Rechtsrelevante Sozialpsychologie

Auf das letzte Posting zur Mediation (Mit harten Bandagen in die Mediation?) habe ich zwar keine Kommentare erhalten. Aber es hat sich daraus doch einige Emailkorrespondenz entwickelt. Eine freundliche Leserin hat mir ein Faltblatt mit dem Programm des 14. Mediations-Kongresses übermittelt, der Ende April in Bonn stattfand. Darin sind mir zwei Vorträge von Prof. Dr. Birte Englich, Bonn, aufgefallen. Der eine trug den Titel »Die Macht der ersten Zahl – Ankereffekte und andere psychologisch wirksame Einflüsse auf Verhandlungen«, der andere behandelte den »Umgang mit extremen Forderungen«. Daraufhin habe ich mir die Webseite von Frau Englich angesehen. An der Spitze der Liste ihrer Forschungsinteressen steht »judicial decision making«. Sodann werden fünf key publications genannt, die alle einschlägig sind:
Englich, B. (2008). When knowledge matters – Differential effects of available knowledge in standard and basic anchoring tasks. European Journal of Social Psychology, 38, 896-904. (pdf)
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack (2006). Playing dice with criminal sentences: The influence of irrelevant anchors on experts´ judicial decision making. Personality and Social Psychology Bulletin, 32 (2), 188-200. (pdf)
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack, F. (2005). The last word in court – A hidden disadvantage for the defense. Law and Human Behavior, 29 (6), 705-722. (pdf)
Mussweiler, T., & Englich, B. (2005). Subliminal anchoring: Judgmental consequences and underlying mechanisms. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 98, 133-143. (pdf)
Englich B., & Mussweiler, T. (2001). Sentencing under uncertainty: Anchoring effects in the court room. Journal of Applied Social Psychology, 31 (7), 1535-1551. (pdf)
Und was noch besser ist: Sie werden auch alle zum Download angeboten. In der vollständigen Publikationsliste finden sich weitere rechtspsychologische Arbeiten. Ich will hier nur noch eine erwähnen, einen kurzen, aber gehaltvollen Übersichtsartikel.
Englich, B. (2006). Ankereffekte im juristischen Kontext. In H.-W. Bierhoff & D. Frey (Hrsg.), Handbuch der Psychologie Band III: Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie (S.309-313). Göttingen: Hogrefe. (pdf) [http://social-cognition.uni-koeln.de/scc4/documents/hogrefe_ankereffekte.pdf]
Die Arbeiten konzentrieren sich sehr auf Ankereffekte, von denen Englich selbst sagt, sie seien empirisch gut belegt. Man muss nicht alles lesen. Aber man muss das Problem wohl doch ernster nehmen als es bisher allgemein geschieht. Besonders interessant fand ich die beiden Aufsätze von Englich, Mussweiler und Strack. Der Aufsatz von 2006 wiederholt zunächst den von 2005 und ergänzt ihn um zwei weitere Experimente.) Mit der Methode fiktiver Fälle, so würde man das in der Rechtssoziologie nennen, zeigen die Autoren, dass das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß in einer Weise auf das Urteil einwirkt, die dadurch, dass dem Angeklagten und seinem Verteidiger das letzte Wort zusteht, nicht aufgehoben wird. Dabei soll es sich um einen sehr robusten Effekt handeln, der nicht nur bei Jungjuristen als Testpersonen auftritt, sondern auch bei erfahrenen Strafrichtern. Selbst und vor allem der Verteidiger lässt sich bei seinen Gegenvorstellungen von dem »Anker« leiten. Der Effekt soll auch nicht davon abhängig sein, dass gerade ein Staatsanwalt das Strafmaß in den Raum stellt. Auch Strafvorschläge von Nichtjuristen, im Test von Computerstudenten, zeigen Wirkung, und das selbst dann, wenn der Strafvorschlag von einem Zufallsgenerator ausgeworfen worden war. Um noch eines drauf zu setzen, wurden im dritten Experiment die »Verteidiger« aufgefordert, sich einen Strafantrag vorzustellen, den sie durch Würfeln selbst generieren mussten. Eine Erklärung, die die Autoren für möglich halten, besagt, dass der »Anker« dazu führt, nach Argumenten zu suchen, die die Angemessenheit des Wertes bestätigen und andere ausblenden. In einem vierten Experiment wurden die Probanden daher aufgefordert, à tempo Argumente pro und contra zu sortieren. Dabei soll sich bestätigt haben, dass Argumente für Schuld und schwere Strafe bei einem hohen Ankerwert schneller eingeordnet werden. Ich muss gestehen, dass ich dieses Experiment nicht ganz nachvollziehen kann. Das Fazit der Autoren: Das letzte Wort für den Angeklagten bedeutet, dass der Staatsanwalt das erste Wort hat. Der Staatsanwalt kann damit einen »Anker« setzen, der das Verfahrensergebnis irrational beeinflusst.
Es fällt schwer, sich mit dem Ergebnis anzufreunden, und daher wird man zunächst versuchen, es hinweg zu argumentieren. Ohne dass ich tiefer eingestiegen wäre, fallen mir zwei Argumente ein.
Erstens, dass der Ankereffekt nur Zahlenwerten zugeschrieben wird. Können denn Sachargumente gegen den Ankereffekt nichts ausrichten? In Rhetorikkursen lernt man doch, dass man das wichtigste Argument an den Schluss stellen soll. Von daher würde man erwarten, dass das Schlusswort wichtiger ist als der Anfang.
Zweitens: Die Psychologen verwenden Laborsituationen. Auch wenn sie gelegentlich vom Kontext des Ankers und möglicher Gegen-Anker sprechen, so bleibt dieser Kontext doch in den Versuchssituationen dürftig. Er kann die Totalität einer Gerichtsverhandlung kaum darstellen. (Das gleiche gilt für eine Mediationsverhandlung.) Im Verlaufe einer Verhandlung werden viele Zahlenwerte genannt. Dem Laien fällt es schwer zu glauben, dass der erstgenannte sich nur schwer wieder auslöschen lässt. Immerhin sehen die Autoren selbst eine Aufgabe für weitere Untersuchungen darin zu prüfen, ob der Ankereffekt auch über eine komplette Gerichtsverhandlung durchhält (2005, S. 728).
Ich vermute allerdings, dass Frau Englich und ihre Kollegen solche Einwendungen gewöhnt sind und sie locker ausräumen können. Es bleibt wohl keine Wahl als den Ankereffekt in der forensischen Praxis ernst zu nehmen. Wer in Zivilsachen etwas gewinnen will, sollte also mit einer hohen Klageforderung beginnen. Auch Richter lassen sich davon beeinflussen. Noch wichtiger ist eine hohe Ausgangsforderung für Vergleichs- und Mediationsverhandlungen. Im Strafverfahren sollte der Verteidiger noch vor dem Staatsanwalt ein möglichst niedriges Strafmaß nennen.

