Lawfare

Wenn man nach »Lawfare« gugelt, findet man, dass der Begriff 2001 von dem damaligen Oberst im Dienste der amerikanischen Militärjustiz, Charles Dunlap, erfunden wurde. [1]Charles Dunlap, Law and Military Interventions: Preserving Humanitarian Values in 21st Century Conflicts (Carr Center for Human Rights, John F. Kennedy School of Government, Harvard University, … Continue reading Dunlop beginnt seinen Essay von 2001 mit der Frage?:

Is warfare turning into lawfare? In other words, is international law undercutting the ability of the U.S. to conduct effective military interventions? Is it becoming a vehicle to exploit American values in ways that actually increase risks to civilians? In short, is law becoming more of the problem in modern war instead of part of the solution? … One of the most striking features of the Kosovo campaign, in fact, was the remarkably direct role lawyers played in managing combat operations.

Gemeint ist also der Gebrauch von Recht, insbesondere Völkerrecht, in Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen, Guerillas oder Terroristen und Staaten mit einem liberalen Rechtssystem. Dabei geht es darum, durch den Auftritt vor nationalen oder internationalen Gerichten mindestens einen moralischen Vorteil gegenüber dem Gegner zu gewinnen. Al Quaida soll in einem Trainingshandbuch (das die Polizei in Manchester/England entdeckt hat) seinen Kämpfern für den Fall der Verhaftung empfohlen haben, sich über Folter und andere Formen menschenrechtswidrigen Missbrauchs zu beklagen. In dieser Verwendung des Wortes spiegelt sich der verbreitete politische Widerstand der USA gegen ein Völkerstrafrecht und internationale Gerichtshöfe.
Eigentlich wollte ich den Ausdruck – ohne seine ihm von Dunlop mitgegebenen Konnotationen – übernehmen, um unter dieser prägnanten Überschrift die juristischen Strategien zu beschreiben, mit denen Opfer, ihre Anwälte und vor allem NGOs versuchen, über Ländergrenzen hinweg Ansprüche durchzusetzen, die auf transnationales Recht gestützt werden, besonders natürlich auf Menschenrechtsverletzungen. In der vergangenen Woche las man wieder unter der Überschrift »Deutsche Konzerne am Pranger der amerikanischen Justiz« [2]FAZ vom 3. 3. 2010 S. 19. Einzelheiten findet man auf der Seite des Business Human Rights Resource Center . über Sammelklagen, mit denen Daimler und Rheinmetall sowie den amerikanischen Konzernen IBM, Ford und General Motors durch Lieferung von Fahrzeugen und Gerät sowie durch Weitergabe von Informationen über Apartheidgegner Verbrechen des Regimes bis hin zur Folter und zu rechtwidrigen Tötungen unterstützt zu haben. Schon seit einigen Jahren streitet man sich vor den Gerichten in New York um die Zulässigkeit der Klagen, die auf das Alien Tort Claims Act von 1789 (ATCA) [3]Auch Alien Tort Statute genannt. Die einzige Bestimmung besagt, dass Jedermann vor amerikanischen District Courts Zivilklagen erheben kann, die auf die Verletzung von Völkerrecht oder … Continue reading gestützt werden. Auf der Rechtssoziologietagung in Bremen Anfang März 2010 war die corporate responsability von multinationalen Unternehmen (TNCs) ein zentrales Thema. Da war auch die Rede davon, dass Klagen gegen die Parent Company einer TNC im Mutterland nicht mehr bloß auf Durchgriffshaftung (piercing the veil), sondern auf eine eigene Verantwortung der Parent Company gestützt werden, die sich aus einer Verletzung firmeneigener codes of conduct oder Richtlinien internationaler standard setting bodies [4]Dazu von Larry Catá Backer, der in Bremen einen Vortrag hielt, Multinational Corporations, Transnational Law: The United Nation’s Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations as … Continue reading ergeben (foreign direct liability). Für solche Klagen stehen außer den Menschenrechtsorganisationen, die die Opfer mobilisieren, unternehmerische Anwälte bereit, die sich auf Human-Rights-Angelegenheiten geworfen haben. Bisher waren die auf den ATCA gestützten Klagen allerdings wenig erfolgreich, so dass man nach anderen Rechtsgrundlagen Ausschau hält. [5]Barnali Choudhury, Beyond the Alien Tort Claims Act: Alternative Approaches to Attributing Liability to Corporations for Extraterritorial Abuses. Northwestern Journal of International Law & … Continue reading
»Lawfare« wäre eine schöne Überschrift, um über solche Aktivitäten zu berichten. Doch bevor ich damit begonnen hatte, nach Material zu Lawfare im Sinne von Recht als transnationalem Kampfmittel zu suchen, bin auf das Buch von Jean und John Comaroff über »Law and Disorder in the Postcolony« gestoßen, die ihrerseits von Lawfare reden, den Ausdruck aber in einem wiederum anderen Sinne verwenden. John L. Comaroff hatte die Wortschöpfung schon 2001 etwa zeitgleich und wohl auch unabhängig von Dunlop benutzt. Er erinnerte daran, dass Eingeborene in Südafrika im 19. Jahrhundert

referred to the appurtenances of the law – courts, papers, contracts, agents – as the »English mode of warfare«, um dann fortzufahren: »That ›mode of warfare‹ – or rather lawfare –, the effort to conquer and control indigenous peoples by the coercive use of legal means ….

2007 haben die Comaroffs diesen Ausdruck wieder aufgegriffen. Nun bestimmen sie (S. 30) lawfare als

the resort to legal instruments, to the violence inherent in the law, to commit acts of political coercion, even erasure.

Sie schildern dazu viele Beispiele, wie Gewalt, die man für Unrecht halten möchte, sorgsam in Rechtsform verpackt wird, so etwa vom Diktator Mugabe in Zimbabwe. Recht, so meinen sie, sei in den früheren Kolonien gewissermaßen zum Fetisch geworden und diene zur Juridifizierung von Politik.
Und was mache ich nun mit »Lawfare«?

Nachtrag vom 5. April 2012: In der Heimlichen Juristenzeitung berichtet Katja Gelinsky heute unter der Überschrift »Recht ohne Grenzen« über den aktuellen Stand der Kontroverse über die Reichweite des Alien Tort Claims Act in den USA. Der Artikel ist nur im kostenpflichtigen Archiv der Zeitung zugänglich. Nähere Informationen findet man auf Scotus-Blog. Auch die zahlreichen Amicus-Briefs sind verlinkt, darunter auch derjenige, mit dem sich die deutsche Bundesregierung gegen die extraterritoriale Anwendung des Gesetzes wendet.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Charles Dunlap, Law and Military Interventions: Preserving Humanitarian Values in 21st Century Conflicts (Carr Center for Human Rights, John F. Kennedy School of Government, Harvard University, Working Paper, 2001), verfügbar unter http://www.ksg.harvard.edu/cchrp/Web%20Working%20Papers/Use%20of%20Force/Dunlap2001.pdf. Vgl. auch Dunlap, Lawfare Today: A Perspective, Yale Journal of International Affairs 2008, 146-154. Dunlap selbst schreibt die Wortschöpfung einem Artikel von John Carlson und Neville Yeomans aus dem Jahre 1975 zu.
2 FAZ vom 3. 3. 2010 S. 19. Einzelheiten findet man auf der Seite des Business Human Rights Resource Center .
3 Auch Alien Tort Statute genannt. Die einzige Bestimmung besagt, dass Jedermann vor amerikanischen District Courts Zivilklagen erheben kann, die auf die Verletzung von Völkerrecht oder internationalen Verträgen der Vereinigten Staaten begründet werden.
4 Dazu von Larry Catá Backer, der in Bremen einen Vortrag hielt, Multinational Corporations, Transnational Law: The United Nation’s Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations as Harbinger of Corporate Responsibility in International Law, in: Columbia Human Rights Law Review 37 (2005), 101–192, verfügbar unter: http://ssrn.com/abstract=695641.
5 Barnali Choudhury, Beyond the Alien Tort Claims Act: Alternative Approaches to Attributing Liability to Corporations for Extraterritorial Abuses. Northwestern Journal of International Law & Business, Vol. 26, No. 43, 2005, verfügbar unter: http://ssrn.com/abstract=1018207.

