Abstraktion und Recht im Kontext

Dies ist die vierte Fortsetzung des Eintrags vom 5. 7. 2025 aus Anlass der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster unter dem Generalthema »Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« stattfinden soll.

Law in Context als innerwissenschaftliche Bewegung

Die Anfänge der Rechtssoziologie waren von einem Pathos der Lebensnähe und des Wirklichkeitsbezugs getragen. Interdisziplinarität sollte mittelbar über ein besseres »Verständnis« auf das Recht Einfluss nehmen. Dieses, wenn man so will, hermeneutische Unternehmen mündete in weitreichenden Interdisziplinaritätsforderungen. Die Formel Law in Context führt wieder zum Verständnisansatz zurück:

»›Kontext‹ ist der zentrale Brückenbegriff des Denkens über ›Verfassung‹ zu anderen Kulturwissenschaften hin, insbesondere zu Philosophie und Ethik, Religion und Pädagogik, aber auch zu Politikwissenschaften, Ökonomie und Ökologie, so fragmentarisch der Brückenschlag bleibt. Kontext meint: ›Verständnis durch Hinzudenken‹.«[1]

In den 1980er Jahren wuchs unter dem Titel »Law in Context« in und um das European University Institute (EUI) in Florenz eine innerwissenschaftliche Bewegung, von der Francis Snyder sagt:

»Their teaching and scholarship dramatically enlarged the methods and theoretical perspectives in EU legal studies. All believed that law could be understood best by placing legal institutions, rules, dispute settlement processes, and legal professionals in their social, economic, political and cultural contexts.« [2]

Entsprechend erhielt das seit 1990 erscheinende European Law Journal den Untertitel »Review of European Law in Context«. Seit 1970 erscheint bei Cambridge University Press die Buchreihe »Law in Context«. Auf der Verlagsseite heißt es dazu:

 »The series is a vehicle for the publication of innovative monographs and texts that treat law and legal phenomena critically in their cultural, social, political, technological, environmental and economic contexts. A contextual approach involves treating legal subjects broadly, using materials from other humanities and social sciences, and from any other discipline that helps to explain the operation in practice of the particular legal field or legal phenomena under investigation.«

Ein Blick in die Liste der inzwischen 96 Titel zeigt die Konturenlosigkeit des Kontextbegriffs. Sanne Taekema/Jeanne Gaakeer/Marc Loth können »Recht in context« als Titel ihrer 2020 in 6. Aufl. erschienenen Einführung in die Rechtswissenschaft nutzen.

Die anfängliche Begeisterung ist dahin. Snyders Erklärung scheint zu sein, dass der interdisziplinäre Ansatz von Law in Context inzwischen so weit verbreitet ist, dass er seinen Neuigkeitswert verloren hat. Meine Erklärung wäre, dass dieser Ansatz nicht über den alten Verständnisansatz der klassischen Rechtssoziologie hinausgelangt ist. Er scheitert daran, dass er dem Kontext keine Grenzen zieht.

Kontext und Abstraktion

Der »Kontext« hat seinen Ursprung im Sprach­zusammenhang, und von dort hat er einen Siegeszug als Metapher angetreten. Die Kontextformel als Interdisziplinaritätsforderung stellt in Frage, was eigentlich durch Recht fraglos gestellt werden soll, nämlich die Unabhängigkeit genereller Regeln von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund ebenso wie von den Umständen des Einzelfalls. Regelbildung bedeutet Abstraktion und damit Dekontextualisierung. Die Forderung, Recht im Kontext zu betrachten, kehrt diesen Vorgang um. Für die Rechtspolitik ist solche Umkehrung selbstverständlich. Auch die Rechtsanwendung kommt nicht ohne Rücksicht auf den Kontext aus, denn Regeln müssen ausgelegt werden, und Auslegung ist immer kontextabhängig. Aber was heißt das? Klar ist nur, dass Auslegung stets aus dem sprachlichen Kontext und gelegentlich aus dem Systemzusammenhang schöpft. Dahinter öffnet sich als »Kontext« die weite Welt.