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Nachlese zur (Hamburger Tagung über die ) Fachdidaktik des Rechts

Aktualität ist nicht meine Stärke. Am 24. und 25. März 2010 fand an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg die Tagung »Exzellente Lehre im juristischen Studium. Auf dem Weg zu einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik« statt. Das Tagungsprogramm können Sie hier als Pdf-Dokument herunterladen, die von den Referenten verwendeten Folien hier. Die Tagung war rundum erfreulich. Es wurden überwiegend hörenswerte Vorträge gehalten, und es wurde lebhaft und sachlich diskutiert. Ich will hier auf zwei Vorträge erwähnen, (die sicher demnächst in einem Tagungsband nachzulesen sind).
Am Anfang stand ein Vortrag von Julian Webb, dem Leiter des UK Centre for Legal Education in Warwick. Diesen Vortrag fand ich besonders interessant wegen seiner Hinweise auf das, was Paul Maharg transactional learning nennt, nämlich »active learning based on doing legal transactions which require both reflection on learning and collaborative learning« [1]Paul Maharg, Transforming Legal Education, Ashgate 2007. Ich habe das Zitat nicht wiederfinden können. Aber vielleicht habe ich nicht gründlich genug gelesen.. Mein Interesse ist vor allem deshalb geweckt, weil es dabei um den Ersatz realer Praxis durch Simulationen aller Art, nicht zuletzt mit Hilfe des Internet geht. Darauf habe ich ein einem Beitrag in »Recht anschaulich« hingewiesen.
Dieses Posting gilt dem Vortrag von Helge Dedek, der mit dem Titel »Didaktische Zugänge in der Rechtslehre in Kanada und den USA« angekündigt war. Danach hätte ich erwartet, dass der Referent seinen Vortrag aus zwei einschlägigen neueren Aufsätzen zum Thema bestreiten würde. Doch er war so bescheiden, diese Arbeiten nicht einmal zu erwähnen, so dass ich sie hier anführen will, denn sie sind lesenswert. [2]Helge Dedek, Recht an der Universität: »Wissenschaftlichkeit« der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 2009, 540–550; Helge Dedek/Armand de Mestral, Born to be Wild: The … Continue reading Anstatt seine alten Texte vorzutragen, erklärte Dedek seinen Zuhörern, wie seinerzeit die Langdellsche Case-Method entstand, nämlich weil Langdell auf eine wissenschaftliche Juristenausbildung drängte, die nur in der Universität stattfinden könne, und die auf die Originalquellen des (amerikanischen) Rechts, also auf Präjudizien zurückgreifen müsse. Dedek erläuterte, wie Langdells Methode, nicht zuletzt durch ihre Verbindung mit der sokratischen Methode, in den USA in Misskredit geriet, und zeigte dazu einen kurzen Ausschnitt aus dem Film »Paperchase«. [3]Im Netz ist nur der entsprechende Ausschnitt aus der TV-Version von »Paperchase« zu finden, der aber immer noch ganz eindrucksvoll ist. Außerdem auf Youtube: Studenten über die Socratic Method. Wohl ungeplant bewies er damit, dass wenige Bilder, richtig eingesetzt, unschlagbar sind, wenn es darum geht, ein Thema anschaulich zu machen. Dedek bemerkte, dass etwa in Asien Langdells Case Method heute beliebter ist als in ihrem Heimatland.
Die Entwicklung zur Interdisziplinarität in den amerikanischen Lawschools hatte Dedek in seinem Aufsatz in der Juristenzeitung ausführlicher behandelt hat. Dort hatte er auf die unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffe hingewiesen, die die deutsche und die US-amerikanische Juristenausbildung prägen: Im Streit um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft hat Eugen Ehrlich mit dem Law- and Society-Movement einen späten Sieg errungen. Ehrlich hatte bekanntlich 1913 die Rechtssoziologie zur einzigen legitimen Rechtswissenschaft erklärt:

»Da das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung ist, so gehört jede Art der Jurisprudenz den Gesellschaftswissenschaften an, aber die eigentliche Rechtswissenschaft ist ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft der Soziologie. Die Soziologie des Rechts ist die wissenschaftliche Lehre vom Rechte.«

