Verträge im Coronastress II

Auf der Immobilienseite der heimlichen Juristenzeitung schreiben zwei Anwälte der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer heute über die Auswirkungen von Corona auf gewerbliche Mietverhältnisse.[1] Die Darstellung ist so einseitig, dass sie einen Kommentar herausfordert.

Richtig ist zunächst, dass durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie (COV­AbmG = Art. 240 § 2 EGBGB) die Kündigung wegen eines Mietrückstandes aus der Zeit vom 1. April bis 30. Juni 2020 ist ausgeschlossen, sofern der Mangel der Zahlung auf den Auswirkungen der Pandemie beruht, ferner dass der Mieter bis zum 30. Juni 2022 Zeit hat, den Rückstand auszugleichen, bevor ihm gekündigt werden darf. Einseitig ist dann aber die weitere Feststellung, der Mieter komme in Verzug, wenn er vorübergehend nicht zahle, und schulde deshalb Verzugszinsen von aktuell 8,12 % im Jahr und gegebenenfalls weiteren Schadensersatz. Art. 240 § 1 EGBGB ist »Moratorium« überschrieben. Ein Moratorium ist als Rechtsbegriff aus § 46g KWG geläufig. Dort bedeutet er wohl in der Tat nur einen Zahlungsaufschub, aber keine Stundung, die den Verzug ausschließt. Hinsichtlich der in Art. 240 § 1 EGBGB geregelten Verbraucherverträge ist indessen schon streitig, ob für die Zeit des Moratoriums überhaupt Darlehnszinsen zu zahlen sind.[2] Dass dort zusätzlich zu den vereinbarten Darlehnszinsen noch Verzugszinsen zu zahlen wären, behauptet niemand. Den vereinbarten Zinsen beim Darlehn entspricht beim Mietvertrag der Mietzins. Es wäre daher merkwürdig, wenn das Moratorium nach Art. § 2 EGBGB keine Stundungswirkung haben sollte. Die Formulierung des Gesetzes »trotz Fälligkeit« lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Sie besagt einfach nur, dass es allein um die während der Zeit des Moratoriums fällig werdenden Mieten geht. Als Notbremse wäre dann immer noch die Verschuldensfrage zu erörtern, die ich im vorangehenden Eintrag angesprochen habe.

Auch die Frage, ob der Gewerbemieter sich auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen könne, bügeln die Hamburger (Immobilien?)-Anwälte voreilig ab mit der Feststellung, diese Figur sei stark einzelfallbezogen und wertungsabhängig. Immerhin erwähnen sie, dass es sich hier um eine staatliche Nutzungsuntersagung handeln könnte. Was sie nicht erwähnen: Solche »Eingriffe von hoher Hand werden bei Palandt-Grüneberg (§ 313 Rn. 34) geradezu als Musterfall eines Fortfalls der Geschäftsgrundlage genannt.

Vorrang vor § 313 BGB haben allerdings spezifische Vorschriften des Mietrechts. Hier ist an eine Mietminderung wegen bei Sach- oder Rechtsmängeln nach § 536 BGB zu denken. Öffentlich-rechtliche Nutzungsbeschränkungen können grundsätzlich einen Sachmangel begründen. Ob ein solcher Mangel vorliegt, wenn die Nutzung der Mieträume durch die Corona-Verordnung des Landes untersagt worden ist, darüber muss man mindestens sehr ernsthaft reden. Dagegen spricht vielleicht, dass diese Verordnungen nicht spezifisch gegen die Nutzung konkreter Mietsachen gerichtet sind, sondern die Nutzung aller Geschäftsräume unmöglich machen, wenn die Nutzung Publikumsverkehr voraussetzt. Es handelt sich hier um einen so genannten Umweltfehler. Bisher wurde dieser Begriff etwa für den Fall verwendet, dass in einem Einkaufszentrum die Kunden ausblieben. In einem vom BGH entschiedenen Fall waren die Kunden ausgeblieben, weil ein überdachter Zugang vom Hauptbahnhof zum Einkaufszentrum nicht gebaut worden war und weil im Umfeld des Einkaufszentrums nur 200 statt 600 bis 1200 Parkplätze ausgewiesen worden waren. [3] Der BGH schrieb:

»So können bestimmte äußere Einflüsse oder Umstände – etwa die Behinderung des beschwerdefreien Zugangs zu einem gemieteten Geschäftslokal – einen Fehler des Mietobjekts begründen. Erforderlich ist allerdings, um Ausuferungen des Fehlerbegriffs zu vermeiden, stets eine unmittelbare Beeinträchtigung der Tauglichkeit bzw. eine unmittelbare Einwirkung auf die Gebrauchstauglichkeit der Mietsache, wohingegen Umstände, die die Eignung der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch nur mittelbar berühren, nicht als Mängel zu qualifizieren sind.«

Das Gericht verneinte einen Sachmangel, da es sich nur um eine mittelbare Beeinträchtigung handelte. Die Erwartung »die notwendige geschäftsbelebende Funktion des Einkaufszentrums werde verwirklicht werden können« falle voll in das Unternehmerrisiko des Mieters. Die wegen der Corona-Pandemie angeordneten Nutzungsbeschränkungen treffen jedoch unmittelbar jedes Geschäft mit Publikumsverkehr. Es geht um einen Fall nachträglich eintretender objektiver Unmöglichkeit. Doch auch dafür gilt § 535 I 1 BGB mit der Folge, dass der Mieter von der Entrichtung der Miete befreit ist.

Im Hintergrund aller Überlegungen muss eine Interessenabwägung stehen, die eine angemessene Verteilung der Pandemiefolgen auf die Vertragsparteien im Blick hat. Die Folgen treffen unmittelbar zunächst nur das operative Geschäft mit dem allgemeinen Publikum, soweit es nicht, wie für den Lebensmittelhandel und die Apotheken, erlaubt geblieben ist. Immobilieneigentümer sind dagegen, ähnlich wie die Banken, erst mittelbar betroffen. Das Vertragsrecht sollte ihnen nicht dazu verhelfen, dass sie am Ende als Krisengewinner dastehen.

Nachtrag: Zu den Plänen des Gesetzgebers zu Kürzung der Gewerberaummiete wegen der Corona-Beschränkungen Michael Selk auf Beck-Blog.

Zur Störung der Geschäftsgrundlage bei Gewerbemietverträgen während der Coronapandemie jetzt BGH, Urt. v. 12. 01. 2022 — XII ZR 8/21 Mit Anmerkung von Jan Gers.


[1] Niko Schultz-Süchting/Dorothea Wittek, Not reicht nicht für Mietausfall.

[2] »Streit um die Zinsen während der Krise«. Mit »sibi« gezeichneter Artikel in der FAZ vom 20. 4. 2020.

[3] Zu einem solchen Fall BGH 16.02.2000 – XII ZR 279/97 NJW 2000,1714.

