Pseudointerdisziplinarität

Anmerkungen zu Josephine Odrig, Schlichtung und Recht, J. C. B. Mohr, Tübingen, 2025.

Soeben ist bei Mohr Siebeck der Band »Schlichtung und Recht« von Josphine Odrig erschienen. Es handelt sich um eine Dissertation, die von Reinhard Greger, Erlangen, betreut wurde. Der  Verlag wirbt damit, das Buch habe vier Promotionspreise erhalten, und er bietet es im Open Access an.

Das Buch weckt viele Erwartungen. Da ich mich früher einmal für alternative Streitschlichtungsverfahren interessiert habe, habe ich den Band heruntergeladen und aufgeschlagen. 646 Seiten bieten reichlich Platz, große Erwartungen zu erfüllen. Aber beim Blättern sind die Wohlfühlbotenstoffe meines Motivationssystems schnell durch Konfliktschmerz verdrängt worden.

Verf. will die Schlichtung »als selbständiges Verfahren der Alternativen Konfliktlösung wahrnehmbar machen« (S. 3).  Die Schlichtung hat im weiten Spektrum der alternativen Konfliktregelung wohl einen Platz, so dass es sich lohnt, auf drei Ebenen nach dem rechtlichen Rahmen zu fragen, etwa so:

  • Auf welcher rechtlichen Basis finden die Streithähne zu einer Schlichtung zusammen?
  • Gibt es Regeln für das Schlichtungsverfahren?
  • Soll der Schlichter für seinen Vorschlag an Recht und Gesetz gebunden sein?

Die Antwort verliert allerdings an Interesse, wenn gerade die interessantesten Fälle ausgespart werden, nämlich Schlichtungen aus den Bereichen des Arbeitskampf‑, Tarif‑ und Betriebsverfassungsrechts sowie Schlichtungen im öffentlich-rechtlichen Bereich (S. 5). Ausgespart werden auch die »Mischformen« der Schlichtung sowohl mit Gerichtsverfahren als auch mit alternativen Konfliktlösungsmethoden.  Die Güteverhandlung im Zivilprozess (§ 278 ZPO) und damit auch der Prozessvergleich sowie die obligatorische Streitschlichtungsverfahren nach § 15a EGZPO bleiben also außen vor (S. 55). Dennoch soll es gelingen, »eine Grundlage auch für mögliche Mischformen zu schaffen« (S. 4). Es hätte wohl näher gelegen, aus den gesetzlich geregelten Mischformen und deren rechtspraktischer Handhabung Lehren für die Rechtsfragen um die ungeregelte Sachlichtung zu ziehen.

Tatsächlich hat die Arbeit also nur die Kleineleuteschlichtung im Blick. Auch insoweit verzichtet sie aber auf eine rechtstatsächliche Grundlage. Man erhält weder einen Überblick über das Spektrum etablierter Schlichtungsverfahren noch über deren praktische Bedeutung. Stattdessen wird Interdisziplinarität versprochen, das Versprechen aber gleich wieder zurückgenommen (S. 5). Verwiesen wird vor allem auf die Literatur zur Mediation, die freilich nur im Spiegel der Juristenliteratur aus den Jahrzehnten der Mediationseuphorie erscheint.

Es ist sicher richtig, dass der Schlichtung die transformative Ausrichtung der Mediation abgeht (S. 12). Die Verf. macht sich daher auf die Suche nach dem Schlichtungsgedanken, der

»nur dann als Grundlage zur Verfahrensausgestaltung, Herleitung spezieller Prinzipien, aber auch zur Abgrenzung von anderen Konfliktlösungsverfahren dienen [kann], wenn er abbildet, weshalb das Schlichtungsverfahren genutzt wird.«

Dazu erfahren wir:

»Die Beilegung eines Konfliktes zielt … vorrangig nicht auf die Durchsetzung der eigenen Rechte oder Interessen, sondern auf die Vermeidung weiterer ›Schmerzen‹ bzw. Dissonanzen.« (S. 14)

Zur Begründung werden auf zwei Seiten Biologie, Psychologie und Evolutionstheorie herangezogen. Kooperation sei ein menschliches Grundbedürfnis. Als Beleg dient ein Fußnotenverweis auf ein älteres Buch des ziemlich umstrittenen Bestsellerautors Joachim Bauer (Prinzip Menschlichkeit, 2008). Konflikt führe zu Unwohlsein. Als Beleg dient hier ein Verweis auf Bush/Folger, Konflikt – Mediation und Transformation, 2005. Sodann werden wir mit Hilfe von Joachim Bauer mit Motivationsbotenstoffen wie Dopamin, Oxytozin und endogenen Opioiden, Glutamat und Cortisol überschüttet (S. 13f). Zur Absicherung wird in einem ganzen Absatz S. 14 Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz angeführt, um Beseitigung von Konfliktschmerz und Herstellung von konfliktbezogener Konsonanz als Basis des Schlichtungsgedankens zu festigen.

»Der Kerngedanke der Schlichtung richtet sich damit auf die Beseitigung der Konfliktschmerzen durch kooperative Lösungen.« (S. 16, Hervorhebung im Original)

So habe ich mir Interdisziplinarität immer vorgestellt.

Die Verf. sieht die Schlichtung als Element in einem »Gesamtsystem aller Konfliktlösungsverfahren« (S. 24).

»Diese Verfahren müssen wie die Zahnräder einer Uhr ineinandergreifen, wobei die verschiedenen Verfahrensarten (Moderations-, Evaluations- und Drittentscheidungsverfahren) die Räder (Grundlagen) und die konkreten Verfahren … und deren Kombinationen und Variationen die Zähne (Feinheiten) darstellen.« (S. 25f)

Wird »je nach Konflikt(art) inklusive deren Umstände und nach Interessen bzw. Zielen der Parteien das richtige Verfahren gewählt, dann kann »der Konfliktschmerz beseitigt und eine konfliktbezogene oder gar beziehungsbezogene Konsonanz hergestellt werden« (S. 25). Was zuvor als Kerngedanke der Schlichtung eingeführt wurde, ihre Schmerzmittelqualität, ist also gar keine Besonderheit der Schlichtung.

Die folgende Zwischenüberschrift lautet: »Notwendigkeit einer differenzierenden Typologie« (S. 25). Gemeint ist anscheinend eine Typologie nicht der Konfliktarten, sondern der Konfliktregelungsverfahren. Diese Typologie habe nicht gefunden. Es bleibt bei der Schlichtung als Schmerzmittel (S. 33). Spezifische Indikationen werden nicht angezeigt. Das alles wird durch Fußnote  340 auf S. 571 abgedeckt: »Welche Konfliktlösungsverfahren in den einzelnen Anwendungsfeldern gängig bzw. geeignet sind, müsste evaluiert werden.«

Wer nach der Lektüre der ersten 33 Seiten erschöpft ist, kann einen Blick in die Zusammenfassung S. 575-577 werfen, um zu erfahren, dass er nichts versäumt, wenn er alle Seiten dazwischen überspringt.

Gregers Publikationen füllen im Literaturverzeichnis mehr als eine Seite. Als Her Masters Voice war die Arbeit vor Primärkritik geschützt. Die Seiten »dazwischen« mögen als Dissertation hingehen. Lob und Anerkennung gewinnt das Buch aus der Alternativenindustrie, die nun seit mehr als einem halben Jahrhundert ihre Produkte (die auch ich immer noch für wertvoll halte) vergeblich in den Markt zu drücken versucht.

Nachtrag vom 3. 9. 2025: Als Reaktion auf vorstehenden Post habe ich von Reinhard Greger folgende Mail erhalten:

Sehr geehrter Herr Röhl,

vielen Dank, dass Sie mich auf Ihren rechtssoziologischen Blog aufmerksam gemacht haben. Neben wirklich interessanten Fachbeiträgen haben Sie dort auch eine Kritik an der von mir betreuten Dissertation „Schlichtung und Recht“ veröffentlicht, deren Inhalt und Form mich zu folgenden Klarstellungen veranlassen:

Es handelt sich um eine rechts-, nicht eine sozialwissenschaftliche Dissertation. Die Aufgabe bestand darin, Prinzipien und Regelungen für das Verfahren der Streitschlichtung zu entwickeln (nicht der ganz anders gearteten tarifvertraglichen), denn dieses Verfahren ist bisher, anders als Schiedsverfahren und Mediation, nicht oder nur ansatzweise gesetzlich normiert. Die Verfasserin hat dabei nicht einfach Analogien zu anderen Verfahrensvorschriften gezogen, sondern eine eigene, auf den Wesenskern der Schlichtung gestützte Theorie entwickelt. Dabei hat sie sich auch auf Stimmen aus der psychologischen, soziologischen und neurobiologischen Literatur bezogen, die sie als Bestätigung ihrer juristischen, auf Rechtsfrieden und Rechtsbewährung gerichteten Sichtweise verstehen konnte. Eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lehrmeinungen in den anderen Wissenschaftsdisziplinen war hierfür nicht erforderlich und wäre mangels entsprechender Qualifikation anmaßend gewesen. Um echte Interdisziplinarität handelt es sich hierbei nicht. Darin haben Sie sicher Recht. Die nicht ganz zutreffende Wortwahl deswegen ins Lächerliche ziehen, empfinde ich aber als überzogen.

Die besondere Bedeutung der Arbeit besteht darin, dass sie die Schlichtungsregeln von der bisher üblichen verfahrensrechtlichen in eine materiellrechtliche Betrachtungsweise überführt hat – eine Innovation, die auch für andere Formen der autonomen Konfliktbeilegung bahnbrechend sein kann und für die hervorragende Bewertung im Promotionsverfahren sowie für die Jury des Wissenschaftspreises ausschlaggebend war. Die Grundlegung hierfür findet in den Kapiteln des Buches statt, die Sie bedauerlicherweise für bedeutungslos erklärt haben.

Bei der von der Verfasserin entwickelten Theorie handelt es sich um eine Eigenleistung, die auch in meinen bisherigen Publikationen keine Grundlage findet. Dass die Verfasserin sich mit diesen auseinandersetzen musste, ist selbstverständlich. Dies mit dem Begriff „Her Masters Voice“ zu belegen und die mögliche Einflussnahme auf die Bewertung der Arbeit in den Raum zu stellen, entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage, sondern wird – auch von mir – als ehrverletzend empfunden.

