Die Rückkehr des typischen Gewohnheitsverbrechers

5 % der Männer und 1% der Frauen haben die Veranlagung zum Gewohnheitsverbrecher. Das entnehme ich der Pressemitteilung der Ruhr-Universität, mit der eine Veröffentlichung des Psychiaters Boris Schiffer angekündigt wird, die im Mai im Forschungsmagazin RUBIN der Ruhr-Universität erscheinen soll. Die Überschrift der Ankündigung lautet »Der Prototyp des Verbrechers«. Dem ehemaligen Kieler Studenten, der noch Georg Dahm in der Vorlesung erlebt hat, stößt dessen Tätertypenlehre auf, nach der das Strafrecht nicht (nur) auf rechtswidrig schuldhafte Tat, sondern auf einen bösen Charakter reagieren sollte. Im Hintergrund stand das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. 11. 1933, das für gefährliche Gewohnheitsverbrecher eine Strafverschärfung und die obligatorische Anordnung der Sicherungsverwahrung vorsah. Hellmuth Mayer, von dem auf Rsozblog in letzter Zeit wiederholt die Rede war, hat die Sicherungsverwahrung stets als eine grausame Maßnahme bekämpft. Da ist sie nun wieder, » Die ewige Versuchung des Täterstrafrechts«[1]. Auf die Reaktionen bin ich gespannt.


[1] Klaus Lüderssen, Die ewige Versuchung des Täterstrafrechts, Kritische Justiz 39, 2006, 361-367.

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Digitalisierung verstärkt die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation und erschwert den Zugang zum Recht

Heute, am Tag der Internetsicherheit, ausgerufen von der Europäischen Union, kommen die Schattenseiten der Digitalisierung in den Blick. Digitalisierung befestigt soziale Ungleichheit und erschwert den Zugang zum Recht. Dafür braucht man gar nicht erst nach Spanien zu schauen, wo die Rentner gegen das Online-Banking aufbegehren. Das ist nicht nur ein Altersproblem. Es geht vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die mit der Digitalisierung wächst.

Allerdings hinken die Alten mit der Internetnutzung hinterher:

Ich bin alt. Aber ich bilde mir ein, noch immer digifit zu sein. Anfang der 1980er Jahre war ich der erste in meiner Umgebung mit einem eigenen PC, einem Kaypro II mit dem CPM-Betriebssystem und zwei Floppy-Disk-Laufwerken mit 195 KB Speicherkapazität.

Das Textverarbeitungsprogramm hieß damals Wordstar. Da musste man noch einige Grundeinstellungen wie z. B. die Seitenränder direkt in das Programm eingeben. Ich habe dann alle Umstellungen auf die neueren Betriebssysteme, zuerst MSDOS und dann Windows mit seinen verschiedenen Versionen mitgemacht. Mein erstes Literaturverwaltungsprogramm habe ich mir mit dBase selbst zusammengebastelt. Leider – so muss ich heute sagen – habe ich irgendwann das wunderbare Textverarbeitungsprogramm Nota Bene zugunsten von Word verlassen. Auch den Wechsel zu cloudbasierten Diensten habe ich hinter mir. Noch in den 1980er Jahre gab es in Bochum die erste Tagung, bei der mit Hilfe der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in St. Augustin, die damals mit der Digitalisierung der Justizstatistik befasst war, Daten fernübertragen wurden.[1] Als Direktor des Zentralen Rechtswissenschaftlichen Seminars das erste JURIS-Terminal in Betrieb genommen und für Studenten zugängliche PC aufgestellt. Später habe ich für die Vereinigung für Rechtssoziologie eine Webseite eingerichtet, die – völlig veraltet – immer noch im Netz steht. Meine alte Lehrstuhlseite habe ich bis 2009 noch selbst gepflegt. Noch immer betreibe ich mit RSOZBLOG.de und Rechtssoziologie-online aktiv zwei Internetseiten. Nach alledem bilde ich mir ein, noch immer einigermaßen digifit zu sein. Aber nun bin ich doch mit der Steuererklärung mit dem neuen Mein Elster-Programm vorläufig gescheitert.

Ein Freund, der als Steuerberater zugelassen ist und dem ich davon erzählt habe, hat mir erklärt, er selbst wende sich an ein größeres Büro, um seine eigene und die Steuerklärungen seiner (wenigen) Mandanten abzugeben. Als ich mich heute am Tag der Internetsicherheit wieder bei Mein Elster einloggen will, verlangt das Programm, dass ich zuvor Java aktiviere. War nicht dieses Programm grade als Einfallstor für Computerhacks ins Gerede gekommen?

Keine Frage: Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Das Online-Banking bei der Commerzbank funktioniert erstklassig. Die Steuererklärung mit dem alten Elster-Programm lief ganz gut, und mit dem neuen Programm werde ich es auch noch schaffen. Aber es geht nicht um mich, der ich täglich so lange vor dem PC sitze wie andere vor dem Fernseher. Es geht auch nicht allein um Internetzugang und die Kompetenz zum Umgang mit kleinen und großen Endgeräten. Es geht wie gesagt vielmehr um die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation, die James S. Coleman schon vor Jahrzehnten für so grundlegend ansah, dass er von der asymmetrischen Gesellschaft sprach[2]. Mit der Digitalisierung ist die Differenz gewachsen, und sie wächst weiter.

Von den acht Merkmalen dieser Differenz, die ich in Rechtssoziologie-online § 76 VI. aufgezählt habe, ist besonders die Außenkommunikation betroffen.

Die alten Kommunikationswege – Präsenz, Brief, Telefon –, die jedermann einfach und kostengünstig zur Verfügung standen, sind unbrauchbar geworden. Sieht man einmal vom stationären Einzelhandel ab, so kommuniziert der Bürger heute mit Behörden und Firmen aller Art in der Hauptsache elektronisch. Der immer noch relativ einfache Email-Kontakt funktioniert in vielen Fällen nicht mehr. Organisationen verlangen, dass man sich auf ihren Webseiten anmeldet. Für den Kontakt genügen nicht Name und Anschrift, sondern es wird nach Passworten und nach vielstelligen Kunden- oder Geschäftsnummern gefragt. Das Individuum muss sich durch eine mehr oder weniger übersichtliche Internetseite durchklicken. Es kann sein Anliegen nicht frei formulieren, sondern nur vorformulierte Antworten ankreuzen. So ist die Kommunikation einseitig kanalisiert. Einen Sachbearbeiter bekommt man nicht mehr zu Gesicht und auch nicht mehr ans Telefon. Behörden und Unternehmen verbergen ihre Durchwahltelefonnummern und bieten nur noch eine Servicenummer an, die in ein Callcenter führt und dort, meistens nach Wartezeiten, oft mit einem automatisierten Sprachdialogsystem beginnt. Personen- oder ressortbezogene Mailadressen bleiben ebenso wie die Telefonnummern verborgen. In Behörden sind persönliche Vorsprachen nur noch nach elektronischer Terminvergabe möglich. Vom Bürger-Individuum wird verlangt, dass es eine Mailadresse unterhält, obwohl es sie aktiv kaum noch nutzen kann. Die Mailadresse dient nur noch den Organisationen als Identifikationsmerkmal und als Zugangskanal. Wenn man heute am Tag der Internetsicherheit in den Zeitungen liest, wie gefährlich der Umgang mit der Email ist, wünscht man sich den guten alten Briefkasten zurück. Man kann seine Email-Adresse aber auch nicht einfach wechseln. Damit hätte man sich aus vielen Diensten ausgesperrt.