Der Kontext ist grenzenlos, wenn man ihn nicht, wie Ulrich Haltern, spezifiziert.[3] Haltern will für ein »vertieftes Verständnis« insbesondere das Europarecht »mit seiner Gemengelage von Interessen und Einflüssen, die reiner Rationalität zuwiderlaufen«, dessen Entwicklung »in ihrem historischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontext nachzeichnen«. Daraus sollen sich »drei Kreise der rechtswissenschaftlichen Arbeit« ergeben. Den inneren Kreis bildet die Rechtsdogmatik. Im zweiten Kreis steht das law in action, das heißt, die Wirkungen und Wirkungsbedingen des Rechts, die es interdisziplinär aufzuhellen gilt. Ein dritter äußerer Kreis beleuchtet das Recht als kulturelles Phänomen und Symbol. Diesen Kreis will Haltern allerdings »nur im Ausnahmefall« betreten. Doch die Kontextformel hat sich verselbständigt.

Die Kontextformel lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass die Jurisprudenz schon mit dem Eintritt in die semantische Interpretation und vor einer explizit sozialtechnologischen Zweck-Mittel-Betrachtung unvermeidlich mit Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit arbeitet. Der Gesetzgeber hatte Vorstellungen über die gesellschaftlichen Zustände, die er mit seinen Gesetzen beeinflussen wollte. Jede einzelne Norm trifft auf einen Ausschnitt aus der Realität, oder, in der Ausdrucksweise von Friedrich Müller, auf den Normbereich.[4] Müller und seine Schule verbinden mit diesem Begriff freilich mehr, nämlich eine Überwindung der Trennung von »Recht« und »Wirklichkeit«, denn Ausschnitte der Wirklichkeit seien jeweils Bestandteile der Rechtsnormen. Diesen Anspruch lösen sie nicht ein. Der Begriff bleibt aber für die Interpretation von Normen hilfreich. Der Normbereich ist enger als der gesamtgesellschaftliche Kontext, aber doch weiter als der Normtatbestand.

Es geht um Kenntnisse über den Regelungsbereich des Rechts, über die Arbeitswelt, über familiale Beziehungen, Wohnverhältnisse, Lebensverhältnisse von Immigranten und Asylanten, Techniken und Technologien, über moderne Medien und Umweltprobleme und nicht zuletzt über Kriminalität und Wirtschaft. Die Liste lässt sich leicht verlängern. Wissen über die Wirklichkeit ist für die Rechtsgewinnung mehr oder weniger überall relevant. Insofern ist Auslegung immer kontextabhängig. Aber diese pauschale Aussage hilft nicht weiter. Der Wissenshorizont ist unendlich. Es fällt nicht schwer, Weltwissen und Alltagstheorien der Juristen zu kritisieren. In jedem Einzelfall lässt sich das Wissen der an der Rechtsgewinnung beteiligten Juristen als defizitär behaupten. Das ist, denkt man an das Konzept der bounded rationality von Herbert A. Simon, trivial.

Man muss allerdings davon ausgehen, dass die (Wert-)Urteile, mit denen Juristen die Komplexität der Welt abarbeiten, »irgendwie« von ihrem Weltwissen geprägt werden. Dieses Wissen resultiert in erster Linie aus Erfahrung und Allgemeinbildung. Der Bildungskanon der Juristen war lange vom römischen Recht geprägt. Die erforderlichen Lateinkenntnisse waren in eine breitere humanistische Bildung eingebettet. Bildung hatte immer schon starke historische, philosophische und politische Komponenten. Die rasante Entwicklung postklassischer Nachbarwissenschaften lässt das klassische Bildungsideal als defizitär erscheinen. Das führt dazu, dass die Juristen mit der Kontextformel aufgefordert werden, ihr Weltwissen mit den modernen Nachbarwissenschaften aufzubessern. Die Schwerpunkte einer »guten« Allgemeinbildung haben sich verlagert. Aber die Ablösung der klassischen humanistischen Allgemeinbildung durch eine wie auch immer inhaltlich gefüllte modernere hat nichts mit Interdisziplinarität in der Jurisprudenz zu tun.

