50 Jahre »Meaning and Understanding«

1969 erschien Quentin Skinners Aufsatz »Meaning and Understanding«[1] Auf das Jubiläum bin ich durch die Würdigung von Alexander Gallus[2] in der FAZ vom 13. 1. 2019 aufmerksam geworden.

Am Ende des ersten Absatzes von »Meaning and Understanding« formuliert Skinner sein Problem in einer Weise, als ob es sich um ein Problem der juristischen Methodenlehre handelte:

»The first [orthodoxy] (which is perhaps being increasingly adopted by historians of ideas) insists that it is the context ›of religious, political, and economic factors‹ which determines the meaning of any given text, and so must provide ›the ultimate framework‹ for any attempt to understand it. The other orthodoxy, however, (still perhaps the most generally accepted) insists on the autonomy of the text itself as the sole necessary key to its own meaning, and so dismisses any attempt to reconstitute the ›total context‹ as ›gratuitous, and worse.‹ «

Nicht nur wegen dieser Problemstellung, die an den Dauerkonflikt zwischen subjektiver und objektiver Auslegung erinnert, erscheint Skinners schulbildender Text juristisch relevant. Bei Skinner geht es um Ideengeschichte. Ideengeschichte gehört als Geschichte der Rechtsphilosophie und als Dogmengeschichte zum Kernbestand der Rechtswissenschaft. Wenn ich richtig ehe, ist Skinners Text jedoch bislang von der Jurisprudenz kaum rezipiert worden. Ich will und kann diese Lücke jetzt so schnell nicht füllen. Aber mir sind sogleich zwei meiner eigenen Texte eingefallen, bei denen ich Skinner hätte anführen können oder gar müssen.

Der erste dieser Texte befasst sich explizit mit der Ideengeschichte. In § 98 von Rechtssoziologie online geht es um Transfer und Diffusion von Rechtsideen im Zuge der Globalisierung. Dort wird unter III. 4. im Zusammenhang mit den Traditionslinien der Diffusionsforschung auch die Ideengeschichte angesprochen. Dabei zeigt sich allerdings, dass eine empirische Ideengeschichte, wie sie für die Rechtssoziologie gebraucht wird, von der Ideengeschichte der Historiker doch recht weit entfernt ist und daher für Skinners Methodenprogramm nur als Kontrastmittel Verwendung hat.

Anders liegt es in einem zweiten Zusammenhang, den ich mit meiner Bourdieu-Kritik angesprochen habe. Es geht um das, was ich den normativen Rückschaufehler der Erzählung vom Patriarchat im Feminismus im Allgemeinen und bei Bourdieu im Besonderen nenne. In einer Formulierung des Ethnologen Richard Thurnwald:

»Institutionen, die uns heute unsympathisch oder fremdartig erscheinen, haben ihre Wurzel nicht in der ›Niederträchtigkeit ihrer Urheber‹, sondern darin, daß sie zur Zeit ihrer Entstehung den Ausdruck eines ›gerechten‹ Ausgleichs von Leistung und Gegenleistung auf Grund der sozialen Wertungen einer Zeit und Kultur darstellten.«[3]

Um es kurz zu wiederholen: Soziologen die sich auf vormoderne Gesellschaften beziehen, haben mit Historikern und Ethnologen ein Problem gemeinsam. Sie stehen vor der Frage, mit welchen Methoden sie beobachten und mit welchen Wertungen sie ihre Beobachtungen interpretieren sollen. Wenn sie ihre aktuellen Methoden und Wertungen verwenden, so laufen sie Gefahr, einen Rückschaufehler zu machen. Als Rückschaufehler ist die Verzerrung geläufig, die bei der retrospektiven Beurteilung komplexer Kausalverläufe eintritt.[4] Analoge Verzerrungen entstehen, wenn jüngere Sicht­weisen auf ältere Gesellschaftszustände treffen. Dann können methodische und normative Rückschaufehler unterlaufen.

Als methodische Positionen, die einen solchen Rückschaufehler vermeiden, hatte ich bisher den Historismus[5] Leopold von Rankes und die Maximen des Ethnologen Clifford Geertz zur Interpretation fremder Kulturen herangezogen. Nun werde ich mich auch auf Quentin Skinner berufen.