Unter dem Thema »Zugang zum Recht – zugängliche Rechte« haben die deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen für 2023 eine Tagung angekündigt. Ich kann nur hoffen, dass dort auch die Erschwerung des Zugangs zu rechtlichen Dienstleistungen durch die Digitalisierung thematisiert wird.

Nachtrag vom 11. 2. 2022: Auch diese Untersuchung von Herbert Kubicek über »Internetnutzung älterer Menschen in Bremen und Bremerhaven« geht davon aus, dass es allein darum gehe, der »Alterslücke« bei der Digitalisieung auf der Nachfrageseite beizukommen. Aber es geht nicht um digitale Teilhabe, sondern um digitale Überwältigung der Bürger durch Bürokratie und Wirtschaft.


[1] Damals war die vom Bundesministerium der Justiz veranlasste #Strukturanalyse der Rechtspflege« in vollem Gang. JURIS war im Aufbau. Im BMJ stand vor allem Dieter Strempel dahinter, aus der GMD ist mir Hellmut Morasch unvergessen. Aus der umfangreichen im Verlag des Bundesanzeiger erschienenen Schriftenreihe »Rechstatsachenforschung« sei hier nur der von Herbert Fiedler und Fritjof Haft herausgegebene Band »Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern« angeführt.

[2] James S. Coleman, The Asymmetric Society, 1982.

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Sprache im Coronastress

Die ungewohnte Vielzahl der Telefon- und Videokonferenzen bringt es mit sich, dass Politiker und Journalisten von solchen Konferenzen nur noch als von einer Video- usw.-Schalte reden. Das ist hier zum Anlass eines Familienstreits geworden. Man findet diese Ausdrucksweise scheußlich. Ich bin der einzige, der sie zu schätzen weiß. Die Substantivierung mit Hilfe der Ung-Endung ist doch ein eher unschöner Zug der deutschen Sprache. Da muss man über den Wandel froh sein. Es braucht es nur ein wenig Fantasie, um die weitere Entwicklung zu ahnen. Bald werden analoge Wortbildungen auftauchen. Ich freue mich schon auf Verwalte für Verwaltung, Hafte für Haftung und Spalte für Spaltung. Und auch im Alltag wird man sich von der hässlichen Endung befreien. Wir dürfen so schlanke Ausdrücke erwarten wie Quitte für Quittung, Sitze für Sitzung und Zeite für Zeitung.

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Verträge im Coronastress III

Heute hat der BGH über die Mietzahlungspflicht bei coronabedingter Geschäftsschließung entschieden[1], und zwar, »dass im Fall einer Geschäftsschließung, die aufgrund einer hoheitlichen Maßnahme zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erfolgt, grundsätzlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räumen auf Anpassung der Miete wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betracht kommt.« Für den Maßstab der Mietanpassung verweist das Gesetz auf »alle Umstände des Einzelfalles«. Dazu gibt das Gericht den Hinweis, dass auf Seiten des Mieters primär auf den Umsatzrückgang für die Zeit der Schließung abzustellen sei, und zwar nur den Umsatz des konkreten Mietobjekts, nicht dagegen auf einen möglichen Konzernumsatz. Der zweite Hinweis: Es dürfe nicht zu einer »Überkompensierung« der Verlust etwa durch öffentliche Hilfen kommen. Und drittens sind natürlich die Nachteile des Vermieters zu bedenken.


[1] Urteil vom 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen II

Eine Grundfrage jeder Anthropologie geht dahin, ob der Mensch »von Natur aus« gesellig sei. Mayer gibt schon mit dem Titel seines Buches die positive Antwort: Zur »vitalen Grundstruktur« des Menschen gehört ein »Sozialdrang«. Die Antwort wird doppelt qualifiziert. Die Lebensform des Frühmenschen ist der Kleinstamm mit Arbeitsteilung. Diese Form wirkt auch im modernen Menschen noch nach. Offen bleibt, wie diese Nachwirkung gesichert ist, ob sie genetisch oder sozial tradiert wird. Die neuere Vorstellung epigenetischer Vererbung kannte Mayer noch nicht. Er richtet den Blick zurück auf den »Frühmenschen« und erschließt die »vitale Grundstruktur« aus historischen und prähistorischen Reminiszenzen. Das ist eine ebenso verbreitete wie anfechtbare Methode. Heute weiß man, dass genetische Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben.[1] Wie lange genetische, epigenetische oder soziale Prägungen halten, ist unklar. Mayer ist davon überzeugt, dass es eine »vitale Grundstruktur« gibt und dass sie über die Jahrtausende hält. Aber – das ist der springende Punkt seiner Anthropologie – alle Prägungen sind nur Startkapital oder Schulden an die tierische oder frühmenschliche Vergangenheit. Das Bewusstsein und seine Äußerungen als »objektiver Geist« ändern alles. Alle Antriebe, Emotionen oder Verhaltensmuster müssen nicht, aber sie können den Weg durch das Bewusstsein nehmen. Sie wirken – um es mit der Metapher zu sagen, die ich schon im letzten Eintrag verwendet habe – wie Rückenwind oder Gegenwind beim Fahrradfahren. So ist es auch mit der geselligen Natur des Menschen.

Dabei vermeidet Mayer jede Theoretisierung der Beziehung zwischen Körper und Geist. Er betont die »Doppelnatur des Menschen, der zugleich als Tier und als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß.« Der Kleinstamm bildet die elementare Form der Gesellung. Den haben wir anscheinend immer noch in den Knochen. Das könnte erklären, was in der Psychologie als In-Group-Mechanismus und in der Soziologie als Othering geläufig. Was man heute »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«[2] nennt, wäre dann nur die Kehrseite der ursprünglich geselligen Natur des Menschen. Der moderne Kampf für die Überwindung dieser Grenze ist eine geistige Errungenschaft. Er leidet darunter, dass zu bekämpfende Phänomen als (nur) sozial geprägt vorschnell in eine moralische Ecke gestellt wird. Das ist schwarze Pädagogik. Von Mayer kann man lernen, das es gilt, nicht zu tadeln, sondern zur Nächstenliebe aufzurufen. Dazu aus den nachfolgenden Zitaten vorweg:

»Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues.«

Es folgen weitere Zitate aus dem Originaltext:

»Nur wenige Tiere leben solitär, begnügen sich also mit vorübergehender geschlechtlicher Begegnung. Die meisten Tiere leben sozial, wobei recht erhebliche Sozialleistungen zustandekommen. [31]

Das soziale Verhaltensinventar ist zu reich gegliedert, als daß es von einem einzigen Strukturelement ausgelöst und gesteuert werden könnte. Ein solcher Antriebsmechanismus müßte teleologische Fähigkeiten haben, was nur Vitalisten glauben können. [35]

Die einfachste Form aller Sozialbindungen finden wir in der Brutpflege. [36]

Die Menschheit ist ohne Zweifel eine primär – nicht etwa sekundär – gesellig lebende Species. Die sozialen Antriebe ergeben insgesamt einen sehr starken Sozialdrang, der sich nicht selten bis zur Aufopferung des Einzelnen steigert. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die Menschen sich untereinander feindlich oder gar aggressiv gegenüberstünden. Dem Menschen eignet aber zugleich ein individueller Selbstbehauptungswille, wie ihn vielleicht in dieser Stärke keine andere gesellig lebende Art besitzt. Im Miteinander und Gegeneinander dieser beiden hauptsächlichen Teilstrukturen entfaltet sich das menschliche Sozialleben. [58]

Der Sozialdrang. – Geselligkeitstrieb ist ein viel zu schwacher Ausdruck – ist dem Menschen sowohl in seiner vitalen Grundstruktur mitgegeben als auch in seinem geistigen Wesen angelegt.