Zu Ehrlichs posthumen Sieg hat eine Reihe von Bundesgenossen beigetragen. Die Rechtssoziologie stellt nur noch eine Division im Heer der »Law- and …« [4]Diese Formulierung ist eine Erfindung von Guido Calabresi, An Introduction to Legal Thought: Four Approaches to Law and to the Allocation of Body Parts, Stanford Law Review 55 (2003 2113-2152, … Continue reading -Alliierten. Zu den Verbündeten gehören Anthropologie, Ethnologie, Ökonomie, Psychologie, Medienwissenschaft und Kulturwissenschaften. In den USA hat dieses Bündnis die Mehrzahl der Elite-Law-Schools erobert. Nach einer Aufstellung von Macey [5]Jonathan R. Macey, Legal Scholarship: A Corporate Scholar’s Perspective, 41 San Diego Law Review 41, 2004, S. 1759-1774. hatten 2004 hatten 2004 neun von 15 dieser Law Schools das traditionelle Modell der Legal Science zugunsten einer interdisziplinären Behandlung des Rechts aufgegeben. [6]Chicago, Columbia, Cornell, Michigan, Penn, Stanford, USC, Virginia und Yale. Nur Duke und Texas halten am traditionellen Modell fest. Berkeley, Georgetown, Harvard und NYU werden als »mixed« … Continue reading Nur noch im ersten Studienjahr sind juristische Veranstaltungen nach der traditionellen Fallmethode Langdells Pflicht. Danach steht es den Studenten frei, sich ihre Kurse aus einem großen, überwiegend interdisziplinären Angebot zusammenzustellen. Noch stärker als das Studium selbst ist die Dozentenschaft interdisziplinär ausgerichtet.
Da trifft es sich, dass Tamanaha kürzlich dargestellt hat, wie die Eroberung der akademischen Rechtswissenschaft der USA durch andere Disziplinen auf einem großen Täuschungsmanöver beruhte, nämlich darauf, dass zunächst die Schule der Legal Realists und später noch einmal die Schule der Critical Legal Studies ein falsches Feindbild von der traditionellen Rechtswissenschaft aufbauten. [7]Brian Z. Tamanaha, The Bogus Tale About the Legal Formalists, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1123498; ders., Understanding Legal Realism, 2008, verfügbar unter … Continue reading Bis heute gilt es in den USA als ausgemacht, dass die traditionelle Jurisprudenz in dem Sinne formalistisch war, dass sie das Recht als objektives, unpolitisches System begriff, aus dem die Gerichte mechanisch-logisch ihre Entscheidungen ableiten konnten. Erst die Legal Realists, so die gängige Lesart, hätten entdeckt, dass und wie sehr das juristische Urteil von Wertungen der Richter abhängig ist, und erst die Critical Legal Studies hätten den politischen Charakter aller Justiz aufgezeigt. Tamanaha zeigt mit vielen Belegen, dass und wie Legal Realists und Critical Legal Studies ihrerseits politische Absichten verfolgt und in einer geradezu unwissenschaftlichen Weise ihre Augen vor der Differenziertheit der als formalistisch denunzierten Jurisprudenz verschlossen haben.

Nachtrag vom 24. Mai 2010:
Der Kommentar von Michael Wrase war notwendig.
Ich will noch darauf hinweisen, dass die bei SSRN verfügbaren Manuskripte Tamanahas in sein in diesem Jahr bei Princeton University Press erschienenes Buch »Beyond the Formalist-Realist Divide« eingegangen sind.
Nachtrag vom 28. 2. 2012:
Eine weitere Besprechung von Marin Roger Scordato (University of Richmond Law Review 46, 2011, 659-666) macht geltend, auch wenn heute alle Juristen mehr oder weniger »Realisten« seien, so sei doch im allgemeinen Rechtsbewusstsein und auch in der Politik er formalistische Standpunkt fest verankert, und auch das (amerikanische) Rechtsmittelsystem baue auf ein technisch-formales Konzept der Rechtsanwendung.

Nachtrag vom 24. Juni 2010:
Hier eine schöne Besprechung des Buches von Tamanaha von Stanley Fish aus der New York Times vom 24. 6.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Paul Maharg, Transforming Legal Education, Ashgate 2007. Ich habe das Zitat nicht wiederfinden können. Aber vielleicht habe ich nicht gründlich genug gelesen.
2 Helge Dedek, Recht an der Universität: »Wissenschaftlichkeit« der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 2009, 540–550; Helge Dedek/Armand de Mestral, Born to be Wild: The Trans-Systemic Programme at McGill and the De-Nationalization of Legal Education, The German Law Journal, 10, 2009, S. 889–911.
3 Im Netz ist nur der entsprechende Ausschnitt aus der TV-Version von »Paperchase« zu finden, der aber immer noch ganz eindrucksvoll ist. Außerdem auf Youtube: Studenten über die Socratic Method.
4 Diese Formulierung ist eine Erfindung von Guido Calabresi, An Introduction to Legal Thought: Four Approaches to Law and to the Allocation of Body Parts, Stanford Law Review 55 (2003 2113-2152, teilweise einsehbar unter http://www.accessmylibrary.com/article-1G1-106865769/introduction-legal-thought-four.html.
5 Jonathan R. Macey, Legal Scholarship: A Corporate Scholar’s Perspective, 41 San Diego Law Review 41, 2004, S. 1759-1774.
6 Chicago, Columbia, Cornell, Michigan, Penn, Stanford, USC, Virginia und Yale. Nur Duke und Texas halten am traditionellen Modell fest. Berkeley, Georgetown, Harvard und NYU werden als »mixed« eingestuft.
7 Brian Z. Tamanaha, The Bogus Tale About the Legal Formalists, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1123498; ders., Understanding Legal Realism, 2008, verfügbar unter http://ssrn.com/abstract=1127178.

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Gerechtigkeit breitgetreten?