Was ich den Rückschaufehler nenne, hat Skinner als mythology of doctrines kritisiert, als eine Methode, die Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurückprojiziert und damit Anachronismen erzeugt.[6] Diese Methode arbeite mit der Forderung, dass der Text selbst das für sich ausreichende Objekt der Untersuchung und des Verstehens bilde (S. 4). Wer so vorgehe, setze voraus, dass man den interpretierten Texten zeitlose Wahrheiten entnehmen könne. Wenn man Texte jedoch aus ihrem Kontext heraus zu verstehen versuche, verzichte man darauf, in ihnen universellen Konzepten zu vermuten. Andernfalls finde man eigentlich nur, was man schon suche. So komme es zur mythology of doctrines, dass die Klassiker-Texte Antworten auf d mitgebrachte Fragen bereithielten. Dann würden aus verstreuten und zufälligen Fundstücken Theorien zusammengebastelt, dem Autor würden anachronistische Sichtweisen unterstellt oder in seine Texte würden Theorien hineininterpretiert, die vielleicht dazu passten, die der Autor aber selbst nie habe ausdrücken wollen. Häufig geschehe es, dass der Interpret sich den Idealtyp einer Idee (Freiheit, Gewaltenteilung, Gesellschaftsvertrag usw.) zurechtlege und nach Spuren der Bestätigung suche. Dabei gewinne dieser Idealtyp dann ein Eigenleben, das er historisch nie gehabt habe. Noch einmal in einer Formulierung Skinners:

»The first form, then, of the mythology of doctrines may be said to consist, in these various ways, of mistaking some scattered or incidental remarks by one of the classic theorists for his ›doctrine›‹ on one of the themes which the historian is set to expect.«

Die mythology of doctrines entspricht dem Rückschaufehler bei der Interpretation historischer Texte. Skinner rügt noch drei weitere Methodenfehler, die ich hier nur kurz erwähne.

Sozusagen die Kehrseite der mythology of doctrines ist eine mythology of coherence. Den Klassikern wird unterstellt, dass ihren Texten ein in sich geschlossenes, mehr oder weniger vollständiges Gedankensystem zugrunde liegt. Der Autor, dessen Texte interpretiert werden, wird kritisiert, weil er versäumt habe, bestimmte Ideen, die zu seinem Thema passen, zu entwickeln oder aufzugreifen. Die mildeste Form solcher Kritik folgt dem Muster: Karl Marx hat zwar nicht bedacht, dass …, aber das hätte er sicher gebilligt.

Für zwei weitere Prämissen der gängigen Ideengeschichte, die Skinner kritisiert, zitiere ich die Darstellung von Gallus:

»Drittens identifizierte Skinner eine mythology of prolepsis die ebenso wie der vierte Denkfehler des parochialism auf die Konstruktion von historischer Kontinuität ziele. Statt sich auf die Eigenlogik geschichtlicher Ideenwelten einzulassen, würden mit leichter Feder Vorwegnahmen von Späterem, insbesondere dem, was wir für ›modern‹ halten, schraffiert. So avancierten, um ein in Skinners Augen besonders krudes [gegen Popper gerichtetes] Beispiel für diese Mythenbildung zu nennen, Platon und Rousseau zu Vorläufern eines Totalitarismus, der erst ein Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts war. … . Bei solchen Interpretationen regiere die Teleologie, entscheide also erst die Zukunft über die Bedeutsamkeit vergangenen Denkens und Handelns.«

Skinner besteht dagegen auf Historisierung und Kontextualisierung. Was Skinner und die ihm folgernde Cambridge-Schule für die intellectual history forderten, sollte auch für die Sozialgeschichte gelten, damit es nicht zu Rückschaufehlern kommt, die historische Auffassungen über die Ausgewogenheit sozialer Beziehungen durch moderne ersetzen. Da trifft es sich gut, dass Skinner in einem Gespräch mit Carole Pateman (der Sache nach) selbst über den Rückschaufehler des Feminismus am Beispiel der der Texte von Thomas Hobbes diskutiert.[7] Bei dieser Gelegenheit präzisiert Skinner seinen Ansatz wie folgt:

»My general approach stems from a desire to make a strong distinction between the attempt to recover meanings and the attempt to recover speech acts. I am interested … not just in the meaning of what is said, but in what is meant by what is said. … It has never troubled me that the first pole—the attempt to recover meanings and especially intended meanings—ran into (and deservedly ran into) serious criticism from postmodernist critics in the course of the late 1960s, especially after the publication of Derrida’s Grammatologie in 1967 and everything that flowed from that. Derrida’s critique of the project of recovering intended meaning always seemed to me basically right. I am not interested so much in that pole of interpretation as in the other—that is to say, in the understanding of the underlying purposes for the sake of which particular concepts are used. This approach has pointed me in a strongly ›death of the author‹ direction. I have wanted to say that most of the works of moral and political theory that we study historically need to be construed as interventions in some preexisting tradition of discussion and debate, so I have wanted to treat individual texts essentially as contributions to those broader discourses. A major part of the act of interpretation, I have proposed, consists of recovering the precise nature of the intervention constituted by any given text: How far did it support or question or develop or ignore or satirize (or whatever) existing conventions and traditions of discourse? … To make my point, I tried to situate Hobbes in the intellectual and cultural and, above all, educational context in which he was formed.« (S. 20f)

Demgegenüber erklärt Pateman, die Autorin von »The Sexual Contract« (1988):

» … let me say that I always find it difficult to answer questions about methodology. … My approach is, and always has been, that I am interested in problems and I worry away at them until I think I have written something that looks reasonably satisfactory. … So I would say that, insofar as I have a methodology, it is that you get your teeth into the problem and you worry it to death.« (S. 22)

Wenn Skinner im weiteren Verlauf der Diskussion darauf besteht, dass Hobbes‘ Leviathan durchaus auch eine Frau hätte sein können, greift Pateman (S. 39) Skinner mit seinen eigenen Argumenten an, indem sie geltend macht, im Kontext des »Leviathan« hätten doch auch schon eine ganze Reihe Frauen geschrieben (Mary Astell, Margaret Cavendish, Mary Wollstone­craft). Skinner verstärkt das Argument sogar noch, indem er auf die starke Stellung vermögender Witwen hinweist, wie die Mutter von Hobbes eine war. Er konzediert immerhin, dass Hobbes in »De Cive« (1642) der Frau eine stärkere Stellung eingeräumt habe als im »Leviathan« (1651). Übereinstimmung besteht jedenfalls insoweit, dass Hobbes die Frauen jedenfalls im Naturzustand nicht zurückgesetzt hat, wie es Pateman von anderen Gesellschaftsvertragslehren annimmt.

Ich finde es von Interesse, dass Skinner in dem Gespräch mit Pateman seinen eigenen Ansatz mit demjenigen von Geertz vergleicht.[8] Übrigens: Die Übereinstimmung methodischer Maximen zwischen Ideengeschichte, Historismus und Ethnologie ist ein schönes Beispiel für die Konvergenz des Wissens.

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[1] Quentin Skinner, Meaning and Understanding, History and Theory 8, 1969, 3-53.

[2] Alexander Gallus, Wort, Satz und Sieg, FAZ , 13. 11. 2019, N 3.

[3] Richard Thurnwald, Gegenseitigkeit im Aufbau und Funktionieren der Gesellungen und deren Institutionen, in: Richard Thurnwald (Hg.), Gegenseitigkeit im Aufbau und Funktionieren der Gesellungen und deren Funktionen, Bd. 2, Berlin 1957 [1936], 82-103, S. 92f.

[4] Grundlegend Baruch Fischoff, Hindsight Is Not Equal to Foresight: The Effect of Outcome Knowledge on Judgment Under Uncertainty, Journal of Experimental Psychology 1, 1975, 288-299.

[5] Zum diesem schillernden Begriff Otto Gehard Oexle, »Historimus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, Jahrbuch 1986 der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, S.119-155, jetzt in der Digitalen Bibliothek Braunschweig.