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Anwälte im Coronastress

»Die Anwaltschaft muss als systemrelevant eingestuft und bei Soforthilfen angemessen berücksichtigt werden«,

so schreibt, mit Ausrufungszeichen am Satzende, der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer am 31. März 2020 an die Bundeskanzlerin und fordert Notbetreuung für Anwaltskinder und Finanzhilfen wie für Unternehmen. Anwälte seien in dieser Krisensituation zwar nicht ganz so wichtig wie Ärzte. Aber »wenig nachvollziehbar« erscheint ihm,

»weshalb der Anwaltschaft als Organ der Rechtspflege nicht die gleiche Systemrelevanz zugestanden wird, wie sie für betriebsnotwendiges Personal und Schlüsselfunktionsträger in öffentlichen Einrichtungen und Behörden von Bund und Ländern, Senatsverwaltungen, Bezirksämtern, Landesämtern und nachgeordneten Behörden eingeräumt wurde. Auch die Justiz ist systemrelevant. Die Anwaltschaft ist im Kanon aller der Rechtsordnung verpflichteten Berufe jedoch gleichrangig und daher der Justiz gleichzustellen.«

Die »Systemrelevanz« der Anwaltschaft liegt nicht auf der Hand. Anwälte sind nicht gehalten, ihre Kanzleien zu schließen. In den meisten Bundesländern bleibt der Mandantenbesuch in den Kanzleien zulässig. Home Office ist eine gute Alternative. Der Deutsche Anwalts Verein (DAV) hat zu den durch die Coronakrise aufgeworfenen Fragen eine hilfreiche Internetseite eingerichtet. Soweit in dieser Krisensituation persönlicher Kontakt mit Mandanten, Justiz und Behörden möglich und notwendig ist, werden Anwälte diesen kaum verweigern. Wer noch keinen Anwalt hat, wird ihn auch jetzt finden. An Anwälten ist kein Mangel.
Auch von den finanziellen Soforthilfen für Selbständige und Unternehmen. sind Anwaltskanzleien nicht ausgeschlossen Anders als bei Unternehmen, die schließen müssen, hat die Krise für Anwälte nicht zwangsläufig finanzielle Folgen. Sicher verzögert sich die Ausführung von manchen Mandaten und damit auch die Abrechnung. Andere bleiben ganz aus. Dafür wird es am Ende der Krise umso mehr zu tun geben, nicht nur für Konkursverwalter.
Ein neuer Umsatzbringer könnte die »Systemrelevanz« werden. Daraus lässt sich ein Rechtsbegriff machen, auf den findige Anwälte allerhand Ansprüche stützen können. In der Finanzkrise wurde dieser Begriff verwendet, um die Stützung von Banken zu legitimieren, deren Zusammenbruch »das Finanzsystem« gefährdet hätte. Systemrelevanz wurde den Banken zugeschrieben. In der Coronakrise gelten nun Personen als systemrelevant, die zum »Personal kritischer Infrastrukturen« gehören.
Ausgangspunkt wäre zunächst die Richtlinie 2008/114/EG vom 8. 12. 2008. Auf dieser Grundlage hat das Innenministerium des Bundes eine Strategie für Kritische Infrastrukturen (KRITIS) entworfen.

»Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.«

In der Sektoren- und Brancheneinteilung könnte man die Anwaltschaft unter Staat und Verwaltung – Justizeinrichtungen suchen, wird sie dort aber nicht finden.
Merkwürdig ist bei alledem, dass die Definition der kritischen (weil systemrelevanten) Infrastrukturen auf dem Umweg über die IT-Sicherheit erfolgt. Das Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSIG) bietet in § 2 zunächst »Begriffsbestimmungen«. In Abs. 10 heißt es dazu:

»Kritische Infrastrukturen im Sinne dieses Gesetzes sind Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon, die

  1. den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen angehören und
  2. von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden.«

§ 10 Abs. 1 BSIG enthält eine Verordnungsermächtigung für das Bundesministerium des Innern. Das BMI bestimmt die

»unter Festlegung der in den jeweiligen Sektoren im Hinblick auf § 2 Absatz 10 Satz 1 Nummer 2 wegen ihrer Bedeutung als kritisch anzusehenden Dienstleistungen und deren als bedeutend anzusehenden Versorgungsgrads, welche Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon als Kritische Infrastrukturen im Sinne dieses Gesetzes gelten.«

Das Ergebnis ist die so genannte KRITIS-Verordnung. Die VO spart den Sektor Staat und Verwaltung – Justizeinrichtungen aus, da dieser Sektor nicht der Aufsicht des Bundesamtes für Datenschutz unterliegt.
Im BSIG und in der KRITIS-VO geht es an sich nur darum, welche Anforderungen an ihre IT-Struktur die so genannten KRITIS-Betreiber zu erfüllen haben. Aber in der Corona-Krise werden die für den IT-Bereich geschaffenen Definitionen genutzt, um die »systemrelevanten« Personenkreise festzulegen. Die CoronaBerVO NW[1] gibt in § 5 eine »Liste über die Personenkreise kritischer Infrastrukturen«, die sich »an die Verordnung zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz vom 22. April 2016 (BSI-Gesetz vom 22. April 2016)« anlehnt. Die Anwaltschaft kommt darin ebenso wenig vor wie die Kirchen.

Nachtrag: »Welche Branchen sind ökonomisch systemrelevant?«, so der Titel einer Untersuchung von Christian Schneemann u. a. im Wirtschaftsdienst 100, 2020, S. 687-693.


[1] Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 im Bereich der Betreuungsinfrastruktur vom 2. April 2020.

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Beschlussgremien im Corona-Stress

Beschlussgremien gibt es viele, angefangen von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung über die entsprechenden Gremien in Ländern und Kommunen, Gesellschafter- und Haupt- und Wohnungseigentümerversammlungen bis hin zu Betriebsräten und Kollegialgerichten. Die Benennung als Versammlung deutet darauf hin, dass Beschlüsse grundsätzlich in einer Präsenzveranstaltung gefasst werden. Dazu gibt es regelmäßig Regeln über die Beschlussfähigkeit und über Mehrheitserfordernisse sowie über die Art und Weise der Abstimmung. Diese stehen ausnahmsweise in Gesetzen, in der Regel aber in den Gründungsdokumenten der Organisationen oder in Geschäftsordnungen, die von den Gremien selbst erlassen werden. Soweit Präsenzveranstaltungen nicht schon durch die nach dem Infektionsschutzgesetz ergangenen Einschränkungen der Mobilität ausgechlossen sind, sind sie zurzeit kaum durchführbar. Daher stehen die Gremien jetzt vor der Frage, ob eine Beschlussfassung durch Distanzkommunikation möglich ist, sei es digital, telefonisch oder schriftlich.

Der Bundestag ist nach § 45 I GOBT beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Die Beschlussunfähigkeit muss aber vor Beginn einer Abstimmung von einer Fraktion oder von mindestens 5 % der anwesenden Abgeordneten moniert werden. Theoretisch könnte der Bundestag sogar mit nur einem Abgeordneten beschlussfähig sein. Im Extremfall könnte also der Sitzungspräsident alleine beschließen. Trotz der großen Einmütigkeit, die in dieser Notzeit zu beobachten ist, will man sich aber wohl nicht auf den Rügeverzicht verlassen, sondern die Geschäftsordnung dahin ändern, dass das Plenum künftig schon mit einem Viertel der Abgeordneten beschlussfähig ist.

Prekär ist die Lage für das Europaparlament, da viele Abgeordnete aus ihren Heimatländern nicht nach Brüssel reisen können. Über die Beschlussfähigkeit bestimmt Art. 178 II der Geschäftsordnung, dass zur Beschlussfähigkeit ein Drittel der Mitglieder im Plenarsaal anwesend sein muss. Auch hier gilt aber, dass die fehlende Beschlussfähigkeit gerügt werden muss, und zwar von mindestens 38 Abgeordneten, die im Parlament anwesend sein müssen. Das kann also zur Folge haben, dass die Beschlussunfähigkeit nicht gerügt werden kann, wenn nicht einmal 38 Abgeordnete zugegen sind. In diesem Fall kann allerdings der Sitzungspräsident die Beschlussunfähigkeit feststellen. Abstimmungen erfolgen durch Handzeichen oder mittels einer elektronischen Abstimmungsanlage (Art. 187). Aber auch die letztere setzt Präsenz voraus. Nun will man sich damit behelfen, dass die Abgeordneten ihre Stimme auch per Email abgeben können. Da darf man wohl an der Wirksamkeit der Beschlüsse zweifeln.

Nach aktuellen Plänen soll § 118 AktG im Schnellverfahren dahin geändert werden, dass der Vorstand, zunächst nur für 2020,  auch ohne entsprechende Ermächtigung in der Satzung einer Hauptversammlung als Internetveranstaltung einberufen darf. Allerdings muss es wohl immer noch eine Art Rumpf-Präsenzveranstaltung geben.