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Die Deinstitutionalisierung der Rechtssoziologie schreitet fort

Auf der Tagung der Vereinigung für Rechtssoziologie, die vom 3. bis 5. März in Bremen stattfand, [1]Die Tagung war inhaltsreich und angenehm. Ich fürchte, dass ich nicht mehr dazu komme, etwas zu berichten, weil ich gleich wieder verreisen muss. hat die Mitgliederversammlung erwartungsgemäß die Umbenennung in »Vereinigung für Recht und Gesellschaft« beschlossen. Prof. Jost, Bielefeld, RiBVerfG Prof. Bryde und ich haben zwar protestiert, aber doch nur zaghaft, denn es ist Sache der nächsten Generation zu bestimmen, unter welchem Namen sie auftreten will. Auf der Versammlung wurde berichtet, dass in den letzten zwei Semestern weniger als die Hälfte der deutschen Rechtsfakultäten noch eine Lehrveranstaltung mit dem Titel »Rechtssoziologie« halten ließ. Warum auch, wenn die Fachgemeinschaft sich nicht mehr traut. In ihrem Grußwort zur Tagung hatte die Justizministerin des Bundes meine Formulierung von der Rechtssoziologie als Erfolgsgeschichte zitiert. Das ist mir trotzdem nicht peinlich, denn ich bin davon überzeugt, dass Rechtssoziologie, wenn auch teilweise unter fremden Namen, weiter Wirkung zeigen wird.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Tagung war inhaltsreich und angenehm. Ich fürchte, dass ich nicht mehr dazu komme, etwas zu berichten, weil ich gleich wieder verreisen muss.

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Noch einmal: Das zweite Mediationsparadox

Zunächst zur Erinnerung: Als Mediationsparadox hatten McEwen und Milburn [1]McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W. (1993): Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, S. 23–36 das bemerkenswerte Phänomen bezeichnet, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate nicht wesentlich beeinträchtigt. Auch hier gilt also das von mir so genannte Naturrecht oder Naturgesetz der Vermittlung, dass konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung enden, wenn es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Als zweites Mediationsparadox hatte ich die Beobachtung bezeichnet, dass die Mediation ungenutzt bleibt, obwohl sie doch so erfolgreich, nämlich schneller, besser und billiger als Gerichtsverfahren sein soll. Jetzt habe ich mich noch einmal auf die Suche nach Erklärungen für diesen merkwürdigen Widerspruch gemacht. Die Fundstücke will ich heute vorstellen.
Für die Zurückhaltung des Publikums bei der Inanspruchnahme von Mediations- und Güteverfahren aller Art wird ein ganzes Bündel von Begründungen angeboten. Ich beginne mit der schon genannten Unkenntnishypothese. Sie besagt, dem Publikum sei Mediation als Alternative zum Gerichtsverfahren nicht hinreichend geläufig. Diese Hypothese ist wohl die schwächste. Die Justizverwaltungen geben sich überall große Mühe, Mediation publik zu machen, und die Medien widmen dem Thema immer wieder positiv besetzte Aufmerksamkeit.

Langsam müsste so viel Werbung eigentlich wirken. Merry und Silbey haben schon 1984 darauf hingewiesen, dass die Menschen tatsächlich große Bereitschaft zeigen, Alternativen zum Gerichtsprozess zu finden, und dass sie sich dazu bei einem breiten Spektrum von Auskunfts- und Beratungsstellen umhören. [2]Merry, Sally Engle; Silbey, Susan S. (1984): What do Plaintiffs Want? Reexamining the Concept of Dispute. In: The Justice System Journal, Jg. 9, S. 151–179. McEwen und Milburn (S. 25) meinen, die Unkenntnishypothese diene in erster Linie dazu, die Ideologie der Mediation als eines auf Freiwilligkeit beruhenden Verfahrens zu stützen. Wenn die Parteien nicht hinreichend informiert sind, dann könne man sie ruhig in die Mediation zwingen, denn hätten sie es besser gewusst, wären sie freiwillig gegangen.
Die Torhüterhypothese behauptet, dass Richter und Anwälte die Parteien davon abhalten, die Mediation zu wählen. Es ist wohl richtig: Als Ergebnis ihrer Professionalisierung haben Juristen (hoffentlich) ein Interesse an Recht und Gerechtigkeit, das über den Einzelfall hinausgeht, und ferner haben sie auch jeweils eine eigene Meinung darüber, was im Falle richtig ist. Daraus folgt ein professionelles Interesse, die Sach- und Rechtslage zur Sprache zu bringen, auch wenn ein Vermittlungsverfahren für den Mandanten vorteilhafter wäre. Ein Rechtsanwalt wird es als Belohnung empfinden, wenn er seine Fähigkeiten und Kenntnisse unter Beweis stellen kann. Der nächstliegende Weg besteht darin, eine Prognose abzugeben, wie das Gericht entscheiden würde, und diese Prognose dann mit einer Klage unter Beweis zu stellen. Allerdings hat sich doch mindestens die Rhetorik der Anwaltschaft inzwischen zugunsten der Mediation gewandelt. Es ist sicher zutreffend: Ohne Unterstützung der Rechtsanwälte wird es nichts mit der gerichtsunabhängigen Mediation. Und es ist auch wohl nicht unbedingt die Gebührenstruktur, die sie davon abhält, sich wechselseitig auch als Mediatoren einzusetzen. Jost und Neumann [3]Jost, Fritz; Neumann, Tobias (2010): Etablierung der Mediation durch die Anwaltschaft! In: Zeitschrift für Konfliktmanagement, S. 164–168. suchen die Ursache in erster Linie in den Wettbewerbsstrukturen der Profession.
Nach der Streitkulturhypothese besteht eine verbreitete kulturelle Disposition gegen Vermittlung und Kompromiss. Insbesondere wir Deutschen sagen uns selbst übertriebene Streitsucht nach. Daher betonen die Befürworter der Mediation, das Ziel aller Anstrengungen müsse eine Veränderung der Streitkultur sein. McEwen und Milburn halten entgegen, dass die Streitkulturhypothese auf einem Zirkelschluss beruhen könnte, weil die Streitkultur erst durch die Beobachtung des Streitverhaltens erschlossen werde.
McEwen und Maiman [4]A. a. O. S. 45. haben eine Hebelhypothese angedeutet. Sie fragen, warum, wenn denn Mediation so viel besser ist als der Gerichtsprozess, sowenig Streitparteien das Vermittlungsverfahren wählen, ohne vorher geklagt zu haben. Sie gehen mit Christie davon aus, dass für die meisten Menschen und Organisationen Verhandlungen die bevorzugte Art der Streitbehandlung sei, weil sie den Parteien die Kontrolle über den Konflikt lasse. Aber in der Regel habe eben doch nur eine Partei ein Interesse an einer Lösung. Die andere sei mit dem status quo zufrieden. Um sie an den Verhandlungstisch zu bringen, müsse der Gegner ihre Kosten erhöhen. Der schwächeren Partei blieben da kaum andere Mittel als der Weg zum Gericht. So könne oft erst die Klage helfen, eine einverständliche Lösung zu finden. Formelle und informelle Konfliktregelung, so McEwen und Maiman, müsse man daher eher als ein Zusammenspiel und nicht so sehr als Alternativen betrachten. Die Hebelhypothese ergänzt sich ganz gut mit dem Phänomen des vanishing trial, dass man in den USA beobachtet [5]Galanter, Marc (2004): The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts. In: Journal of Empirical Legal Studies, Jg. 1, S. 459–570.
, das heißt also, dass die Prozesse – deren Zahl nicht abgenommen hat – nur noch ganz ausnahmsweise bis zum förmlichen Abschluss durch ein trial durchgeführt werden. Ein Blick in die deutsche Zivilprozess-Statistik zeigt zwar seit 2002 eine Erhöhung der Vergleichsquote zu Lasten der Urteilsquote um etwa 5 %, die wohl auf den damals neuen § 278 ZO zurückzuführen sein könnte. Doch man kann deutsche Urteile kaum mit dem amerikanischen trial vergleichen.
Die ökonomische Analyse des Rechts steuert eine Transaktionskostenhypothese bei. Barendrecht hat das Spektrum der Optionen, die zur Verfügung stehen, wenn man im Streitfall Hilfe sucht, als Markt für Rechtsdienstleistungen konzipiert. [6]Barendrecht, Maurits (2009): Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009). Solche Dienstleistungen verursachen Produktionskosten und Transaktionskosten. Die Produktionskosten, so meint Barendrecht, erklärten nicht, warum viele Menschen ihre Rechtsbedürfnisse nicht befriedigen könnten. Für die meisten Streitigkeiten können Verhandlungen oder die Intervention eines Dritten brauchbare Lösungen zu angemessenen Kosten liefern. Ein tüchtiger Mediator oder ein Richter an einem Untergericht seien in der Lage, die meisten Familien-, Arbeits-, oder Nachbarschaftsstreitigkeiten in ein paar Stunden beizulegen. Die Technologie für Rechtsdienstleistungen sei nicht prohibitiv teuer. Aber, so fährt er fort, der Markt für Rechtsdienstleistungen sei in vielerlei Hinsicht unvollkommen. Im Abstract des Artikels verspricht der Autor, seine Perspektive könne erklären, warum Alternative Streitregelungsverfahren so erfolglos seien, wenn es darum gehe, Kunden anzuziehen. Speziell dieser Punkt wird aber nicht wirklich ausgearbeitet. Barendrecht unterscheidet fünf Produktionsstufen der Rechtsdienstleistung im Konfliktfall. Die erste, bei der es darum geht, die Parteien zusammenzubringen, ist wohl die für die Mediation wichtigste. Wir erfahren, dass die Parteien dazu eine Art Verfahrensvereinbarung treffen müssen. Das sei aber schwierig, weil sich hier eine zweite Verhandlungsebene eröffne, die mit psychischen Problemen belastet sei. Der Kläger habe zudem Probleme, den Beklagten zur Kooperation zu veranlassen, weil dieser meistens den status quo bevorzuge (das wissen wir ja schon). Und dann erfahren wir, dass Mediation ein Erfahrungsgut ist, so dass Information allein nicht genügt, weil man sie nicht bewerten kann. Das ist immerhin eine plausible Spezifizierung der Unkenntnishypothese.
McEwen und Milburn schließlich haben eine Konfliktdynamikhypothese entwickelt. Sie verweisen darauf, dass Konflikte einen Verlauf haben, indem sich eine Motivation gegen die freiwillige Teilnahme an einer Mediation aufbaut. [7]A. a. O. S. 26. Das beginnt mit einer Konfliktselektion, die nur noch wirklich streitwillige Parteien zurücklässt. Alle anderen scheitern schon an der kulturellen Barriere, die sie hindert, ihre Beschwer in einen Streit zu verwandeln. Man schreibt sich selbst die Verantwortung für seine Probleme zu und ist im Übrigen starkem sozialem Druck ausgesetzt, sich verträglich zu zeigen. Die Kommunikation mit dem Gegner lässt zusätzlich zu dem Ursprungskonflikt einen Metakonflikt entstehen, in dem es um das Verhalten des Gegner, Vorwerfbarkeit und Unvernunft geht, während man bemüht ist, die eigene Glaubwürdigkeit und Rechtschaffenheit zu verteidigen. Da hier die Selbstwahrnehmung und die eigenen moralische Integrität im Spiel sind, wird der Metakonflikt mit hoher emotionaler Beteiligung ausgetragen, die Aufmerksamkeit für alles andere stark einengt. Was dabei herauskommt, haben Merry und Silbey festgehalten, nachdem sie das Konfliktverhalten in einer städtischen Nachbarschaft beobachtet hatten:

by the time a conflict is serious enough to warrant an outsider’s intervention, disputants do not want what [mediation has] to offer. At this point the grievant wants vindication, protection of his or her rights … an advocate to help in the battle, or a third party who will uncover the ’truth’ and declare the other party wrong.

Oder, wie McEwen und Milburn (S. 31) formulieren:

The paradox of mediation, consequently, is that it offers disputing parties precisely what they do not want when they most need it.

Alle diese Hypothesen sind mehr oder weniger plausibel. Aber keine hat für sich genommen hinreichende Erklärungskraft. Vor allem aber zeigt keine einen Ausweg, wie man der Mediationsverweigerung anders als durch Druck beikommen könnte. Die Hebelhypothese legt es immerhin nahe, im Gerichtsverfahren einen Nebenausgang in die Mediation zu eröffnen. Alle, die in eine Ausbildung zum Mediator investieren wollen, sollten verpflichtet werden, zuvor nachzulesen, was Velikonja [8]Velikonja, Urška (2008): Making Peace and Making Money: Economic Analysis of the Market for Mediators in Private Practice. Online verfügbar unter http://works.bepress.com/urska_velikonja/1. über den Überoptimismus der Mediatoren schreibt.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 McEwen, Craig A.; Milburn, Thomas W. (1993): Explaining a Paradox of Mediation. In: Negotiation Journal, S. 23–36
2 Merry, Sally Engle; Silbey, Susan S. (1984): What do Plaintiffs Want? Reexamining the Concept of Dispute. In: The Justice System Journal, Jg. 9, S. 151–179.
3 Jost, Fritz; Neumann, Tobias (2010): Etablierung der Mediation durch die Anwaltschaft! In: Zeitschrift für Konfliktmanagement, S. 164–168.
4 A. a. O. S. 45.
5 Galanter, Marc (2004): The Vanishing Trial: An Examination of Trials and Related Matters in Federal and State Courts. In: Journal of Empirical Legal Studies, Jg. 1, S. 459–570.
6 Barendrecht, Maurits (2009): Understanding the Market for Justice. (TISCO Working Paper Series on Civil Law and Conflict Resolution Systems, 06/2009).
7 A. a. O. S. 26.
8 Velikonja, Urška (2008): Making Peace and Making Money: Economic Analysis of the Market for Mediators in Private Practice. Online verfügbar unter http://works.bepress.com/urska_velikonja/1.

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Berichtsforschung II

Die Liste der Berichte, die ich mit dem Posting vom 2. Februar ins Netz gestellt habe, wird immer länger. Dafür heute ein Beispiel. Die Europäische Kommission hat 2009 wieder einen METRIS Report veröffentlicht: Emerging Trends in Socio-economic Sciences and Humanities in Europe. Zunächst muss man sich durch die EAO (European Acronym Obsession) hindurchkämpfen. METRIS ist die Abkürzung für Monitoring European Trends in Social Sciences and Humanities. Die Geistes- und Sozialwissenschaften heißen im Europajargon SSH. Sie bilden eine Provinz in der European Research Area (ERA), und die wiederum ist durch das 7th Framework Programme (FP7) in fünf Regionen eingeteilt:
o Growth, employment and competitiveness in a knowledge-based society;
o Combining economic, social and environmental objectives;
o Major trends in society and their implications;
o Europe and the world;
o The citizen in Europe.
Der Report klappert diese Regionen ab. Am Ende folgen noch zehn Querschnittsthemen. Nicht alles ist richtig spannend oder für die Rechtsoziologie relevant. Aber einige Beobachtungen sollte man vielleicht zur Kenntnis nehmen.
Das gilt zunächst für die Ausführungen über den Umbau der Forschungslandschaft in der Folge des Wandels der Finanzierung. Als Ergebnis wird die Konzentration auf Projektforschung (S. 25, 30) und der relative Rückgang von Dauerstellen im akademischen Bereich festgehalten (S. 29). S. 33 ff. ist vom Imperativ der Interdisziplinarität die Rede. Neu (für mich) war der Begriff der »deep interdisciplinarity«, womit anscheinend die Zusammenarbeit von Naturwissenschaften und SSH gemeint ist. Es gibt (S. 35) ein paar lobende Worte für die Disziplinen, die die doch auch ihre Verdienste hätten.

The expert group thinks that it is important to acknowledge the many ways in which interdisciplinarity may be defined, as well as the sense among large groups of researchers that it arises from the research questions asked rather than as a function of a demand for interdisciplinarity per se. A number of today’s disciplines draw on transdisciplinary concepts and methodologies. Importantly, for example, research methods originating in the humanities have migrated into the social sciences (whilst the reverse is true only to a lesser extent), so that visual methodologies, semiotics, textual analysis, to name but a few approaches, are all widely practised in the social sciences although, with some notable exceptions, social science approaches ranging from sociological to statistical methods are not yet widely used in the humanities.

Das klingt gut, dürfte aber von den Finanzierungs- und Evaluierungsinstanzen nicht ernst genommen werden, denn sonst wäre Rechtssoziologie schon in sich interdisziplinär, nutzt sie doch mehr oder weniger alle in dem Zitat genannten Methoden. Aus Opportunismus müsste die Rechtssoziologie sich eigentlich in zehn Disziplinen auflösen, die dann jeweils an einem Projekt zusammenarbeiteten und damit ihre Interdisziplinarität vorzeigen könnten.
Auf der Sachebene fand ich die Ausführungen auf S. 45 ff. über »Global Democracy, Global Crisis of Democracy« interessant. Nachdem nunmehr Demokratie zum normativen Standard der internationalen Politik geworden sei, zeige sich ein dramatischer gesellschaftlicher Wandel, während das System der politischen Parteien weitgehend unverändert geblieben sei. In der Folge seien die Parteien nicht mehr in der Lage, die gesellschaftlichen Interessen zu repräsentieren.

But while the sociological makeup of our societies has been dramatically transformed, party systems have remained essentially unchanged. The result is a generalised crisis of representation, as parties can no longer claim convincingly to represent the interests of groups whose collective existence is increasingly problematic. With the gradual disappearance of the collective social subjects that made up Fordist societies and had well-defined interests determined by their position in the productive apparatus or in its management, it is hard to say what exactly political representation is supposed to represent. The diagnosis of this crisis of democratic representation is an important component of the SSH research agenda. Several trends deserve attention and are set out below:
• The shift from interest-based politics toward value-based politics. Increasingly, parties appeal to sectors of the electorate less through their presumed interests and more through symbols, imaginaries and values.
• The new configurations of politics and the depolitisation and repolitisation of previous spheres of government (such as central banking).
• The increased role of the media as a connector between society and its political classes.
• The decollectivisation of traditional political action.
• The rise of new forms of social activism and the invention of new forms of politics in response to the crisis (e.g. the anticapitalist movement; new forms of local politics, etc.).