[6] Quentin Skinner, Meaning and Understanding, History and Theory 8, 1969, 3-53, S. 7ff. Dazu Alexander Gallus, Wort, Satz und Sieg, FAZ, 13. 11. 2019, N 3.

[7] Hobbes, History, Politics, and Gender: A Conversation with Carole Pateman and Quentin Skinner, Conducted by Nancy J. Hirschmann and Joanne H. Wright, in: Nancy J. Hirschmann/Joanne H. Wright (Hg.), Feminist Interpretations of Thomas Hobbes, University Park, Pa. 2013, S. 18-43.

[8] Ebd. S. 41.

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Bourdieus Diagnose männlicher Herrschaft bei den Kabylen als normativer Rückschaufehler

Der Text dieses Eintrags ist nunmehr zu einem Buchkapitel geworden in:

Klaus F. Röhl, Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,

Lit Verlag Münster, 2020.

Ich bitte um Verständnis, dass ich den Text mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag gelöscht habe.

Nachtrag: Das Buch istz jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

Nachtrag vom 19. 12. 2023: Auf die Frage, wsas unter einem normativen Rückschaufehler zu verstehen sei, antowrtet ChatGPT, als ob es meine Texte gelesen hätte:

Der Begriff “normativer Rückschaufehler” bezieht sich auf die Tendenz von Menschen, vergangene Ereignisse oder Entscheidungen rückblickend auf der Grundlage aktueller Normen, Werte oder Kenntnisse zu beurteilen. Dieser Fehler tritt auf, wenn man vergangene Ereignisse mit dem Wissen und den Maßstäben von heute betrachtet und dann Annahmen darüber macht, dass die damaligen Akteure die gleichen Informationen und Einsichten hatten.

Im Wesentlichen begehen Menschen den normativen Rückschaufehler, indem sie die Vergangenheit durch die Brille des gegenwärtigen Wissens und der aktuellen sozialen Normen betrachten. Das führt oft dazu, dass man Entscheidungen oder Handlungen von früheren Zeiten als unvernünftig oder fehlerhaft beurteilt, obwohl die damaligen Akteure möglicherweise nicht über das gleiche Wissen oder die gleichen Ressourcen verfügten.

Es ist wichtig zu beachten, dass der normative Rückschaufehler ein kognitives Verzerrungsmuster ist und nicht die tatsächliche Perspektive der Menschen in der Vergangenheit widerspiegelt. Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler berücksichtigen diesen Fehler oft, wenn sie versuchen, vergangene Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren.

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Kara Ben Nemsi und der vertikale Pluralismus

Kultureller Pluralismus ist angesagt. Er verlangt den Verzicht auf alles hegemoniale Gehabe oder, positiv formuliert, die Gleichschätzung aller Kulturen. Dabei kommt uns immer wieder die Vergangenheit in die Quere, in der kulturelle Überlegenheitsmuster eher die Regel als die Ausnahme waren. So stellt sich dann die Frage, ob man die Vergangenheit nach ihren eigenen Maßstäben oder nach heutigem Verständnis beurteilen soll. Natürlich, es kommt auf den Zeitabstand und den Verwendungszusammenhang des Urteils an. Der Historiker sollte die Athener nicht schelten, weil sie Sklavenhalter und wohl auch Päderasten waren. Der moralisierende Zeitgenosse dagegen darf der alten Bundesrepublik durchaus ihren freundlichen Umgang mit alten Nazis oder ihr feindlichen Umgang mit Homosexuellen vorwerfen. Aktuell stehen Kirche, Wissenschaft und Öffentlichkeit vor der Frage, wie sie mit dem Antisemitismus Luthers umgehen solllen.[1]

Auf der Suche nach Lektüre für einen Enkel bin ich auf ein Regal mit Bänden von Karl May gestoßen. Herausgegriffen habe ich den Band »Von Bagdad nach Stambul« – und ihn dann selbst (wieder-)gelesen. Karl May war ein Hochstapler, aber er hat niemanden geschädigt, sondern ein Millionenpublikum erfreut. Man mag seine Abenteuerromane für Trivialliteratur oder gar für Schund halten. Aber als solche waren sie großartig. Sie stillten das unendliche Unterhaltungsbedürfnis der Menschen, bevor es Kino und Fernsehen, Computerspiele und Youtube gab.