Zur der Situation bei den Betriebsräten sei auf den Artikel Mitbestimmung unter Kontaktsperre in der FAZ vom 23. 3. 2020 verwiesen.[a]

In Gerichtsverfahren stellt sich die Frage, wieweit auf eine an sich vorgesehene mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, ferner ob die Beratung mündlich erfolgen muss. Die erste Frage ist relativ klar in den Prozessordnungen geregelt. Weniger klar ist die Frage, ob die Beratung von Urteilen mündlich erfolgen muss. § 193 I GVG redet von der Anwesenheit von Referendaren usw., geht also wie selbstverständlich von einer Präsenzberatung aus. Aber eine direkte Formvorschrift ist das nicht. Nach § 194 I GVG leitet der Vorsitzende die Beratung, und dazu gehört auch, dass er Ort und Zeit bestimmt. Das Bundesarbeitsgericht hat »erhebliche Bedenken«, ob Urteile, »die auf eine mündliche Verhandlung und unter Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern ergehen«, im schriftlichen Umlaufverfahren gefällt werden dürfen. Die Aufhebung des Berufungsurteils beruht aber letztlich nicht auf dem Formverstoß, sondern darauf, dass sie Laienbeisitzer nicht vollwertig in die Beschlussfassung einbezogen worden waren.[1] Bei angemessener Einbeziehung aller Richter kann man daher eine Beratung etwa per Videokonferenz wohl für zulässig halten.


[1] BAG, Urt. v. 26.3.2015 – 2 AZR 417/14.
[a] Nachtrag: Marcus Jung, Abgehängte Betriebsräte, FAZ vom 1. 4. 2020.

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Justiz im Corona-Stress

Auch die Justiz ist im Corona-Stress. Mündliche Verhandlungen finden wohl kaum noch statt. Da kann man wohl an einen »Stillstand der Rechtspflege« im Sinne von § 245 ZPO denken. Oft ist es angeraten, das Denken anderen zu überlassen, in diesem Fall Benjamin Lahusen, von dem gerade ein Aufsatz mit dem Untertitel »Zum ›Stillstand der Rechtspflege‹ in der Juristischen Zeitgeschichte« erschienen ist:

Benjamin Lahusen, Die Selbstermächtigung des Rechts: Breslau 1933. Zum »Stillstand der Rechtspflege« in der Juristischen Zeitgeschichte, Zeithistorische Forschungen Heft 2/2019, online.

Zu Schnellinformation darf man bei Wikipedia unter Justizium nachlesen; zur aktuellen Situation die Einträge von Benedikt Windau auf dem Lawblog einer Hamburger Anwaltskanzlei (ZPO-Blog).

Nachtrag: Da habe ich nicht sorgfältig hingesehen. Gründer und Herausgeber des Blogs ist der Richter am Landgericht Oldenburg Benedikt Windau.

Nachtrag: Dazu aktuell ein Call for Papers für eine Online-Tagung zum Thema »Das Verfahrensrecht in den Zeiten der Pandemie«.

Ferner: Christian auf der Heiden, Prozessrecht in Zeiten der Corona-Pandemie, NJW 2020, 1023-28.

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Verträge im Corona-Stress

Die Corona-Pandemie stellt auch das Schuldrecht auf eine Bewährungsprobe. Wenn Gastwirt G nun auf Anordnung der Stadt sein Lokal schließen muss, kann dann Vermieter V, von dem G die Räume für sein Restaurant gemietet hat, weiterhin die Monatsmiete von 5000 EUR fordern? Kann die Bank weiterhin von G die Verzinsung und Tilgung des Betriebsmittelkredits verlangen, den sie G gewährt hat? Muss G die bei Brauerei und Lebensmittelgroßhandel bestellten Lieferungen abnehmen? Können die Angestellten Fortzahlung ihres Gehalts verlangen? Diese und ähnliche Fragen stellen sich jetzt in großer Zahl. Einfache Antworten gibt es nicht. Aber es kann kaum angehen, dass die wirtschaftlichen Folgen der drastischen behördlichen Anordnungen zur Eindämmung der Pandemie allein von denen zu tragen sind, die sozusagen das operative Geschäft betreiben. Oder dürfen sich die Vertragspartner darauf berufen, dass der Staat umfangreiche Hilfen angekündigt hat?

Wie gesagt, einfache Antworten gibt es nicht, denn jede Branche und Vertragsart ist besonders, und die Stellschrauben des Schuldrechts sind schwer zu drehen.

Relativ einfach ist die Antwort noch für die Arbeitsverträge, zumal hier beide Vertragsteile durch die Regelungen über Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld gestützt werden.

Einigermaßen klar scheinen auch die Regelungen für die Reisebranche zusein. Aber nachdem die Infrastruktur von Hotels und Flugverkehr weggebrochen ist, Grenzen geschlossen wurden und das Auswärtige Amt für alle Länder eine Reisewarnung herausgegeben hat, sind die Folgen für die Veranstalter nur noch schwer tragbar.

Auf den ersten Blick klar ist die Antwort bei der Absage von Veranstaltungen. Dann erbringt der Veranstalter seine Leistung nicht und muss bereits gezahlte Karten erstatten. Aber kann das das letzte Wort sein?

Bei Dauerschuldverhältnissen könnten die behördlich angeordneten Betriebsschließungen Grund für eine außerordentliche Kündigung geben. Aber damit ist den Beteiligten längere Sicht nicht geholfen.

Die Fragen, um die es geht, werden in der Rechtsdogmatik als Leistungsstörungen im Schuldverhältnis abgehandelt. Die Stellschrauben, die hier in Betracht kommen, sind Unmöglichkeit, Verzug und Verschulden, wichtiger Grund für eine Kündigung, höhere Gewalt und Wegfall der Geschäftsgrundlage. Das alles sind mehr oder weniger unbestimmte Rechtsbegriffe. Präzedenzien gibt es nicht wirklich. In der Zeitung las man heute, im Justizministerium lägen Pläne auf dem Tisch, die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags zu entschärfen. Das Ministerium habe sich auch offen für die Forderung des Deutschen Mieterbundes gezeigt, für die Zeit der Corona-Krise Kündigungen und Zwangsräumungen wegen Zahlungsverzugs  auszuschließen. Solche Erwägungen lassen an die Kriegsnotrechte denken. Aber man kann wohl doch nicht alles auf den Gesetzgeber abschieben. Auch die Dogmatik und mit ihr die Rechtsprechung müssen helfen.

Verzug tritt nach § 286 IV BGB nur bei Verschulden ein. Für Geldschulden gilt jedoch bekanntlich »Geld muss man haben«. Bei Geldschulden, so heißt es, liege das Beschaffungsrisiko beim Schuldner. Das sei die Grundlage unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung.[1] Der BGH hatte Zahlungsverzug sogar angenommen, als ein Mieter in Rückstand geriet, weil die rechtzeitig beantragten Sozialleistungen nicht gezahlt wurden.[2] Aber in der Corona-Krise ist die Wirtschaftsordnung sozusagen suspendiert. Deshalb könnte man die §§ 276, 286 BGB durchaus dahin auslegen, dass für die Dauer der Krise und eine angemessene Erholungszeit ein Moratorium gilt, so dass Schuldner gar nicht erst in Verzug geraten.

Am Ende wird es auch Krisengewinnler geben. Mancher Arbeitgeber kann sich von ohnehin nicht mehr erwünschten Arbeitnehmern trennen. Manches lästig gewordene Dauerschuldverhältnis lässt sich vielleicht durch Kündigung aus wichtigem Grund abschütteln. Solche Mitnahmeeffekte lassen sich nie ganz verhindern.

Nachtrag: »Vertragsrechtliche Regelungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie« jetzt in Art. 240 EGBGB. Streit gibt es inzwischen darüber, ob und wie die durch das Notfallgesetz bis zum 30. Juni 2020 gestundeten Beträge zu verzinsen sind.