  1. Der vitale Sozialdrang wirkt schon vor jeder Reflexion. Vielfach ist sich der Mensch dieses seines Dranges gar nicht bewußt, wenn er ihn sich natürlich auch bewußt machen kann. Die stammesgeschichtliche Herkunft erweist den Menschen wie auch die Primaten als soziales Tier. Man hat wohl mit Recht gesagt, ein einzelner Schimpanse sei gar kein rechter Schimpanse. Der Sozialdrang ist die Voraussetzung der Homination. Wären nicht bereits die Prähominiden von diesem Drang erfüllt gewesen, wäre er nicht durch Selektion gesteigert worden, so hätte es niemals den Menschen, homo sapiens geben können. Als Einzelexemplar wäre der Mensch ein sehr schwaches und hilfloses Geschöpf, von der Natur weder zu wehrhaftem Kampf gerüstet noch zu schneller Flucht befähigt. Hätte er erst auf seine Bedürftigkeit reflektieren müssen, um sich sekundär zu Gruppen zusammenzuschließen, so wäre er längst ausgerottet worden, bevor ihm Gruppenbildung hätte gelingen können. [59] Denn die Natur hat den Menschen zum gefährlichen Leben in der Steppe gedrängt, wo er sich Raubtieren, namentlich Raubkatzen gegenüber behaupten mußte. Weil der gesellige Mensch von Haus aus in der Gruppe wohl versorgt und mächtig war, so mußte die Selektion ihm keine natürlichen Waffen und keinen panikartigen Fluchtinstinkt anzüchten, welche beide den Weg zum homo versperrt hätten.

Baumaffen haben es verhältnismäßig bequem. Gefährliches Raubzeug kann ihnen kaum nachklettern. Sie können sich also mit einem sehr primitiven Sozialleben begnügen. Bei den Pavianen ist dies bereits etwas anders. Aber nur der Frühmensch mußte sogleich die komplizierte Lebensform des Kleinstammes entwickeln. Wir heben einige Grundelemente vorläufig hervor, wie sie sich in befriedigenden Hypothesen darstellen, welche durch Beobachtungen an Wildbeutern und anderen Primitiven wahrscheinlich gemacht werden. Der Stamm muß immerhin so menschenreich sein, daß er eine hinlängliche Anzahl von Männern zum Kampf gegen Raubwild und zur Jagd auf Großtiere herausstellen kann. Nur das Großwild liefert eine für den Stamm genügende Menge Fleisch. Die Mammutjagd ist denn auch schon für sehr frühe Zeiten durch Funde erwiesen und der rezente Buschmann jagt heute noch die Giraffe. Solche Jäger müssen unter sich in fester Kameradschaft zusammenstehen, also in einem Männerbund, in welchem jeder grundsätzlich den gleichen Rang des Kriegers und Jägers besitzt, unbeschadet der Autorität des möglicherweise charismatisch vorgestellten Vorkämpfers. Nur unter dieser Voraussetzung genügt eine etwas gesteigerte Schimpansenintelligenz dazu, den Kampf mit dem Raubwild aufzunehmen und Großtiere zu jagen. Der Massaijüngling von heute erlegt zwar als Einzelkämpfer den Löwen, aber eben mit dem eisenbeschlagenen Speer. Der Frühmensch konnte nur in der Gruppe abwehren und jagen. Hatte er aber erst einmal gelernt, mit Feuer die Spitze der Holzstangen zu härten, so konnte er dem Raubzeug so schrecklich werden, daß auch heute noch die Raubkatzen auf freier Strecke den aufrecht gehenden Mann fürchten. Der Stamm kann übrigens nur leben, wenn die Frauen eine intensive Sammeltätigkeit aufnehmen. So bereitet sich sehr früh eine strenge Arbeitsteilung der Geschlechter vor, weil sie auch den Bedürfnissen der tragenden, gebärenden und stillenden Frau entspricht. Die frühzeitig einsetzende Hypersexualisierung nötigt zum dauernden paarweisen Zusammenleben. [61] Die lebenswichtige Kampfkameradschaft der Männer läßt keinen Boß aufkommen, der alle Weibchen für sich reklamiert.

  1. Auch die geistige Verfassung des Menschen ist auf soziale Verbindung ausgerichtet, wie auch Hugo Grotius den appetitus societatis nicht als Instinkt, sondern als geistige Bestimmung der Menschheit denkt. … Dabei kommen freilich sehr verschiedene Lösungen vom Nein bis zum Ja vor. Aber gewöhnlich wird die naive Verbundenheit doch auch klar gedacht und bejaht. Sentimentales, vernünftiges und auch intellektuelles Verhalten steigern sich also wechselseitig. Die egoistische Reflexion auf die soziale Interdependenz ist eine geschichtlich späte Erscheinung. [63f]
  1. Sowohl der vitale Sozialdrang wie auch der geistige appetitus societatis beziehen sich zunächst auf die Gruppe, … . Erst auf sehr viel höherer geistiger Stufe wird der Gruppenfremde zum Nebenmenschen. Jesus von Nazareth sagte seinen judäischen Zeitgenossen mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wirklich etwas Neues. Vorher ist in allen ursprünglichen Rechten der Fremde rechtlos. Die Beschränkung des Sozialdranges auf die Gruppe entlarvt den Menschen dennoch nicht als aggressiven Bösewicht. Der naive Sozialdrang kann sich nämlich naturgemäß nur soweit durchsetzen, als soziales Zusammenleben überschaubar ist. Der Primitive denkt und fühlt über den Kleinstamm zunächst nicht hinaus, wenn auch der Wildbeuter sich auch fremden Stämmen gegenüber relativ friedlich verhält. Sozietät setzt sprachliche Verständigung voraus. Die Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch den Griechen vom ›Barbaren‹, der vermeintlich keine Sprache hat.« [64]

Fortsetzung folgt.


[1] VanessaVillalba-Mouco u. a. , Genomic Transformation and Social Organization During the Copper Age–Bronze Age Transition in Southern Iberia, Science Advances Vol 7 vom 17. 11. 2021.

[2] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heißt das Konzept des Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, mit dem das Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in jährlich wiederkehrenden Untersuchungen nach Rassissmus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganis-mus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, der Abwertung von Obdachlosen, Behinderten, Lang-zeitarbeitslosen und nach Etabliertenvorrechten fragt.