Die Abenteuer Kara Ben Nemsis auf dem Weg von »Bagdad nach Stambul« spielen in einer islamischen Umgebung, die in Hadschi Halef Omar ihren wichtigsten Repräsentanten findet. Natürlich stellt sich da die Frage nach dem Islambild, das Karl May mit seinen Orient-Romanen vermittelt. Die Recherche führt schnell zu einem Band von Inge Hofmann und Anton Vorbichler, Das Islam-Bild bei Karl May und der islamo-christliche Dialog, der 1979 in Wien erschienen ist.[2] Darin wird Karl May »die Verketzerung des Islam« vorgeworfen (S. 2). Die Karl-May-Lektüre, so erfährt man, vermittelt »ein Bild vom Islam und von den Muslimen, das geeignet ist, die Atmosphäre des Dialogs hoffnungslos zu vergiften.« (S. 3) So gehe etwa die Irrmeinung, der Islam habe der Frau abgesprochen, eine Seele zu haben, auf die Karl-May-Lektüre zurück. Hofmann/Vorbichler (S. 17) zitieren aus Bd. 34 der Gesammelten Werke Karl Mays mit autobiographischen Texten (»Ich«):

»Und über die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenland, dem es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, machte mir allerlei schwere Gedanken. … Ich nahm mir vor,  … dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients zu wecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man versichert mir heute, dies nicht etwa bei nur wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, es zu glauben.«

Hofmann/Vorbichler kommentieren:

»Es wäre sehr schön gewesen, wenn das den Tatsachen entsprochen hätte!«

Deshalb prüfen sie nun die Islam-Darstellung Karl Mays auf ihre Korrektheit mit dem Ergebnis, dass sie durchgehend unhaltbar sei. Eigentlich hat Wolf-Dieter Bach längst das Notwendige zu der Kritik von Hofmann/Vorbichler gesagt[3]:

»Die gestrenge Frage, ob der Herr Puntila samt seinem Knecht typisch finnische Menschen seien, wäre so sinnvoll wie der Versuch, die Stellung des Glücksschweins im zoologischen System zu bestimmen. Und Brecht war Realist!

Auch Karl May sollte nicht an der ethnologischen und kultursoziologischen Stimmigkeit seiner Romane gemessen werden, wie dies die Autoren Hofmann und Vorbichler in ihrer Arbeit tun. Defoes Freitag, Coopers Chingachgook, Melvilles Queequeg sind allesamt keine getreuen Abschilderungen völkerkundlicher Realität. Der Orient, den Voltaire in »Zadig« beschrieb, hat nie existiert er ist genau so wenig authentisch nach wissenschaftlichem Maßstab wie jenes Morgenland, das Orientalen selbst uns schildern: Firdusi etwa, oder die Erzähler von Tausend-und-einer-Nacht. Und selbst ein als Tatsachenbericht sich ausweisendes Orientbuch eines historisch geschulten modernen Europäers wie »Die sieben Säulen der Weisheit« von T. E. Lawrence besteht eine genaue Realitätsprüfung nicht. Orient verführt zur Phantasie.

Kurzum: es ist eine Kinderei, May den Vorwurf zu machen, sein Bild vom Islam sei falsch und verzerrt. Gar keine Frage, daß es dies ist! Aber derlei selbst ohne Vorwurf festzustellen hieße nicht mehr, als der Literatur zu bescheinigen, daß sie sich nur selten peinlich genau an die Vorlagen dieser Welt hält – eine Binsenweisheit, kein Blatt Papier wert. «

Für Einzelheiten kann ich auf die Darstellung von Svenja Bach, Karl Mays Islambild und der Einfluss auf seine Leser (2010) verweisen, auch wenn die apologetische Tendenz der Arbeit nicht zu verkennen ist.[4]