Unter dem Namen »Justitia Amplificata« – er weckt bei mir die Assoziation an getretenen Quark [1]Im Lexikon (Stowasser) wird amplificare etwas freundlicher mit »vermehren, vergrößern, erweitern« übersetzt. – meldet sich eine neue »Kolleg-Forschergruppe« an der Universität Frankfurt a. M. Immerhin ist es ihr gelungen, zur Eröffnungsveranstaltung am 4. Mai Ronald Dworkin als Redner zu gewinnen (Thema: Political Justice and Human Rights).
Die Gruppe wird von Prof. Stefan Gosepath und Prof. Rainer Forst geleitet. Beide gehören zu dem Exzellenzcluster »Normative Orders«, von dem im letzten Posting die Rede war. Wenn ich mir ihre Publikationslisten ansehe, habe ich den Eindruck, dass mir da Einiges entgangen sein könnte. Anscheinend gibt es zwischen Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und der Politischen Wissenschaft (nur für mich?) doch eine Fächergrenze. So schnell kann ich da nicht nachsehen, denn außer dem Artikel »Equality« von Gosepath in der Stanford Encyclopedia of Philosophy sind im Internet anscheinend keine Texte der Genannten zugänglich.
Die Forschergruppe will ein internationales Forum der wissenschaftlichen Diskussion des Begriffs der Gerechtigkeit bieten. Hinzukommen sollen Fragen der Umsetzungsmöglichkeit von Gerechtigkeitstheorien in der Praxis und nach der Erweiterbarkeit dieser Theorien auf soziale und politische Kontexte jenseits des Staates. Die letztere Frage scheint mir die interessantere zu sein. Sie war unter der Überschrift »Drittwirkung der Grundrechte« ein großes Thema der Jurisprudenz, und sie ist unter dem Titel »Corporate Social Responsibility« ein heißes Thema der Rechtssoziologie.
Nachtrag vom 8. 5. 2010: In der FAZ vom 6. Mai S. 29 berichtet Patrick Bahners unter der Überschrift »Würdeschutz durch Zwang?« über den Vortrag von Ronald Dworkin, »des berühmtesten Rechtsphilosophen der Welt«. Bahners weist darauf hin, dass amplificatio ein Begriff aus der Rhetorik ist. Er bezeichnet »die Kunst, einen Gedanken, der schon ausgesprochen ist, im Licht neuer Gesichtspunkte oder Beispiele hin und her zu wenden, bis ihn mutmaßlich jeder verstanden hat«. Wer weitere Aufklärung sucht, findet sie im Handbuch der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg, 3. Aufl. 1990, in § 259 und passim. Wenn die wissenschaftliche Rechts- und Staatphilosophie gelegentlich den Eindruck erwecke, ihr Schicksal sei das Breittreten, so bezeuge die Frankfurter Namenswahl immerhin einen »Sinn für die Ambivalenzen der reflexiven Modernisierung des Wissenschaftssystems oder, schmal gesagt: für Ironie«. Das nenne ich Metaironie. Zwischen den Zeilen lese ich: Den Vortrag muss man nicht gehört haben, es sei denn, um einen großen Rhetor zu bewundern.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Lexikon (Stowasser) wird amplificare etwas freundlicher mit »vermehren, vergrößern, erweitern« übersetzt.

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Legal Capital oder Kirchmanns späte Rache

Social capital, human capital und nun auch legal capital? Der Begriff »legal capital« ist eigentlich für das rechtlich vorgeschriebene Mindestkapital von Gesellschaften verbraucht [1]Vgl. Marcus Lutter, Hg., Legal Capital in Europe, 2006., und die Stadt Den Haag bezeichnet sich als »Legal Capital of the World«. Auf der schon mehrfach erwähnten Bremer Tagung hat Eidenmüller diesen Begriff aber beiläufig noch in einer anderen Bedeutung verwendet, nämlich in Analogie zu human capital und social capital. Konkret ging es darum, dass die Wahl effizienteren ausländischen Rechts durch die Akteure am transnationalen Rechtsmarkt Komplexe des abgewählten Rechts, die mit großem Aufwand erarbeitet wurden, entwerten könnte. Viel dramatischer erleben wir die Entwertung des Rechtskapitals in Europa, wo die Vereinheitlichung des Vertragsrechts lieb und teuer gewordene Bestände der Rechtsdogmatik zur Makulatur werden lässt. Der Begriff, so scheint es, hat Zukunft.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. Marcus Lutter, Hg., Legal Capital in Europe, 2006.

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Von Hartz IV zur Papier I

Elf Mal kommt in dem Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 zu § 28 SGB II das Wort »empirisch« vor. Da müssten Rechtssoziologen jubeln. Aber dazu ist kein Anlass, denn die empirische Arbeit, die zu leisten ist, fällt kaum in ihr Arbeitsgebiet. Jubeln können oder trauern müssen –je nach Standpunkt – vielmehr Rechtstheoretiker. Das BVerfG betont zwar immer wieder den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Tatsächlich hat es den Gesetzgeber aber auf eine Verwaltungsbehörde zurückgestutzt, die ihre Ermessensentscheidung rechtfertigen muss. Viel Unterschied zwischen Recht und Politik bleibt da nicht mehr. Ferner muss die Rechtstheorie sich mit dem Begriff der Obliegenheit auseinandersetzen, den man bisher eigentlich nur aus dem Zivilrecht kannte. Der Kernsatz des Urteils lautet:

Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.

Für die Politik wird es eng. Vermutlich wird die Neufassung von § 28 SBG II, die wir zum Jahresende zu erwarten haben, nicht mehr unter Hartz IV, sondern unter Papier I firmieren.

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Qualitätsarbeit der Justiz III

Mein altes Thema, Fehler in Gerichtsurteilen, hat man nun an anderer Stelle aufgegriffen. In Berlin an der FU gibt es dazu ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Martin Schwab. Das Projekt ist zunächst mit einem Blog an die Öffentlichkeit getreten, der den schönen Namen WatchTheCourt trägt. [1]In den 1970er und 80er Jahren gab es in den USA einige Court-Watching-Gruppen. Man hat auch versucht, daraus Lehrveranstaltungen zu machen und es gab auch einmal ein einschlägiges Paper auf einer … Continue reading

Anmerkungen

Anmerkungen
1 In den 1970er und 80er Jahren gab es in den USA einige Court-Watching-Gruppen. Man hat auch versucht, daraus Lehrveranstaltungen zu machen und es gab auch einmal ein einschlägiges Paper auf einer Law & Society Tagung.