 

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Neue Zeitschrift: American Journal of Law and Equality

Inflation überall. Es gibt einmal wieder eine neue Zeitschrift, und zwar mit dem Titel American Journal of Law and Equality. Sie erscheint in Open Access bei MIT Press. Jedenfalls zwei von den drei Herausgebern sind so prominent, dass man den Neuling wohl beobachten muss: Martha Minow und Cass Sunstein. Der dritte im Bunde, Randall Kennedy (Harvard Law School), war mir bisher nicht bekannt.

Das erste Heft berichtet über ein »Symposium on Michael Sandel’s The Tyranny of Merit«. Sandels Buch nimmt zum Ausgang den Skandal um William Singer, der wohlhabenden Eltern gegen hohe Schmiergelder für ihre Sprösslinge den Zugang zu Eliteuniversitäten verschaffte, und verallgemeinert diesen Skandal dahin, dass das Leistungsprinzip im Erziehungssystem der USA von den reicheren Familien unterlaufen werde. Sandel stellt die Frage, ob es hier nur um eine Korrumpierung des Prinzips gehe oder ob das Prinzip als solche problematisch sei. Das eigentliche Problem findet er darin, dass das Leistungsprinzip die Reichen verführe, ihren Reichtum, wie auch immer sie ihn erworben haben, für moralisch gerechtfertigt zu halten. Das bedeutet umgekehrt, dass man denen, die es nicht geschafft haben, sagen kann: selbst schuld. Die Selbstgerechtigkeit der Reichen spiegele sich wiederum in dem populistischen Aufstand gegen die Eliten. Tatsächlich sei unter der Rhetorik der Chancengleichheit die Ungleichheit geradezu explodiert. Der amerikanische Traum, dass Talent und harte Arbeit zum Erfolg führten, sei an der Realität gescheitert. Es sei moralisch keineswegs selbstverständlich, dass Talent belohnt werden müsse. Die Meritokratie verschütte das Gefühl für Schicksal und Zufall. Demut sei angezeigt.

»A perfect meritocracy banishes all sense of gift or grace. It diminishes our capacity to see ourselves as sharing a common fate. It leaves little room for the solidarity that can arise when we reflect on the contingency of our talents and fortunes. This is what makes merit a kind of tyranny, or unjust rule.«

Vielleicht hatte Macron Sandels  Buch gelesen, bevor er im April die Schließung der ENA ankündigte. Das Buch[1] gibt jedenfalls reichlich Stoff zur Diskussion, insbesondere seine These, Bildung sei nicht das Allheilmittel gegen soziale Ungleichheit. Aber deshalb muss man nicht alles lesen, was dazu in der neuen Zeitschrift steht. Hilfreich ist schon die Rezension von Günther Nonnenmacher in der FAZ. Eine kurze Kritik der Kritik der Meritokratie (ohne Bezug auf Sandel) bietet der auch sonst bemerkenswerte Aufsatz von Philipp Kowalski, Geschlechterquoten im Kapitalgesellschaftsrecht Eine interdisziplinäre Analyse, Rechtswissenschaft 12, 2021, 148-183.


[1] Deutsch als Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, 2021.

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Hellmuth Mayer: Die gesellige Natur des Menschen I

Aus der Skizze einer Anthropologie aus dem damals aktuellen Anlass der großen Strafrechtsreform ist 1977 eine komplette Sozialanthropologie geworden: Die gesellige Natur des Menschen. Es handelt sich um die letzte Veröffentlichung des Autors. Darin findet noch einmal die ganze Persönlichkeit Hellmuth Mayers Ausdruck: Historisch gebildet und scharfsinnig, lebenserfahren und illusionslos, konservativ–liberal und rechtsstaatsfest, bekennender Protestant, dessen Nächstenliebe nicht zuletzt den Obdachlosen und hoffnungslos weggesperrten Sicherungsverwahrten galt.

Manche Stellen dem Buch von 1977 werden dem Leser von heute anstößig erscheinen. Zumal Leserinnen werden sich empören so, wenn es S. 39 heißt:

»Der einzige Zwang, der die Handlungsfreiheit der Frau wirklich einengt, ist der Zwang der Natur, nicht die angeblich patriarchalische Gewalt des Mannes. In diese Verhältnisse greift die moderne Emanzipation der Frau ein. … Die Emanzipationsbewegung übersieht aber, daß der Mann ebenso in den Familienzusammenhang eingebunden ist wie die Frau. Die emanzipatorischen Postulate sind darum ein Protest gegen die Natur.«

Diese und andere Passagen zur Frauenemanzipation sind in der Tat problematisch. Sie vernachlässigen die Wechselwirkung von Biologie und Sozialgeschichte in Gestalt der Folgen der industriellen Revolution für die familiäre Arbeitsteilung. Darauf werde ich vielleicht in einem besonderen Abschnitt über Mayers Ausführungen zur Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern eingehen. Mayers Pointe liegt in der anthropologischen These, dass Bewusstsein und in der Folge subjektiver und objektiver Geist sich überhaupt gegen die Natur stellen können und dass das unter anderem in der Frauenbewegung erfolgreich geschehen sei. Ein »zurück zur Natur« kommt daher auch für Mayer nicht in Betracht. Der »Protest gegen die Natur« ist wie Fahrradfahren bei Gegenwind. Es ist anstrengend, und es kommt darauf an, ob das Ziel die Anstrengung lohnt.
Ich werde nun kein Inhaltsreferat des Buches[1] liefern, sondern beschränke mich darauf, in diesem einige Fundstücke zu zitieren, die mir bemerkenswert, bedenkenswert oder gar behaltenswert erscheinen.
Heute beginne ich mit Zitaten zur vergleichenden Verhaltenslehre. Die bisherige Annahme der vergleichenden Verhaltenslehre, »der Mensch sei das nicht festgestellte Tier, ein Instinktmangelwesen, eine allen Inhalten offene Struktur« wird relativiert:

»Die neuere Verhaltensforschung legt großen Wert darauf, daß man im vitalen menschlichen Bereich ziemlich fest ausgeformte Instinkte finden kann wie etwa den Suchreflex der Säuglinge, etwa auch die Äußerungsformen, z. B. das Lächeln. Für uns ist wichtiger, daß auch im höheren Verhaltensbereich vieles dem Menschen von Natur nahegelegt erscheint, andere Wege ihm erschwert oder geradezu versperrt sind. Eine völlig offene Struktur ist der Mensch keinesfalls, er besitzt vielmehr eine halbfertige Instinktstruktur, welche zwar große, aber doch nicht jede Freiheit zuläßt.« (S. 6)

»Als Naturwesen ist der Mensch ein Säugetier. Die menschliche Verhaltenslehre muß im Rahmen der vergleichenden Verhaltenslehre gesehen werden. Allerdings hat der Mensch die grundlegende Besonderheit, daß sein soziales Verhalten ohne introspektive Betrachtung nicht einmal zu beschreiben geschweige denn zu erklären ist. Der Mensch ist ein bewußtes Wesen. Sozial-relevante Verhaltensweisen kommen nur zustande, wenn die Antriebe im Bewußtsein verarbeitet wurden … .« (S. 7)

»Wir gehen von der Doppelnatur des Menschen aus, der zugleich als Tier und »als menschliche Persönlichkeit beschrieben werden muß. …
1. Als Tier der Mensch durch seine Leiblichkeit ausgewiesen. Auch sein neurales System erweist ihn trotz aller seiner Sonderheiten als Glied in der Säugetierreihe. Wir gehen daher von der Arbeitshypothese aus, daß die vitale Grundstruktur des Menschen zunächst mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu untersuchen ist.