Karl Mays Roman »Von Bagdad nach Stambul«, der in einer Gesamtauflage von 1,5 Millionen verbreitet wurde, ist 1892 erstmals als Buchausgabe erschienen, heute also über 125 Jahre alt. Nach dem Maßstab seiner Zeit war Karl May kein Scharfmacher, sondern eher Versöhner und Pazifist. Auf mich wirkt der Text auch heute noch eher islamophil als islamophob, so wenn er seinen Helden Kara Ben Nemsi bei der Bestattung eines Mohammed Emin mit erhobenen Händen die 75. Sure (Die Auferstehung) beten lässt oder wenn er ihm an anderer Stelle in den Mund legt:

»Allah ist überall, wo der Mensch den Glauben an ihn im Herzen trägt. Er wohnt in den Städten, und er blickt auf die Hammada; er wacht über den Wassern, und er rauscht durch das Dunkel des Urwaldes; er schafft im Innern der Erden und in den hohen Lüften; er regiert den leuchtenden Käfer und die blitzenden Sonnen; du hörst ihn im Jubel der Luft und in dem Rufe des Schmerzes; sein Auge glänzt aus der Thräne der Freude und schimmert aus dem Tropfen, mit welchem das Leid die Wange befeuchtet. Ich war in Städten, wo Millionen wohnen, und ich war in der Wüste, von jeder Wohnung weit entfernt, aber niemals habe ich gefürchtet, allein zu sein, denn ich wußte, daß Gottes Hand mich hielt.«

Auch über die Charakterisierung der Türken kann man sich in Zeiten Erdogans kaum noch aufregen, wenn es (S. 392) über den »kranken Mann am Bosporus« heißt:

» Der Türke ist ein Mensch, und einen Menschen macht man nicht damit gesund, daß die Nachbarn sich um sein Lager stellen und mit Säbeln ein Stück nach dem andern von seinem Leibe hacken, sie, die sie Christen sind. Einen kranken Mann macht man nicht tot, sondern man macht ihn gesund, denn er hat ein ebenso heiliges Recht, zu leben, wie jeder andere. Man entzieht seinem Körper die Krankheitsstoffe, welche ihm schädlich sind, und reicht ihm dagegen das Mittel, welches ihn heilt und wieder zu einem leistungsfähigen Menschen macht. Der Türke war einst ein zwar rauher, aber wackerer Nomade, ein ehrlicher, gutmütiger Geselle, der gern einem jeden gönnte, was ihm gehörte, sich aber auch etwas. Da wurde seine einfache Seele umsponnen von dem gefährlichen Gewebe islamitischer Schwärmereien und Eroberungsgelüste[5]; er verlor die Klarheit seines ja sonst schon ungeübten Urteils, wollte sich gern zurecht finden und wickelte sich nur umso tiefer in Wirrungen hinein. Da wurde der bärbeißige Geselle zornig, zornig gegen sich und andere; er wollte sich einmal Gewißheit schaffen, wollte sehen, ob es wahr sei, daß das Wort des Propheten auf der Spitze der Schwerter über den Erdkreis schreiten werde.«

Entscheidend ist, dass Karl May in seinem Orientzyklus nur den Informationsstand wiedergab, den er aus seinen unbenannten, aber zum großen Teil akademischen Quellen übernahm. Durch Karl May ist der Orientalismus breitenwirksam geworden, den Edward W. Said[6] in kritischer Absicht in erster Linie der akademischen Orientalistik vorgehalten hat. Das rechtfertigt aber keine Kritik an Karl May. Hier ist vertikaler Pluralismus angesagt. Der Pluralismus-Imperativ geriete mit sich selbst in Widerspruch, wenn er Karl May nicht nach den Maßstäben seiner Zeit beurteilte.

Davon abgesehen: Die Suche nach einem richtigen Islambild erweist sich auch für die Gegenwart als schwierig. Es gibt auch heute nicht das eine korrekte Islambild, und schon gar kein verbindliches. Den Maßstab, den Hofmann/Vorbichler anlegen, entnehmen sie einer Lehrbuch-Darstellung[7]. Die üblichen Lehrbuchdarstellungen zeigen einen idealisierten und abstrahierten Islam. Einen etwas realistischeren Eindruck bekommt man vielleicht aus der Lektüre des »Handbuchs Islam« von Ahmad A. Reidegeld oder aus Büchern des Juristen Jasmin Pacic.[8] Mein Eindruck war der einer totalitären Gesetzesreligion. Totalitär heißt hier, dass die Religion die Lebensführung ihrer Gläubigen vom Aufwachen bis zum Einschlafen in den Griff nimmt. Der Lehrbuch-Islam und erst recht der von Bassam Tibi und Mouhanad Khorchide geben kaum ein Bild von dem real existierenden Islam.