Kontext als Weltkunde für Juristen

Rüdiger Lautmann hat 1973 prophezeit:

»Wo Juristen mit Annahmen über die gesellschaftliche Realität operieren, werden sie dies auf dem Niveau der Sozialwissenschaften tun.«[5]

Die Prophezeiung konnte gar nicht in Erfüllung gehen. Gebraucht würde eine wissenschaftlich fundierte Weltkunde für Juristen. Dafür reicht weder das Angebot der Gesellschaftswissenschaften noch die Aufnahmekapazität der Jurisprudenz. Das ist jedoch kein Defizit. Die Rechtswissenschaft verfügt über einen eigenen, innerdisziplinären Zugang zur Realität. Die Rechtswirklichkeit drängt sich der juristischen Praxis in dem Fallmaterial auf, das in Rechtsprechung in Schrifttum ausgebreitet wird. Es geht um die Fälle, mit denen Anwälte und Richter tagtäglich konfrontiert sind. Jeder Jurist begegnet ihnen zu Hunderten und zu Tausenden. Sieht man auf Gericht und Anwaltschaft als Institution, sind es Millionen. Das sind keine bloßen Zahlen in der Statistik, sondern die Mehrzahl dieser Fälle wird sorgfältig aufbereitet. Die empirische Sozialforschung hat es schwer, der Fülle des Materials, das von Gerichten und Juristen mit großem Aufwand recherchiert, publiziert und regelmäßig auch diskutiert wird, etwas entgegenzusetzen. So ist und bleibt die Berufspraxis eine wichtige Schnittstelle zum sozialen Kontext.

Sozialwissenschaftler distanzieren sich von der Vorstellung einer Selbstaufklärung der Jurisprudenz durch Erfahrung, indem sie das in der Berufspraxis erworbene Wissen als deformiert zurückweisen (»Juristenempirie«). Aber sie können zur Korrektur nur punktuell wissenschaftlich aufbereitetes Material anbieten, und selbst, wo solches vorhanden ist, gibt es kaum eindeutige Ergebnisse, sondern meistens konkurrierende Theorieangebote. Eine laufende Kontrolle von Alltagstheorien und Berufserfahrung ist nicht möglich. Sensibilisierung für den historischen und sozialen Kontext des Rechts in der juristischen Ausbildung, fortlaufende Reflexion während der Berufspraxis und punktuelle Vergewisserung müssen als Ersatz ausreichen.

Der Kontext ist grenzenlos. Am Ende bleibt von der Kontextformel nicht mehr als eine Generalklausel für Interdisziplinarität.

Kontext und Bilateralismusargument

Das Recht und die herkömmliche Rechtsdogmatik werden immer wieder kritisiert, weil sie sich auf eine Zweiparteien‐Sicht des Rechtsstreits beschränkten, die auf eine Interessenabwägung zwischen den Beteiligten hinausläuft. Gefordert wird, darüber hinaus den gesellschaftlichen Kontext in den Blick zu nehmen.[6] Diese Forderung läuft auf Berücksichtigung der gesellschaftlichen Wirkungen juristischer Entscheidungen hinaus. Man kann insoweit von einem Bilateralismusargument sprechen. Das Argument hat zwei Seiten. Im Interdisziplinaritätsdiskurs wird es zur Kritik der Zweiparteien‐Sicht des Rechtsstreits. Die Zweiparteien‐Sicht lässt sich aber mit guten Gründen auch verteidigen.

Die Verteidigung unternimmt James L. Coleman jedenfalls für das Gebiet des Schadensrechts (tort law).[7] Er wendet sich gegen die ÖAR, die bekanntlich Effizienz zum Prinzip hat mit der Folge, dass die die Wirksamkeit von Recht im Vordergrund steht.

In der Formulierung von Mathis (S. 292):

»Coleman kritisiert diesen fallexternen Bezug, weil die spezifische Beziehung zwischen Geschädigtem und Schädiger nicht berücksichtigt werde. Man analysiere dabei ex ante hypothetische Schadensfälle unter dem Gesichtspunkt der Kosten- und Risikominimierung. In Tat und Wahrheit habe aber ein Gericht ex post reale Schadensfälle zu beurteilen, die zwei ganz konkrete Parteien beträfen, die aufgrund des Schadensereignisses miteinander in einer normativen Beziehung stünden.«[8]

Deshalb muss das Prinzip der korrektiven Gerechtigkeit im Vordergrund stehen und nicht rechtspolitisch gedachte Effizienz. Zur Verteidigung des prozessualen Bilaterismus lässt sich auch Ronald Dworkins Einwand gegen die Berücksichtigung fallexterner Folgen heranziehen. Dworkin argumentierte, der Richter dürfe nur die durch Regeln und Prinzipien vorgegebene Entscheidung suchen, denn anderenfalls schaffe er neues Recht, so dass der Verlierer nicht wegen einer Verletzung bestehenden Rechts verurteilt werde, sondern weil ex post facto eine neue Pflicht geschaffen wurde (Bürgerrechte ernst genommen, S. 149).