Nachtrag vom 12. 1. 2022: Heute hat der BGH über die Mietzahlungspflicht bei coronabedingter Geschäftsschließung entschieden[3], und zwar, »dass im Fall einer Geschäftsschließung, die aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erfolgt, grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht kommt.«

Nachtrag vom 21. 7. 2023: Jan Peter Schmidt, Risikotragung bei Großkatastrophen – zwei Konzeptionen der Halbteilung, AcP 222, 2023, 546-571 = SSRN 4377196. Hier die Zusammenfassung:

Eine gesamtgesellschaftliche Ausnahmesituation wie die Covid-19-Pandemie hat grundlegende Fragen der vertraglichen Risikoverteilung aufgeworfen. Der vorliegende Aufsatz zeigt, dass die in Schrifttum und Rechtsprechung häufig erhobene Forderung nach einer Halbteilung auf zwei verschiedene Arten verstanden werden kann. Betrachtet man allein die vertraglichen Leistungen, bedeutet eine Halbteilung des Risikos, dass ein Gewerbemieter im Fall, dass die Immobilie infolge hoheitlicher Beschränkungen zur Gesundheitsvorsorge den vertraglich vorgesehenen Verwendungszweck vollständig eingebüßt hat, den Mietzins höchstens um die Hälfte reduzieren kann. Bezieht man hingegen den wirtschaftlichen Kontext der Transaktion mit ein, kann eine Halbteilung des Risikos auch so verstanden werden, dass jede Seite die in ihrer Sphäre eintretenden Verluste zu tragen hat. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist auch eine Reduzierung des Mietzinses auf Null mit dem Grundsatz der Halbteilung vereinbar, weil der Gewerbemieter seine Umsatzausfälle dann immer noch allein zu tragen hat. Der Aufsatz argumentiert, dass die zweite Konzeption der Halbteilung dem gesetzlichen Leistungsstörungsrecht zu Grunde liegt und kleinen Katastrophen ebenso gerecht wird wie großen.


[1] Z. B. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rn. 28; MüKoBGB/Grundmann  276 Rn. 180.
[2] BGH, Urteil vom 4.2.2015 – VIII ZR 175/14.
[3] BGH, Urteil vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21.

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40 Jahre Zeitschrift für Rechtssoziologie – abgesagt

Am 12. und 13. März sollte in Frankfurt/Oder eine Tagung »Socio-Legal Perspectives on the Rule of Law« der Vereinigung für Recht und Gesellschaft stattfinden. Auf dem Programm stand eine Podiumsdiskussion »40 Jahre Zeitschrift für Rechtssoziologie«, zu der ich als früherer Mitherausgeber und Schriftleiter eingeladen war. Dort sollte über Zustand und Zukunft der Zeitschrift (ZfRSoz) diskutiert werden. Nun ist die Veranstaltung wegen Corona abgesagt worden. Daher führe ich heute ein Selbstgespräch.

Eine ähnliche Veranstaltung gab es bereits 2019 auf der Tagung der Vereinigung in Basel.[1] Drei Statements wurden abgegeben von Michelle Cottier[2] (Herausgeberin, Redaktion wohl seit 2012), von Pierre Guibentif[3] (Herausgeber, Revue Droit et Société) und von Sophie Arndt[4], die die Redaktion des Bar-Blog vertrat.

Vorab: Den Zustand der Zeitschrift finde ich gut. Das Erscheinungsbild ist ansprechend (wenn man von der unfunktionalen Zitierweise einmal absieht), die Thematik ist hinreichend vielseitig, die Qualität der Beiträge in Ordnung. Über Abonnentenzahl und Zitierhäufigkeit hätte ich gerne etwas erfahren. Aber den Quotenwettlauf kann die ZfRSoz ohnehin nicht gewinnen.

Ich habe Zweifel, ob Grundsatzdiskussionen über Aufgabe und Ausrichtung der Zeitschrift folgenreich sein können. Die Jahre, in denen ich mit Unterstützung von Stefan Machura die Redaktionsgeschäfte der Zeitschrift geführt habe (1995-1999), waren durch einen Mangel an Manuskripten geprägt. Es wäre wichtig zu wissen, ob sich die Lage insoweit geändert hat. Solange das Angebot an Manuskripten den verfügbaren Platz nicht mindestens um das Dreifache übersteigt, haben Herausgeber und Schriftleitung wenig Spielraum. Ein konkreter Wunsch an die Schriftleitung wäre daher, jedenfalls einmal im Jahr die Zahl der eingegangenen und der abgelehnten Manuskripte (und die Bearbeitungsdauer bis zur Veröffentlichung) bekannt zu geben. Um Platz zu sparen, könnten die »Richtlinien für Autoren« durch einen Link ersetzt werden.

Eine bewährte Methode zur Einwerbung von Manuskripten besteht darin, insbesondere im Zusammenhang mit Tagungen, Themenschwer­punkte zusammenzustellen. Wenn das nicht notwendig ist, um die Hefte zu füllen, sollte darauf verzichtet werden. Es ist nicht Aufgabe einer Zeitschrift, die berühmt-berüchtigten Sammelbände zu ersetzen. Aufgabe der Zeitschrift ist – immer im Rahmen der Grundthematik – Vielfalt. Daneben hat die Zeitschrift eine Servicefunktion, die sie durch Übersichtsaufsätze, Tagungsberichte und Rezensionen erfüllt. Es ist schwer, für solchen Service Autoren zu gewinnen. Dennoch: Dieser Bereich ließe sich ausbauen.

Wenn denn aber eine Art Grundsatzdiskussion gewünscht wird, kann man zunächst von dem Statement von Frau Cottier von 2019 ausgehen. Sie erinnert an die langen Debatten über die »Identität der Disziplin«, wie sie noch einmal in der Mitteilung der Herausgeber in Heft 2/2000 zum Ausdruck kam. Seit 40 Jahren kokettiert die Zeitschrift nun mit der »Grenzexistenz« des Faches, das sie bedient. Die Klagen mögen mehr oder weniger begründet sein. Aber sie sind so alt, dass niemand sie mehr hören will. Also: Schluss mit dem Gejammer. Auch die Beschwörung der Transdisziplinarität hilft nicht weiter, sondern verwischt nur die Konturen. Jeder Autor soll schreiben, was er für richtig und wichtig hält. Für das Richtige, gibt es keine Vorgabe. Die Zeitschrift sollte offen sein und bleiben für alles, was bei großzügiger Auslegung unter den Begriff der Rechtssoziologie fällt.

Der alte Konflikt zwischen Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz ist keiner mehr. Mindestens die systemtheoretisch orientierte Rechtssoziologie hat eingesehen, dass es keine soziologische Jurisprudenz geben kann. Aber die Rechtssoziologie hat trotzdem gewonnen, denn ihre externe Rechtskritik findet in der Rechtsdogmatik einen starken Widerhall.

Offen ist dagegen ein anderer Grundsatzkonflikt, nämlich der zwischen kritischer Rechtssoziologie und instrumenteller Rechtsforschung. Aber das ist eine falsche Alternative. Beides ist zulässig und notwendig. Nichts davon ist ohne rechtssoziologische Grundlagenforschung zu haben.

Eher schon problematisch ist die Frage, wie man Rechtskritik betreiben soll, als Systemkritik oder als Symptomkritik. Systemkritisch war die marxistisch orientierte Rechtssoziologie. Die gab es durchaus einmal. In den USA etwa hat sie sich mit dem Hegemonie-Paradigma fortgesetzt, wie es von Teilnehmern des legendären Amherst-Seminars immer noch gepflegt wird.[5] Ich sehe systemkritische Ansätze zurzeit in den queertheoretisch orientierten Gender Studies. Machtkritik, Staatskritik, Kapitalismuskritik, Religionskritik, Faschismuskritik – auf diesen und anderen Feldern ersetzt die hetero­normativitäts-kritische Perspektive die marxistische Gesellschaftskritik.[6] Eine Zeitschrift kann hier nicht Schiedsrichter spielen, sondern muss widerspiegeln, was gerade diskutiert wird.