Der zentrale Vorwurf von Hofmann/Vorbichler lautet, Karl May habe durchgehend die Überlegenheit des christlichen Glaubens über den Islam zum Ausdruck gebracht, und sie versteigen sich zu der Behauptung:

»Ja – eben darum ging es Karl May: der Islam sollte vernichtet werden, sollte ausgelöscht werden, und dazu war jedes Mittel recht.« (S. 242)

Das Christentum, das Karl May in der Gestalt seiner Helden Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand vor sich her trägt, ist eher penetrant. Doch kann man es einem Gläubigen vorhalten, dass er seine eigene Religion für die überlegene oder gar für die einzig richtige hält? Die Theologen aller Religionen haben lange damit gerungen, ihren Absolutheitsanspruch soweit zu reduzieren, dass ein interreligiöser Dialog möglich ist und jedenfalls im politischen Raum der Grundsatz der Gleichberechtigung gelten kann.[9] Aber einen Romanhelden kann man nicht auf politische Korrektheit verpflichten. Und das Lesepublikum, auch das jugendliche, darf man nicht für so töricht halten, dass es einen Roman für bare Münze nimmt.

Die Ironie der Geschichte: Hofmann/Vorbichler zitieren den Bericht über einem zum Islam konvertierten Christen, der angibt, seine ersten Kenntnisse über den Islam Karl May (radiallahu anhu) zu verdanken.

[1] Die weitere Aktualität des Themas zeigt der Artikel von Arnold Bartetzky Die Tyrannei der Beleidigten in der FAZ vom 24. 8. 2016.

[2] Als Band 4 einer Reihe »Beiträge zur Afrikanistik« im Verlag Afro-Pub, als verfielfältigtes Manuskript ohne ISBN.

[3] Mit Mohammed an May vorbei. Zur Kritik I. Hofmanns und A. Vorbichlers an Karl Mays Islam-Phantasien,

[4] Sie ist als Sonderheft 142 der Karl-May-Gesellschaft erschienen.

[5] In dem im Internet verfügbaren Text heißt es »islamitischer Phantastereien, Lügen und Widersprüche«.

[6] Orientalism: Western Conceptions of the Orient, London 1978.

[7] Smail Balić, Ruf vom Minarett, Weltislam heute – Renaissance oder Rückfall? ; eine Selbstdarstellung, ein 1963. Ich habe nur die 3., überarb. Auflage von 1984 zur Hand.

[8] Fiqh ul-`Ibadat. Rechtsbestimmungen über die gottesdienstlichen Handlungen im Islam, Bd. I Reinheit, Gebet, Fasten, 2009; Islamisches Ehe- und Familienrecht, 2010.

[9] Als wissenschaftliches Standardwerk einer pluralistischen Religionstheologie gilt anscheinend Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Ich habe nur die ausführliche Rezensionsabhandlung von Ulrich Winkler in der Salzburger Theologischen Zeitschrift 10, 2006, 290-318, gelesen. Was den muslimischen Standpunkt betrifft, habe ich keine zitierwürdige Stellungnahme gefunden. Als Basis dienen wohl Sure 2 »Al-Baqara« (190-194, 256), Sure 3 »Al-‘Imran« (62ff), Sure 9 (85), »At-Tauba«, Sure 16 »An-Nahl« (103-106) und die kurze Sure 109, insbsondere mit ihrem letzten Vers: »Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion.« Daraus lässt sich wohl allenfalls ein diskriminierender Inklusivismus entnehmen. Die eigene Lektüre des Koran führt aber nicht sehr weit, denn es wird dem Leser mit Sicherheit entgegengehalten, um den Koran zu verstehen, müsse er die arabische Sprache kennen (vgl. Sure 16, 103) und mit den Meinungen der Korangelehrten vertraut sein.

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