Ähnlich argumentiert Huster  im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz.[9] Dazu unterscheidet er zwischen rechtsinternen und externen= politischen Zielen von Gleichbehandlung bzw. Ungleichbehandlung. Externe Ziele richten sich auf die Verfolgung kollektiver Güter. Rechtsintern bleibt dagegen die Durchsetzung von Rechtsprinzipien und die Abgrenzung von Interessensphären. Mit einem leicht abgewandelten Beispiel von Huster: Gleichbehandlung im Steuerrecht erfordert nicht, dass jeder die gleichen Steuern zahlt, sondern nur, dass all gleichmäßig nach ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden. Wie aber, wenn bei gleicher Leistungsfähigkeit B eine Steuervergünstigung für eine wirtschaftspolitisch erwünschte Investition gewährt wird? Huster will nicht ausschließen, dass rechtspolitische Ziele als Grund für eine Ungleichbehandlung herhalten. Wichtig ist jedoch, dass damit die rechtsinterne Betrachtungsweise verlassen wird, die auf Gleichbehandlung allein im vergleichenden Blick auf die unmittelbar Beteiligten abstellt. In unserem Zusammenhang geht es allgemeiner um die Frage, ob die Entscheidung im Parteienstreit von externen Konsequenzen abhängen soll. Mehr oder weniger hat jede Entscheidung über einen Parteienstreit auch externe Folgen. Aber es macht doch einen Unterschied, ob diese bloß als Nebenfolge eintreten oder ob sie mit der Entscheidung intendiert werden.

Im Streit zwischen Privatpersonen, etwa zwischen Mieter und Vermieter über die Verwendung von Videoaufzeichnungen, sollte es im Gerichtsverfahren allein um die Interessenabgrenzung zwischen den Beteiligten gehen. Dagegen darf der Fall nicht zum Anlass genommen werden, allgemeine rechtspolitische Ziele zu verfolgen, etwa Kriminalprävention oder Verhinderung von Mietprozessen. Wie so oft, bleibt auch hier die Grenze zwischen rechtsinternen Zwecken und rechtspolitischen Zielen unscharf, und zwar schon deshalb, weil die Interessenabgrenzung zwischen den Beteiligten nicht wie der Schlichtungsspruch des Kadis ausfallen soll, sondern als Ausdruck einer generalisierbar gedachten Regel. Aber der Schwerpunkt der Rechtsanwendung liegt doch auf der Bewertung der spezifischen Interessen der Beteiligten und ggfs. deren Abgrenzung.

Teleologische Gesetzesanwendung erzielt ihre Zukunftswirkung dadurch, dass sie die Entscheidung aus einer Regel ableitet, die als Präjudiz wirken kann. Auch wenn die Parteien, die das Gericht anrufen, damit für ihre eigene Zukunft handeln, so hängt die Entscheidung über die Berechtigung ihres Begehrens doch allein von vergangenen, gegenwärtig feststellbaren Tatsachen ab. Diese Tatsachen mögen sich als Indizien für eine Prognose über die Zukunft anbieten. Dabei geht es aber oft gar nicht um die Zukunft, an der die Parteien interessiert sind. Dann tragen die Beteiligten die Kosten für einen Zweck, den sie selbst gar nicht wollen.

Die Forderung die Zweiparteiensicht desProzesses durch Folgenberücksichtigung aufzubrechen, fällt in sich zusammen, weil die Gerichte nicht bloß einen einzigen Rechtsstreit zu entscheiden haben, sondern weil außerhalb und vor Gericht eine Myriade von subjektiven Rechten geltend gemacht wird. So wird der gesellschaftliche Kontext des indivduellen Rechtsgebrauchs durch den »Markt« der Rechte zum Selbstläufer.