2. Persönlichkeit ist der Mensch als subjektiver Geist, welcher durch die Leiblichkeit bedingt ist, diese aber zugleich in seinen Dienst stellt. Die Äußerungen des subjektiven Geistes reichen von den Anfängen halbbewußten Erlebens, also von den Empfindungen bis zu den höchsten geistigen Leistungen der Phantasie, des begrifflichen und produktiven Denkens, des bewußten verantwortlichen Willens, bis zum Gewissen und zur Selbstgestaltung der Persönlichkeit. … Die empirische Wirklichkeit des subjektiven Geistes, das Spiel der Gefühle und Empfindungen, der erlebten Antriebe und Handlungstendenzen läßt sich schlechterdings nicht von außen, sondern nur von innen, also introspektiv und analogisch verstehend erfahren.« (S. 8f)

»Nach uralter Vorstellung ist das Tier ganz, der Mensch wenigstens teilweise von Instinkten gelenkt. Der Begründer der allgemeinen vergleichenden Verhaltenslehre, Tinbergen, bezeichnet das Forschungsgebiet noch als ›Instinktlehre‹. Diese Bezeichnung ist aber insofern ungenau, als mindestens beim höheren Tier zu fragen ist, ob sein Verhalten nicht teilweise in Lernen und Nachahmung, ja sogar in einsichtigem Tun besteht. Außerdem ist die Bezeichnung Instinkt mit vitalistischen Vorstellungen belastet. Allerdings ist die Bezeichnung Verhalten auch nicht ideal und erinnert an den Irrtum des Behaviourismus, daß nur das bloß äußere Verhalten wissenschaftlich erforschbar sei. Nun sind aber beim Tier seelische Regungen zu vermuten, beim Menschen zum Verständnis seines äußeren Verhaltens unentbehrlich.« (S.19)

»Triebe sind erlebte Instinke.« (S. 23)

»Jedenfalls besitzen alle höheren Tiere die Disposition zu Nachahmungs-Lernhandlungen. Es finden sich sogar Beispiele angelernter Handlungen, wenn auch von verstandener Tradition kaum die Rede sein kann. Endlich kommen auch einsichtige, insbesondere einsichtige Lernhandlungen vor. Allerdings ist der Radius, in welchem sich die Tiere außerhalb des vorprogrammierten Regelsystems bewegen können, doch recht klein. … Aber daß diese Möglichkeit beim Tier überhaupt besteht, zeigt, daß es außer dem vorprogrammierten Verhaltenssystem auch Dispositionen zu Nachahmungs- und Lernhandlungen gibt und daß einsichtige Handlungen vorkommen. Die Existenz eines solchen Oberbaues zeigt grundsätzlich, daß es dem Prinzip eines Regelsystems nicht widerspricht, daß es von übergeordneten Zentren aus gelenkt werden kann. Anders ausgedrückt, ein Regelsystem kann darauf eingerichtet sein, gelenkt zu werden. Durch lenkende Eingriffe werden dann die vorgegebenen Instinkte nicht etwa ›frustriert‹. Diese Erkenntnis ist für den Vergleich von Tier- und Menschenverhalten wichtig.« (S. 29)

»Die entscheidende Besonderheit des Menschen besteht endlich darin, daß er Träger des subjektiven Geistes und damit Schöpfer des objektiven Geistes ist. … Wir betrachten die Phänomene des Geistes als empirische Gegebenheiten … . (S. 48)

»Grundstufe ist das menschliche Bewußtsein. Man darf auch beim höheren Tier Bewußtsein vermuten. Das menschliche Bewußtsein ist aber sehr viel reicher entwickelt als das tierische und befähigt zu bewußtem Willensentschluß, welcher beim Tier kaum vorkommt.« (S. 49)
[gegen Freud geerichtet]: »In Wahrheit stoßen wir nur an den neuralen Apparat, wo die Arbeit unseres Bewußtseins aufhört.« (S. 50)

[Fortsetzung folgt]


[1] Das Referat von Willsch liest sich wie eine buchhalterische Pflichtübung (Natalie Willsch, Hellmuth Mayer (1895-1980), S. 335-342).

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Widerruf: Jetzt gegen die Legalisierung von Cannabis

Mit der Aussicht auf eine Ampelkoalition rückt die auch von mir in einem Eintrag vom 4. 4. 2012 befürwortete Legalisierung des Cannabiskonsum näher. Die Nachträge zu dem alten Blogpost zeigen, dass sich meine Einstellung langsam geändert hat. Großen Anteil daran hatte meine Tochter, die mir über ihre Erfahrungen als Notärztin in einer Großstadt berichtet und mich mit medizinischer Literatur versorgt hat.

Das Thema ist ausdiskutiert. Ich wäre auch gar nicht in der Lage, noch einen ausgewogenen Bericht über die einschlägigen Erfahrungen und Argumente zu geben. Die Zukunft entwickelt sich ohnehin immer wieder anders als vorhergesehen[1]. Man muss sich entscheiden. Kurzum: Ich widerrufe. Ich will nicht länger für die Legalisierung von Cannabis eintreten.

Ich nutze diesen Eintrag als willkommene Gelegenheit zu einem Zitat aus dem Buch von Hellmuth Mayer »Die gesellige Natur des Menschen« (1977), das ich in anderem Zusammenhang gerade herangezogen habe. Der Abschnitt steht unter der Überschrift »Rauschtrank und Rauschgift-Ekstase« (S. 247f).

»1. Im europäischen Kulturkreis ist seit der Antike der Alkohol das vorrangige Mittel zunächst zur Beruhigung und Steigerung, dann aber auch zur Entrückung im Rausch. Die abendländischen Völker sind seit Jahrtausenden daran gewöhnt, mit dem Alkoholrausch zu leben, die sozialen Sitten sind auf Beherrschung und Steuerung des Rausches eingerichtet. Fremdländische Drogen, sog. Rauschgifte, sind in Europa vielleicht nur deshalb so gefährlich, weil keine hinreichenden Sitten zu ihrer Beherrschung ausgebildet sind. Allerdings sind harte Rauschgifte wie die konzentrierten Derivate des Morphium von vornherein gesundheitlich hoch gefährlich und führen bei dauerndem Genuß schnell zur Süchtigkeit und zum gesundheitlichen und geistigen Verfall. Dieses ist zwar beim Alkohol auch möglich, aber schädliche Wirkungen treten doch so langsam ein, daß die kulturellen Hemmungen meist noch zum Greifen kommen.