Weiter lenkt der Bericht die Aufmerksamkeit auf die Politisierung von Religion. Die kennt heute jeder Zeitungsleser. Aber bedenkenswert ist doch der Hinweis, die Politisierung der Religion könne auch als eine Säkularisierung religiöser Praktiken verstanden werden (S. 53).
Unter der Überschrift »The Rise of New Forms of Governance« erfahren wir, dass der in der Rechtssoziologie verbreitete (und von mir so nicht geteilte) Steuerungspessimismus in der EU angekommen ist:

The former techniques of government that acted directly upon the materiality of social life through corrective interventions are being replaced by techniques of government that seek to govern from afar, as it were, through regulation rather than coercion or intervention, by organising and expanding arenas of discrete choices by individuals. The idea that an informed state intervention can generate social benefits has been ideologically contested in the name of social complexity and of the impossibility of centralising sufficient information to take into account “unintended consequences” that may outweigh any pre-established purpose of political action. The idea of corrective intervention has become a position of last resort, to which governments turn only in times of extreme crisis (such as the current global economic crisis). The result is a form of government that is evaluated by its capacity to increase opportunities for individual choice, thus fostering the decentralised management of social processes and the role of the market as the ultimate information processor, able to pick winning solutions. This neoliberal form of governance has become hegemonic in Europe and elsewhere.

Bemerkenswert ist hier wie auch an anderer Stelle des Berichts die Verwendung des alten Konzepts der Hegemonie, das in letzter Zeit wieder öfter bemüht wird. Es kommt aus der gleichen Kiste, wie das Konzept der postfordistischen Gesellschaft, das der Bericht in dem vorausgehenden Zitat verwendet.

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Management und Rechtssoziologie

Heute hat mich die UB gemahnt, die beiden funkelnagelneuen Bände von Peter F. Drucker/Joseph A. Maciariello, Management (Econ Verlag, 2009) zurückzugeben. Nun habe ich mich endlich aufgerafft, einmal hineinzusehen. Es ist mir nicht gelungen, mich darin festzulesen. Trotzdem: Die Rechtssoziologie kann an dem Phänomen Management nicht ganz vorbeigehen, und zwar allein schon deshalb, um es mit dem New Public Management zu verbinden oder davon abzugrenzen. Dem New Public Management widmet Rehbinder in seiner »Rechtssoziologie« [1]7. Aufl. 2009, S. 161-171. im Abschnitt über die Soziologie der Verwaltung großen Raum. Ich habe es wiederholt im Zusammenhang mit dem Gerichtsmanagement behandelt. [2]Vom Gerichtsmanagement zur Selbstverwaltung der Justiz, Deutsche Richterzeitung 1998, S. 241-254; Justiz als Wirtschaftsunternehmen. Budgetierung, Controlling und Professionalisierung der … Continue reading
Das Managementthema gehört nach meinem Geschmack in das Kapitel über Organisation, und hier in die Nähe von Governance und Compliance.
Jeder Autobauer und jedes Krankenhaus, jedes Theater und jedes Gericht wird heute »gemanagt«. Management ist die rechtlich nicht festgelegte Dimension der Geschäftsführung. Der Manager (re-)formuliert die Ziele der Organisation und unternimmt alles, was in seiner Macht steht, damit die Ziele erreicht werden. Das geschieht natürlich auf der Grundlage von Weisungs- und Vertretungsrechten. Aber die Rechtsgrundlage reicht nicht annähernd aus, um eine Organisation mit Leben zu erfüllen. Sie bildet ein Zweckprogramm, das ausgefüllt werden will. Dafür ist es notwendig, die Zwecke zu kommunizieren und die Menschen, die in der Organisation arbeiten, zu motivieren. Das Ganze nennt man dann Management.
Die Managementlehre bezieht ihre wissenschaftliche Basis aus der Entdeckung der systemischen und der informalen Komponenten der Organisation durch die Sozialwissenschaften. Die großen Namen sind Peter Drucker (1909-2005), Herbert A. Simon (1916-2001) und James G. March (*1928). Die Managementlehre selbst ist durch sie zu einer sozialwissenschaftlichen Disziplin geworden. Praktisch tummeln sich auf diesem Feld viele »Managementgurus«, die ihre »Managementphilosophien« verkaufen. Das liegt bis zu einem gewissen Grade in der Natur der Sache. Es geht darum, Menschen zu motivieren, und dazu muss man sie interessieren oder gar fesseln. Das verlangt immer neue Ideen, denn die sind schnell verbraucht. Daher hat der Beobachter oft das Gefühl, es gehe weniger um Managementmethoden als vielmehr um Moden. Ein Beispiel dafür habe ich an anderer Stelle beschrieben, nämlich ein Projekt über »Organisationskultur und Musik«, das auf die Klänge der Organisationen horchen will.

»Stellen Sie sich den Klang Ihrer Organisation oder Ihres Unternehmens, Ihrer Arbeitseinheit oder Abteilung vor: vernehmen Sie mehr Dissonanzen oder mehr Harmonien? Ist die Musik langsam und getragen oder lebendig und anregend? Was ist der Grundrhythmus Ihrer Organisation? Hören Sie Klassik, Jazz oder Techno…?«

Heute gibt es einen gewissen Bestand an mehr oder weniger bewährten Managementinstrumenten. Dazu gehören etwa die Unterscheidung zwischen Effizienz und Effektivität. Dazu gehören weiter die Führung durch Zielvereinbarungen (management by objectives), Zielerreichungskontrolle, Kundenorientierung, Total Quality Management, Change Management und immer wieder Kommunikation und Motivation.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 7. Aufl. 2009, S. 161-171.
2 Vom Gerichtsmanagement zur Selbstverwaltung der Justiz, Deutsche Richterzeitung 1998, S. 241-254; Justiz als Wirtschaftsunternehmen. Budgetierung, Controlling und Professionalisierung der Justizverwaltung, Deutsche Richterzeitung 2000, S. 220 – 230.

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»Grabsteine aus Kinderhand«

So titelt heute die WAZ, deren Reporter den nordrhein-westfälischen Sozialminister Karl-Josef Laumann auf einer Indien Reise begleitet haben. [1]Vgl. auch die Meldung »Laumann prangert Kinderarbeit in Indien an« auf der Webseite der Zeitung. »Produkte aus Kinderhand dürfen nicht unerkannt auf unsere Märkte kommen«, so wird Laumann zitiert, und dann wird über die Bemühungen um ein Zertifikat für kinderarbeitsfreie Steine berichtet. Da erscheint es doch bemerkenswert, dass Ökonomen die Sache nicht so eindeutig sehen. Matthias Doepke und Fabrizio Zilibotti haben 2009 ein NBER Working Paper (No. 15050) veröffentlicht mit dem Titel »Do International Labor Standards Contribute to the Persistence of the Child Labor Problem?« Diese Arbeit ist mir bisher nicht zugänglich. Aber die Autoren haben selbst eine längere Kurzfassung ins Internet gestellt. [2]Child labour: Is international activism the solution or the problem? (http://www.voxeu.org/index.php?q=node/4075). Sie meinen, dass ein Boykott von Produkten, die mit Kinderarbeit hergestellt worden sind, die Abschaffung der Kinderarbeit eher behindert. Kinderarbeit helfe nämlich den armen Familien, jedenfalls ein oder zwei Kinder zur Schule zu schicken und so vielleicht einen langsamen Aufstieg zu erreichen. Entfalle die Gelegenheit zur Kinderarbeit, gebe es auch noch einen anderen kontraproduktiven Effekt. Es entfalle eine Konkurrenz für Arbeiter ohne Ausbildung, die die Kinderarbeit übernehmen können. Damit werde der landesinterne Kampf gegen die Kinderarbeit durch Einführung einer Schulpflicht und eines Mindestalters für den Eintritt in das Erwerbsleben geschwächt. In den Industrieländern hätten einst die Gewerkschaften für die Abschaffung der Kinderarbeit gekämpft, weil arbeitende Kinder eine Konkurrenz für Arbeiter ohne Ausbildung gewesen seien. Besser als ein (sofortiges) Verbot der Kinderarbeit wirke anscheinend ein finanzieller Anreiz, die Kinder zur Schule zu schicken. Aber auch Hilfe zur Familienplanung sei sinnvoller als ein Verbot, weil mit der großen Kinderzahl eine Ursache der Kinderarbeit reduziert werde.
Das Thema wird unter Ökonomen kontrovers diskutiert. Das zeigt wiederum ein NBER Working Paper (No. 15374, September 2009), dieses Mal von Michael Huberman und Christopher M. Meissner mit dem Titel »Riding the Wave of Trade: Explaining the Rise of Labor Regulation in the Golden Age of Globalization«. Auch dieses Paper ist mir bisher nicht zugänglich. Aber wegen der Aktualität des Themas, die durch den Zeitungsartikel gegeben ist, wage ich, hier das Abstract zu zitieren:

This paper challenges the received view that pins the adoption of labor regulation before 1914 on domestic forces, particularly the rises in income and voter turnout. Building on standard state-year event history analysis, we find that trade was also a main pathway of diffusion. Countries that traded with each other were more likely to establish a level playing field. The transmission mechanism was strongest in north-west Europe because intra-industry trade was significant in the region. When states failed to emulate the superior labor regulations of their most important trading partners, they left themselves vulnerable to embargos and sanctions on their exports. Threats of market loss were not credible in the New World because it exported mainly primary products and prices were fixed by world demand and supply. Domestic forces trumped international pressures to converge, with the result that labor regulation developed more slowly in regions of new settlement than in the European core.