Die umfangreiche Diskussion über die Zwecke der verschiedenen Gerichtsprozesse beschreibt die Rolle der Justiz in der Regel mit einer Doppelzuweisung: Zweck des Prozesses ist die Wahrung subjektiver Rechte und die Durchsetzung des objektiven Rechts. Das ist zwar allerhand, denn damit zeigt sich in der Geltendmachung von Rechten, welche Rechte die Bürger für wichtig halten und wo es an der Rechtsdurchsetzung fehlt. Aber die Doppelzuweisung greift zu kurz, weil die Gerichte subjektive Rechte nicht einfach feststellen, sondern sie laufend anpassen, ändern und oft überhaupt erst begründen. In der Lehre von den Prozesszwecken erscheint diese Funktion als Rechtsfortbildung. Auch das ist zu harmlos ausgedrückt. Die Wissensbestände sind wohl nicht so radikal verstreut, wie es von Hayek annahm. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Politik und Verwaltung verfügen über große und bewährte Bestände. Aber dieses Wissen resultiert zu einem guten Teil aus der Einforderung und Abwehr subjektiver Rechte. Beim Aufbau und der laufenden Pflege der Wissensbestände fällt der Justiz eine Schlüsselrolle zu. Die Justiz ist das Fieberthermometer der Gesellschaft, das aktuelle Probleme anzeigt. Der »Markt« der eigennützigen subjektiven Rechte ist produktiv und innovativ, weil er Rechte gegeneinander abgrenzt, in Schranken weist oder neu erfindet.

Die Bilaterismuskritik lässt sich mit Kants Instrumentalisierungsverbot verallgemeinern. Wo immer sich Parten in einer individuell spezifischen Beziehung gegenüberstehen, stellt sich die Frage, ob sie nicht als bloßes »Objekt« behandelt werden, wenn ihr Konflikt zum Anlass für die Herbeiführung von Effekten genommen wird, die über die Parteibeziehungen hinaus gehen. In aller Schärfe stellt sich das Problem im Strafrecht. Darf die Strafe so bemessen werden, dass sie andere abschreckt? Dort hilft die Formel Kants, der Täter müsse zuvor für strafbar (=schuldig) befunden werden, ehe noch daran gedacht werden dürfe, aus der Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.[10] Wenn man fordert, dass auch zivil- und öffentlich-rechtliche Rechtsfolgen in dem Sinne präventiv ausgewählt werden, dass sie in der Gesellschaft etwas bewirken, dann muss man sich wohl mit dem Instrumentalisierungsverbot auseinandersetzen. Gegenüber der öffentlichen Verwaltung als Streitpartei trägt es sicher nicht. Das Bilaterismusargument verliert auch an Gewicht, wenn der Prozess zwischen Parteien stattfindet, die überindividuelle Interessen repräsentieren; dann sind rechtspolitische Argumente eher legitim. Man könnte wohl geltend machen, dass sich Formen strategischer Prozessführung entwickelt haben, die auf sozialen Wandel abzielen. Aber ob unabhängig davon Individuen härter herangezogen werden dürfen, um allgemeine soziale Ziele zu erreichen, bedarf mindestens der Diskussion, die jedenfalls in der Rechtssoziologie vermieden wird.

Einer Instrumentalisierung der Parteien kommt es mindestens sehr nahe, wenn Karl-Heinz Ladeur der Rechtsprechung empfiehlt, »tentativ durch Ausprobieren von neuen Zurechnungen zu operieren, ohne daß die Wirkungen angesichts des strategischen Handlungspotenzials der Akteure und der dadurch erzeugten Folgen genau abgeschätzt werden können«.[11] Ex post mag es dem Beobachter so erscheinen, als ob die Rechtsprechung sich über Versuch und Irrtum einer brauchbaren Lösung nähert. Wenn ein Fall zur Entscheidung ansteht, ist jedoch schwer vorstellbar, dass die Richter sich überlegen, sie könnten mit der Partei XY einmal ausprobieren, ob eine bestimmte Lösung sich bewährt. Auch hilft es der Rechtsprechung nicht, wenn die Rechtstheorie ihr erklärt, jedes Urteil sei ein kleiner Schritt auf dem Wege der Evolution des Rechts. So wenig wie Eltern, die ein Wunschkind zeugen, dabei an der Evolution des Menschengeschlechts mitwirken wollen, verfolgen Gerichte die Absicht, mit konkreten Urteilen die Evolution des Rechts zu befördern. Wenn man auf Evolution abstellt, ist die Kritik der Zweiparteiensicht des Rechtsstreits ohnehin unreflektiert, weil sie auf einzelne Prozesse sieht und nicht auf das Prozessgeschehen insgesamt.

Weitere Fortsetzungen zu folgenden Themen könnten sich anschließen:

  • die Metapher als Brücke zwischen abstrakt und konkret
  • abstrakte Werte und konkrete Zwecke
  • Personalisierung vs. Individualisierung
  • die Stufenbaulehre als Verbindung zwischen einer abstrakten Geltungstheorie und der konkreten Rechtsquellenlehre.