Sachlichkeit im wissenschaftlichen Diskurs hat für mich generell, besonders aber auch bei der Nachwuchsförderung, einen hohen Stellenwert. Ich erlaube mir deshalb den Vorschlag, den Blog-Beitrag zurückzuziehen oder zumindest unter Berücksichtigung meiner vorstehenden Klarstellungen zu modifizieren.

Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Greger

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Die Invisibilisierung des (zweiten) Mediationsparadoxes

Am 26. September fand im Landgericht Hannover der Konfliktmanagement-Kongress 2015 mit (Referenten eingeschlossen) über 300 Teilnehmern statt. Die Organisation war perfekt. Zur perfekten Organisation gehört auch die bemerkenswerte Dokumentation des Verlaufs im Internet. [1]Rückblick auf den 12. Konfliktmanagement-Kongress am 25./26.9.2015. Für das leibliche Wohl der Teilnehmer einschließlich Goodies war so überreichlich gesorgt, dass Kritik am Mediationsprojekt in weite Ferne rückte. Aber es lässt sich nicht verbergen: Die Mediation als Alternative zum Gerichtsverfahren ist ein Diffusionsflop. In der Begründung zur Zertifizierten-Mediatoren-Ausbildungs-Verordnung – ZMediatAusbV – des Verbraucherschutzministeriums war von aktuell 7500 ausgebildeten Mediatoren die Rede. Von denen wird erwartet, dass sie jährlich mindestens zwei Mediationsverfahren führen, um ihre Zertifizierung zu behalten. Reiner Ponschab, sicher einer der Kenner der Szene, meinte dazu, dass die dazu erforderlichen 15.000 Fälle im Jahr kaum erreicht werden dürften. [2]Stolpersteine aus dem Weg räumen, Online-Magazin »Dispute Resolution«, o. J. (2014).

In Hannover sollte ich bei dem Versuch helfen, eine Erklärung für die Mediationsabstinenz des Publikums zu finden. Vor zwei Jahren hatte ich insoweit vom zweiten Mediationsparadox gesprochen. Zur Erinnerung: Als Mediationsparadox hatten McEwen und Milburn [3]Craig A. McEwen/Thomas W. Milburn, Explaining a Paradox of Mediation, Negotiation Journal, 1993, 23-36. das bemerkenswerte Phänomen bezeichnet, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate nicht wesentlich beeinträchtigt. Auch hier gilt das von mir so genannte Naturgesetz der Vermittlung, nach dem konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung enden, wenn es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich die Beobachtung, dass die Mediation ungenutzt bleibt, obwohl sie doch so erfolgreich, nämlich schneller, besser und billiger als Gerichtsverfahren sein soll.

Eine einfache Erklärung für diesen merkwürdigen Widerspruch ist nicht zu finden. Justus Heck (Universität Bielefeld) versuchte es mit einer Mischung aus Systemtheorie und Neoinstitutionalismus: Die Mediation sei in den letzten Jahrzehnten zu einem wissenschaftlich gestützten Weltprojekt geworden, dem sich niemand entziehen wolle, das aber nur der Außendarstellung von Justiz, Anwaltschaft und anderen Institutionen diene und nicht wirklich gelebt werde. Das mag eine bis zu einem gewissen Grade zutreffende Beschreibung der Mediationsabstinenz sein, erklärt sie aber nicht wirklich.

Auch mir fiel für diese Veranstaltung nicht mehr ein, als die bekannten Hypothesen [4]Vgl. den Eintrag vom 2. März 2010 aufzuzählen und sie geringfügig zu ergänzen. Neu erfunden habe ich eine Verbraucher- schutzhypothese und eine Entmündigungshypothese.

Nach der bekannten Streitkulturhypothese gibt es eine verbreitete kulturelle Disposition gegen Vermittlung und Kompromiss. Insbesondere wir Deutschen sagen uns selbst übertriebene Streitsucht nach. Daher betonen die Befürworter der Mediation, das Ziel aller Anstrengungen müsse eine Veränderung der Streitkultur sein. McEwen und Milburn halten entgegen, dass die Streitkulturhypothese auf einem Zirkelschluss beruhen könnte, weil die Streitkultur erst durch die Beobachtung des Streitverhaltens erschlossen werde. Das ist nicht von der Hand zu weisen, denn nun gibt es eine neue Entwicklung, die an einer verfestigten Streitkultur zweifeln lässt. Seit 2005 hat die die Zahl der Zivilprozesse ganz erstaunlich abgenommen hat, und zwar gegenüber dem Jahr 2000 bei den Amtsgerichten um über 20 % und bei den Landgerichten um knapp 15 %. [5]Prof. Christian Wolf von der Universität in Hannover hat zum Juristentag 2014 eine Zivilprozeßstatistik zusammengestellt, die einen um noch 10 % höheren Rückgang der Amtsgerichtsverfahren … Continue reading Da liegt es nahe, diesen Rückgang auf Alternativen zur Justiz zurückzuführen. Ich kenne allerdings keine Statistik, die einen vergleichbaren Anstieg der Mediationsverfahren zeigt. Um hier wirklich von einer Entlastungsfunktion der Alternativverfahren sprechen zu können, müsste man möglichst viele andere Gründe für den Rückgang der Prozessflut ausschließen.

Einen solchen Grund benennt meine Verbraucherschutzhypothese. In den Anfangszeiten der Alternativenbewegung suchte man nach einer einfachen und kostengünstigen Alternative besonders auch für Verbraucherstreitigkeiten, die nur schwer Zugang zu den Gerichten fanden. In vielen Gewerbezweigen wurden dazu so genannte Schieds- und Schlichtungsstellen eingerichtet. Aber auch die waren letztlich kein echter Erfolg. Im Laufe er letzten Jahrzehnte hat sich auf diesem Gebiet jedoch viel geändert. Das gilt zunächst für das materielle Recht, das die Rechte der Verbraucher in vieler hinsichtlich erheblich gestärkt hat mit der Folge, dass die Anbieter begründeten Beschwerden auch ohne Nachhilfe eher nachkommen. Das ist ein Gesichtspunkt, der m. E. unterschätzt wird. Die Rechtslage ist für die Verbraucher heute relativ klar und günstig. Und die größeren Unternehmen haben gelernt, dass Kulanz ein gutes Marketing ist. Außerdem gibt es jetzt für besonders streitanfällige Branchen hochkarätig besetzte Ombudsmänner und Beschwerdestellen, die viele Fälle auf sich ziehen und sie ganz überwiegend auch im Verbraucherinteresse erledigen. Das geschieht in einem objektiven Prüfungsverfahren. Mit Mediation hat das nichts mehr zu tun. Die Mediation wäre für die auf der Passivseite beteiligten Anbieter von Waren und Dienstleistungen viel zu aufwendig, fordert sie doch die Anwesenheit mindestens eines Bevollmächtigten in einer Präsenzverhandlung. [6]Eine Form des Verbraucherschutzes ist auch das Verbraucherinsolvenzverfahren. In demselben Zeitraum, in dem die Eingänge beim Amtsgericht um 20 % zurückgegangen sind, ist die Anzahl der … Continue reading

Die Entmündigungsthese – vielleicht gibt es einen prägnanteren Namen [7]Z. B. Autarkiehypothese oder Selbständigkeitshypothese. – besagt, dass Menschen sich entmündigt fühlen, wenn man ihnen zumutet, für Kompetenzen, die sie sich selbst zutrauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Man ist zwar durchaus bereit, sich abstrakt über Kommunikationsprobleme, Verhandlungstechniken und auch über psychische Probleme, zu informieren, ist jedoch von der eigenen Kompetenz so überzeugt, dass man sich konkret nicht gerne helfen lässt. Deshalb geht man mit eigenen Problemen nicht gerne zum Psychologen oder gar zum Psychiater. Zumal Anwälte und Geschäftsleute sind davon überzeugt, dass sie selbst kommunizieren und verhandeln können. Und wer dazu noch erlebt hat, wie schnell man in einer arrangierten Gruppe von der Prozessdynamik erfasst wird, obwohl man überzeugt war, man könne an dem Prozess bloß als Beobachter teilnehmen, der wird befürchten, durch eine Mediation irgendwie manipuliert zu werden. Solche Befürchtungen wirken, auch wenn sie nicht zutreffen.

Die von Maurits Barendrecht [8]Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009. übernommene Transaktions- kostenhypothese habe ich noch etwas ausgebaut. Anschließend vertiefte der Psychologe Peter Fischer aus Regensburg diese Hypothese auf seine Art, indem er zunächst erklärte, etwa 70 % aller Handlungsentschlüsse seien durch Abwägung von positiven und negativen Erwartungen begründet, und sodann einige negative Erwartungen aufzählte, die mit der Aussicht auf ein Mediationsverfahren verbunden sein könnten. Dazu gehöre neben der Furcht vor dem Unbekannten des Verfahrens auch die Scheu vor einer direkten Kommunikation mit dem Streitgegner. Zu meiner Entmündigungsthese verwies Fischer auf die Psychotherapie. Auch dieses Angebot sei vor einigen Jahren in Deutschland, anders als in den USA, kaum angenommen worden. Inzwischen gebe es eine rege Nachfrage, so dass man auf Therapieplätze mehrere Monate warten müsse. Mediation könnte sich ähnlich entwickeln.

Meine vorsichtigen Hinweise, dass in der Literatur durchaus auch kritische Stellungnahmen zu Mediation zu finden seien [9]Vgl. den Eintrag »Mit harten Bandagen in die Mediation?«., führte zu keiner Nachfrage, und auch mein Fazit stieß auf taube Ohren. Als Ergebnis hatte ich festgehalten: Die angeführten Hypothesen sind mehr oder weniger plausibel. Aber keine hat für sich genommen hinreichende Erklärungskraft, und wahrscheinlich reichen auch alle zusammen noch nicht aus, um die Mediationsabstinenz zu erklären. Vor allem aber zeigen sie keinen Ausweg, wie man der Mediationsverweigerung anders als durch Druck beikommen könnte. Diesen Ausweg hat kürzlich Eidenmüller in einem großen Aufsatz in der Juristenzeitung vorgeschlagen. [10]Obligatorische außergerichtliche Streitbeilegung: Eine contradictio in adiecto?, Juristenzeitung, 2015, 539-547. Damit redet er einem m. E. unerträglichen Paternalismus das Wort (und entfernt sich von seiner früheren, relativ liberalen Stellungnahme zum Paternalismusproblem [11]Liberaler Paternalismus, Juristenzeitung 2011, 814-821; dazu der Eintrag »Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus«.).