Was die Konkurrenz der Zeitschrift mit neueren Medien, insbesondere mit Wissenschaftsblogs betrifft, werde ich wohl bald in einem weiteren Eintrag Stellung nehmen. Frau Cottier hat für die Zeitschrift die »Beständigkeit des Archivs« hervorgehoben. Das ist sicher richtig. Aber es ist bedauerlich, dass dieses Archiv nicht ausgeschöpft wird. Wenn ich, etwa hier auf dem Blog, etwas geschrieben habe, dann fällt mir später nicht selten auf, dass es zum Thema in der Zeitschrift Interessantes und Zitierwürdiges gab, das ich übersehen habe. Vemutlich bin ich damit nicht allein.

Nachtrag vom 23. 1. 2021: Zur Konkurrenz von Zeitschriften und Wissenschaftsblogs jetzt mein Beitrag für Barblog Über das (rechtssoziologische) Wissenschaftsblogging.


[1] Christian Boulanger, »Rechtssoziologisch publizieren« – Dokumentation eines Rundtischgespräches, Barblog 26. 3. 2919.

[2] Michelle Cottier, Die Zeitschrift für Rechtssoziologie: Seit bald 40 Jahren Kristallisationspunkt und Kommunikationsarena der deutschsprachigen Rechssoziologie.

[3] Pierre Guibentif, Die Zukunft der Zeitschriften im Internationalen Feld »Recht und Gesellschaft« — Einige wissenschaftspolitische Übelegungen.

[4] Sophie Arndt, Ein Forum für die Rechtssoziologie im deutschsprachigen Raum: Der Blog Rechtswirklichkeit.

[5] Prominent insoweit Susan Silbey. Über ihre Spuren berichte ich im Eintrag vom 9. März 2020: Noch einmal Bourdieu, jetzt mit Rechtsbewusstsein.

[6] Vgl. etwa Christine M. Klapeer, Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten, in: Friederike Schmidt u. a. (Hg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, 2015, 25-44; Volker Woltersdorff, Heteronormativitätskritik: ein Konzept zur kritischen Erforschung der Normalisierung von Geschlecht und Normativität, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2008, 8 S.

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Bourdieu-Kritik nunmehr als Buch

Aus den Einträgen zu Bourdieus Texten zur Männlichen Herrschaft ist nunmehr ein Buch geworden:

Klaus F. Röhl,
Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.
Eine Kritik an Pierre Bourdieus Konzept der männlichen Herrschaft,
Lit Verlag Münster, 2020
ISBN 978-3-643-14567-3, 144 S., 29,90 €

Ich bitte um Verständnis, dass ich mit Rücksicht auf den Verlagsvertrag die Postings auf diesem Blog löschen muss.

Nachtrag: Das Buch ist jetzt im Open Access zugänglich. Der Link befindet sich auf der Verlagsseite etwas verteckt im Klappentext oder hier: https://www.lit-verlag.de/media/pdf/be/5a/03/9783643145673.pdf.

 

 

Nachtrag vom 19. 12. 2023: Auf die Frage: Was sagt Bourdieu über männliche Herrschaft? antwortet ChatGPT:

Pierre Bourdieu, ein französischer Soziologe, hat in seinem Werk verschiedene Konzepte entwickelt, die sich auch auf die Frage der männlichen Herrschaft beziehen. Bourdieu interessierte sich besonders für die Strukturen von Macht und sozialen Ungleichheiten, einschließlich Geschlechterverhältnisse.

Ein zentrales Konzept von Bourdieu ist das der “symbolischen Gewalt”. Symbolische Gewalt bezieht sich auf die Art und Weise, wie soziale Strukturen und kulturelle Praktiken dazu beitragen, Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, ohne dass physische Gewalt erforderlich ist. Im Kontext der Geschlechterverhältnisse bedeutet dies, dass männliche Herrschaft nicht nur durch offensichtliche Unterdrückung, sondern auch durch subtilere, kulturell verankerte Mechanismen aufrechterhalten wird.

Bourdieu argumentiert, dass bestimmte soziale Praktiken und Institutionen, wie Bildungssysteme, Medien und kulturelle Normen, dazu beitragen, Geschlechterungleichheiten zu reproduzieren. Er beschreibt, wie bestimmte Formen des kulturellen Kapitals, wie Wissen, Sprache und Verhaltensweisen, in Gesellschaften als männlich konnotiert gelten können. Dies kann dazu führen, dass Männer in bestimmten sozialen Kontexten eine dominantere Position einnehmen.

Ein weiteres Konzept von Bourdieu, das für die Analyse von männlicher Herrschaft relevant ist, ist das der “Habitus”. Der Habitus bezieht sich auf die internalisierten, oft unbewussten Dispositionen und Verhaltensmuster, die durch soziale Erfahrungen geprägt sind. In Bezug auf Geschlechterverhältnisse bedeutet dies, dass Menschen bestimmte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Einstellungen aufgrund ihrer sozialen Prägung internalisieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bourdieu dazu beiträgt, die Mechanismen der männlichen Herrschaft durch die Konzepte der symbolischen Gewalt und des Habitus zu verstehen. Er betont die Rolle von kulturellen Praktiken, Institutionen und internalisierten Einstellungen in der Aufrechterhaltung von Geschlechterungleichheiten in der Gesellschaft.

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Klimaschutz und der Wert des Lebens

»It staggers me that no one is focused on the exponential growth in the human population as the biggest threat to our environment. It seems to be taboo for our leaders to talk about.«

So zitiert TIME vom 3. 2. 2020 die Australierin Jade Hameister, die mit 16 Jahren auf ihren Skis Nordpol und Südpol erreicht und das Grönlandeis überquert hatte. Bald soll die Weltbevölkerung die Schwelle von 10 Milliarden Menschen erreichen. Mit der Zahl der Menschen wächst die Zahl der Rinder, Schweine und Hunde. Zwar sind nicht die Lebewesen als solche mit ihrem Grundumsatz für den Klimawandel verantwortlich. Es sind vielmehr die Ressourcen, die sie  für ihr modernes Leben verbrauchen. Aber mit einiger Sicherheit darf man annehmen, dass der Ressourcenverbrauch und damit der Klimawandel mit der Größe der Weltbevölkerung gewachsen sind. Nun gibt es die Prognose, dass gerade der Klimawandel die Bevölkerung jedenfalls in der Subsahara noch einmal anwachsen lassen könnte.[1]

Was tun? Die Modernisierung, die Technik, Wirtschaft und Konsum in einer Weise befeuert hat, dass der Ressourcenverbrauch so immens gestiegen ist, führt auf längere Sicht zu einem Rückgang der Geburtenrate.[2] Das ist die so genannte demographische Transformation. Sie kommt mit der Modernisierung von selbst, aber sie kommt zu spät.[a] Hameister sagt, wie man nachhelfen kann:

»The most sensible way to address our exploding population is by educating and empowering young women, ensuring the make their own decisions over how many children they have and when.«

Stattdessen starren alle auf die Demographie. Die Geburtenrate soll steigen. Bevölkerungsschwund ist von Übel. Ist da noch ein Residuum völkischen Denkens am Werk, Angst, »das Volk« könnte aussterben? Natürlich nicht. Es geht allein um die Arbeitskräfte, die auf Dauer fehlen. Die Babyboomer gehen jetzt in Rente. (Müsste es nicht heißen Boom Babys?) Zuwanderung ist angesagt. Sonst müssen wir demnächst selbst Erdbeeren pflücken.