2. Wir befassen uns daher in erster Linie mit dem Alkoholrausch. Die Wirkung des Alkohols empfindet der Mensch zunächst als wohltätig. Individuation bedeutet den Zusammenschluß der menschlichen Gefühle und Strebungen in der Einheit der Person. Dieses Ziel erreicht der Mensch niemals völlig und leidet daher an seiner Widersprüchlichkeit. Namentlich junge Menschen kommen über ihre Hemmungen nicht so leicht hinweg. Die innere Freiheit wird getrübt durch Affekte, durch Schwäche und Abspannung. In allen diesen Fällen gilt der Alkohol als ›der Trank der Labe‹ (Schiller). Im Alkoholrausch wird aber auch die völlige Enthemmung gesucht, welche die Verbrüderung mit den Zechgenossen ermöglicht, also die verbindende Ekstase.

Kant schreibt: ›Alle stumme Berauschung, welche die Geselligkeit und Gedanken mitteilen, hat etwas Schädliches an sich.‹ Der individuelle mäßige Gebrauch kann aber wohltätige Arznei sein.

Bei allen Kriegervölkern wurde die Ekstase durch Genuß gemeinsamen Rauschtrankes bei Opfermählern gepflegt. Der Brauch wurde später in den Bierdörfern der studentischen Renommisten fortgesetzt, die kommentmäßigen Studentenkneipen waren und sind die letzten Ausläufer. Die Gefahren des Alkohols haben um 1900 eine Antialkoholbewegung ausgelöst, welche zeitweise sehr große Erfolge hatte. Die freiwillige Enthaltung ist auf jeden Fall sehr nützlich, das zwangsweise Verbot ist aber sehr gefährlich, weil das Verlangen nach Alkohol doch zu stark ist. Als in den USA eine Mehrheit von Frauen zusammen mit einer Minderheit von Männern den Männern das Trinken verbot (Prohibition), erwuchs aus dem Alkoholschmuggel eine Gangsterkriminalität, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Prohibition machte die harmlosen Alkoholika unerreichbar, so daß namentlich junge Menschen auf harte Spirituosen oder auch auf Drogen umstiegen.

Während der Alkoholgenuß bei mäßigem Verhalten die Persönlichkeit nicht verändert, kommt es bei anderen Drogen nicht nur zur Berauschung, sondern auch zur Einschläferung und zur Bewußtseinsveränderung. Opium mag in manchen Regionen, wo das Opium einheimisch ist und unter der Kontrolle gesellschaftlicher Bräuche steht, noch nicht sehr gefährlich sein. Die Meinungen gehen hier sehr auseinander. Gegenüber der Verharmlosung der Haschischprodukte sei aber doch an das historische Beispiel der Assassins erinnert. Assassin heißt an sich nur Haschischesser, in Erinnerung und Sprache der Franzosen wurde der Assassin zum Mörder schlechthin. Es kommt auch heute noch eine dauernde Abhängigkeit von Anführern in Betracht, welche Morde befehlen können, die der Haschischesser kaltblütig ausführt.

Alkoholkriminalität und Suchtkriminalität sind jedenfalls auch heute überaus groß. Man darf aber eben nicht vergessen, daß die Ekstase und damit auch die künstliche Ekstase ein Urbedürfnis der Menschheit befriedigt.«

Nachtrag — einige Literaturhinweise:

Cannabis Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V.

Celia Morgan u. a., Individual and combined effects of acute delta-9-tetrahydrocannabinol and cannabidiol on psychotomimetic symptoms and memory function.


[1] Dazu heute in der heimlichen Juristenzeitung der Bericht von Thomas Gutschker »Vom Coffeeshop zum Drogenkrieg«.

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Eine Anthropologie für den Natural Turn

Der Natural Turn muss eine Anthropologie zugrunde legen. Aber welche? Meine Wahl fällt, wie bereits angekündigt, auf die Sozialanthropologie des Strafrechtlers und Kriminologen Hellmuth Mayer. Sie findet sich ausführlich in seiner letzten Veröffentlichung, einem Buch mit dem Titel »Die gesellige Natur des Menschen. Sozialanthropologie aus kriminologischer Sicht«, 1977. Kompakter und eindrucksvoller hatte Mayer seine Vorstellungen schon 1962 in dem Band »Strafrechtsreform für heute und morgen« formuliert als »anthropologische Grundlage« für das »Programm einer neuen Kriminologie« formuliert (dort S. 6-18). Nach dem Datum scheint Mayers Anthropologie hoffnungslos veraltet zu sein. In ihren Sachaussagen war sie umsichtiger und moderner die Soziologie ihrer Zeit und in ihrem Kern bleibt sie als eine geglückte Überwindung des Gegensatzes von Naturalismus und Sozialkonstruktivismus[1] aktuell. In den Literaturlisten etwa von Andrea Behrends oder Ulrich Bröckling finde ich nichts Besseres.

Mayer sah in einer hinreichenden Klärung der anthropologischen Voraussetzungen die Basis der Kriminologie. Die anthropologische Frage sei »zuerst von Lombroso aufgeworfen worden. Die Forschung hat mit Recht die von Lombroso angebotene Lösung verworfen, leider aber das Sachproblem liegen lassen. Weder die gründlichste Negation noch die bequeme Auskunft der üblichen Anlage-Umwelt-Theorie geben eine positive Antwort … .«. Mayer suchte die Antwort in einer »vergleichenden Verhaltenslehre«, welche »die naturwissenschaftlich erfaßbare Basis des Menschen als kausalmechanische Regelstruktur« begreift. Biologische und psychologische Verhaltensbeobachtung reiche indessen nicht aus. Ein »Gesamtbild menschlichen Verhaltens« lasse sich erst mit Hilfe der »Sozialhistorie [zeichnen], welche sechs Jahrtausende mit hinreichender Sicherheit überschauen kann. … Beide Betrachtungsweisen, sowohl die der naturwissenschaftlichen Verhaltensforschung als auch die der geisteswissenschaftlich-historischen Empirie, sind klar zu unterscheiden und dann zu verbinden.«

Mayers Texte lesen sich wie die Vorwegnahme einer Auseinandersetzung mit Steven Pinkers »Blank Slate«[2]. Zwar wendet sich auch Mayer gegen die Vorstellung des Menschen als tabula rasa. Allerdings fehlt Pinkers Polemik. Vor allem aber ist Mayer weit entfernt von dessen mechanistischen Vorstellungen über die Rolle der Gene bei der Bestimmung menschlichen Verhaltens. Von biologischem Determinismus kann bei ihm keine Rede sein. Stattdessen öffnet er eine langfristige sozialhistorische Perspektive auf die Pfadabhängigkeit des Verhaltens in den Lebensbereichen, für die Soziobiologie und evolutionäre Psychologie Natürlichkeit in Anspruch nehmen, also für Geschlechterbeziehungen und Sexualität, Verwandtschaft, Gruppenbildung, Territorialverhalten, Aggression, Gewalt und Kriminalität.