Bisher konnte man sich trösten: Gut Ding will Weile haben. Der Gütegedanke braucht Zeit, um sich durchzusetzen. Heute kann man wohl sagen, dass die Zeit für einen solchen »In-the-Long-Run-Optimismus« abgelaufen ist. Die vielen Versuche, den Gütegedanken zu institutionalisieren, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten waren, mag man vergessen, weil die historische Kontinuität nicht gegeben ist. Aber nun sind wieder 40 Jahre vergangen, in denen aus Wissenschaft und Rechtspolitik, von Professionen und aus der Zivilgesellschaft kontinuierlich für die außergerichtliche Streitbeilegung geworben wurde. Deshalb ist es jetzt wohl an der Zeit, dass die Rechtspolitik aus dem Mediationstraum erwacht und die weitere Entwicklung den freien Kräften überlässt. Genug gefördert. Entweder die Sache lebt aus sich heraus, oder sie taugt nicht viel.

Die Justizministerin Niewisch-Lennartz hatte in ihrer Eröffnungsrede die Frage gestellt, wer denn Schuld daran trage, dass die Mediation nicht ankomme, ob es an »den« Rechtsanwälten oder »der« Justiz läge? Ob Konzepte zur Mediationsverpflichtung helfen könnten? Um eine gründliche Diskussion führen zu können, müsse man grundlegende Forschungsarbeit leisten. Bericht Kieper. Am Ende des Forums 5 stellte die Moderatorin Beatrice Rösler ein Projekt mit dem (mir) rätselhaften Namen GANDALF vor, dass von der der Deutschen Stiftung Mediation [12]Die Stiftung präsentiert sich auf einer gut gestalteten Webseite. Aber wer dahinter steckt und wer GANDOLF ist, erfährt man dort nicht. getragen wird. Mit dem Projekt soll wissenschaftlich und interdisziplinär untersucht werden, warum sich Mediation in Deutschland so schwer tut. Meinen Einwand, es sei zur Sache schon so viel geforscht, dass keine grundsätzlich neuen Einsichten zu erwarten seien, wollte niemand mehr hören. Sinnvoll wäre eine Metastudie, die die zahlreich vorhandenen Einzeluntersuchungen unter den Leitgesichtspunkten der soziologischen Diffusionstheorie ordnet und zusammenfasst.

Nun endlich zu der in der Überschrift angekündigten »Invisibilisierung« des Mediationsparadoxes. In meinem »Impulsvortrag« hatte ich McEwen und Milburn (S. 31) zitiert mit dem Satz »The paradox of mediation is that it offers disputing parties precisely what they do not want when they most need it.« und dazu ironisch angemerkt, das sei nun schon das dritte Mediationsparadox. Doch das wurde, wie der zusammenfassende Bericht über das Forum zeigt [13]Robert Glunz, Konfliktmanagementkongress 2015 – Forum 5 Warum kommt Mediation nicht an? – Kann die Wissenschaft das Paradoxon lösen?., ernst und wichtig genommen, weil, um es mit Christian Morgenstern zu sagen, »nicht sein kann, was nicht sein darf«. Irgendwie muss das (zweite) Mediationsparadox aus der Welt. Die gängige Invisibilisierungsstrategie wurde – ganz unbeabsichtigt – von Jakob Tröndle vorgetragen: [14]Das ist meine leicht missbräuchliche Verwendung seines lesenswerten Vortrags »Mediationsdefizit« – Voraussetzungen eines Problems. Das Mediationsprojekt oder – im kulturwissenschaftlichen Jargon – der Mediationsdiskurs war und ist so erfolgreich, dass die ausbleibende Nachfrage als Mediationsdefizit erscheint. Das gelte aber nur, wenn man den Blick eng auf das »idealtypische Mediationssetting« richte. Wirkung und Verbreitung von Mediation müssten »nicht eins zu eins mit den Anwendungszahlen« typischer Mediationsverfahren gleichgesetzt werden. »Mediation entfaltet ihre Wirkung auf unsere Gesellschaft wohl vorwiegend indirekt, das heißt über den Transfer, den Mediatorinnen und Mediatoren aus ihren Ausbildungen in ihre bisherigen Arbeitsfelder und auch ihre private Lebensgestaltung mitnehmen.« Damit schlug Tröndle eine Richtung ein, in die Stephan Breidenbach vorangegangen war. Von einer Jubiläumsveranstaltung »10 Jahre Master-Studiengang Mediation an der Europa-Universität Viadrina« heißt es:

»In seinem Impulsvortrag am Vorabend des Kongresses steckte Prof. Dr. Stephan Breidenbach den thematischen Rahmen ab: In einer persönlichen Rückschau betonte er insbesondere die Bedeutung des geschulten Blickes auf individuelle Interessen als ›evolutionären Schritt‹ mit gesellschaftstransformatorischer Wirkung. Bei der weiteren Entwicklung der Mediation in Deutschland müsse die Mediation über die Fokussierung auf Konflikte hinausgehen und als Verfahren zur Begleitung komplexer Entscheidungsprozesse verstanden, gelehrt und praktiziert werden. Es sei an der Zeit, dass ausgebildete Mediatoren nicht ›den Konflikt‹, sondern ›das Leben‹ als Lern- und Anwendungsfeld begriffen.«

So wird das (zweite) Mediationsparadox hinter evolutionärem Fortschritt unsichtbar gemacht.

Noch mehr Mediationsparadoxien (Nachtrag vom 17. Oktober 2015)

Erst im Anschluss an die Hannoveraner Tagung habe ich von Justus Heck den Artikel »Mediationsforschung als Selbstbeschreibung. Ein soziologischer Kommentar« gelesen, der in der Zeitschrift »Perspektive Mediation« [15]Die Zeitschrift erscheint im elibrary Verlag Österreich und ist nicht frei zugnglich. 2015 Heft 1 S. 26-31 erschienen ist. Darin stellt Heck einige Probleme der Mediation in relativ aufwendiger theoretischer Verpackung als »Paradoxien« dar. Er hält die Verpackung für notwendig, weil Selbstbeschreibungen einschließlich Reflexionsthorien immer affirmativ seien. Ob das schlechthin zutrifft, wage ich zu bezweifeln. [16]Ein Gegenbeispiel gibt ein Artikel von David A. Hoffmann, auf den Heck sich stützt: Paradoxes of Mediation, American Bar Association Magazine – Fall/Winter 2002. Dort stellt sich der Autor Hoffman … Continue reading Aber richtig ist sicher, dass die gängige Mediationsforschung affirmativ ist und daher viele Probleme nicht in den Blick bekommt. Daher ist Hecks »Fremdbeschreibung« verdienstvoll. Das Grundproblem findet Heck in dem »Paradox aus Mediatorintervention und Selbstbestimmung der Parteien«, ein anderes in der bei den Beteiligten geweckten Erwartung, es könnten nach dem Muster des »berüchtigten Orangen-Beispiels« alle ohne Zugeständnisse aus dem Verfahren herauskommen.

Das erste Heft der Zeitschrift für Rechtssoziologie soll 2016 als Themenheft zur »Soziologie der Mediation« erscheinen. Darin ist auch ein Beitrag von Justus Heck über »Den beteiligten Unbeteiligten. Wie vermittelnde Dritte Konflikte transformieren« vorgesehen. Ich habe diesen Beitrag schon gelesen, und fand das der Mühe wert, kann aber natürlich hier nichts vorweg nehmen.

2. Nachtrag vom 18. 10. 2015: Eben finde ich auf SSRN ein Manuskript von Lydia R. Nussbaum, Mediation as Regulation: Expanding State Governance Over Private Disputes, das für den Utah Law Review 2016 bestimmt ist. Nussbaum beschreibt für die USA als De-facto-Entwicklung, was Eidenmüller sich für Deutschland wünscht, die breite Institutionalisierung der Mediation als obligatorisch. Das Manuskript ist so lang, dass ich es nicht wirklich gelesen habe.

3. Nachtrag vom 17. 11. 2015: Das Bundesjustizamt hat (schon im Oktober) eine Ausschreibung zu Vergabe eines Forschungsvorhabens zum Thema »Evaluierung des Mediationsgesetzes« veröffentlicht.