Solche Ängste sind absurd. 80 sind die neuen 60. Wer halbwegs gesund ist, kann bis 80 arbeiten. Es kommt allein darauf an, die Arbeit richtig auszuwählen und zu dosieren. Mit schwerer körperlicher Arbeit ist bei 60 Schluss. Aber die Digitalisierung sollte es möglich machen, den Bedarf an schwerer körperlicher Arbeit zu reduzieren und auch in fortgeschrittenem Alter noch am Arbeitsleben teilzunehmen. Da fehlt es an Forschung[3], und die Politik unternimmt keine Anstrengungen, ältere Menschen in Arbeit zu halten oder gar zurückzubringen. Beschäftigung, richtig dosiert, hält jung und steigert die Qualität der Freizeit. Dazu darf man nicht auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts blicken, sondern auf die Bedürfnisse der Menschen, für die eine sinnvolle Betätigung Teilnahme an der Gesellschaft bedeutet. Das ist ein Thema für sich, dass ich hier nicht weiter ausführen kann und stattdessen mit einem halbwegs ernst gemeinten Vorschlag abschließe: Wer noch gesund ist und volle Rente beziehen will, sollte zuvor ein Jahr als Pflegehelfer arbeiten müssen, um die dort tätigen Aktiven zu entlasten und gleichzeitig zu lernen, was er im Bedarfsfall einmal erwarten darf.

Das Szenario der Überbevölkerung der Erde fordert eine neue Einstellung zur Demographie und damit letztlich zum Leben. Helden setzen die Freiheit über das Leben. Für den gewöhnlichen Sterblichen gilt das Leben als der höchste irdische Wert. Und das soll es bleiben. Welches Leben? Doch nur das eigene und hoffentlich auch das aller anderen. Aber nicht das ungeborene Leben.

Zu den Konsequenzen einer neuen Einstellung zum Leben für die große Bevölkerungspolitik hier nur so viel: Chinas Ein-Kind-Politik war zu ihrer Zeit ein mutiger, aber doch problematischer Schritt. Sie hat sich selbst überflüssig gemacht. Wo die Modernisierung durchgreift, ist eine restriktive Bevölkerungspolitik nicht erforderlich. Wo es noch nicht so weit ist, darf jedenfalls Europa insoweit keine Ratschläge geben. Es sollte aber auf alle Maßnahmen zur Förderung der Geburtenrate verzichten und sich darauf konzentrieren, den geborenen Kindern optimale Bedingungen zu bieten.

Juristen werden immer wieder zur Interdisziplinarität und zur Kontextualisierung ihrer Entscheidungen aufgefordert. Hätte da nicht der BGH bei seinem Urteil vom 4. 12. 2019 weiter ausgreifen sollen? In diesem Urteil hat das Gericht die Verurteilung einer privaten Krankenkasse zur Zahlung von Kosten für reproduktionsmedizinische Behandlung (17.508,39 €) gebilligt. Wegen einer Kryptozoospermie des Mannes war eine Zeugung nur durch in Vitro-Befruchtung und anschließenden Embryo-Transfer möglich. Eine Besonderheit des Falles bestand darin, dass die Frau zum Zeitpunkt der Behandlung schon 45 Jahre alt war. Ob tatsächlich ein Kind geboren wurde, wird nicht mitgeteilt. Das Gericht hat hier eine medizinisch notwendige Heilbehandlung im Sinne der Versicherungsbedingungen angenommen. Dass mit Rücksicht auf das Alter der Frau die Chance auf die Geburt eines gesunden Kindes geringer sei, sei allein von den Eltern zu verantworten. Die Höhe der Kosten sei nicht ausschlaggebend. Mit Urteil vom 4. 12. 2019 hatte der BGH in einem ähnlichen Fall, in dem die Frau 42 Jahre alt war, die Krankenkasse verurteilt, da eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15-20 % noch ausreiche und angemerkt, im Regelfall sei aber mit 40 Schluss. Das Berufungsgericht hatte allerdings in dem neueren Fall die Erfolgswahrscheinlichkeit mit 15 % angenommen. Dennoch hätte es wohl Stellschrauben gegeben, die Klage abzuweisen, wenn man überhaupt im Blick auf den Wert zusätzlichen Lebens Sinn und Zweck der Reproduktionsmedizin in Zweifel gezogen hätte.

Das wagen heute anscheinend nicht einmal mehr die Versicherungen, obwohl sie die ihnen aus der Reproduktionsmedizin entstehende Kostenlast beklagen. Sie stellen sich insbesondere gegen die Bezahlung fruchtbarkeitserhaltender Maßnahmen bei Mädchen unter 18 Jahren. Im Mai 2019 ist ein Gesetz in Kraft getreten, das das Einfrieren von Eizellen, Spermien und Keimzellgewebe zur Kassenleistung macht. Diese sogenannte Kryokonservierung kostet bis zu 4.300 € für junge Frauen und etwa 500 € für junge Männer und musste bisher selbst getragen werden. Dazu kommen Lagerkosten von etwa 300 € pro Jahr. Für die Umsetzung des Gesetzes fehlt bislang die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). In der Pressemitteilung, mit der eine Konferenz zur Reproduktionsmedizin in der Universität Duisburg Essen angekündigt wurde, hieß es, unter den Schulanfängern 2019 sei durchschnittlich ein Kind pro Klasse, das mit reproduktionsmedizinischer Unterstützung entstanden sei, Tendenz steigend. Das ist keine Quantité négligable.

In einer Zeit, in der sich manche fragen, ob es überhaupt noch zu verantworten ist, Kinder in diese übervolle Welt zu setzen, sollte grundsätzlich jede staatliche Förderung der Reproduktionsmedizin entfallen. Auch der Solidargemeinschaft hinter den Krankenkassen, ganz gleich ob privat oder gesetzlich, darf man dann nicht länger zumuten, Bevölkerungszuwachs durch Reproduktionstechniken zu finanzieren. Es gibt kein Menschenrecht auf eigene Kinder. Es gilt allenfalls umgekehrt: Kinder haben ein Recht auf eigene Eltern.[4]

Nachträge: Für einen anderen Blick auf den Wert des Lebens: Uwe Volkmann, Das höchste Gut, FAZ vom 1. 4. 2020.

Neue Statistiken zur Reproduktionsmedizin bietet die Sonderausgabe des Jahrbuchs 2020 des Deutschen IVF-Registers (IVR = In Vitro Fertilisation).

Hir ein weitrführender Link: In-vitro-Gametogenese (IVG) und artifizieller Uterus (AU)  – Problemauslöser oder Problemlöser?

»Ein Kind weniger!« Diese Parole geht wohl auf einen Text von Seth Wynes und Kimberly A. Nicholas zurück: The Climate Mitigation Gap: Education and Government Recommendations Miss the Most Effective Individual Actions, Environ. Res. Lett. 12 , 2017, 74024. Für mich hat die Parole »Ein Hund weniger!« Vorrang.


[1] Michael Grimm, Rainfall Risk, Fertility and Development: Evidence from Farm Settlements during the American Demographic Transition, Journal of Economic Geography 104, 2019, 3701.

[2] Jürgen Dorbritz, Wo bleiben die Kinder? Der niedrigen Geburtenrate auf der Spur, Aus Politik und Zeitgeschichte 10-11/2011.

[a]Diese Anmerkung ist ein Nachtrag vom 3. 3. 2020: »The Population Bomb« war 1968 ein Bestseller aus der Feder des Stanford Biologen Paul R. Ehrlich. Ehrlich prophezeite darin weltweite Hungersnöte, verursacht durch Überbeölkerung der Erde und forderte große Anstrengungen zur Geburtenbeschränkung. Im Februar 2019 ist erschienen: Darrell Bricker/John Ibbitson, Empty Planet., The Shock of Global Population Decline, 2020. Darin wird prognostiziert, dass wir in etwa 30 Jahren mit einem dramatischen Rückgang der Bevölkerung zu rechnen haben.