[1] Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 11.

[2] Francis Snyder, Establishing Law in Context: An Insider’s Perspective, SSRN 2024, 4768055.

[3] Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext Bd. I, 3. Aufl. 2017.

[4] Friedrich Müller, Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, ARSP 56, 1970, 493-509.

[5] Die Fundstelle habe ich verloren. Ich kann daher nur allgemein verweisen auf Rüdiger Lautmann, Justiz vor den Toren der Jurisprudenz, 1971, sowie Soziologie und Rechtswissenschaft, in: Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaft Bd. 1, 1973, 35-48.

[6] Z. B. von Andreas Abegg, Die Bedeutung der Wissenschaft für das Recht, Ancilla Juris, 2006, 29-32; Harald Koch, Alternativen zum Zweiparteiensystem im Zivilprozeß: Parteiübergreifende Interessen und objektive Prozeßführungsrechte, KritV 4, 1969, 323-340.

[7] Jules L. Coleman, The Practice of Principle, 2003 (Lecture Two – Bilateralism, S. 13-24). Rezension von Robbie Moser, The Practice of Principle: In Defense of a Pragmatist Approach to Legal Theory, Dalhousie Journal of Legal Studies 12, 2003, 287-291.

[8] Klaus Mathis, Folgenorientierung im Recht, in: Stephan Kirste, Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften, 2016; ders., Effizienz statt Gerechtigkeit?, 4 Aufl. 2019, S. 107f.

[9] Stefan Huster, Rechte und Ziele, 1993, 164ff.

[10] Aus der Literatur: Dieter Schmidtchen, Prävention und Menschenwürde. Kants Instrumentalisierungsverbot im Lichte der ökonomischen Theorie der Strafe, in: FS Ernst-Joachim Lampe 2003, 245-274.

[11] Karl-Heinz Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74, 1988, 218-238, S. 236.

Ähnliche Themen

Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken

»Partikulär oder universell – generell oder kontextuell?« lautet das Generalthema der Tagung der Deutschen Sektion der IVR, die vom 23. Bis 27. September 2025 in Münster stattfinden soll. Dazu der Untertitel: »Rechtsphilosophie zwischen Abstraktion und Konkretion«. Der Eröffnungsvortrag von Ulfried Neumann ist überschrieben »Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken«. Genau das war das Thema der IVR-Tagung in Saarbrücken vor 35 Jahren. Dazu referierte damals Arthur Kaufmann.[1] Die Thematik ist anscheinend unerschöpflich.

Es liegt nahe zu fragen, wie sich die Vorstellungen über das Verhältnis von Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken über  die 35 Jahre seit der Tagung von 1990 verändert haben. Die Frage habe ich an   ChatGPT und an Microsoft Copilot gestellt. Die Antworten sind gar nicht schlecht. Aber das mag jeder selbst ausprobieren. Ich will hier den Versuch unternehmen, meine Beobachtung des Rechts unter dem Aspekt von konkret und abstrakt zu ordnen, zusammenzufassen und vielleicht auch zu ergänzen, indem ich zusammentrage, was auf Rsozblog und in meinen Notizen zum Thema zu finden ist. Wie immer auf Rsozblog geht es mir nicht darum, die wissenschaftliche Literatur zu bereichern, sondern darum (unter den virtuellen Augen der Öffentlichkeit) die eigenen Gedanken zu ordnen.

Beginnen müsste man wohl damit, dass man abstrakt über Abstraktion  nachdenkt, und das heißt konkret über Begriffsbildung. Dazu steht einiges in dem Eintrag »Abstrakt und Konkret« vom 10. 1. 2021. Dort steht bereits der Hinweis, dass der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts die Formulierung allgemeiner Regeln ist. Daher muss die Allgemeinheit des Gesetzes zum Thema werden. Historisch hat sich die Rechtswelt vermutlich vom Fall zur Regel entwickelt. Regeln entstanden erst aus der Vorbildwirkung von Einzelfallentscheidungen. Sie waren zunächst bloß, wie es in der Digestenstelle D. 50,17,1 heißt, ein Kurzreferat des Falles (»breviter enarrat«). In der Moderne hat sich Priorität umekehrt. Die Regel steht vor dem Fall. Der Weg dahin führte über Juristen, die sich das »Referat« von Fällen zum Beruf machten, zu Autoritäten, die Regeln setzen. Daraus ist die Allgemeinheit des Gesetzes als Grundprinzip des modernen Rechtsstaats gewachsen. Die Frage steht im Raum, wieweit dieses Prinzip in der Postmoderne gelitten hat.