4. Nachtrag: Justus Heck hat dem Gesamtthema seine Dissertation gewidmet. Das Mediationsparadox.  Eine soziologische Studie zur Vermittlung im Streit, Juventa/Beltz , 2020. Dazu eine Rezension von Ingo Meyer, Das Mediationsparadox. Eine soziologische Studie zur Vermittlung im Streit, Sozialer Sinn 24, 2023, 128–139.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Rückblick auf den 12. Konfliktmanagement-Kongress am 25./26.9.2015.
2 Stolpersteine aus dem Weg räumen, Online-Magazin »Dispute Resolution«, o. J. (2014).
3 Craig A. McEwen/Thomas W. Milburn, Explaining a Paradox of Mediation, Negotiation Journal, 1993, 23-36.
4 Vgl. den Eintrag vom 2. März 2010
5 Prof. Christian Wolf von der Universität in Hannover hat zum Juristentag 2014 eine Zivilprozeßstatistik zusammengestellt, die einen um noch 10 % höheren Rückgang der Amtsgerichtsverfahren ausweist. (Zivilprozess in Zahlen). Das liegt allerdings daran, dass er als Basisjahr 1995 gewählt hat, das Jahr mit den höchsten Eingängen überhaupt. In jedem Fall ist der Rückgang der Prozessflut bemerkenswert.
6 Eine Form des Verbraucherschutzes ist auch das Verbraucherinsolvenzverfahren. In demselben Zeitraum, in dem die Eingänge beim Amtsgericht um 20 % zurückgegangen sind, ist die Anzahl der Verbraucherinsolvenzen auf bis zu 150.000 jährlich gestiegen. Das sind wiederum fast 20 % der jährlichen Amtsgerichtsklagen. Ob und wie da ein Zusammenhang besteht, vermag ich nicht zu sagen. Ziemlich sicher ist nur: Wer Insolvenz anmeldet, wird kaum noch klagen.
7 Z. B. Autarkiehypothese oder Selbständigkeitshypothese.
8 Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009.
9 Vgl. den Eintrag »Mit harten Bandagen in die Mediation?«.
10 Obligatorische außergerichtliche Streitbeilegung: Eine contradictio in adiecto?, Juristenzeitung, 2015, 539-547.
11 Liberaler Paternalismus, Juristenzeitung 2011, 814-821; dazu der Eintrag »Kirste und Eidenmüller über Selbstbestimmungsrecht und Paternalismus«.
12 Die Stiftung präsentiert sich auf einer gut gestalteten Webseite. Aber wer dahinter steckt und wer GANDOLF ist, erfährt man dort nicht.
13 Robert Glunz, Konfliktmanagementkongress 2015 – Forum 5 Warum kommt Mediation nicht an? – Kann die Wissenschaft das Paradoxon lösen?.
14 Das ist meine leicht missbräuchliche Verwendung seines lesenswerten Vortrags »Mediationsdefizit« – Voraussetzungen eines Problems.
15 Die Zeitschrift erscheint im elibrary Verlag Österreich und ist nicht frei zugnglich.
16 Ein Gegenbeispiel gibt ein Artikel von David A. Hoffmann, auf den Heck sich stützt: Paradoxes of Mediation, American Bar Association Magazine – Fall/Winter 2002. Dort stellt sich der Autor Hoffman selbst als Mediator vor. Ich zitiere diese Arbeit (die ich bisher nicht kannte) nach einem im Internet verfügbaren PDF.

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Rechtsrelevante Sozialpsychologie

Auf das letzte Posting zur Mediation (Mit harten Bandagen in die Mediation?) habe ich zwar keine Kommentare erhalten. Aber es hat sich daraus doch einige Emailkorrespondenz entwickelt. Eine freundliche Leserin hat mir ein Faltblatt mit dem Programm des 14. Mediations-Kongresses übermittelt, der Ende April in Bonn stattfand. Darin sind mir zwei Vorträge von Prof. Dr. Birte Englich, Bonn, aufgefallen. Der eine trug den Titel »Die Macht der ersten Zahl – Ankereffekte und andere psychologisch wirksame Einflüsse auf Verhandlungen«, der andere behandelte den »Umgang mit extremen Forderungen«. Daraufhin habe ich mir die Webseite von Frau Englich angesehen. An der Spitze der Liste ihrer Forschungsinteressen steht »judicial decision making«. Sodann werden fünf key publications genannt, die alle einschlägig sind:
Englich, B. (2008). When knowledge matters – Differential effects of available knowledge in standard and basic anchoring tasks. European Journal of Social Psychology, 38, 896-904. (pdf)
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack (2006). Playing dice with criminal sentences: The influence of irrelevant anchors on experts´ judicial decision making. Personality and Social Psychology Bulletin, 32 (2), 188-200. (pdf)
Englich, B., Mussweiler, T., & Strack, F. (2005). The last word in court – A hidden disadvantage for the defense. Law and Human Behavior, 29 (6), 705-722. (pdf)
Mussweiler, T., & Englich, B. (2005). Subliminal anchoring: Judgmental consequences and underlying mechanisms. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 98, 133-143. (pdf)
Englich B., & Mussweiler, T. (2001). Sentencing under uncertainty: Anchoring effects in the court room. Journal of Applied Social Psychology, 31 (7), 1535-1551. (pdf)
Und was noch besser ist: Sie werden auch alle zum Download angeboten. In der vollständigen Publikationsliste finden sich weitere rechtspsychologische Arbeiten. Ich will hier nur noch eine erwähnen, einen kurzen, aber gehaltvollen Übersichtsartikel.
Englich, B. (2006). Ankereffekte im juristischen Kontext. In H.-W. Bierhoff & D. Frey (Hrsg.), Handbuch der Psychologie Band III: Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie (S.309-313). Göttingen: Hogrefe. (pdf) [http://social-cognition.uni-koeln.de/scc4/documents/hogrefe_ankereffekte.pdf]
Die Arbeiten konzentrieren sich sehr auf Ankereffekte, von denen Englich selbst sagt, sie seien empirisch gut belegt. Man muss nicht alles lesen. Aber man muss das Problem wohl doch ernster nehmen als es bisher allgemein geschieht. Besonders interessant fand ich die beiden Aufsätze von Englich, Mussweiler und Strack. Der Aufsatz von 2006 wiederholt zunächst den von 2005 und ergänzt ihn um zwei weitere Experimente.) Mit der Methode fiktiver Fälle, so würde man das in der Rechtssoziologie nennen, zeigen die Autoren, dass das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß in einer Weise auf das Urteil einwirkt, die dadurch, dass dem Angeklagten und seinem Verteidiger das letzte Wort zusteht, nicht aufgehoben wird. Dabei soll es sich um einen sehr robusten Effekt handeln, der nicht nur bei Jungjuristen als Testpersonen auftritt, sondern auch bei erfahrenen Strafrichtern. Selbst und vor allem der Verteidiger lässt sich bei seinen Gegenvorstellungen von dem »Anker« leiten. Der Effekt soll auch nicht davon abhängig sein, dass gerade ein Staatsanwalt das Strafmaß in den Raum stellt. Auch Strafvorschläge von Nichtjuristen, im Test von Computerstudenten, zeigen Wirkung, und das selbst dann, wenn der Strafvorschlag von einem Zufallsgenerator ausgeworfen worden war. Um noch eines drauf zu setzen, wurden im dritten Experiment die »Verteidiger« aufgefordert, sich einen Strafantrag vorzustellen, den sie durch Würfeln selbst generieren mussten. Eine Erklärung, die die Autoren für möglich halten, besagt, dass der »Anker« dazu führt, nach Argumenten zu suchen, die die Angemessenheit des Wertes bestätigen und andere ausblenden. In einem vierten Experiment wurden die Probanden daher aufgefordert, à tempo Argumente pro und contra zu sortieren. Dabei soll sich bestätigt haben, dass Argumente für Schuld und schwere Strafe bei einem hohen Ankerwert schneller eingeordnet werden. Ich muss gestehen, dass ich dieses Experiment nicht ganz nachvollziehen kann. Das Fazit der Autoren: Das letzte Wort für den Angeklagten bedeutet, dass der Staatsanwalt das erste Wort hat. Der Staatsanwalt kann damit einen »Anker« setzen, der das Verfahrensergebnis irrational beeinflusst.
Es fällt schwer, sich mit dem Ergebnis anzufreunden, und daher wird man zunächst versuchen, es hinweg zu argumentieren. Ohne dass ich tiefer eingestiegen wäre, fallen mir zwei Argumente ein.
Erstens, dass der Ankereffekt nur Zahlenwerten zugeschrieben wird. Können denn Sachargumente gegen den Ankereffekt nichts ausrichten? In Rhetorikkursen lernt man doch, dass man das wichtigste Argument an den Schluss stellen soll. Von daher würde man erwarten, dass das Schlusswort wichtiger ist als der Anfang.
Zweitens: Die Psychologen verwenden Laborsituationen. Auch wenn sie gelegentlich vom Kontext des Ankers und möglicher Gegen-Anker sprechen, so bleibt dieser Kontext doch in den Versuchssituationen dürftig. Er kann die Totalität einer Gerichtsverhandlung kaum darstellen. (Das gleiche gilt für eine Mediationsverhandlung.) Im Verlaufe einer Verhandlung werden viele Zahlenwerte genannt. Dem Laien fällt es schwer zu glauben, dass der erstgenannte sich nur schwer wieder auslöschen lässt. Immerhin sehen die Autoren selbst eine Aufgabe für weitere Untersuchungen darin zu prüfen, ob der Ankereffekt auch über eine komplette Gerichtsverhandlung durchhält (2005, S. 728).
Ich vermute allerdings, dass Frau Englich und ihre Kollegen solche Einwendungen gewöhnt sind und sie locker ausräumen können. Es bleibt wohl keine Wahl als den Ankereffekt in der forensischen Praxis ernst zu nehmen. Wer in Zivilsachen etwas gewinnen will, sollte also mit einer hohen Klageforderung beginnen. Auch Richter lassen sich davon beeinflussen. Noch wichtiger ist eine hohe Ausgangsforderung für Vergleichs- und Mediationsverhandlungen. Im Strafverfahren sollte der Verteidiger noch vor dem Staatsanwalt ein möglichst niedriges Strafmaß nennen.

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Mit harten Bandagen in die Mediation?

Mediation ist eine tolle Technik. Doch gegen jede Technik werden früher oder später Gegenmaßnahmen entwickelt.
Ich wundere mich schon lange, dass bisher anscheinend noch niemand Strategien entwickelt oder auch nur zusammengestellt hat, mit denen man als Partei in einer Mediationsverhandlung das Beste für sich herausholt. Wie man machiavellistisch verhandelt, ist im Grund längst bekannt. Der Klassiker ist Philip G. Schrag & Michael Meltsner, Negotiating Tactics for Legal Services, 7 Clearinghouse Review 259-263 (1973). [1]Teilweise abgedruckt in Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution, 5. Aufl. 2007, S. 17-22. Im Internet kursiert eine Kopie unter … Continue reading Sozusagen die Gegenposition, die heute die Grundlage für die Schulung der Mediatoren bildet, ist die kooperative oder integrative Verhandlungstaktik nach Fisher und Ury. In meinem alten Skriptum zur Verhandlungstechnik hatte ich versucht, die beiden Verhandlungsstrategien zusammenzuführen.
In einem neueren, schrecklich langen Aufsatz stellt Robert J. Condlin [2]Condlin, Robert J. (2008): ‘Every Day and in Every Way, We are All Becoming Meta and Meta:’ Or How Communitarian Bargaining Theory Conquered the World (of Bargaining Theory). In: Ohio … Continue reading die beiden Verhandlungsstrategien einander gegenüber. Die kooperativ-integrative bezeichnet er als communitarian, ihr Gegenstück als adversarial. Sein Fazit lautet etwa, die Überlegenheit kooperativer Verhandlungstechnik sei empirisch nicht nachgewiesen.