Auf das Buch von 1977 werde ich später eingehen. Einen Eindruck von Mayers Sozialanthropologie sollen zunächst Zitate aus »Strafrechtsreform für heute und morgen« verschaffen:

»[S. 6] Die Anthropologie ist in diesem Sinn ebensowohl eine naturwissenschaftliche wie geisteswissenschaftliche Disziplin. …

Der Mensch muß … zuerst einmal als bloßes Naturwesen, [S. 7]d. h. als Tier innerhalb der Tierreihe … gedacht werden. … Diese – in ihrem Bereich – wohlberechtigte zoologische Betrachtung des Menschen erbringt einen äußerst wichtigen negativen Ertrag, indem sie den Begriff des [schöpferisch gedachten] Instinktes entthront. … Es gibt in Wahrheit nur eine große Anzahl relativ stereotyper Automatismen oder Triebreaktionen, die im Effekt ganz bestimmte Zwecke bzw. Teilzwecke erreichen, ohne sie jedoch final anzustreben. Diese Automatismen werden ihrerseits bereitgestellt innerhalb eines bestimmten Appetenzverhaltens, in das sie eingeordnet sind, das aber selber keine bestimmten Handlungen vorschreibt. Diese Automatismen, d. h. dem Appetenzverhalten zugeordneten Endinstinkte sind festgelegte Schemata, die durch bestimmte Signalreize ausgelöst werden, so daß bestimmt festgelegte Handlungen oder Handlungsketten ausgeführt werden. … Dieser Handlungsplan ist starr und von sich aus keiner anpassenden Wahl fähig, er schreibt in bestimmten Reizsituationen auf bestimmte äußere Signale hin ein inhaltlich bestimmtes Verhalten vor.

… Mit dieser Instinktstruktur ist ein vielfaches Fehlverhalten unvermeidlich verbunden. Die Signalsituation garantiert nämlich im Einzelfall nicht, daß die gemeinte reale Situation vorliegt. …[S. 8] Die Art überlebt nur deshalb, weil die Instinktstruktur auf die gewöhnliche ökologische Umwelt eingestellt ist, in welcher die Signalsituationen hinreichend häufig mit der real intendierten Situation übereinstimmen. In diese ökologische Umwelt ist das Tier gewissermaßen eingesperrt. Ist die Diskrepanz zwischen der Instinktstruktur und der Variabilität der Umwelt groß, so kann die Art nur durch eine sehr große Fortpflanzungsrate erhalten werden.

Im Sinn der vergleichenden Verhaltenslehre besteht die besondere biologische Situation des Menschen darin, daß Triebe und Schemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, daß er also ohne einen festgelegten biologischen Handlungsplan zur Welt kommt.

… Der Mensch ist damit offen für jede denkbare Umwelt, soweit er sie physiologisch meistern kann. Er ist befreit von der Starrheit der Triebe und Schemata. Garantieren bereits beim Tier die Auslösesignale der Schemata nur in einer hinreichenden Zahl von Fällen, daß die real gemeinte Situation auch wirklich vorhanden ist, so würde der Mechanismus der Triebe und Schemata den heutigen Menschen unfähig machen, seine ständig wechselnden und höchst komplizierten Lebensaufgaben zu erfüllen. Diesen Aufgaben vermag er nur durch Lern- und Wahlhandlungen zu genügen.

… In bezug auf das abnorme Verhalten ist für die Situation des Menschen wesentlich, daß er aus seinem phylogenetischen Instinktgefüge, aus seiner Natur, [S. 9] herausgetreten ist, indem er sich durch die Erfindung künstlicher Waffen aus einem Pflanzenfresser zu einem Raubtier umgeschaffen hat. Es fehlt ihm also nach seiner Herkunft das für das Sozialverhalten der Raubtiere wichtigste Schema, nämlich das zwingende Demutschema, welches die Raubtiere nötigt, die Tötung des Artgenossen zu vermeiden. Nur die Raubtiere nämlich unterlassen die Tötung der Artgenossen mit Sicherheit, aber nicht etwa vermöge eines wählenden Instinktes, sondern kraft eines angeborenen Handlungsschemas, welches durch das Signal der Demuthaltung ausgelöst wird. Nimmt der unterlegene Wolf diese Haltung an, bietet er wehrlos den Hals dem tödlichen Biß dar, so kann der Sieger nicht zubeißen, sondern reagiert seine Wut durch Schüttelbewegungen in die Luft ab. Verläßt aber das unterlegene Tier die Schutzhaltung zu früh, so wird es totgebissen. Übrigens verhalten sich die Pflanzenfresser in der Frage der Tötung der Artgenossen nicht völlig einheitlich. Stärker bewaffnete Säugetiere führen untereinander im allgemeinen nur Kommentkämpfe durch, bei manchen Pflanzenfressern ist aber die wechselseitige Tötung der männlichen Tiere untereinander im Plan der Natur vorgesehen, wobei denn nur das überlebende stärkste Tier zur Fortpflanzung gelangt. … Die in der ganzen zivilisierten Menschheit heute anerkannte Moral der allgemeinen Humanität reicht weit über alle natürlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens einer Tierart hinaus.

Es beruht also gerade die Möglichkeit des höheren menschlichen Lebens darauf, daß der Abbau der Instinkte und Triebe ihn von einem biologisch festgelegten sozialen Handlungsplan befreit. Mit dieser Erkenntnis ist die rein naturwissenschaftliche Anthropologie am Ende ihres Weges angelangt.

Erst das eigentlich Menschliche des Menschen, seine geistig-psychische Struktur befähigt ihn zur Lösung der sozialen Aufgaben, [S. 10] die außer dem Menschen kein anderes Lebewesen sich stellt. Sicherlich wurzelt dieses Humanum in biologischen Tiefenschichten, ohne daß es aber aus diesen abgeleitet werden könnte, da es etwas schlechthin Neues darstellt. Dieses Neue ist das »Ich«, die sich selbst gestaltende bewußte Persönlichkeit, die ihre geistigen Inhalte entnimmt aus den im sozialen Leben vorhandenen objektiven geistigen Gehalten, oder doch in Verbindung mit diesen schafft oder umgestaltet. Subjektiver und objektiver Geist sind nur der »geschichtlichen« Betrachtung, nicht dem naturwissenschaftlichen Denken erreichbar, sind aber nicht minder real als die Gegenstände der Naturwissenschaft.

[Der Mensch] ist zwar keiner Wachstafel zu vergleichen, in welche man alles eintragen könnte, wie das 18. Jahrhundert gelegentlich wähnte. … Aber keine Persönlichkeitsstruktur weist an sich auf bestimmte soziale Inhalte hin. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß das Verbrechen aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zustande komme, ist deshalb schief, weil sie den Irrtum nahelegt, als sei der Mensch vermöge seiner Anlage überhaupt auf irgendeinen bestimmten sozialen Weg gewiesen, der dann nachträglich und von außen her von der Umwelt irgendwie beeinflußt oder abgelenkt werden könnte. In Wahrheit empfängt der Mensch alle seine sozialen Handlungsantriebe, sozialen Handlungsvorstellungen und sozialen Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben mit anderen. …

[S. 12] Grundsätzlich muß zuletzt betont werden, daß beim Menschen alle Triebe und Schemata, alle geistig-seelischen Strebungen den Weg durch das bildende Bewußtsein nehmen. Dieses bildende Bewußtsein ist eingebettet in den objektiven Geist, d. h. in die verstehende Gemeinschaft der Menschen. Die Frage, wie das Wunder des normalen sozialen Zusammenlebens zustande kommt, ist daher erst von der Soziologie zu beantworten.