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Rechtssoziologie ade

2003 wurde der Lehrstuhl für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität in einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie umgewandelt und die Rechtssoziologie damit ein Stück zurückgesetzt. Immerhin war der Stelleninhaber Ralf Poscher noch ein bekennender Rechtssoziologie. Prof. Poscher ist nach dem Sommersemester 2009 einem Ruf an die Universität Freiburg i. Br. gefolgt. Die Stelle ist nunmehr für »Öffentliches Recht mit einem Grundlagenfach, insbesondere Rechtsphilosophie« ausgeschrieben. Aus der Sicht einer Fakultät, die sich auf Evaluationen trimmen muss, mag es dafür Gründe gegeben. Einer ist wohl das dürftige Angebot von Bewerbern mit der facultas »Rechtssoziologie«. Doch der Beobachter betrauert die institutionelle Beerdigung des Faches in Bochum im Alter von gerade 39 Jahren.
Die Geburtsstunde der Bochumer Rechtssoziologie schlug 1970, als Marcus Lutter der Fakultät die Einrichtung einer rechtssoziologischen Lehrveranstaltung anregte. Das waren noch Zeiten, als ein Handelsrechtler – und nicht irgendeiner – sich für die Rechtssoziologie stark machte.

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Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt

Landauf, landab finden Tagungen und Symposien zur gerichtlichen Mediation statt. Die Akzeptanz in den Medien ist enorm. Den Protagonisten gelingt es, in erstaunlicher Weise, Prominenz aus Wissenschaft, Rechtspolitik und sogar »Gesellschaft« zu mobilisieren. Das sieht man auf einem Video über ein vom Contarini-Institut an der Fernuniversität Hagen veranstaltetes Mediationssymposium im Bayerischen Hof in München im Herbst 2008. Gemeinsam beschwören alle den Beginn einer neuen Streitkultur. Der interessierte Beobachter hat jedoch den Eindruck, dass vielen und schönen Worten nur wenige Taten folgen: Es fehlt eine nennenswerte Nachfrage.
Vor etwa 30 Jahren hatte die Rechtssoziologie die Defizite gerichtlicher Konfliktlösung beschrieben und Vorschläge zur alternativen Streitregelung aus den USA importiert. Damals ging es um Community Justice und Neighborhood Justice Centers. In der Folgezeit suchte man zunächst in der alten Bundesrepublik nach Resten außergerichtlicher Streitregelung etwa beim Schiedsmann, in den Güte- und Schlichtungsstellen für Verbraucher und in den Vergleichsbemühungen der Gerichte. Die Suche bekam nach der Wiedervereinigung noch einmal Auftrieb, weil man, in der Hoffnung, irgendetwas Brauchbares im Nachlass der DDR zu finden, die sog. Konfliktkommissionen ins Visier nahm. Doch es änderte sich wenig oder nichts.
Etwa ab 1990 entdeckte eine neue Juristengeneration (Breidenbach, Duve, Eidenmüller, Birner, Prause) noch einmal in den USA die »ADR« (Alternative Dispute Resolution), wie sie nun hieß. Orientierungspunkt war jetzt das Harvard Negotiation Project. Dafür hatten Fisher und Ury eine lehr- und lernbare Vermittlungstechnik entwickelt. Diese Technik wurde nun auch in Deutschland bekannt und verbreitet. Was bisher schlicht unter Vermittlung lief, bekam einen neuen Namen: Mediation. Eigentlich nur das englische Wort für Vermittlung, wirkte der Begriff in Deutschland wie eine Zauberformel. Unter diesem Zauberspruch sammelten sich Juristen und einige Angehörige anderer Professionen, die hofften, hier ein neues Berufsfeld etablieren zu können, auf dem sich ihre Neigung einer gesellschaftlich wertvollen Tätigkeit mit dem Broterwerb verbinden ließ. Sehr schnell wurden diese Idealisten von der Ausbildungsindustrie entdeckt. Die Mediatorenausbildung wurde Vorreiter all der Zusatzstudiengänge, mit denen sich heute die Hochschulen vermarkten. Es gibt in Deutschland zur Zeit angeblich [1]Nachtrag: Der Link, der bei der Abfassung des Artikels noch funktionierte, war im Oktober 2010 tot und die entsprechende Information von der Webseite des Contarini-Instituts an der Fernuni Hagen … Continue reading 6000 ausgebildete Mediatoren, aber vermutlich nicht einmal für jeden von ihnen jedes Jahr einen Fall.
Mehr oder weniger alle Autoren, die über ADR schreiben, sind davon überzeugt, dass sie es mit einer Erfolgsgeschichte zu tun haben. Sie stützen sich dabei auf zahlreiche Evaluationen einzelner ADR-Projekte, die fast ausnahmslos positiv ausfallen. Ich spreche von einem Naturgesetz der Vermittlung: Etwa zwei Drittel aller Streitigkeiten werden gütlich geregelt werden, wenn sich die Parteien sich in ein Vermittlungsverfahren begeben. Kaum weniger groß ist die Übereinstimmung, dass alternative Verfahren regelmäßig kürzer dauern als Gerichtsverfahren, dass sie geringere Kosten verursachen, dass sie von den Beteiligten als weniger belastend empfunden werden und dass auch die Umsetzung des Verfahrensergebnisses erfolgreicher ist als die Vollstreckung eines Gerichtsurteils. Die Theorie hinter der Mediation scheint also zu stimmen. Trotzdem fristen die alternativen Streitregelungsverfahren neben der Justiz nur das Dasein eines Mauerblümchens. Ihr Angebot wird vom Publikum nicht angenommen. Sie leben von den Fällen, die ihnen von der Justiz überwiesen werden. Gewisse Erfolge, wie sie anscheinend in den USA erreicht worden sind, beruhen auf massiver Steuerung, nämlich darauf, dass die Parteien gesetzlich in die gerichtsverbundene Mediation gezwungen werden.
Auch in Deutschland hat die Justiz seit 2002 mit Hilfe des damals neuen § 278 ZPO die Mediation für sich entdeckt Die gerichtsverbundene Mediation löst drei Probleme auf einen Schlag. Erstens: Sie überwindet mangelnde Akzeptanz der Mediation durch sanften Druck. Wer sich »uneinsichtig« zeigt, indem er seine Zustimmung verweigert, muss mindestens subjektiv damit rechnen, dass das Gericht ihm sein Wohlwollen entzieht und im streitigen Verfahren von den zahlreichen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch macht, die ihm zur Verfügung stehen. Zweitens: Sie verursacht keine zusätzlichen Kosten. Drittens: Falls sie scheitert, führt das begonnene Gerichtsverfahren doch irgendwie zu einem Ende des Konflikts. Da kann man Mediation ruhig ausprobieren und, wenn nicht genug heraus kommt, immer noch auf ein günstigeres Urteil hoffen. Es ist sozusagen die List der Vernunft, dass es dann doch meistens zu einem Kompromiss kommt, wenn man sich erst einmal auf das Mediationsverfahren eingelassen hat. Die gerichtsverbundene Mediation ist anscheinend sehr erfolgreich, soweit es darum geht, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen und die Vermittlung zu einem guten Ende zu führen (Projektabschlussbericht Niedersachsen). Kein Wunder. Die Justiz trägt alle Kosten. Die Verbreitung der gerichtsverbundenen Mediation beschränkt sich bisher auf wenige Pilot- oder Projektgerichte. Massenwirksam ist sie noch nicht.
Das (erste) Mediationsparadox haben McEwen und Milburn [2]McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W.: Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, 1993, S. 23–36. beschrieben: Man muss die Streithähne mehr oder weniger an den Verhandlungstisch nötigen, damit sie freiwillig zu einer Einigung gelangen. Man muss sie sozusagen zu ihrem Glück zwingen, denn obwohl sie am Anfang meist unwillig waren, sind sie am Ende doch ganz überwiegend sehr zufrieden. Das ist die in der Literatur vielfach bestätigte Erfahrung. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich den Gegensatz zwischen der publizierten Akzeptanz von konsensualer Streitschlichtung und den guten Erfolgsaussichten von Mediationsverfahren auf der einen und dem mangelnden Zulauf auf der anderen Seite.
Die Verfechter der Mediation – Gegner gibt es praktisch kaum – behaupten einen positiven Trend. Aber Zahlen nennen sie nicht. Die gemeldeten Erfolge zeigen sich am Einzelfall und sind damit qualitativ. Der gesellschaftliche Erfolg alternativer Verfahren lässt sich jedoch nicht ohne quantitative Aspekte beurteilen. Eine große, vom Bundesministerium der Justiz beim Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg in Auftrag gegebene Untersuchung über 20 Staaten trägt den Untertitel »Rechtstatsachen, Vergleich, Regelungen«. [3]Hopt, Klaus J.; Steffek, Felix (Hg.): Mediation. Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 2008. Aber die beigebrachten Rechtstatsachen sind kümmerlich. Statistiken über die Verwendung von Mediationsverfahren werden schlicht für irrelevant erklärt:

»… dass sich die Mediation nicht statistisch erfassen und bewerten lässt. Ihre Wirkung und Bedeutung für die Rechtspraxis ergibt und erklärt sich vielmehr erst im Zusammenspiel mit dem Rechtsumfeld und der Streitbewältigungskultur. in der sie eingebettet ist. Eine für diese Zusammenhänge unempfindsame Addition und Division der in den Länderberichten erfassten Daten brächte daher keinen Erkenntnisgewinn.« [4]Hopt/Steffek, S: 77

Massive Zahlen liegen nur für China und Japan vor. In China sollen 2004 von den Volksschlichtungskomitees 4.492.157 Fälle behandelt worden sein, während 4.492.157 Fälle an die Volksgerichte erster Instanz gelangten [5]Pißler in Hopt/Steffek S. 627-631. Ich verstehe weder Japanisch noch Chinesisch und vermag diese Zahlen daher nicht einzuschätzen.
In Deutschland gibt es immerhin eine halbamtliche Statistik für den Täter-Opfer-Ausgleich, die Vollständigkeit für sich in Anspruch nimmt [6]Kerner, Hans-Jürgen/Hartmann, Arthur, Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik für den Jahrgang 2005, mit Vergleich zu den Jahrgängen … Continue reading. Sie beginnt 1993 mit einem Fallaufkommen von 1238, erreicht 1999 einen Höhepunkt mit 5177 Fällen und liegt seit 2003 deutlich unter 3000. Wenn man daneben hält, dass jährlich etwa 800.000 Verurteilungen erfolgen, so sind die Zahlen wenig eindrucksvoll.
Auch für die USA fehlt an brauchbaren Globalzahlen. Prause spricht von der Messung des Unmessbaren [7]Prause, Matthias, The Oxymoron of Measuring the Immeasurable: Potential and Challenges of Determining Mediation Developments in the U.S., Harvard Negotiation Review 13, 2008, 132-165.. Er schlägt ein indirektes Messverfahren vor, nämlich einen Mediation Receptivity Index (MRI) nach Analogie des Corruption Perceptivity Index. Andere Autoren verweisen auf den aus der Statistik belegbaren Rückgang förmlicher Urteile, ein Phänomen, das als vanishing trial bzeichnet wird, und schließen daraus auf eine Zunahme von ADR.
Der MRI geht auf einen Vorschlag von Frank E. Sander zurück und ist von Prause operationalisiert worden. Die Ankündigung klingt verheißungsvoll:

»Mediation Receptivity describes the level of use and awareness of mediation as a means to resolve disputes in a particular environment and the level of supporting infrastructure.« (Prause S. 139).