The empirical arguments for communitarian bargaining … make general claims about bargaining practice based on cartoon data about stylized, overly simple, non-legal disputes in a manner that is more often gimmicky than real. They tout maneuvers and techniques that work in limited contexts and have little application to ordinary bargaining problems as examples of best bargaining practice across the board. And they defend these claims in a manner that bespeaks more of prestidigitation than reasoned elaboration. The complete case for the communitarian method, both its normative and critical dimensions, rejects the possibility of intractable conflict and the existence of incommensurable values and beliefs, ignores the compressed time frames and constricted social relationships within which bargaining is conducted, and closes it eyes to many of the practical constraints of real life situations that do not fit easily into its idealized communal model of bargaining interaction. It is also gratuitously competitive and unfair in the way it describes and dismisses adversarial approaches to bargaining, misleading in the manner it reports and uses empirical data, and imperialist in the attitude it takes toward the world of bargaining theory generally. It is based mostly on prescriptive writing grounded in aesthetic and ideological preferences, with little in the way of empirical evidence to back it up. As an argument, it seems based on the assumption that life imitates (communitarian) theory, if it knows what’s good for it. (S. 296 f.)

Sie werde jedoch ideologisch überhöht und die Gegenposition auf eine geradezu adversariale Weise bekämpft. Was die Empirie betrifft, so muss man wohl doch besser unterscheiden, ob es um erfolgreiche Konfliktregelung geht oder um erfolgreiches Abschneiden einer Partei. Es scheint so, als ob eine kooperative Verhandlungstechnik erfolgreicher ist, wenn es darum geht, die Parteien zu einer Einigung zu bringen. Und deshalb ist sie das Rezept der Mediation. Und das ist natürlich auch, wenn man so will, die Ideologie der Mediation. Wer dagegen rücksichtslos seinen eigenen Vorteil durchsetzen will, fährt als kompetetiver Verhandler besser. Daher durfte man gespannt auf eine Anleitung warten: Wie nutze ich in der Mediation die kooperative und integrative Haltung meines Gegners am besten zu meinen Gunsten aus.
Als solche kann man ein neues Buch zur Verhandlungstechnik (über das die heimliche Juristenzeitung ausführlich berichtet hat) [3]Jörg Oberwittler, Der Klügere gibt nicht nach, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 13 vom 16. 1. 2009 in der Beilage »Beruf und Chance«, die auch in der FamS vom 17. 1. noch einmal erschienen ist. lesen. Es stammt von einem »harten Hund«, der als ehemaliger Leiter einer Sondereinheit der bayerischen Polizei über Erfahrungen in der Verhandlung mit Geiselnehmern verfügt: Matthias Schranner, Teure Fehler. Die 7 größten Irrtümer in schwierigen Verhandlungen, Berlin (Econ) 2009. Jetzt vermarktet Schranner seine Erfahrungen mit dem in der Schweiz angesiedelten »Schranner Negotiation Institute«.
Schranners Credo: »Ein Konfliktberuht immer auf unterschiedlichen Interessen und der Annahme, dass die eigenen Interessen die richtigen Interessen sind. Was dazu führt, dass die gegnerische Partei falsche Interessen hat.« (S. 17). Und deshalb ist Irrtum Nr. 1 der Glaube daran, dass beide Seiten gewinnen können, dass eine ›Win-win‹-Vereinbarung möglich ist.« (S. 11). Zwar heißt es dann später (S. 109), es gebe immer Gemeinsamkeiten, auch zwischen zwei sich noch so sehr bekämpfenden Parteien; andernfalls könne man überhaupt nicht verhandeln. Doch sie werden nur strategisch genutzt, um bei dem Gegner eine positive Verhandlungsstimmung zu erzeugen: Wir haben ein gemeinsames Problem. Schranners Verhandlungsstrategie ist darauf ausgerichtet, den Gegner nicht gewinnen zu lassen, sondern ihm nur das Gefühl zu geben, er habe gewonnen. Irrtum Nr. 2 besteht in der Annahme, eine gute inhaltliche Vorbereitung sei entscheidend. Mindestens ebenso wichtig, so Schranner sind Strategie und Taktik. Was dann unter »Irrtum« Nr. 3 bis 7 aufbereitet wird, sind die altbekannten Rezepte für kompetetives Verhandeln. Es geht um Verhandlungsphasen, den Umgang mit Emotionen und Alternativen zum angestrebten Verhandlungsergebnis. »Sie dürfen nicht rational verhandeln!« Rational ist nur die Vorbereitung auf einen Verhandlungskampf, bei dem es darauf ankommt zu gewinnen. Zwar sind Lügen verpönt, doch Bluff keineswegs. Schranner will »nicht das Hohelied auf das Fairplay singen« (S. 67). »No-Gos« gibt es nur im Umgang innerhalb des eigenen Verhandlungsteams. Die Herkunft des Verfassers aus der Polizei zeigt sich etwa, wenn er rät, sich nach Möglichkeit einen V-Mann im Lager des Gegners zu suchen. Das Ganze ist auf Verhandlungen zwischen Wirtschaftsunternehmen, insbesondere Automobilherstellern und ihrer Zulieferern oder Arbeitgebern und Gewerkschaften abgestimmt. Aber das Buch ließe sich leicht auf die Verhältnisse bei der gerichtlichen Mediation umschreiben. Die Rezepte Schranners taugen vermutlich für eine einseitige Aufrüstung. Wenn beide Teile sich bei ihm Rat holen, führen sie wohl eher in eine Katastrophe.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Teilweise abgedruckt in Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution, 5. Aufl. 2007, S. 17-22. Im Internet kursiert eine Kopie unter http://www.mediationadvocacy.com/Meltsner%20&%20Schrag.pdf. Anscheinend gibt es eine neue Version in 39 Clearinghouse Rev. 589-593 (2006), die mir nicht zugänglich ist.
2 Condlin, Robert J. (2008): ‘Every Day and in Every Way, We are All Becoming Meta and Meta:’ Or How Communitarian Bargaining Theory Conquered the World (of Bargaining Theory). In: Ohio State Journal on Dispute Resolution, Jg. 23, zuerst veröffentlicht: Available at SSRN: http://ssrn.com/abstract=957570.
3 Jörg Oberwittler, Der Klügere gibt nicht nach, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 13 vom 16. 1. 2009 in der Beilage »Beruf und Chance«, die auch in der FamS vom 17. 1. noch einmal erschienen ist.

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Kann man Vermittlungstechnik lernen?

Vor vielen Jahren habe ich einmal einen kurzen Beitrag geschrieben zu der Frage »Gibt es eine lehr- und lernbare Technik des Vergleichs?« [1]in: Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hg.), Der Prozeßvergleich, Köln 1983, S. 209-216.. Inzwischen war ich eigentlich davon überzeugt, dass spätestens mit dem Harvard Negotiation Project eine solche Technik Einzug gehalten hätte. Jetzt finde ich einen Aufsatz von Art Hinshaw und Roselle L. Wissler »How do we know That Mediation Training Works?« [2]Dispute Resolution Magazine Fall 2005, S. 21-23, verfügbar bei SSRN unter http://ssrn.com/abstract=1432478., in dem die Autoren ausführen, es gebe keinen empirischen Nachweis, dass die Tätigkeit von Mediatoren mit Training von den Parteien als fairer bewertet werde und ebensowenig, dass ausgebildete Mediatoren bessere Vergleichsraten erzielten. Allerdings wollen die Autoren dieses Ergebnis selbst nicht glauben und schlagen daher neue Untersuchungsdesigns vor, um der Frage auf den Grund zu gehen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 in: Gottwald/Hutmacher/Röhl/Strempel (Hg.), Der Prozeßvergleich, Köln 1983, S. 209-216.
2 Dispute Resolution Magazine Fall 2005, S. 21-23, verfügbar bei SSRN unter http://ssrn.com/abstract=1432478.

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Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox

Zunächst zur Erinnerung: Als Mediationsparadox hatten McEwen und Milburn [1]McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W. (1993): Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, S. 23–36 das bemerkenswerte Phänomen bezeichnet, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate nicht wesentlich beeinträchtigt. Auch hier gilt also das von mir so genannte Naturrecht oder Naturgesetz der Vermittlung, dass konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung enden, wenn es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Als zweites Mediationsparadox hatte ich die Beobachtung bezeichnet, dass die Mediation ungenutzt bleibt, obwohl sie doch so erfolgreich, nämlich schneller, besser und billiger als Gerichtsverfahren sein soll. Jetzt habe ich mich noch einmal auf die Suche nach Erklärungen für diesen merkwürdigen Widerspruch gemacht. Die Fundstücke will ich heute vorstellen.
Für die Zurückhaltung des Publikums bei der Inanspruchnahme von Mediations- und Güteverfahren aller Art wird ein ganzes Bündel von Begründungen angeboten. Ich beginne mit der schon genannten Unkenntnishypothese. Sie besagt, dem Publikum sei Mediation als Alternative zum Gerichtsverfahren nicht hinreichend geläufig. Diese Hypothese ist wohl die schwächste. Die Justizverwaltungen geben sich überall große Mühe, Mediation publik zu machen, und die Medien widmen dem Thema immer wieder positiv besetzte Aufmerksamkeit.