Die Antwort auf die so gestellte Frage lautet: Der Mensch kommt zu planvollem Handeln dadurch, daß er als geistiges Sozialwesen dazu veranlagt ist, das in einer historischen Gemeinschaft herrschende Gemeinschaftsurteil sich anzueignen, welches in der normalen Reizsituation für den Einzelnen denkt und durch den Einzelnen hindurch handelt. Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Handlungsinhalte selbst, kein Einzelner vermöchte jemals den Weg von der Einzelerfahrung bis zum sinnvollen Handeln für sich allein zurückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur die Sozialvorstellungen der Allgemeinheit auf den Einzelfall an.«

Soweit die Zitate (kursiv wie im Original). Es lohnt sich, die S. 6- 18  in Mayers »Strafrechtsreform für  heute und morgen« vollständig nachzulesen. So gewinnt man nicht zuletzt auch einen Eindruck von dem lebendigen Schreibstil des Autors.

[Fortsetzung folgt.]


[1] Wer eine aktuellere Darstellung dieses Ggensatzes und der Möglichkeiten einer Überbrückung sucht, sei auf den schönen Aufsatz von Sebastian Schüler, Zwischen Naturalismus und Sozialkonstruktivismus: Kognitive, körperliche, emotionale und soziale Dimensionen von Religion, Zeitschrift für Religionswissenschaft. 2014. S. 5-36, verwiesen.

[2] Steven Pinker, The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York, NY 2002/2016 (Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur, 2003/2017); Kurzfassung: Pinker, The Blank Slate, The General Psychologist 41, 2006, 1-8.

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Mangolds Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments

Als ich die Reihe zum Natural Turn begann, war die Habilitationsschrift von Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht[1], noch nicht verfügbar. Ihre Kritik des Natürlichkeits- und Normalitätsarguments will ich hier nachtragen:

»Rechtliche Regelungen und Praktiken wirken in erheblichem Maße an der Etablierung und Aufrechterhaltung von Kategorisierungen mit, was freilich invisibilisiert wird, indem die Natürlichkeit und Vorgängigkeit der kategorisierenden Unterscheidungen behauptet wird. In einem argumentativen Dreischritt werden diese kategorisierenden Unterscheidungen zwischen Menschen als ›natürlich‹ und ›normal‹ zugrunde gelegt, zu denen sich das Recht ganz ›neutral‹ verhalte. Das Argument der Natürlichkeit einer Unterscheidung zwischen Personengruppen besagt, dass diese vorfindlich sei, unbeeinflussbar von der Natur vorgegeben werde – etwa jene zwischen Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung. Diese Natürlichkeitsbehauptung wird flankiert von einer Normalitätsbehauptung, dass die Unterscheidung schon immer allgemein akzeptiert und praktiziert worden sei, sie mithin ganz ›normal‹ sei. … Das Recht schließlich, so der letzte Schritt des Argumentationsgangs, sei völlig neutral in der Frage der Kategorisierung, es setze die ›natürliche‹ und ›normale‹ Unterscheidung und unterschiedliche Behandlung also selbst lediglich voraus und reagiere bloß auf diese.«[2]

Es ist vollkommen richtig, dass Natürlichkeits- und Normalitätsargumente über lange Zeit diskriminierend gewirkt haben und noch wirken. Richtig ist auch, dass das Recht darauf hereingefallen ist und die Diskriminierung als Neutralität legitimiert hat. Damit sind diese Argumente zwar »belastet«, aber als solche noch nicht obsolet. Meine Kritik der Kritik gilt dem konstruktivistischen Kulturalismus, dem auch Mangold huldigt, wenn sie schlechthin eine ontologische Basis von Kategorien verneint und diese zu sozialen Konstruktionen erklärt (S. 313ff). So wie Texte als gedruckte oder digitalisierte eine ontologische Qualität haben, haben auch Menschen als Kinder und Erwachsene, als Frauen und Männer, als Schwarze und Weiße, als Behinderte und Nicht-Behinderte objektive Eigenschaften. Aktuell diskutiert man etwa die unterschiedliche Krankheitsanfälligkeit von Männern und Frauen und ihre Reaktion auf Medikamente. Nur wenige natürliche Eigenschaften sind als solche sozial unmittelbar relevant wie das Alter oder die Gebärfähigkeit von Frauen. Es kommt alles darauf an, wie diese Eigenschaften im sozialen Umgang bewertet werden. Wer ihre ontologische Qualität verneint, wird nie zu den psychischen Mechanismen vordringen, die eine primäre Ursache von Diskriminierungen bilden und die es sozial zu beherrschen gilt. Dazu gehören nicht zuletzt die Fehldeutungen, die mit der Augenfälligkeit einiger natürlicher Eigenschaften verbunden sind.

Analoges gilt vom Normalitätsargument, wenn man sich Normalität mit Mangold (S. 314) von vornherein nur als normatives Phänomen vorstellen kann. Dann verkennt man die »normative Kraft des Faktischen«, der es beizukommen gilt, um die fraglos gegebene Diskriminierungswirkung von Normalität zu bekämpfen. Dann verkennt man ferner, dass Diskriminierung »normalerweise« Minderheiten trifft, die als solche keine politischen Mehrheiten bilden können.[3] Damit verkennt man auch, dass die Diskriminierung von Frauen auf einem anderen Blatt steht als etwa die Diskriminierung von Behinderten. Was sich seit einigen Jahrzehnten auf dem Gebiet der Frauengleichstellung ereignet, lässt sich nur mit dem Kampf und den Erfolgen der Arbeiterbewegung vergleichen.

Die aktuelle Literatur, die sich dem Kampf gegen soziale Diskriminierung widmet, erweckt gelegentlich den Eindruck, als führe der Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft zurück zur Natur ins Paradies der Gleichheit. Genau das Umgekehrte ist richtig. Die Menschen sind ungleich. Die Natur ist es, die, sich selbst überlassen, diskriminiert. Die Abwesenheit (bestimmter) Diskriminierungen ist ein unnatürlicher = zivilisatorischer Fortschritt. Die Schwelle zum Fortschritt ist der Entschluss, alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre natürliche Ungleichheit in möglichst allen Dimensionen sozialen Lebens als gleich zu behandeln. Die Ironie der Geschichte: Der Fortschritt kam mit einem Natürlichkeitsargument, beginnt doch die Virginia Declaration of Rights von 1776:

That all men are by nature equally free and independent ….


[1] Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen, Tübingen 2021. Mangold bietet eine profunde und gut lesbare dogmatische Aufarbeitung des Antidiskriminierungsrechts, die eine ausführliche Besprechung verdient. Dazu sind andere berufen.

[2] S. 6f.

[3] Mangold nimmt (S. 79ff) den völkerechtlichen Minderheitenschutz in den Blick. Sie weist darauf hin, dass der Minderheitenbegriff insofern ungeklärt sei, als persönliche Merkmale betroffen sind. Dass Diskriminierung generell als Minderheitenproblem betrachtet werden könnte, kommt dabei nicht in den Blick.

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