Auch von Huberman und Meissner gibt es einen einschlägigen Artikel auf dem Portal des Centre for Economic Policy Research (CEPR). Er befasst sich mit der Bedeutung von Freihandel und internationaler Handelsverflechtungen für die Entstehung sozialer Schutzgesetze (»New evidence on the rise of trade and social protection«). [3]http://www.voxeu.org/index.php?q=node/4117. Die Fundstücke sind Anlass, das Portal in meine Blogroll aufzunehmen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Vgl. auch die Meldung »Laumann prangert Kinderarbeit in Indien an« auf der Webseite der Zeitung.
2 Child labour: Is international activism the solution or the problem? (http://www.voxeu.org/index.php?q=node/4075).
3 http://www.voxeu.org/index.php?q=node/4117.

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Rechtssoziologie unter fremdem Namen III

Die Sektion Rechtssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kündigt in der Zeitschrift für Rechtssoziologie Heft 2, 2009, S. 275 die Verleihung des Wolfgang-Kaupen-Preises an, der 2010 erstmals vergeben werden soll. Gesucht wird der beste rechtssoziologische Fachaufsatz des Jahres 2009. Die Redaktionen von 13 Zeitschriften werden um eine Nominierung gebeten. Interessant erscheint mir, wo die Sektion die Rechtssoziologie aus ihrem Versteck hervorholen will, nämlich aus folgenden 13 Zeitschriften:
1. Ancilla Iuris
2. Berliner Journal für Soziologie
3. Juridikum
4. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
5. Kriminologisches Journal
6. Kritische Justiz
7. Leviathan
8. Österreichische Zeitschrift für Soziologie
9. Politische Vierteljahresschrift
10. Rechtstheorie
11. Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft
12. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie
13. Soziale Welt

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Das Recht ist keine Ware

Juristen, die in andere Fächer ausgreifen, zeigen eine deutliche Vorliebe für die Ökonomische Analyse des Rechts und neuerdings auch für Behavioral Economics. Ein schönes Beispiel dafür liefert, nicht zum ersten Mal, Eidenmüller mit einem Aufsatz über das »Recht als Produkt« in der Juristenzeitung 2009, 641-653. [1]Im Internet verfügbar unter www.jura.uni-muenchen.de/fakultaet/lehrstuehle/…/recht_als_produkt.pdf. Die heimliche Juristenzeitung hatte bereits im März eine gekürzte Fassung abgedruckt: … Continue reading Es geht darum, dass natürliche Personen und Unternehmen in so großem Umfang wählen können und tatsächlich wählen, welches Rechts für ihre Beziehungen anwendbar sein soll, dass von einem »Rechtsmarkt« die Rede ist, auf dem inzwischen sogar Staaten als Anbieter konkurrieren. Eidenmüller beschreibt das Phänomen und zitiert und referiert dazu allerhand Rechtstatsachenforschung. Er beurteilt den »Rechtsmarkt« als »Entdeckungsverfahren für das beste Recht«, im Text zurückhaltend, in der Zusammenfassung positiver, weist darauf hin, dass freie Rechtswahl insoweit problematisch ist, als unbeteiligte Dritte beteiligt sind, und versäumt auch nicht den Hinweis, dass Verbraucher hinsichtlich der AGB sich apathisch verhalten. Schließlich macht Eidenmüller sich Gedanken über die Zukunft des Europäischen »Rechtsmarktes«.
In und zwischen den Zeilen kann man dem Artikel ein ganzes Kapitel Rechtssoziologie entnehmen. In der Aufbruchszeit der Rechtssoziologie in den 1960ern wurde es schnell üblich, Probleme, die sich zu einer rechtlichen Austragung eignen, als Rechtsbedürfnisse (legal needs) zu bezeichnen. Die verschiedenen Institutionen, die auf diese Bedürfnisse antworten, und ebenso die Arbeit, die sie verrichten, wurden Rechtsdienste oder rechtliche Dienstleistungen (legal services) genannt. Die neue Ausdrucksweise und der damit verbundene Blickwechsel legten es nahe, die Rechtsbedürfnisse des Publikums wie andere Bedürfnisse auch, also nach Art der Marktforschung, zu untersuchen. Das ist in der Tat in großem Umfang geschehen, und es zeigten sich schnell die unterschiedlichen Rechtsbedürfnisse und die ungleichen Chancen, sie durch rechtliche Dienstleistungen zu befriedigen. So wurden die Rechtsbedürfnisse des Publikums und die Zugangs- und Erfolgsbarrieren auf dem Weg zum Recht in den 70er Jahren ein zentrales Thema der Rechtssoziologie. Damit verbunden war einerseits eine Kritik des Justizsystems als eines Dienstleistungsunternehmens für die Wirtschaft. Andererseits bot diese Sichtweise aber einen Ansatz für sozialreformerische Anstrengungen. Sie fielen mit dem Service-Delivery-Project zusammen, das 1964 durch Präsident Lyndon B. Johnsons War on Poverty ausgelöst wurde. [2]Band 11 Nr. 2 (1976) des Law and Society Review war ein Sonderheft mit Beiträgen zu Legal Services. Es ist die Ironie der Dialektik, dass erst die marxistische Sicht auf das Recht den Schlussstein in das Service-Delivery-Projekt setzte. Die Frage nach legal needs und legal services war in den 1930er Jahren als Marketinginstrument der Anwaltschaft eingeführt worden. Die marxistische Sicht bestritt nun – philosophisch gesprochen – dem Recht den Charakter eines Selbstzwecks oder – soziologisch gesehen – eine Autonomie gegenüber Kapital und Arbeit mit der Folge, dass auch die Gerichte in die Reihe der Dienstleister und das Recht in die Warenkategorie eingeordnet wurden.
Eidenmüllers Aufsatz lässt sich an eine weitere rechtssoziologische Diskussionslinie anschließen. Dort geht es um den Wettbewerb von Rechtsordnungen [3]Dazu Material auf der Webseite http://www.lawmadeingermany.de/., um legal transplants, legal imports und legal exports. Dazu zuletzt Peter Mankowski in seinem auch sonst lesenswerten Aufsatz »Rechtskultur« [4]Juristenzeitung 2009, 321-331. auf S. 329 f.
Warum ich daran erinnere? Weil ich darüber staune, wie selbstverständlich die instrumentale Sicht auf das Recht geworden ist. Ich habe mir deshalb vorgenommen, noch einmal in Brian Z. Tamanahas Buch »Law as a Means to an End« (2006) hineinzusehen. Der Untertitel lautete ja wohl »Threat to the Rule of Law«. Die Rede über Recht als Produkt täuscht darüber hinweg, dass das Recht nach wie vor kein Wirtschaftsgut ist. Deshalb gibt es auch keinen Rechtsmarkt (und deshalb habe ich dieses Wort im Text bisher in Anführungszeichen geschrieben). Zu einem Wirtschaftsgut gehört Knappheit. Aber das Recht ist nicht knapp, und zwar nicht wegen der Vielfalt des Rechtsangebots, sondern darum, weil das Recht ein öffentliches Gut ist. Jedermann kann davon Gebrauch machen, ohne etwas davon zu verbrauchen. Und deshalb hat das Recht auch keinen Preis. Das Allmendeproblem zeigt sich nur am Horizont. Wenn alle die Gerichte bemühen, wird es eng. Doch solange es nur um die Rechtswahl geht, ist kein Engpass zu befürchten. Es entstehen nur Transaktionskosten. Was heißt hier nur? Rechtsbedürfnisse sind Informationsbedürfnisse, rechtliche Dienstleistungen sind in erster Linie Informationsangebote, und die sind, im Gegensatz zu den Informationen als solchen, knapp und teuer. Genau genommen gibt es deshalb keinen Rechtsmarkt, sondern nur einen Markt für rechtliche Dienstleistungen, der rechtliche Transaktionen unterstützt. Ist das spitzfindig? Ich glaube nicht. Das Recht ist eben doch keine Ware. Aber Eidenmüller hat natürlich Recht, wenn er sagt, dass man (allein) mit einer nichtutilitaristischen Perspektive nicht durch die Welt kommt. Es kommt auf den Beobachterstandpunkt an, und davon gibt es mehrere.