Langsam müsste so viel Werbung eigentlich wirken. Merry und Silbey haben schon 1984 darauf hingewiesen, dass die Menschen tatsächlich große Bereitschaft zeigen, Alternativen zum Gerichtsprozess zu finden, und dass sie sich dazu bei einem breiten Spektrum von Auskunfts- und Beratungsstellen umhören. [2]Merry, Sally Engle; Silbey, Susan S. (1984): What do Plaintiffs Want? Reexamining the Concept of Dispute. In: The Justice System Journal, Jg. 9, S. 151–179. McEwen und Milburn (S. 25) meinen, die Unkenntnishypothese diene in erster Linie dazu, die Ideologie der Mediation als eines auf Freiwilligkeit beruhenden Verfahrens zu stützen. Wenn die Parteien nicht hinreichend informiert sind, dann könne man sie ruhig in die Mediation zwingen, denn hätten sie es besser gewusst, wären sie freiwillig gegangen.
Die Torhüterhypothese behauptet, dass Richter und Anwälte die Parteien davon abhalten, die Mediation zu wählen. Es ist wohl richtig: Als Ergebnis ihrer Professionalisierung haben Juristen (hoffentlich) ein Interesse an Recht und Gerechtigkeit, das über den Einzelfall hinausgeht, und ferner haben sie auch jeweils eine eigene Meinung darüber, was im Falle richtig ist. Daraus folgt ein professionelles Interesse, die Sach- und Rechtslage zur Sprache zu bringen, auch wenn ein Vermittlungsverfahren für den Mandanten vorteilhafter wäre. Ein Rechtsanwalt wird es als Belohnung empfinden, wenn er seine Fähigkeiten und Kenntnisse unter Beweis stellen kann. Der nächstliegende Weg besteht darin, eine Prognose abzugeben, wie das Gericht entscheiden würde, und diese Prognose dann mit einer Klage unter Beweis zu stellen. Allerdings hat sich doch mindestens die Rhetorik der Anwaltschaft inzwischen zugunsten der Mediation gewandelt. Es ist sicher zutreffend: Ohne Unterstützung der Rechtsanwälte wird es nichts mit der gerichtsunabhängigen Mediation. Und es ist auch wohl nicht unbedingt die Gebührenstruktur, die sie davon abhält, sich wechselseitig auch als Mediatoren einzusetzen. Jost und Neumann [3]Jost, Fritz; Neumann, Tobias (2010): Etablierung der Mediation durch die Anwaltschaft! In: Zeitschrift für Konfliktmanagement, S. 164–168. suchen die Ursache in erster Linie in den Wettbewerbsstrukturen der Profession.
Nach der Streitkulturhypothese besteht eine verbreitete kulturelle Disposition gegen Vermittlung und Kompromiss. Insbesondere wir Deutschen sagen uns selbst übertriebene Streitsucht nach. Daher betonen die Befürworter der Mediation, das Ziel aller Anstrengungen müsse eine Veränderung der Streitkultur sein. McEwen und Milburn halten entgegen, dass die Streitkulturhypothese auf einem Zirkelschluss beruhen könnte, weil die Streitkultur erst durch die Beobachtung des Streitverhaltens erschlossen werde.
McEwen und Maiman [4]A. a. O. S. 45. haben eine Hebelhypothese angedeutet. Sie fragen, warum, wenn denn Mediation so viel besser ist als der Gerichtsprozess, sowenig Streitparteien das Vermittlungsverfahren wählen, ohne vorher geklagt zu haben. Sie gehen mit Christie davon aus, dass für die meisten Menschen und Organisationen Verhandlungen die bevorzugte Art der Streitbehandlung sei, weil sie den Parteien die Kontrolle über den Konflikt lasse. Aber in der Regel habe eben doch nur eine Partei ein Interesse an einer Lösung. Die andere sei mit dem status quo zufrieden. Um sie an den Verhandlungstisch zu bringen, müsse der Gegner ihre Kosten erhöhen. Der schwächeren Partei blieben da kaum andere Mittel als der Weg zum Gericht. So könne oft erst die Klage helfen, eine einverständliche Lösung zu finden. Formelle und informelle Konfliktregelung, so McEwen und Maiman, müsse man daher eher als ein Zusammenspiel und nicht so sehr als Alternativen betrachten. Die Hebelhypothese ergänzt sich ganz gut mit dem Phänomen des vanishing trial, dass man in den USA beobachtet [5]Galanter, Marc (2004): The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts. In: Journal of Empirical Legal Studies, Jg. 1, S. 459–570.
, das heißt also, dass die Prozesse – deren Zahl nicht abgenommen hat – nur noch ganz ausnahmsweise bis zum förmlichen Abschluss durch ein trial durchgeführt werden. Ein Blick in die deutsche Zivilprozess-Statistik zeigt zwar seit 2002 eine Erhöhung der Vergleichsquote zu Lasten der Urteilsquote um etwa 5 %, die wohl auf den damals neuen § 278 ZO zurückzuführen sein könnte. Doch man kann deutsche Urteile kaum mit dem amerikanischen trial vergleichen.
Die ökonomische Analyse des Rechts steuert eine Transaktionskostenhypothese bei. Barendrecht hat das Spektrum der Optionen, die zur Verfügung stehen, wenn man im Streitfall Hilfe sucht, als Markt für Rechtsdienstleistungen konzipiert. [6]Barendrecht, Maurits (2009): Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009). Solche Dienstleistungen verursachen Produktionskosten und Transaktionskosten. Die Produktionskosten, so meint Barendrecht, erklärten nicht, warum viele Menschen ihre Rechtsbedürfnisse nicht befriedigen könnten. Für die meisten Streitigkeiten können Verhandlungen oder die Intervention eines Dritten brauchbare Lösungen zu angemessenen Kosten liefern. Ein tüchtiger Mediator oder ein Richter an einem Untergericht seien in der Lage, die meisten Familien-, Arbeits-, oder Nachbarschaftsstreitigkeiten in ein paar Stunden beizulegen. Die Technologie für Rechtsdienstleistungen sei nicht prohibitiv teuer. Aber, so fährt er fort, der Markt für Rechtsdienstleistungen sei in vielerlei Hinsicht unvollkommen. Im Abstract des Artikels verspricht der Autor, seine Perspektive könne erklären, warum Alternative Streitregelungsverfahren so erfolglos seien, wenn es darum gehe, Kunden anzuziehen. Speziell dieser Punkt wird aber nicht wirklich ausgearbeitet. Barendrecht unterscheidet fünf Produktionsstufen der Rechtsdienstleistung im Konfliktfall. Die erste, bei der es darum geht, die Parteien zusammenzubringen, ist wohl die für die Mediation wichtigste. Wir erfahren, dass die Parteien dazu eine Art Verfahrensvereinbarung treffen müssen. Das sei aber schwierig, weil sich hier eine zweite Verhandlungsebene eröffne, die mit psychischen Problemen belastet sei. Der Kläger habe zudem Probleme, den Beklagten zur Kooperation zu veranlassen, weil dieser meistens den status quo bevorzuge (das wissen wir ja schon). Und dann erfahren wir, dass Mediation ein Erfahrungsgut ist, so dass Information allein nicht genügt, weil man sie nicht bewerten kann. Das ist immerhin eine plausible Spezifizierung der Unkenntnishypothese.
McEwen und Milburn schließlich haben eine Konfliktdynamikhypothese entwickelt. Sie verweisen darauf, dass Konflikte einen Verlauf haben, indem sich eine Motivation gegen die freiwillige Teilnahme an einer Mediation aufbaut. [7]A. a. O. S. 26. Das beginnt mit einer Konfliktselektion, die nur noch wirklich streitwillige Parteien zurücklässt. Alle anderen scheitern schon an der kulturellen Barriere, die sie hindert, ihre Beschwer in einen Streit zu verwandeln. Man schreibt sich selbst die Verantwortung für seine Probleme zu und ist im Übrigen starkem sozialem Druck ausgesetzt, sich verträglich zu zeigen. Die Kommunikation mit dem Gegner lässt zusätzlich zu dem Ursprungskonflikt einen Metakonflikt entstehen, in dem es um das Verhalten des Gegner, Vorwerfbarkeit und Unvernunft geht, während man bemüht ist, die eigene Glaubwürdigkeit und Rechtschaffenheit zu verteidigen. Da hier die Selbstwahrnehmung und die eigenen moralische Integrität im Spiel sind, wird der Metakonflikt mit hoher emotionaler Beteiligung ausgetragen, die Aufmerksamkeit für alles andere stark einengt. Was dabei herauskommt, haben Merry und Silbey festgehalten, nachdem sie das Konfliktverhalten in einer städtischen Nachbarschaft beobachtet hatten:

by the time a conflict is serious enough to warrant an outsider’s intervention, disputants do not want what [mediation has] to offer. At this point the grievant wants vindication, protection of his or her rights … an advocate to help in the battle, or a third party who will uncover the ’truth’ and declare the other party wrong.

Oder, wie McEwen und Milburn (S. 31) formulieren:

The paradox of mediation, consequently, is that it offers disputing parties precisely what they do not want when they most need it.

Alle diese Hypothesen sind mehr oder weniger plausibel. Aber keine hat für sich genommen hinreichende Erklärungskraft. Vor allem aber zeigt keine einen Ausweg, wie man der Mediationsverweigerung anders als durch Druck beikommen könnte. Die Hebelhypothese legt es immerhin nahe, im Gerichtsverfahren einen Nebenausgang in die Mediation zu eröffnen. Alle, die in eine Ausbildung zum Mediator investieren wollen, sollten verpflichtet werden, zuvor nachzulesen, was Velikonja [8]Velikonja, Urška (2008): Making Peace and Making Money: Economic Analysis of the Market for Mediators in Private Practice. Online verfügbar unter http://works.bepress.com/urska_velikonja/1. über den Überoptimismus der Mediatoren schreibt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W. (1993): Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, S. 23–36
2 Merry, Sally Engle; Silbey, Susan S. (1984): What do Plaintiffs Want? Reexamining the Concept of Dispute. In: The Justice System Journal, Jg. 9, S. 151–179.
3 Jost, Fritz; Neumann, Tobias (2010): Etablierung der Mediation durch die Anwaltschaft! In: Zeitschrift für Konfliktmanagement, S. 164–168.
4 A. a. O. S. 45.
5 Galanter, Marc (2004): The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts. In: Journal of Empirical Legal Studies, Jg. 1, S. 459–570.
6 Barendrecht, Maurits (2009): Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009).
7 A. a. O. S. 26.
8 Velikonja, Urška (2008): Making Peace and Making Money: Economic Analysis of the Market for Mediators in Private Practice. Online verfügbar unter http://works.bepress.com/urska_velikonja/1.