[3] Zur Bereitschaft von Ruheständlern zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt Dirk Hofäcker/ Marc André Kellert (GESIS), Rückkehr in den Arbeitsmarkt oder Verbleib im (vor-)Ruhestand? Empirische Analysen zu den Erwerbsabsichten von älteren Nicht-Erwerbstätigen, 2019.

[4] Christian Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 75, 2020, 12-20.

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Marietta Auer kokettiert mit der »persönlichkeits­zersetzenden Angst« der Juristenausbildung

Ein Interview von Marietta Auer durch Maximilian Steinbeis im Januar 2020[1] hat mindestens auf Twitter einige Aufmerksamkeit erregt. Das Interview ist überschrieben »Was mich eigentlich interessiert, ist das Gesellschaftliche«. Ein Tweet, der Auers Bemerkungen über die juristischen Staatsexamina lobt, gefiel und wurde retweetet.  Da »steckt noch die ganze strukturelle Gewalt des Obrigkeitsstaats drin«, sagt sie. Weiter ist von »dem komischen Konstrukt des Staatsexamens« die Rede, das der Tiefpunkt ihrer juristischen Ausbildungskarriere gewesen sei.

»Und dann die inhärente Menschenwürdeverletzung, dass man auf den Hundertstelpunkt genau gesagt bekommt, wie unzulänglich man ist!«

Garniert wird diese Klage mit einer abfälligen Bemerkung über »Notarssöhne mit ihren BMW-Cabrio«.

Von dem Verschleiß der Menschenwürde einmal ganz abgesehen, finde ich solche Äußerungen – mit Rücksicht darauf, dass Auer aktuell die bedeutendste Theoretikerin[2] des Privatrechts in Deutschland ist und sich eigentlich für das Gesellschaftliche interessiert – undifferenziert, Beifall heischend und damit opportunistisch. Auer konnte und musste damit rechnen, dass gerade ihre Bemerkungen über die juristischen Examina Beifall finden würden.

Das Jurastudium gilt als Prototyp übermäßiger Stressbelastung. Aber nur bei den Juristen. Wie Mediziner vor dem Physikum stöhnen und Maschinenbauer vor der Mechanik-Klausur, nehmen Juristen nicht zur Kenntnis, es sei denn, sie hätten eine Tochter, die das durchgestanden hat. Psychologen haben mit JurSTRESS ein Forschungsprojekt zur Examensbelastung im Jurastudium aufgelegt und fordern auf ihrer Webseite Studenten auf, das Projekt durch ihre Teilnahme zu unterstützen. Man kann ziemlich sicher sein, dass sich genug gestresste Studenten melden. Die Hagener Dissertation von Anja Böning[3] befasst sich mit dem Webforum Juraexamen.com, auf dem Studenten ihre Erfahrungen oder vielmehr ihren Frust mit der Examensvorbereitung und dem Examen ausbreiten. Böning interpretiert ihr Material mit Hilfe Bourdieus letztlich dahin, dass juristische Examina eine Auszahlung auf das symbolische und kulturelle Kapital darstellen, dass die Kandidaten mitbringen.

Aber vielleicht ist auch ein anderer Blick möglich. Klar: Studium und Examensvorbereitung sind zeitweise ziemlich stressig. Und schlechte Noten in Klausuren oder Hausarbeiten sind kein Vergnügen. Aber wer sein Abitur verdient hat und sich anstrengt, kann es durchaus schaffen. Dazu muss er kein Überflieger sein. Man sehe sich nur im Bekanntenkreis um, wer alles es geschafft hat. Ein bestandenes Examen ist nicht nur ein schönes Erfolgserlebnis, sondern noch immer die Eintrittskarte zu einem auskömmlichen Beruf. Mit Hilfe solcher Examina haben inzwischen Frauen Gerichte und Behörden erobert. In der Wissenschaft sind sie auf einem guten Weg. Nur in Wirtschaft und Technik läuft es zäher.

Die Erfolgreichen brüsten sich mit ihren Stresserfahrungen (und ihrem Durchbruch durch die Machomauer). In den Medien und in den sozialen Netzwerken werden dagegen unverhältnismäßig viele unangenehme oder schlechte Erfahrungen berichtet. Bad news are good news. Jammern und Klagen findet mehr Aufmerksamkeit als Erfolgsmeldungen. Bei Auer ist es gut gegangen. Sehr gut sogar. Trotzdem kokettiert sie mit ihren Stresserfahrungen. So trägt sie zu der Stimmung bei, die es allgemein erschwert, durchzuhalten und erfolgreich zu sein: Leistungsdruck ist böse. Es gehört sich, bei jeder Negativ-Kommunikation gekränkt zu sein. Frustrations­toleranz wird zum Charakterfehler.

Als Folge der Soziologisierung des Denkens wird »die Gesellschaft« für mehr oder weniger alles verantwortlich gemacht. Und das ist sie ja auch. Aber wenn sich dieser Glaube verbreitet, wird er selbst zur Ursache eines säkularen Kismet-Denkens. Die moderne Form der Prädestinationslehre ist die Überzeugung, dass sich alle Befindlichkeiten, Eigenschaften, Defizite und Erfolge einer Person aus ihrer sozialen oder biologischen Genese oder, wie man früher sagte, aus Anlage und Umwelt erklären lassen. Die Soziologie hat seit jeher darauf verzichtet, die von Deprivationen aller Art Betroffenen selbst für ihr Schicksal verantwortlich zu machen. Sie hält zwar nichts von einem genetic turn, der mehr und mehr menschliche Eigenschaften deterministisch erklärt. Ersatz bietet aber die auch von Böning herangezogene quasideterministische Praxistheorie Bourdieus. Die verschiedenen Determinismen addieren sich und werden zur Self-fullfilling-Prophecy. Die Folge ist freilich nicht blanker Fatalismus im Sinne einer amor fati oder eines resignierenden Quietismus. Die Psyche reagiert nicht immer logisch. Deshalb meinte Max Weber, die Prädestinationslehre des Calvinismus habe ihre Anhänger zu vermehrter innerweltlicher Aktivität angetrieben. Der moderne soziobiologische Determinismus hat eine umgekehrt paradoxe psychische Konsequenz, den Ruf nämlich nach Hilfe, nach »Belehrung, Betreuung, und Beplanung« (Schelsky).

Verantwortungsbewusstsein, Leistungsbereitschaft und Frustra­tions­toleranz als Bausteine des kulturellen Kapitals werden umso wertvoller, je mehr man sie abwertet. Die »Schwachen« vor Stress zu schützen, bedeutet tatsächlich, ihnen kulturelles Kapital vorzuenthalten. »Du kannst es! Reiß dich am Riemen!« hilft in vielen Situationen besser als Mitleid. Leute strengt Euch an! Selbst ist die Frau, selbst ist der Mann!

»Erst recht der Weg zur Wissenschaft in Deutschland ist extrem hart.«

Wie, wenn es anders wäre? Gegenüber dem, was im Leistungssport verlangt wird, geht es in der Wissenschaft eher gemütlich zu.

»Kann das wirklich der Weg zu Erkenntnis und intellektueller Entfaltung sein, in einem solchen Säurebad sozialisiert zu werden?«

Wäre ein Bad in Eselsmilch besser für die Wissenschaft?

»Das Scheitern wird privatisiert. Ist man erfolgreich, sind alle stolz, die Lehrer, die Gönner. Aber wenn man scheitert, dann scheitert man ganz allein.«

Das klingt zunächst richtig. Doch wie soll man das »Scheitern« sozialisieren? Gewisse institutionelle Vorkehrungen sind sicher wünschenswert. Zu meiner Zeit gab es in Bochum besondere Kurse für Wiederholer. Wichtiger ist aber wohl eine Portion Konstruktivismus, die das Scheitern zum Neubeginn umdefiniert. Anscheinend ist die juristische Ausbildung doch so gut, dass auch Studienabbrecher, Examensverlierer und Beinahe-Wissenschaftler in aller Regel ihren Platz in Beruf und Leben finden.