Nachtrag vom 4. 3. 2015:
Zum »Wettbewerb der Rechtsordnungen« mit Nachweisen vgl. Moritz Renner, Zwingendes Recht, 2011, S. 67-69. Renner kommt zu dem Schluss:»

»Von einem vollständigen Regulierungswettbewerb zwischen den Nationalstaaten kann damit letztlich weder mit Blick auf die unterschiedlichen Rechtsordnungen noch mit Blick auf verschiedene Gerichtsstände die Rede sein. Zugleich zeigen aber die Konvergenzbewegungen etwa im europäischen Gesellschaftsrecht deutlich, dass die nationalen Gesetzgeber sich durchaus als Wettbewerber begreifen und auch als solche agieren. Es liegt damit die Vermutung nahe, dass hier zwar kein institutioneller Wettbewerb besteht, der unmittelbar mit dem Wettbewerb auf Produktmärkten analogisierbar wäre, wohl aber ein Ideen- und Reputationswettbewerb, der allerdings notwendigerweise mehr durch politische als durch ökonomische Ziele der Anbieter motiviert ist.« (S. 68 f.)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Internet verfügbar unter www.jura.uni-muenchen.de/fakultaet/lehrstuehle/…/recht_als_produkt.pdf. Die heimliche Juristenzeitung hatte bereits im März eine gekürzte Fassung abgedruckt: Kampf um die Ware Recht, FAZ Nr. 72 vom 26. 3. 2009, S. 8.
2 Band 11 Nr. 2 (1976) des Law and Society Review war ein Sonderheft mit Beiträgen zu Legal Services.
3 Dazu Material auf der Webseite http://www.lawmadeingermany.de/.
4 Juristenzeitung 2009, 321-331.

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Von der Rechtssoziologie zu Recht-und-Was-auch-immer

Mit dem Socio-Legal Newsletter Nr. 14 (November 2009) der Vereinigung für Rechtssoziologie und der Sektion Rechtssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kam die Einladung zu einer Tagung vom 3. bis 5. März in Bremen und damit auch die Einladung zu einer Mitgliederversammlung der Vereinigung für Rechtssoziologie, bei der die Umbenennung der Vereinigung auf der Tagesordnung steht. Der Verein soll künftig »Vereinigung für Recht und Gesellschaft« heißen. Ich bin über diesen Vorschlag nicht glücklich.
Etwa seit 1960 erlebte die Rechtssoziologie einen Aufschwung, der bald dreißig Jahre andauerte. Der Antrieb kam aus einer neuen, fraglos auch durch den Marxismus verstärkten Sensibilität für die Rolle des Rechts bei der Befestigung von Ungleichheit unter den Menschen, von Macht und Herrschaft. Sie verband sich mit der Idee, dass eben dieses Recht als Hebel zur Einleitung eines sozialen Wandels dienen könne. Die großen Erfolgsthemen der Rechtssoziologie waren daher Zugang zu Recht und Gericht und die Suche nach alternativen Konfliktregelungsverfahren, Klassenjustiz, und, von den USA ausgehend, Rassen- und Geschlechter-diskriminierung. Hinzu kamen bald die Suche nach den Spuren des Kolonialismus überall in der Welt und die Frage nach der Rolle des Rechts in diktatorischen Systemen, nicht zuletzt in Nazi-Deutschland. Bei jüngeren Themen wie dem Umgang mit Technologie im weitesten Sinne, Problemen von Emigration und Immigration, Umweltzerstörung und schließlich Globalisierung konnte die Rechtssoziologie schon keine führende Rolle mehr spielen, sondern nur noch anderen Disziplinen hinterherlaufen.
Heute befindet sich die Rechtssoziologie in einer Schwächephase. Aber das ist kein isoliertes Problem der Rechtsoziologie, sondern gilt auch für die allgemeine Soziologie. Das Interesse hat sich auf andere Fächer wie Politikwissenschaft und vor allem die Kulturwissenschaften verlagert. Der Rechtssoziologie wird, ebenso wie der Mutterdisziplin, vorgehalten, sie beschäftige sich in erster Linie mit sich selbst. Die Folge ist eine institutionelle Krise. Die Mitgliederzahl der weitgehend personenidentischen Vereinigung für Rechtssoziologie und der Sektion Rechtssoziologie der DGS stagniert. Einschlägige Schriftenreihen sind nach und nach eingeschlafen. Die Zeitschrift für Rechtsoziologie kämpft seit Jahren um veröffentlichungsfähige Manuskripte. Es will anscheinend nicht (mehr?) gelingen, mit dem alten Label »Rechtssoziologie« institutionelle Unterstützung zu finden und eine größere Truppe hinter sich zu versammeln.
Unter jungen Sozialwissenschaftlern gilt es als karriereschädlich, eigene Arbeiten, auch wenn sie einschlägig wären, der Rechtssoziologie zuzuordnen. Die Vorbehalte gegenüber einer Selbstzuordnung zur Rechtssoziologie haben verschiedene Ursachen. Die wichtigste besteht wohl darin, dass Rechtssoziologie vornehmlich von Juristen betrieben wurde und wird. Das gilt ganz besonders in Deutschland. In den soziologischen Fakultäten ist Rechtssoziologie nie als eigenständiges Forschungsgebiet akzeptiert worden, obwohl doch Émile Durkheim, Max Weber und Niklas Luhmann, die wohl meist zitierten Soziologen überhaupt, als Rechtssoziologen gelten können. Anscheinend hofft man, eine größere Distanz vom Recht zu gewinnen, indem man die Bezeichnung Rechtssoziologie vermeidet.
Die Juristen wiederum haben die Rechtssoziologie keineswegs umarmt. Im Gegenteil, sie haben die Rechtssoziologie als Kritikwissenschaft in Erinnerung, die weitgehend marxistisch inspiriert war. Juristen belassen es bei Lippenbekenntnissen zur Interdisziplinarität und konzentrieren sich lieber auf die dogmatischen Fächer. Wenn es denn schon die sog. Grundlagenfächer sein müssen, bevorzugen sie Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte. Soweit Juristen sich noch für sozial-wissenschaftliche Arbeit interessieren, stehen praxisbezogene Anwendungen wie Rechtstatsachenforschung, Verwaltungswissenschaft und Kriminologie im Vordergrund. Die Zivilrechtler haben neuerdings die Ökonomische Analyse des Rechts und die Verhaltensökonomik, aber eben nicht die Rechtssoziologie in ihrer ganzen Breite, entdeckt. An den Hochschulen ist die alte Garde der Rechtssoziologen abgetreten. Ihre Lehrstühle sind umgewidmet oder gestrichen. Lehrveranstaltungen werden selten, kompetente Fachvertreter muss man suchen, und die Zahl der Drittmittelprojekte schrumpft. Die Studierenden zeigen zwar durchaus ein Anfangsinteresse, das vor allem aus der rechtskritischen Attitüde der Rechtssoziologie gespeist wird. Ihr Interesse wird jedoch von den Zwängen der Examensvorbereitung schnell erdrosselt. Die »gesellschaftlichen Bezüge des Rechts« gehören zwar weiterhin zum Stoff der ersten juristischen Staatsprüfung. Aber das ist nur »law in the books«, denn die Prüfer sind Juristen, die sich nicht hinreichend kompetent fühlen und daher auf jede Nachfrage verzichten.
Die Fachidentität der Rechtssoziologie, die vor zwanzig Jahren erreicht war, scheint zu schwinden. Zum Glück zeigt die Beschränkung des Blicks auf die als solche organisierte Rechtssoziologie (und auf deutsche Verhältnisse) nur das halbe Bild. Die andere Hälfte bleibt durch die Engführung des Faches unter dem Titel Rechtssoziologie verdeckt. An vielen Stellen lässt sich ein neues, gesteigertes Interesse an interdisziplinärer Rechtsforschung beobachten. Wissenschaftliche Anstrengungen, die unter dem Dach der Rechtssoziologie Platz hätten, sind umfangreicher denn je. Schon immer wurden in der Politischen Soziologie, in Politikwissenschaft und Politologie, in Sozialpsychologie, Anthropologie und Ethnologie rechts-soziologische Fragestellungen bearbeitet, oft ohne Anschluss an die Rechtssoziologie. Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Sprachwissenschaftler und Medienwissenschaftler und haben das Recht als Forschungsgegenstand entdeckt. Frauenforschung oder Gender Studies liefern relevante Beiträge. In dem umfangreichen Globalisierungsdiskurs nimmt das Recht eine zentrale Rolle ein. Sozialbiologie oder gar Rechtsbiologie erleben eine gewisse Renaissance. Wichtige sozialhistorische Arbeiten, wie sie etwa die Institutionenökonomik beigebracht hat, lassen sich als Beitrag zur Rechtssoziologie lesen. Ähnliches gilt für die Technikgeschichte.
Rechtssoziologische Forschung ist also nicht ausgestorben. Sie läuft nur vielfach unter anderer Überschrift. In den USA hat man schon immer die Etikettierung des Faches als Rechtssoziologie vermieden. Zwar spricht man gelegentlich von Sociology of Law oder Legal Sociology. Doch meistens redet man stattdessen allgemeiner und unverbindlicher von Law and Social Sciences. Nicht ganz zufällig firmiert die weltweit wichtigste einschlägige Zeitschrift als »Law and Society Review«. Zeitschriftentitel nach dem Muster »Law and Something« sind Legion. Auf diese Weise gelingt es, ein sehr viel weiteres Spektrum von Themen und Personen anzuziehen als in Deutschland mit dem traditionellen Label Rechtssoziologie. Daher liegt es nahe, auch in Deutschland die sozialwissenschaftliche Befassung mit dem Recht unter dem Titel »Recht und Gesellschaft« neu und breiter aufzustellen. [1]Michael Wrase, Rechtssoziologie und Law and Society – Die Deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, ZfRSoz 27, 2006, 289-312.
Zu erkennen ist Rechtssoziologie an Thema und Methode. Ihre Methode ist keine andere als die der allgemeinen Soziologie. Das bedeutet vor allem, dass immer in irgendeiner Weise kontrollierte Empirie dazugehört. Ihr Thema ist das Recht als integraler Bestandteil der Gesellschaft. Ganz gleich, wer auch immer in diesem Sinne arbeitet und in welchem institutionellen Zusammenhang das geschieht: Es handelt sich um Rechtssoziologie. Und als solche sollte man sie benennen. Die latente Rechtssoziologie aus ihren vielen Verstecken hervorzuholen, das wäre wohl eine Rechtfertigung, um von »Recht und Gesellschaft« zu reden.
Dafür kann man in Kauf nehmen, dass unter »Law and Society« viele Trivialitäten gehoben und alte Bekannte vorgeführt werden. Manches, was in diesem weiten Rahmen produziert wird, ist kritische Jurisprudenz, Rechtspolitik oder auch nur Feuilleton. Auch das ist kein großes Problem. Die Recht- und-Sonstwas-Forschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Die Folge sind Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus. Das Festhalten am alten Namen der Vereinigung würde daran allerdings wenig ändern. Ich bin aber auch nicht davon überzeugt, dass es die längst vorhandene Vielfalt der Recht-und-Sonstwas-Forschung noch vergrößern oder sie gar fokussieren könnte.
Aus einem anderen Grunde halte ich die geplante Namensänderung sogar für eher kontraproduktiv. Rechtssoziologie ist insofern ein klassisches Fach, als die Zugehörigkeit zur Wissenschaft und damit auch der Charakter der Vereinigung als einer wissenschaftlichen außer Frage steht. »Recht und Gesellschaft« dagegen hat keine wissenschaftlichen Meriten. Der Name könnte auch für einen Bürgerverein stehen. Welche Wissenschaftlerin sollte einer »Vereinigung für Recht und Gesellschaft« beitreten wollen?