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Das zweite Mediations-Paradox: Erfolgreich, schneller, billiger und besser, aber ungenutzt

Landauf, landab finden Tagungen und Symposien zur gerichtlichen Mediation statt. Die Akzeptanz in den Medien ist enorm. Den Protagonisten gelingt es, in erstaunlicher Weise, Prominenz aus Wissenschaft, Rechtspolitik und sogar »Gesellschaft« zu mobilisieren. Das sieht man auf einem Video über ein vom Contarini-Institut an der Fernuniversität Hagen veranstaltetes Mediationssymposium im Bayerischen Hof in München im Herbst 2008. Gemeinsam beschwören alle den Beginn einer neuen Streitkultur. Der interessierte Beobachter hat jedoch den Eindruck, dass vielen und schönen Worten nur wenige Taten folgen: Es fehlt eine nennenswerte Nachfrage.
Vor etwa 30 Jahren hatte die Rechtssoziologie die Defizite gerichtlicher Konfliktlösung beschrieben und Vorschläge zur alternativen Streitregelung aus den USA importiert. Damals ging es um Community Justice und Neighborhood Justice Centers. In der Folgezeit suchte man zunächst in der alten Bundesrepublik nach Resten außergerichtlicher Streitregelung etwa beim Schiedsmann, in den Güte- und Schlichtungsstellen für Verbraucher und in den Vergleichsbemühungen der Gerichte. Die Suche bekam nach der Wiedervereinigung noch einmal Auftrieb, weil man, in der Hoffnung, irgendetwas Brauchbares im Nachlass der DDR zu finden, die sog. Konfliktkommissionen ins Visier nahm. Doch es änderte sich wenig oder nichts.
Etwa ab 1990 entdeckte eine neue Juristengeneration (Breidenbach, Duve, Eidenmüller, Birner, Prause) noch einmal in den USA die »ADR« (Alternative Dispute Resolution), wie sie nun hieß. Orientierungspunkt war jetzt das Harvard Negotiation Project. Dafür hatten Fisher und Ury eine lehr- und lernbare Vermittlungstechnik entwickelt. Diese Technik wurde nun auch in Deutschland bekannt und verbreitet. Was bisher schlicht unter Vermittlung lief, bekam einen neuen Namen: Mediation. Eigentlich nur das englische Wort für Vermittlung, wirkte der Begriff in Deutschland wie eine Zauberformel. Unter diesem Zauberspruch sammelten sich Juristen und einige Angehörige anderer Professionen, die hofften, hier ein neues Berufsfeld etablieren zu können, auf dem sich ihre Neigung einer gesellschaftlich wertvollen Tätigkeit mit dem Broterwerb verbinden ließ. Sehr schnell wurden diese Idealisten von der Ausbildungsindustrie entdeckt. Die Mediatorenausbildung wurde Vorreiter all der Zusatzstudiengänge, mit denen sich heute die Hochschulen vermarkten. Es gibt in Deutschland zur Zeit angeblich [1]Nachtrag: Der Link, der bei der Abfassung des Artikels noch funktionierte, war im Oktober 2010 tot und die entsprechende Information von der Webseite des Contarini-Instituts an der Fernuni Hagen … Continue reading 6000 ausgebildete Mediatoren, aber vermutlich nicht einmal für jeden von ihnen jedes Jahr einen Fall.
Mehr oder weniger alle Autoren, die über ADR schreiben, sind davon überzeugt, dass sie es mit einer Erfolgsgeschichte zu tun haben. Sie stützen sich dabei auf zahlreiche Evaluationen einzelner ADR-Projekte, die fast ausnahmslos positiv ausfallen. Ich spreche von einem Naturgesetz der Vermittlung: Etwa zwei Drittel aller Streitigkeiten werden gütlich geregelt werden, wenn sich die Parteien sich in ein Vermittlungsverfahren begeben. Kaum weniger groß ist die Übereinstimmung, dass alternative Verfahren regelmäßig kürzer dauern als Gerichtsverfahren, dass sie geringere Kosten verursachen, dass sie von den Beteiligten als weniger belastend empfunden werden und dass auch die Umsetzung des Verfahrensergebnisses erfolgreicher ist als die Vollstreckung eines Gerichtsurteils. Die Theorie hinter der Mediation scheint also zu stimmen. Trotzdem fristen die alternativen Streitregelungsverfahren neben der Justiz nur das Dasein eines Mauerblümchens. Ihr Angebot wird vom Publikum nicht angenommen. Sie leben von den Fällen, die ihnen von der Justiz überwiesen werden. Gewisse Erfolge, wie sie anscheinend in den USA erreicht worden sind, beruhen auf massiver Steuerung, nämlich darauf, dass die Parteien gesetzlich in die gerichtsverbundene Mediation gezwungen werden.
Auch in Deutschland hat die Justiz seit 2002 mit Hilfe des damals neuen § 278 ZPO die Mediation für sich entdeckt Die gerichtsverbundene Mediation löst drei Probleme auf einen Schlag. Erstens: Sie überwindet mangelnde Akzeptanz der Mediation durch sanften Druck. Wer sich »uneinsichtig« zeigt, indem er seine Zustimmung verweigert, muss mindestens subjektiv damit rechnen, dass das Gericht ihm sein Wohlwollen entzieht und im streitigen Verfahren von den zahlreichen Sanktionsmöglichkeiten Gebrauch macht, die ihm zur Verfügung stehen. Zweitens: Sie verursacht keine zusätzlichen Kosten. Drittens: Falls sie scheitert, führt das begonnene Gerichtsverfahren doch irgendwie zu einem Ende des Konflikts. Da kann man Mediation ruhig ausprobieren und, wenn nicht genug heraus kommt, immer noch auf ein günstigeres Urteil hoffen. Es ist sozusagen die List der Vernunft, dass es dann doch meistens zu einem Kompromiss kommt, wenn man sich erst einmal auf das Mediationsverfahren eingelassen hat. Die gerichtsverbundene Mediation ist anscheinend sehr erfolgreich, soweit es darum geht, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen und die Vermittlung zu einem guten Ende zu führen (Projektabschlussbericht Niedersachsen). Kein Wunder. Die Justiz trägt alle Kosten. Die Verbreitung der gerichtsverbundenen Mediation beschränkt sich bisher auf wenige Pilot- oder Projektgerichte. Massenwirksam ist sie noch nicht.
Das (erste) Mediationsparadox haben McEwen und Milburn [2]McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W.: Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, 1993, S. 23–36. beschrieben: Man muss die Streithähne mehr oder weniger an den Verhandlungstisch nötigen, damit sie freiwillig zu einer Einigung gelangen. Man muss sie sozusagen zu ihrem Glück zwingen, denn obwohl sie am Anfang meist unwillig waren, sind sie am Ende doch ganz überwiegend sehr zufrieden. Das ist die in der Literatur vielfach bestätigte Erfahrung. Als zweites Mediationsparadox bezeichne ich den Gegensatz zwischen der publizierten Akzeptanz von konsensualer Streitschlichtung und den guten Erfolgsaussichten von Mediationsverfahren auf der einen und dem mangelnden Zulauf auf der anderen Seite.
Die Verfechter der Mediation – Gegner gibt es praktisch kaum – behaupten einen positiven Trend. Aber Zahlen nennen sie nicht. Die gemeldeten Erfolge zeigen sich am Einzelfall und sind damit qualitativ. Der gesellschaftliche Erfolg alternativer Verfahren lässt sich jedoch nicht ohne quantitative Aspekte beurteilen. Eine große, vom Bundesministerium der Justiz beim Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg in Auftrag gegebene Untersuchung über 20 Staaten trägt den Untertitel »Rechtstatsachen, Vergleich, Regelungen«. [3]Hopt, Klaus J.; Steffek, Felix (Hg.): Mediation. Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 2008. Aber die beigebrachten Rechtstatsachen sind kümmerlich. Statistiken über die Verwendung von Mediationsverfahren werden schlicht für irrelevant erklärt:

»… dass sich die Mediation nicht statistisch erfassen und bewerten lässt. Ihre Wirkung und Bedeutung für die Rechtspraxis ergibt und erklärt sich vielmehr erst im Zusammenspiel mit dem Rechtsumfeld und der Streitbewältigungskultur. in der sie eingebettet ist. Eine für diese Zusammenhänge unempfindsame Addition und Division der in den Länderberichten erfassten Daten brächte daher keinen Erkenntnisgewinn.« [4]Hopt/Steffek, S: 77

Massive Zahlen liegen nur für China und Japan vor. In China sollen 2004 von den Volksschlichtungskomitees 4.492.157 Fälle behandelt worden sein, während 4.492.157 Fälle an die Volksgerichte erster Instanz gelangten [5]Pißler in Hopt/Steffek S. 627-631. Ich verstehe weder Japanisch noch Chinesisch und vermag diese Zahlen daher nicht einzuschätzen.
In Deutschland gibt es immerhin eine halbamtliche Statistik für den Täter-Opfer-Ausgleich, die Vollständigkeit für sich in Anspruch nimmt [6]Kerner, Hans-Jürgen/Hartmann, Arthur, Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik für den Jahrgang 2005, mit Vergleich zu den Jahrgängen … Continue reading. Sie beginnt 1993 mit einem Fallaufkommen von 1238, erreicht 1999 einen Höhepunkt mit 5177 Fällen und liegt seit 2003 deutlich unter 3000. Wenn man daneben hält, dass jährlich etwa 800.000 Verurteilungen erfolgen, so sind die Zahlen wenig eindrucksvoll.
Auch für die USA fehlt an brauchbaren Globalzahlen. Prause spricht von der Messung des Unmessbaren [7]Prause, Matthias, The Oxymoron of Measuring the Immeasurable: Potential and Challenges of Determining Mediation Developments in the U.S., Harvard Negotiation Review 13, 2008, 132-165.. Er schlägt ein indirektes Messverfahren vor, nämlich einen Mediation Receptivity Index (MRI) nach Analogie des Corruption Perceptivity Index. Andere Autoren verweisen auf den aus der Statistik belegbaren Rückgang förmlicher Urteile, ein Phänomen, das als vanishing trial bzeichnet wird, und schließen daraus auf eine Zunahme von ADR.
Der MRI geht auf einen Vorschlag von Frank E. Sander zurück und ist von Prause operationalisiert worden. Die Ankündigung klingt verheißungsvoll:

»Mediation Receptivity describes the level of use and awareness of mediation as a means to resolve disputes in a particular environment and the level of supporting infrastructure.« (Prause S. 139).