Die Kritik an der juristischen Ausbildung und die Anstrengungen um eine Reform sind schon so alt, dass sie längst zum Thema für die Historiker geworden sind. Kritik ist billig. Aber die Sache ist schwierig. Da sollte eine Vorzeigeprofessorin in einem unverbindlich erscheinenden Interview zurückhaltender sein.

»Die ganze Rechtswissenschaft in Deutschland hat seit Savigny diese Hybridstellung und Vermittlungsfunktion zwischen Gerichtspraxis und einem weiteren philosophischen Diskurs. Das funktioniert heute aber nicht mehr. Die Rechtswissenschaft kann diese Vermittlung nicht mehr leisten, weil wir so unter Druck stehen durch den nationalen und europäischen Gesetzgeber. Die Hybris des 19. Jahrhunderts, dass die Rechtswissenschaft eine system­bildende Rechtsquelle ist, das ist vorbei.«

Über das Verhältnis von Theorie und Praxis kann und muss man diskutieren. Hybridfunktion und Vermittlungsstellung sind gute Stichworte. Auer wird Hybrid und Hybris nicht verwechselt haben. Der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts Hybris vorzuhalten ist jedoch ein normativer Rückschaufehler. Auer hat hier vorschnell zum Rückzug in den Elfenbeinturm des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte geblasen.

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[1] »Was mich eigentlich interessiert, ist das Gesellschaftliche«, Wissenschaftskolleg zu Berlin, Köpfe und Ideen, Ausgabe 15/Januar 2020, https://www.wiko-berlin.de/wikothek/koepfe-und-ideen/issue/15/was-mich-eigentlich-interessiert-ist-das-gesellschaftliche/. Die Zitate im Text sind aus diesem Interview.

[2] Das ist ein generisches Femininum!

[3] Anja Böning, Jura studieren. Eine explorative Untersuchung im Anschluss an Pierre Bourdieu, 2017. Ausführliche Rezension von Dirk Fabricius, Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft, 2018, 109-118.

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Gegenbegriffe, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz

Zu diesem Thema spreche ich am Mittwoch, den 22. 1. 2020, in der Albert-Ludwigs-Universität in der Reihe der Freiburger Vorträge zur Staats- und Rechtsphilosophie.

[Eine überarbeitete Fassung des Vortrags ist gedruckt in der Zeitschrift »Rechtsphilosophie« (RphZ)  8, 2022 Heft 1, S. 96-118.]

Zusammenfassung

Die Postmoderne hat das Denken und Argumentieren mit Dichotomien in Verruf gebracht. Zumal die großen Dichotomien von Objekt und Subjekt, Körper und Geist, Sein und Sollen sind ihr obsolet. Auf diesem Hintergrund wuchs eine Kritik an Recht und Rechtswissenschaft, die sich als »Entlarvung« falscher Dichotomien präsentiert. Insofern hat das Thema einen epistemologischen oder, wenn man so will, philosophischen Hintergrund. Aber im Vordergrund des Vortrags stehen die Tradition und der handwerkliche oder technologische Umgang mit Gegenbegriffen, Dichotomien und Alternativen in der Jurisprudenz.

In der Jurisprudenz ist die Arbeit mit Gegenbegriffen (Antonymen) jedoch allgegenwärtig und unverzichtbar. Antonyme sind heuristisch und didaktisch wertvoll. Sie verhelfen der Jurisprudenz zu ihrem spezifischen Unterscheidungsvermögen und sie halten das Recht entscheidungsfähig.

Sozialpsychologisch betrachtet entwickeln Dichotomien eine erhebliche Eigendynamik. Die ist allerdings nicht schon in der Operation der Begriffsbildung als solcher begründet, sondern folgt aus der Attraktivität von Dualismen für das kognitive System. Anfängliche Asymmetrien, die sich wie auch immer herausgebildet haben, werden durch soziale Praxis verstärkt oder gar generalisiert.

Eine solche Asymmetrie verbindet sich immer noch mit dem Gegensatz von Mann und Frau. Wichtiger ist aber heute der Gegensatz von normal und anormal im Hinblick auf Behinderte und Queers. In beiden Fällen markiert die Dichotomie eine Minderheit. In beiden Fällen wird von der konstruktivistisch argumentierenden Sozialwissenschaft eine Lösung angeboten, welche die diskriminierende Markierung als kontingente soziale Zuschreibung erklärt und als solche ausräumen will. Aber der Versuch, das »Dilemma der Differenz« dadurch zu entschärfen, dass die Differenz als solche weginterpretiert wird, bleibt eine Notlösung.

Nichts hindert uns, diese Dichotomien, wenn sie denn brüchig sind, im wahren Sinne des Wortes zu rekonstruieren.

Folien zum Vortrag

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Literatur zum Vortrag

Susanne Baer, Chancen und Risiken Positiver Maßnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Positive Maßnahmen. Von Antidiskriminierung zu Diversity, 2010, 11-20.

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Pierre Bourdieu, Männliche Herrschaft revisited, Feministische Studien 15, 1997, 88–99.

David Brehme, Normalitätskonzepte im Behinderungsdiskurs, 2017.

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Sabine Hark, Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, 2. Aufl. 1999.

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Pierre Schlag, Cannibal Moves: An Essay on the Metamorphoses of the Legal Distinction, Stanford Law Review, 1988, 929-972.

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Petra Storjohann, Deutsche Antonyme aus korpuslinguistischer Sicht – Muster und Funktionen, OPAL (Online publizierte Arbeiten zur Linguistik) 3, 2015, 36 S.

Jürgen Pafel/Ingo Reich, Einführung in die Semantik, 2016.

Niels Werber, Der eingeschlossene ausgeschlossene Dritte der Systemtheorie, Vortrag zur »Figur des Dritten« in Konstanz, 20. 11. 2001, https://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Konstanz-Dritter.htm.

Katrin Wille, Gendering George Spencer Brown? Die Form der Unterscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Genderforschung, in: Christine Weinbach (Hg.), Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, 2007, 15-50.

Katrin Wille, Form und Geschlechterunterscheidung, in: Tatjana Schönwälder-Kuntze u. a. (Hg.), George Spencer Brown, 2. Aufl. 2009, 273-285.

Michael Zander, Disability Studies: Gesellschaftliche Ausgrenzung als Forschungsgegenstand, Bundesgesundheitsblatt 59, 2016, 1048-1052

Eigene Texte

Besprechung von Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, ZStW 83, 1971, 831-850.

Praktische Rechtstheorie: Die deontischen Modalitäten und die Abgrenzung von Tun und Unterlassen, JA, 1999, 600-605 und 895-901.

Wie sinnvoll ist die Unterscheidung zwischen Begehungsdelikt und Unterlassungsdelikt bei klinischen Entscheidungen?, in: Hans-Martin Sass/Arnd T. May (Hg.), Behandlungsgebot oder Behandlungsverzicht, 2004, S. 241-261.

Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, in: Kent D. Lerch (Hg.), Recht vermitteln, 2005, 267-348.

Logische Bilder im Recht, in: Hermann Butzer/Friedrich Eberhard Schnapp (Hg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, 815-838.

Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, in: Kent D. Lerch (Hg.), Recht vermitteln, 2005, S. 267-348.

Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Recht anschaulich, Visualisierung in der Juristenausbildung, 2007.

Hans Christian Röhl/Klaus F. Röhl, Juristisches Denken mit Versatzstücken, in: Judith Brockmann u. a. (Hg.), Methoden des Lernens in der Rechtswissenschaft, 2012, S. 251-258.

Zwei hilfreiche Internetseiten:

Sebastian Löbner, Materialen zur Semantik: https://user.phil.hhu.de/~loebner/semantik_2/.

Kerstin Schwabe/Hubert Truckenbrodt, Semantik (Folien WS 2009/10): https://www.leibniz-zas.de/fileadmin/Archiv2019/mitarbeiter/schwabe/teaching/5_Semantik.pdf.

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