Am Beginn steht also das Verhältnis von Fall und Regel. Dazu gab es auf der Tagung von 1990 einen Vortrag von Lüderssen[2] (mit denen ich nicht viel anfangen kann). Auf Rsozblog finden sich gleich drei Einträge zum Thema. Der erste Eintrag vom 20. August 2025, überschrieben Casus und Regula, beginnt mit einer Auflistung von Fragen, die sich aus dem Verhältnis von Fall und Regel, von konkret und abstrakt ergeben, um dann, ausgehend von der Digestenstelle  D. 50, 17 auf den (angeblichen?) Methodenstreit der Prokulianer und Sabinianer über den Vorrang von casus oder regula einzugehen. Der Folgebeitrag vom 1. 11. 2015  erinnert an die daran anschließende Kontroverse unter Romanisten über den Einfluss griechischer Philosophie auf römische Juristen. Der abschließende Eintrag vom 11. 11. 2015 handelt von dem Motto des Freirechts: »Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat«. Das Verhältnis von Fall und Regel ist noch einmal im Eintrag vom 22. 11. 2022 Thema im Zusammenhang mit der Analogie, genauer, mit er Frage, ob die Verwertung eines Präjudizes die Anwendung einer der präjudiziellen Entscheidung entnommenen Norm bedeutet oder ob es unmittelbar die Ähnlichkeit des Falles ist, die die Folgeentscheidung bestimmt.

Zum Verhältnis von Fall und Regel will ich noch einige Sätze über

Einzelfallvorbehalt und Verallgemeinerungsgrundsatz

ergänzen: Kann man sich ein Recht ohne Regeln vorstellen? Schon die Römer waren sich nicht einig, ob der gerechten Lösung des Einzelfalls oder einer regelgeleiteten Entscheidung der Vorrang gebühre. Ohne Regel kann man nicht subsumieren, sondern muss abwägen. Aber die Abwägung kann doch in verschiedener Absicht erfolgen. Sie kann zum Ziel haben, eine Regel zu formulieren, um sie dann auf den Fall anzuwenden. Die Abwägung kann sich aber auch darauf beschränken, den Streitfall nur aus seinem Kontext heraus einer Lösung zuzuführen.

Der praktische Unterschied zwischen einer bloßen Einzelfallabwägung und einer regelbewussten Entscheidung liegt darin, dass letztere den konkreten Fall aus größerer Distanz betrachtet, weil sie gleichzeitig andere Fälle bedenkt, auf welche die Regel anwendbar sein könnte. Eine Regel bedeutet immer eine Abstraktion. Der Tatbestand muss griffig gehalten werden. Eine Regel kann daher nie alle Umstände des Falles berücksichtigen, sie ist immer nur eine Faustregel. Regeln sagen nicht nur, was für die Entscheidung relevant sein soll; wichtiger noch, sie verbieten die Berücksichtigung aller nicht genannten Umstände als irrelevant. Eine regelbewusste Entscheidung führt dazu, viele Umstände des Einzelfalles, die den Parteien und auch manchen Beobachtern bedeutsam erscheinen mögen, für unerheblich zu erklären. Die Einzelfallabwägung geht näher an den Fall heran. Sie kann mehr und konkretere Details aus seinem Umfeld berücksichtigen. Nichts ist von vornherein unwichtig. Im Idealfall ergeht die Entscheidung aufgrund »aller Umstände des Einzelfalles«.

Allgemein gedachte Gesetze machen den Kern des modernen Rechts aus. Für eine Einzelfallabwägung ist grundsätzlich kein Platz. Der Grundsatz kennt drei Ausnahmen. Die erste Ausnahme, ist der Fall, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu einem für untragbar gehaltenen Ergebnis gelangt. Dann gestattet der Gedanke der Billigkeit im Einzelfall eine Abweichung.[3] Der zweite Fall ist derjenige, dass das Gesetz eine Lücke zu haben scheint. H. L. A. Hart stellte in diesem Fall die Entscheidung in das richterliche Ermessen. Dworkin dagegen hätte die Entscheidungen in Prinzipien gesucht. Der Dritte Fall ist dem zweiten ähnlich, nur dass die Lücke insofern offen ist, als das Gesetz mit absichtlich unbestimmten Begriffen arbeitet. Für diesen Fall steht das Gericht vor der Frage, ob es sich auf den Einzelfall konzentrieren oder bedenken soll, dass seiner Entscheidung eine Regel entnommen werden könnte.[4]