In den Mediation Receptivity Index gehen als »objektive Indikatoren« keine Fallzahlen, sondern Angaben über die vorhandenen Einrichtungen, die Mediation anbieten, über die Mitgliederzahl der Organisationen, die sich um ADR kümmern, über akademische Publikationen zum Thema, über Vorkehrungen der Einzelstaaten zur Implementation des Uniform Mediation Act und über das Vorhandensein eines State ADR Office ein. Als subjektive Elemente kommen Einschätzungen von Experten hinzu. Auf diese Weise sollen die Staaten der USA nach ihrer Mediation Receptivity auf einer Skala von 1 bis 10 eingeordnet werden. Wollte man Deutschland in den MRI einreihen, so gäbe es vermutlich einen guten Platz. Die Zahl der Einrichtungen zur alternativen Streitregelung in den USA liegt heute wohl im vierstelligen Bereich. Aber das ist gar nicht so viel, wenn man die Größe des Landes berücksichtigt und bedenkt, dass es in Deutschland über 5000 kommunale Schlichtungsstellen und allein in Nordrhein-Westfalen 1.258 Schiedspersonen gibt. Landauf, landab treffen sich in Deutschland Mediations-Experten auf Tagungen und Symposien und verkünden ihre positive Einschätzung. Die Literaturproduktion ist erheblich, die Akzeptanz in den Medien groß. Doch all das ändert nichts daran: Alle loben die Mediation, aber niemand verzichtet deshalb auf eine Klage.
In den USA stützt sich der Konsens, dass ADR allgemein akzeptiert werde und auch quantitativ enorm gewachsen sei, auf ein Phänomen, das als »vanishing trial« bekannt ist. Gemeint ist die Tatsache, dass im Laufe der Jahre die Zahl der streitigen Urteile stark zurückgegangen ist. Marc Galanter, der dieses Phänomen näher untersucht hat, fasst es wie folgt zusammen:

»The portion of federal civil cases resolved by trial fell from 11.5 percent in 1962 to 1.8 percent in 2002, continuing a long historic decline. More startling was the 60 percent decline in the absolute number of trials since the mid 1980s. The makeup of trials shifted from a predominance of torts to a predominance of civil rights, but trials are declining in every case category. A similar decline in both the percentage and the absolute number of trials is found in federal criminal cases and in bankruptcy cases. The phenomenon is not confined to the federal courts; there are comparable declines of trials, both civil and criminal, in the state courts, where the great majority of trials occur. Plausible causes for this decline include a shift in ideology and practice among litigants, lawyers, and judges. …Within the courts, judges conduct trials at only a fraction of the rate that their predecessors did, but they are more heavily involved in the early stages of cases. Although virtually every other indicator of legal activity is rising, trials are declining not only in relation to cases in the courts but to the size of the population and the size of the economy.« [8]Galanter, Marc (2004) The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts 1, 459-570, 459 f..

Es liegt nahe, diesen Wandel der wachsenden Bedeutung von ADR zuzuschreiben. Aber der Zusammenhang ist nicht klar. Aber der Trend hält schon viel länger an, und aus der Statistik gibt es keinen Beleg [9]Stipanowich, Thomas J, ADR and the “Vanishing Trial”: The Growth and Impact of “Alternative Dispute Resolution”, Journal of Empirical Legal Studies 1, 2004, 843–912. . Die Zahlen, die genannt werden – 24.000 Verweisungen bei den Bundesgerichten, das entspricht etwa 10 % der Eingänge – sind noch nicht wirklich eindrucksvoll. In einzelnen Staaten – besonders in Florida, Kalifornien und Ohio – erreicht die ADR aber wohl eine Größenordnung von 20 % der Eingänge bei den Gerichten.
In Deutschland ist kein vergleichbarer Schwund des Anteils der streitig entschiedenen Gerichtsverfahren zu beobachten. Das gilt grundsätzlich sowohl für Zivilprozesse wie für Strafsachen. In Zivilprozesssachen hat es allerdings einen einmaligen Rückgang der Urteilsquote um 5 % (von etwa 30 auf 25 %) und einen entsprechenden Anstieg der Vergleichsquote gegeben, und zwar 2001/2002, anscheinend als Folge einer Änderung der Zivilprozessordnung. Immerhin. Eine Erklärung für die andere Entwicklung in Deutschland liegt sicher darin, dass hier die Hürden zum streitigen Urteil viel niedriger liegen als in den USA zum »trial«. Die gerichtsabhängige Mediation ist in Deutschland bisher erst bei einigen Pilotgerichten eingerichtet und allein deshalb noch nicht mengenwirksam.
Die gerichtsunabhängige Mediation hat nur Nischenplätze erobern können. Eine solche Nische bilden Familien- und Ehestreitigkeiten und wohl auch Erbstreitigkeiten. Doch auch dafür gibt es nur eine kleine Klientel, vergleichbar, aber viel kleiner noch, als die Gruppe derer, die in Naturkostläden einkaufen oder für die Versorgung mit Strom aus alternativen Quellen einen höheren Preis in Kauf nehmen. Zahlen habe ich nicht gefunden.
Die professionelle Mediation ist ein personal- und zeitaufwendiges Verfahren. Nur wenige Konflikte rechtfertigen diesen Aufwand. Deshalb konzentriert sich das freie Mediationsangebot auf zwei Felder, in denen es nicht nur Konflikte gibt, sondern auch Geld vorhanden ist, nämlich auf die Mediation bei umstrittenen umweltrelevanten Planungsvorhaben und auf die Wirtschaftsmediation. Für die Umweltmediation wird von der Mediationsindustrie viel Reklame gemacht. Es hat indessen nur wenige Verfahren gegeben, und die waren kaum erfolgreich. [10]Jansen, Dorothea, Mediationsverfahren in der Umweltpolitik. Politische Vierteljahresschrift 38, 1997, 274-297. Ein Positivbeispiel aus Österreich: Kessen/König Eisenbahntrasse Gasteiner Tal, … Continue reading Es fehlt nicht an Beteuerungen, dass die Wirtschaftsmediation immer mehr an Fahrt gewinne und höchst erfolgreich sei. Doch Genaues weiß man nicht. Es gibt eine Menge Literatur, die die Wirtschaftsmediation anpreist, aber nur vereinzelt Berichte über erfolgreich verlaufene Verfahren (z. B. Kraus 1999). In einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse Coopers von 2005 [11]Im Internet anscheinend nicht mehr verfügbar. heißt es, dass das Interesse der Wirtschaft an Mediation stark gestiegen sei, betont wird jedoch zugleich der »offenkundige Widerspruch«, dass die Unternehmen zwar versuchten, Streitigkeiten zunächst durch Verhandlungen zu lösen, im Falle des Scheiterns aber meistens direkt den Weg zum Gericht wählten. [12]Eine qualitative Folgestudie aus dem Jahr 2007 versucht vergeblich, diese Inkongruenz zu erklären. Auch wenn man berücksichtigt, dass naturgemäß keine offiziellen Statistiken vorhanden sind und dass die einzelnen Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, müssten doch die Protagonisten konkretere Angaben über Art und Umfang der Verfahren machen können.
Eine befriedigende Erklärung für so viel Mediationsabstinenz sehe ich nicht. Am wenigsten taugt die übliche Begründung, das Publikum sei über die Vorzüge der Mediation nicht hinreichend aufgeklärt und verharre daher im Konfrontationsdenken, die sog. ignorance hypothesis. Dazu und über andere Erklärungen weiterführend McEwen/Milburn S. 25 ff.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Anscheinend wird Rsozblog gelegentlich gelesen. Jedenfalls bin ich aus dem Niedersächsischen Justizministerium auf die Einträge zur Mediation angesprochen und gebeten worden, am dem nächsten Konfliktmanagementkongress in Hannover teilzunehmen. Es handelt sich immerhin um den 12. Kongress dieser Reihe. Das ist Anlass, die Internetseite mit einigen Daten über die Vorläufer mitzuteilen: http://www.km-kongress.de/.

Der (mir unbekannte) Verband Integrierte Mediation unterhält eine gut gemachte Internetseite. Ganz interessant die Seite »Mythen der Mediation«.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nachtrag: Der Link, der bei der Abfassung des Artikels noch funktionierte, war im Oktober 2010 tot und die entsprechende Information von der Webseite des Contarini-Instituts an der Fernuni Hagen verschwunden. Die Zahl war wohl aus Prestigegründen erheblich übertrieben.
2 McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W.: Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, 1993, S. 23–36.
3 Hopt, Klaus J.; Steffek, Felix (Hg.): Mediation. Rechtstatsachen, Rechtsvergleich, Regelungen, 2008.
4 Hopt/Steffek, S: 77
5 Pißler in Hopt/Steffek S. 627-631
6 Kerner, Hans-Jürgen/Hartmann, Arthur, Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Auswertung der bundesweiten Täter-Opfer-Ausgleichs-Statistik für den Jahrgang 2005, mit Vergleich zu den Jahrgängen 2003 und 2004, sowie einem Rückblick auf die Entwicklung seit 1993, Bundesministerium der Justiz, Berlin2008.
7 Prause, Matthias, The Oxymoron of Measuring the Immeasurable: Potential and Challenges of Determining Mediation Developments in the U.S., Harvard Negotiation Review 13, 2008, 132-165.
8 Galanter, Marc (2004) The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts 1, 459-570, 459 f.
9 Stipanowich, Thomas J, ADR and the “Vanishing Trial”: The Growth and Impact of “Alternative Dispute Resolution”, Journal of Empirical Legal Studies 1, 2004, 843–912.
10 Jansen, Dorothea, Mediationsverfahren in der Umweltpolitik. Politische Vierteljahresschrift 38, 1997, 274-297. Ein Positivbeispiel aus Österreich: Kessen/König Eisenbahntrasse Gasteiner Tal, Zeitschrift für Konfliktmanagement 2002, 128 f.
11 Im Internet anscheinend nicht mehr verfügbar.
12 Eine qualitative Folgestudie aus dem Jahr 2007 versucht vergeblich, diese Inkongruenz zu erklären.

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