In den Mediation Receptivity Index gehen als »objektive Indikatoren« keine Fallzahlen, sondern Angaben über die vorhandenen Einrichtungen, die Mediation anbieten, über die Mitgliederzahl der Organisationen, die sich um ADR kümmern, über akademische Publikationen zum Thema, über Vorkehrungen der Einzelstaaten zur Implementation des Uniform Mediation Act und über das Vorhandensein eines State ADR Office ein. Als subjektive Elemente kommen Einschätzungen von Experten hinzu. Auf diese Weise sollen die Staaten der USA nach ihrer Mediation Receptivity auf einer Skala von 1 bis 10 eingeordnet werden. Wollte man Deutschland in den MRI einreihen, so gäbe es vermutlich einen guten Platz. Die Zahl der Einrichtungen zur alternativen Streitregelung in den USA liegt heute wohl im vierstelligen Bereich. Aber das ist gar nicht so viel, wenn man die Größe des Landes berücksichtigt und bedenkt, dass es in Deutschland über 5000 kommunale Schlichtungsstellen und allein in Nordrhein-Westfalen 1.258 Schiedspersonen gibt. Landauf, landab treffen sich in Deutschland Mediations-Experten auf Tagungen und Symposien und verkünden ihre positive Einschätzung. Die Literaturproduktion ist erheblich, die Akzeptanz in den Medien groß. Doch all das ändert nichts daran: Alle loben die Mediation, aber niemand verzichtet deshalb auf eine Klage.
In den USA stützt sich der Konsens, dass ADR allgemein akzeptiert werde und auch quantitativ enorm gewachsen sei, auf ein Phänomen, das als »vanishing trial« bekannt ist. Gemeint ist die Tatsache, dass im Laufe der Jahre die Zahl der streitigen Urteile stark zurückgegangen ist. Marc Galanter, der dieses Phänomen näher untersucht hat, fasst es wie folgt zusammen:

»The portion of federal civil cases resolved by trial fell from 11.5 percent in 1962 to 1.8 percent in 2002, continuing a long historic decline. More startling was the 60 percent decline in the absolute number of trials since the mid 1980s. The makeup of trials shifted from a predominance of torts to a predominance of civil rights, but trials are declining in every case category. A similar decline in both the percentage and the absolute number of trials is found in federal criminal cases and in bankruptcy cases. The phenomenon is not confined to the federal courts; there are comparable declines of trials, both civil and criminal, in the state courts, where the great majority of trials occur. Plausible causes for this decline include a shift in ideology and practice among litigants, lawyers, and judges. …Within the courts, judges conduct trials at only a fraction of the rate that their predecessors did, but they are more heavily involved in the early stages of cases. Although virtually every other indicator of legal activity is rising, trials are declining not only in relation to cases in the courts but to the size of the population and the size of the economy.« [8]Galanter, Marc (2004) The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts 1, 459-570, 459 f..

Es liegt nahe, diesen Wandel der wachsenden Bedeutung von ADR zuzuschreiben. Aber der Zusammenhang ist nicht klar. Aber der Trend hält schon viel länger an, und aus der Statistik gibt es keinen Beleg [9]Stipanowich, Thomas J, ADR and the “Vanishing Trial”: The Growth and Impact of “Alternative Dispute Resolution”, Journal of Empirical Legal Studies 1, 2004, 843–912. . Die Zahlen, die genannt werden – 24.000 Verweisungen bei den Bundesgerichten, das entspricht etwa 10 % der Eingänge – sind noch nicht wirklich eindrucksvoll. In einzelnen Staaten – besonders in Florida, Kalifornien und Ohio – erreicht die ADR aber wohl eine Größenordnung von 20 % der Eingänge bei den Gerichten.
In Deutschland ist kein vergleichbarer Schwund des Anteils der streitig entschiedenen Gerichtsverfahren zu beobachten. Das gilt grundsätzlich sowohl für Zivilprozesse wie für Strafsachen. In Zivilprozesssachen hat es allerdings einen einmaligen Rückgang der Urteilsquote um 5 % (von etwa 30 auf 25 %) und einen entsprechenden Anstieg der Vergleichsquote gegeben, und zwar 2001/2002, anscheinend als Folge einer Änderung der Zivilprozessordnung. Immerhin. Eine Erklärung für die andere Entwicklung in Deutschland liegt sicher darin, dass hier die Hürden zum streitigen Urteil viel niedriger liegen als in den USA zum »trial«. Die gerichtsabhängige Mediation ist in Deutschland bisher erst bei einigen Pilotgerichten eingerichtet und allein deshalb noch nicht mengenwirksam.
Die gerichtsunabhängige Mediation hat nur Nischenplätze erobern können. Eine solche Nische bilden Familien- und Ehestreitigkeiten und wohl auch Erbstreitigkeiten. Doch auch dafür gibt es nur eine kleine Klientel, vergleichbar, aber viel kleiner noch, als die Gruppe derer, die in Naturkostläden einkaufen oder für die Versorgung mit Strom aus alternativen Quellen einen höheren Preis in Kauf nehmen. Zahlen habe ich nicht gefunden.
Die professionelle Mediation ist ein personal- und zeitaufwendiges Verfahren. Nur wenige Konflikte rechtfertigen diesen Aufwand. Deshalb konzentriert sich das freie Mediationsangebot auf zwei Felder, in denen es nicht nur Konflikte gibt, sondern auch Geld vorhanden ist, nämlich auf die Mediation bei umstrittenen umweltrelevanten Planungsvorhaben und auf die Wirtschaftsmediation. Für die Umweltmediation wird von der Mediationsindustrie viel Reklame gemacht. Es hat indessen nur wenige Verfahren gegeben, und die waren kaum erfolgreich. [10]Jansen, Dorothea, Mediationsverfahren in der Umweltpolitik. Politische Vierteljahresschrift 38, 1997, 274-297. Ein Positivbeispiel aus Österreich: Kessen/König Eisenbahntrasse Gasteiner Tal, … Continue reading Es fehlt nicht an Beteuerungen, dass die Wirtschaftsmediation immer mehr an Fahrt gewinne und höchst erfolgreich sei. Doch Genaues weiß man nicht. Es gibt eine Menge Literatur, die die Wirtschaftsmediation anpreist, aber nur vereinzelt Berichte über erfolgreich verlaufene Verfahren (z. B. Kraus 1999). In einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse Coopers von 2005 [11]Im Internet anscheinend nicht mehr verfügbar. heißt es, dass das Interesse der Wirtschaft an Mediation stark gestiegen sei, betont wird jedoch zugleich der »offenkundige Widerspruch«, dass die Unternehmen zwar versuchten, Streitigkeiten zunächst durch Verhandlungen zu lösen, im Falle des Scheiterns aber meistens direkt den Weg zum Gericht wählten. [12]Eine qualitative Folgestudie aus dem Jahr 2007 versucht vergeblich, diese Inkongruenz zu erklären. Auch wenn man berücksichtigt, dass naturgemäß keine offiziellen Statistiken vorhanden sind und dass die einzelnen Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, müssten doch die Protagonisten konkretere Angaben über Art und Umfang der Verfahren machen können.
Eine befriedigende Erklärung für so viel Mediationsabstinenz sehe ich nicht. Am wenigsten taugt die übliche Begründung, das Publikum sei über die Vorzüge der Mediation nicht hinreichend aufgeklärt und verharre daher im Konfrontationsdenken, die sog. ignorance hypothesis. Dazu und über andere Erklärungen weiterführend McEwen/Milburn S. 25 ff.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Anscheinend wird Rsozblog gelegentlich gelesen. Jedenfalls bin ich aus dem Niedersächsischen Justizministerium auf die Einträge zur Mediation angesprochen und gebeten worden, am dem nächsten Konfliktmanagementkongress in Hannover teilzunehmen. Es handelt sich immerhin um den 12. Kongress dieser Reihe. Das ist Anlass, die Internetseite mit einigen Daten über die Vorläufer mitzuteilen: http://www.km-kongress.de/.