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Michael Wrase, Rechtssoziologie und Law and Society – Die Deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, ZfRSoz 27, 2006, 289-312.

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Legal Narratives II

Die Fallerzählungen der Juristen
Ministorytelling ist eine juristische Spezialität. Bei der Formierung und Weitergabe juristischen Wissens spielen Fallerzählungen eine große Rolle. Allerdings fehlt den juristischen »Fällen« fehlt oft das Fleisch. Die Akteure sind auf bloße Buchstaben reduziert, sie sind alters- und geschlechtslos, sie leben ohne Bindungen und Verbindungen und handeln jenseits von Raum und Zeit. Die Akteure bekommen nur das Mindestmaß an Attributen zugeteilt, auf das es unter dem Aspekt der erläuterten Normen ankommen soll, etwa nach dem Muster: A will B erschießen. Er verwechselt jedoch C mit B. Fälle dieser Art sind wegen ihrer (beabsichtigten) Lebensfremdheit als »Lehrbuchkriminalität« [1]Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306. sprichwörtlich. Ihre Aufgabe besteht darin, bestimmte Normkonstellationen zu verdeutlichen, und dazu sind sie unentbehrlich. Neben solchen Fällen, die von vornherein daraufhin konstruiert sind, eine bestimmte Normkonstellation zu demonstrieren, gibt es andere, die etwas gehaltvoller sind, weil sie sog. »Probleme« verdeutlichen sollen, d. h. Fragen, die sich nicht konstruktiv aus der Anwendung einer Norm oder dem Zusammenwirken mehrerer Normen lösen lassen, sondern zu ihrer Beantwortung einer zusätzlichen Wertung bedürfen. Meistens werden solche Fälle der Rechtsprechung entnommen. Mehr und mehr erhalten diese Fälle heute (nach amerikanischem Muster) als solche einen Namen, der sich als – mehr oder weniger anschauliches – Merkwort eignet, z. B. Maastricht I und II, Kruzifix, Caroline von Monaco.

In der Rechtssoziologie glaubte man zeitweise, mit der Entdeckung der Deformation der juristischen Fallerzählungen einen Ansatz zu Kritik vor allem der juristischen Ausbildung gefunden zu haben. Es ist natürlich richtig, dass die »Fälle« nicht das »wahre Leben« widerspiegeln. Aber das haben eigentlich auch Juristen immer gewusst. Das Problem, wenn es denn hier überhaupt eines gibt, liegt darin, wie die Fallstrukturen im Interesse der Anschaulichkeit und des Unterhaltungseffekts ausgeschmückt werden. In der Präsenzveranstaltung werden sie oft in eine drastische Story eingekleidet, oder die Personen erhalten sinnfällige, nicht immer druckfähige Namen. In solchen an sich überflüssigen Zutaten können sich dann Idiosynkrasien des Fallenstellers zeigen. Besonders sexistisch gefärbte Erzählungen waren sehr verbreitet. Das sollte sich inzwischen geändert haben.

»Storytelling« hat auch eine rechtspraktische Komponente, denn es beherrscht nicht nur den Alltag und den Rechtsunterricht, sondern ist zu einem strategischen Konzept, zunächst in der Wirtschaft und dann auch in der Politik geworden. Da müssen Geschichten oft die Argumente ersetzen. Das beschreibt Christian Salmon, Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits, 2007. Schon immer gehörte das Storytelling zur Kunst des juristischen Plädoyers. Nun erscheint es in multimedialem Gewand in der Gestalt von Day-in-theLife- oder Victim-Impact Videos [2]Dazu etwas näher im Posting vom 28. 11. 2009.

Nachtrag zu Victim Impact Statements: Cassell, Paul G. and Erez, Edna, How Victim Impact Statements Promote Justice: Evidence from the Content of Statements Delivered in Larry Nassar’s Sentencing (November 3, 2023). 107 MARQUETTE L. REV. __ (Barrock Lecture 2024), Forthcoming, Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=4622666. Abstract: Whether crime victims should present victim impact statements (VISs) at sentencing remains a subject of controversy in the criminal justice literature. But relatively little is known about the content of VISs and how victims use them. This article provides a content analysis of the 168 VISs presented in a Michigan court sentencing of Larry Nassar, who pleaded guilty to decades of sexual abuse of young athletes while he was treating them for various sports injuries. Nassar committed similar crimes against each of his victims, allowing a robust research approach to answer questions about the content, motivations for, and benefits of submitting VISs. Specifically, it is possible to explore the question of whether (roughly) the same crimes produce (roughly) the same VISs. The VISs reveal the victims’/survivors’ motive for presenting VISs, their manner of presenting the impact of sexual abuse, their interactions with the sentencing judge and the defendant, and other features of the VISs. Analyzing the VISs’ contents confirms many of the arguments supporting using VISs at sentencing and challenges some lingering objections to them. The findings support the desirability of VISs for informational, therapeutic, and educational purposes in criminal sentencings.

Historische Rechtssoziologie [3]Literatur: Hans Albert, Critical Rationalism: The Problem of Method in Social Sciences and Law, Ratio Juris 1988, 1; Stephen Daniels, Ladders and Bushes: The Problem of Caseloads and Studying Court … Continue reading
Der größte Erfahrungsschatz liegt in der Vergangenheit. Deshalb ist man stets geneigt zu fragen: Was können wir aus der Geschichte lernen? Unter Historikern ist diese Frage eher verpönt. Für sie ist die Geschichte mehr als eine »moralisch-politische Beispielsammlung« (Savigny). Doch alle anderen bedienen sich der Geschichte gerne als eines Steinbruchs. Bei Bedarf suchen sie nach einem passenden Brocken, nach historischen Beispielen oder Anleitungen, nach kleinen oder großen Erzählungen. Eine juristische Version dieser Steinbruchtheorie ist die historische Auslegung, die von Fall zu Fall die Gesetzesmaterialien bemüht. Solchen Umgang mit der Geschichte hat Savigny verächtlich »in Ermangelung eines anderen Ausdrucks« der von ihm sogenannten »ungeschichtlichen Schule der Rechtswissenschaft« zugeschrieben. Über die richtige Methode streitet man in der Geschichtswissenschaft nicht weniger als in der Jurisprudenz. Das Spektrum reicht vom Historismus über historistische und evolutorische bis zu wertenden Geschichtstheorien und schließt auch eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ein.

Eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung begnügt sich nicht damit, die Geschichte als große Erzählung zu begreifen. Am deutlichsten ist das, wenn Geschichte als reines Ursache-Wirkungsgefüge verstanden wird. Dann versucht man einzelne historische Ereignisse kausal zu erklären, also zu fragen, welche Ursache gerade zu diesem bestimmten Verlauf der Geschichte geführt haben können. Ältere Autoren verwiesen dazu auf Geographie und Klima; jüngere bevorzugen ökonomische Erklärungen. Von Montesquieu etwa stammt die Vorstellung, eine Republik könne sich nur auf einem kleinen, dicht bevölkerten Territorium entwickeln. Ein großräumiges dünn besiedeltes Gebilde verlange dagegen nach einer Despotie. In der Mitte zwischen beidem sei eine Monarchie die angemessene Staatsform. So wird die Entstehung der stadtstaatlichen Demokratie des griechischen Altertums aus den landschaftlichen Gegebenheiten Griechenlands erklärt. In dem Streit um die amerikanische Bundesverfassung beriefen sich die Gegner der Republik auf Montesquieu. Auch dem Klima billigte Montesquieu einen erheblichen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse einer Gesellschaft zu. Dieser Gedanke wurde im 18. Jahrhundert aufgegriffen um zu belegen, dass das römische Recht für Deutschland unangemessen sei. Montesquieu dient hier – ganz im Sinne der Steinbruchtheorie – nur als historisches Beispiel für eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung. Die Betonung klimatischer oder geographischer Variablen bildet nur einen Extremfall, den wir heute so nicht mehr akzeptieren. Auch rein ökonomische Erklärungen haben mit dem Niedergang des Marxismus ihre Anziehungskraft verloren. Umso beliebter sind heute – unter dem Titel historische Institutionenökonomik – Erklärungen des Wirtschaftsgeschehens mit Hilfe rechtshistorischer Forschung. Überholt sind nur bestimmte Theorien, nicht jedoch die kausale Geschichtsbetrachtung als solche. Sieht man die innerwissenschaftliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, Ereignisse der Vergangenheit mit Hilfe gegenwärtig existierender Zeugnisse (kausal) zu erklären, so geht das letztlich nur induktiv, indem man bestimmte Regelmäßigkeiten unterstellt. Dann wird sogar die Methode des Sinnverstehens, die im Kontext des Historismus eher zu einer existentialistischen Hermeneutik gerät, zu einer empirischen und damit zu einer sozialwissenschaftlichen Methode.

Wenn man einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung das Wort redet – wie Hans Albert und Lawrence M. Friedman – dann verliert Geschichtswissenschaft ihre Besonderheit und entwickelt sich zu einer rückwärtsgewandten Rechtssoziologie mit der Folge, dass unter Relevanzgesichtspunkten der Schwerpunkt mehr und mehr in die jüngste Vergangenheit rückt.

Die historische Sozialwissenschaft, die in Deutschland vor bald 50 Jahren von damals jüngeren Historikern um Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka in Bielefeld ausgerufen wurde, war ein Gegenprogramm zur narrativen Geschichtsschreibung. Geschichte sollte nicht mehr erzählt werden und schon gar nicht länger auf die Taten großer Männer fixiert bleiben, sondern die Sphären sozialer Ungleichheit ausleuchten und die die damit verbundenen Strukturen aufzeigen. So steckt denn auch Wehlers opus magnum, die fünfbändige deutsche »Gesellschaftsgeschichte« (1987-2008) voller Zahlen und Daten.

Längst gibt es eine stattliche Reihe historisch orientierter Untersuchungen, die der Rechtssoziologie zugerechnet werden können. Meister der historischen Rechtssoziologie war Max Weber. In den USA war James Willard Hurst besonders einflussreich. Sein Motto: »In general the timetable of our legal history teaches … that apart from the toughness of institutional structure, law has been more the creature than the creator of events.« (1950: 6). Er meinte also, dass die Institutionen des Rechts und das Verhalten seiner Akteure nur wirklich verstanden werden können, wenn sich die Analyse nicht auf die Interna des Rechtssystems beschränkt, sondern den Kontext des Rechts, vor allem auch die wirtschaftliche Entwicklung, einbezieht. Mit dieser These, die damals trotz der Vorarbeit der Legal Realists noch immer fortschrittlich war, inspirierte Hurst an der Law School in Madison/Wisconsin eine ganze Generation von Juristen, die in den 1960er Jahren zum Kern der Law-and-Society-Bewegung wurden (Friedman, Galanter, Macaulay, Trubek). [4]Einige »Klassiker« seien jedenfalls noch genannt: Theda Skocpol, States and Social Revolutions, 1979 (über 30 Nachdrucke); dazu die Rezension von Jeff Goodwin, How to Become a Dominant American … Continue reading

Die Mehrzahl der historisch relevanten Arbeiten ist qualitativer Art. Aber es gibt eine beachtliche Zahl historischer Untersuchungen, die mit Statistiken arbeiten. Sie gelten in erster Linie der Entwicklung von Kriminalität und Prozesstätigkeit, da hierzu in den Archiven beachtliches Material vorhanden ist. Als in den 1970er Jahren der Eindruck entstand, dass die Prozesstätigkeit unaufhörlich anstieg und deshalb von einer Prozessflut die Rede war, fanden historische Untersuchungen große Aufmerksamkeit. Darüber berichtete 1984 Daniels. Der merkwürdige Titel seines Aufsatzes »Ladders and Bushes« deutet auf die Quintessenz all dieser Studien hin: Bei einer langfristigen Beobachtung der Prozesstätigkeit zeigt sich nicht das Bild einer Leiter, auf der es ständig nach oben geht, zu sehen sind nur Häufungen, die wie Büsche aus der Ebene ragen. In Deutschland gab es ähnliche Untersuchungen vor allem von Wollschläger [5]Die Arbeit der europäischen Zivilgerichte im historischen und internationalen Vergleich. Zeitreihen der europäischen Zivilprozeßstatistik seit dem 19. Jahrhundert. In: Erhard Blankenburg, Hg. … Continue reading, aber auch von Rottleuthner [6]Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe. Ein Plädoyer für die langfristige Betrachtung gerichtlicher Gezeiten, ZRP 1985, 117-119. und anderen [7]Z. B. Röhl, Erfahrungen mit Güteverfahren, Deutsche Richterzeitung 1983, S. 90-97..

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306.
2 Dazu etwas näher im Posting vom 28. 11. 2009.
3 Literatur: Hans Albert, Critical Rationalism: The Problem of Method in Social Sciences and Law, Ratio Juris 1988, 1; Stephen Daniels, Ladders and Bushes: The Problem of Caseloads and Studying Court Activities over Time, ABF Research Journal 1984, 751; Lawrence M. Friedman, Sociology of Law and Legal History, Sociologia del Diritto XVI, 1989, 7; James Willard Hurst (1950) The Growth of American Law; ders. (1964) Law and Economic Growth. The Legal History of the Lumber Industry in Wisconsin, 1836-1915; Klaus F. Röhl, Wozu Rechtsgeschichte?, Jura 1994,173
4 Einige »Klassiker« seien jedenfalls noch genannt: Theda Skocpol, States and Social Revolutions, 1979 (über 30 Nachdrucke); dazu die Rezension von Jeff Goodwin, How to Become a Dominant American Social Scientist: The Case of Theda Skocpol, in: Clawson, Required Reading, S. 37; Immanuel Wallerstein: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 2004 (Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, 1974, mehrfach nachgedruckt); dazu die Rezension von Harriet Friedmann in: Clawson, Required Reading, 1998, S. 149-154).
5 Die Arbeit der europäischen Zivilgerichte im historischen und internationalen Vergleich. Zeitreihen der europäischen Zivilprozeßstatistik seit dem 19. Jahrhundert. In: Erhard Blankenburg, Hg. (1989) Prozessflut?, S. 21–114. Dort S. 114 sind auch weitere Arbeiten Wollschlägers nachgewiesen.
6 Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe. Ein Plädoyer für die langfristige Betrachtung gerichtlicher Gezeiten, ZRP 1985, 117-119.
7 Z. B. Röhl, Erfahrungen mit Güteverfahren, Deutsche Richterzeitung 1983, S. 90-97.

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