genommen wird, die Prozesshaftigkeit ihrer Entstehung, zum Ausdruck. Die Grenzen der diskurs-extern vorgegebenen Natur ändern sich laufend. Schon die Saat, die der Landmann in die mit einem Grabstock gezogene Furche legt, wächst nunmehr künstlich. Heute wird selbst das Wetter als änderbar gedacht. Nachdem klar ist, dass auch der Klimawandel menschengemacht ist, bleibt anscheinend nur noch die Sonne als reine Natur. Doch so weit müssen die Gdanken nicht ausholen. Wenn Teile der Türkei und Syriens von einem Erdbeben verwüstet werden, handelt es sich um nackte Naturgewalt, und es wäre lächerlich, dieses Ereignis als kulturelle Konstruktion begreifen zu wollen.

Die Unterscheidung von Natur und Kultur bleibt schwierig, ist aber nicht hoffnungslos. Laien wissen in der Regel recht gut, was natürlich ist. Sie reden von natürlicher Geburt oder Naturheilkunde und wünschen naturbelassene Nahrungsmittel. Zwar ist auch »Bio« heute künstlich. Aber wenn es Alternativen gibt, lässt sich doch meistens zwischen mehr oder weniger natürlich unterscheiden. Und so unterscheiden nicht nur Laien, sondern auch Politik und Recht. Naturschutz wäre eine Illusion, wenn Politik und Recht keine Vorstellung hätten, was es zu schützen gilt und wie das geschehen könnte.

Kommentare zu § 1 BNSchG definieren Natur als »nicht vom Menschen geschaffene, belebte und unbelebte Welt und die in ihr lebenden Lebewesen«. Im Anthropozän ist von einer nicht vom Menschen in irgendeiner Weise mitgestalteten Welt wenig übrig. Aus der Natur ist ein Prozess geworden, an dem Menschen mehr oder weniger beteiligt sind. Naturschutz bedeutet deshalb, die menschliche Beteiligung am Entwicklungsprozess zurückzunehmen. Als »natürlich« gilt in erster Linie der Verzicht auf einen Eingriff in den Ablauf der Dinge, auch wenn der Ausgangszustand längst nicht mehr natürlich ist. Manche Wälder, die unter Naturschutz gestellt werden, sind von Menschen angelegt worden. Landschaftsbau und Wasserwirtschaft betreiben in großem Umfang Renaturierung. Ehemalige Industrieflächen werden »der natürlichen Entwicklung überlassen«, um sich zu regenerieren (§ 1 III Nr. 2 BNSchG). Freilich genügt es nicht immer, die Natur gewähren zu lassen. Sonst kommt es zu so »unnatürlichen« Zuständen wie der explosionsartigen Vermehrung von Wildgänsen und Kormoranen. Natur wird damit zu einem komparativen Begriff gegenüber Technik und Kultur. Es geht um mehr oder weniger Natur. Aus »natürlich« wird »naturnah«. Der Umgang mit solchen Begriffen ist der Jurisprudenz vertraut. Die Natur ist kein ontologisches Nullum, aber sie ist auch »keine vom Normanwender bloß hinzunehmende, fixe Gegebenheit, sondern eine normative Zielvorstellung, die durch weitere, ihrerseits mit normativem Gehalt zu vesehende Unterkriterien – etwa Biodiversität – weiter spezifiziert und damit operationalisiert werden kann«[2]. Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz scheitern jedenfalls nicht an einem ungeklärten Naturbegriff. Im Klimabeschluss (E 157, 30ff) tanzt auch das Bundesverfassungsgericht zur Melodie von Art. 20a GG den »Natural Turn«.


[1]Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 2006;  Alan Levinovitz, Natural: How Faith in Nature‘s Goodness Leads to Harmful Fads, Unjust Laws, and Flawed Science, 2020; Frauke Rostalski, Das Natürlichkeitsargument bei biotechnologischen Maßnahmen, 2017.

[2]  Ino Augsberg, Natur als Norm, in: Annette Meyer/Stephan Schleissing (Hg.), Projektion Natur, 2014, 164-178, S. 177.

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