Der (mir unbekannte) Verband Integrierte Mediation unterhält eine gut gemachte Internetseite. Ganz interessant die Seite »Mythen der Mediation«.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nachtrag: Der Link, der bei der Abfassung des Artikels noch funktionierte, war im Oktober 2010 tot und die entsprechende Information von der Webseite des Contarini-Instituts an der Fernuni Hagen verschwunden. Die Zahl war wohl aus Prestigegründen erheblich übertrieben.
2 McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W.: Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, 1993, S. 23–36.
3 Hopt, Klaus J.; Steffek, Felix (Hg.): Mediation. Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 2008.
4 Hopt/Steffek, S: 77
5 Pißler in Hopt/Steffek S. 627-631
6 Kerner, Hans-Jürgen/Hartmann, Arthur, Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik für den Jahrgang 2005, mit Vergleich zu den Jahrgängen 2003 und 2004, sowie einem Rückblick auf die Entwicklung seit 1993, Bundesministerium der Justiz, Berlin2008.
7 Prause, Matthias, The Oxymoron of Measuring the Immeasurable: Potential and Challenges of Determining Mediation Developments in the U.S., Harvard Negotiation Review 13, 2008, 132-165.
8 Galanter, Marc (2004) The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts 1, 459-570, 459 f.
9 Stipanowich, Thomas J, ADR and the “Vanishing Trial”: The Growth and Impact of “Alternative Dispute Resolution”, Journal of Empirical Legal Studies 1, 2004, 843–912.
10 Jansen, Dorothea, Mediationsverfahren in der Umweltpolitik. Politische Vierteljahresschrift 38, 1997, 274-297. Ein Positivbeispiel aus Österreich: Kessen/König Eisenbahntrasse Gasteiner Tal, Zeitschrift für Konfliktmanagement 2002, 128 f.
11 Im Internet anscheinend nicht mehr verfügbar.
12 Eine qualitative Folgestudie aus dem Jahr 2007 versucht vergeblich, diese Inkongruenz zu erklären.

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Luhmann zur geschlechtsneutralen Sprache

Die FAZ hat am 30. 9. 2009 einen angeblich bisher unveröffentlichten Text von Niklas Luhmann über »Das Deutsch der Geschlechter« gedruckt. Noch steht der Text frei im Netz. Später wandert er vermutlich ins kostenpflichtige Archiv.
In dem Text befasst Luhmann sich mit der sprachlichen Gleichbehandlung der Frauen. Der Text ist witzig. Aber er zeigt einmal wieder, dass die systemtheoretische Aufzäumung wenig bringt. Wenn man die beiden mittleren Absätze (»Wer beschreibt wen?« und »Die Bedeutungsebene«) einfach streicht, verlieren die Ausführungen wenig.

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Ungerechtigkeitserfahrungen als rechtspädagogischer Türöffner

In der Festschrift für Manfred Seebode (2008) findet sich ein Aufsatz von Erhard Kausch mit dem Titel »Ungerechtigkeit, Unrecht und Unglück – Einige Anmerkungen zum Thema Gerechtigkeit aus Anlass studentischer Erfahrungen von Ungerechtigkeit« (S. 37-60), den ich aus verschiedenen Gründen mit Interesse gelesen habe, etwa weil er
– die Gerechtigkeitsfrage von der Unrechtseite her anpackt,
– die Unterscheidung von Ungerechtigkeit und unrecht expliziert und
– die Bedeutung sozialpsychologische Gerechtigkeitsforschung betont.
Interessiert hat mich der Aufsatz aber noch aus einem anderen Grunde. Obwohl ich ja die Rechtspädagogik als Thema inzwischen abgehakt habe, ist mir doch der pädagogische Einstieg aufgefallen, über den Kausch berichtet. Ich zitiere:

In einer Reihe von interdisziplinären Seminaren zu sozial- und rechtsphilosophischen Themen wurden die Studierenden zur ›Einstimmung‹ und, um etwas über ihr Verständnis von Gerechtigkeit zu erfahren, aufgefordert, sich zu folgenden Fragen kurz schriftlich zu äußern:
1. Wann und aus welchem Grund haben Sie das letzte Mal ungerecht behandelt gefühlt?
2. Welches war die schlimmste Ungerechtigkeit, die Ihnen bisher widerfahren ist?
3. Welches ist Ihrer Meinung nach die größte Ungerechtigkeit der letzten Jahre ganz allgemein gewesen?

Es war ein Vergnügen zu lesen, wie Kausch die (für mich teilweise überraschenden) Antworten reflektiert. Ich bin danach ziemlich sicher, dass man mit dieser kleinen Fragenbatterie viele Lehrveranstaltungen erfolgreich eröffnen kann. Sie gehören in jede rechtspädagogische Rezeptsammlung.

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