Das Bundesverfassungsgericht hat die Abwägung im Einzelfall zur Methode der Wahl gemacht. Es weigert sich, als Ergebnis der Abwägung »Vorrangbedingungen« zu formulieren. Pawlowski hat auf die grundlegende Bedeutung dieses Vorgangs hingewiesen: An sich ist die Güter- oder Interessenabwägung ein herkömmliches Konzept, um unbestimmte Rechtsbegriffe auszufüllen. Doch mit einer Güterabwägung ist es nicht getan. Es soll sich um eine »Güterabwägung im Einzelfall« handeln. Am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts:

»So wurde – und wird – das Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung von Privatbriefen und Tagebüchern bereits im vergangenen Jahrhundert damit begründet, dass dem Interesse des Verfassers nach derartigen Aufzeichnungen an der Achtung seine Privatsphäre größeres Gewicht beizumessen sei, als dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit – was z.B. J. Kohler ausführlich mit rechtsvergleichenden Belegen dokumentiert hat. Diese ›Abwägung‹ führt aber dann zu dem generellen Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung derartiger Schriftstücke. Die Abwägung wird hier also als Mittel zur Ableitung neuer allgemeiner Rechtssätze eingesetzt.

Im Rahmen des neuen Konzepts dient die Abwägung dagegen der Entscheidung des Einzelfalles. Dies wird z.B. besonders deutlich in dem abweichenden Votum Rupp-v. Bruennecks in der ›Mephisto-Entscheidung‹ des Bundesverfassungsgerichts. Sie stützte nämlich ihre Ablehnung der Mehrheitsentscheidung unter u.a. darauf, dass die Mehrheit bei ihrer Abwägung zwischen dem Grundrecht der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Romanfigur das Emigrantenschicksal des Autors (Klaus Mann) nicht berücksichtigt habe. Das macht deutlich, dass es bei dieser Art Abwägungen um Argumente geht, die nicht verallgemeinerungsfähig sind: Man wird nicht davon ausgehen können, dass Emigranten allgemein die Befugnis zuerkannt werden kann, das Persönlichkeitsrecht von Nicht-Emigranten stärker zu beeinträchtigen als andere Bürger. Die ›Abwägung‹ orientiert sich hier vielmehr an der Biographie (an der ›Geschichte‹) zweier Einzelpersonen mit allen ihren Implikationen.« [5]

In der Aufgabe des Allgemeinheitsgrundsatzes zugunsten der Abwägung im Einzelfall sieht Pawlowski einen grundsätzlichen Wandel des Rechtsdenkens und der Rechtskultur. Die Ursache dieses Wandels findet er darin, dass Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht nicht aus Normen, sondern unmittelbar aus Werten abgeleitet werden.[6] Das hat zur Folge, dass selbst dort, wo Regeln vorhanden sind, diese im Einzelfall in einem »Anwendungsdiskurs« aufgeweicht werden.[7] Anwendungsdiskurse gehen zwar von einer Regel aus. Die soll dann aber in Anwendungssituationen auf ihre »Angemessenheit« geprüft werden. Das Prinzip der Angemessenheit umfasst vor allem die Berücksichtigung aller Umstände der Situation. Als Folge wird den Regeln nur eine Art Prima-Facie-Geltung zugebilligt und der konkreten Entscheidung von vornherein die Verallgemeinerungsfähigkeit genommen. Maus  spricht kritisch von einer faktischen Remoralisierung des Rechts durch die Werte-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.[8]

Soweit es keine Regeln gibt und Regeln auch gar nicht das Ziel sind, ist die Abwägung offen für den fallweisen Zugriff auf politische oder moralische Gesichtspunkte oder für den Rückgriff auf konkret anschauliche Vorstellungen von ausgleichender Gerechtigkeit. Solche Moralisierung nennt man gewöhnlich Kadijustiz. Die Bezeichnung ist nicht unbedingt abwertend gemeint. Es gibt, angefangen bei dem Urteil des Königs Salomo, viele wunderbare Beispiele. Aber Kadijustiz ist eine andere Art der Gerechtigkeit, nämlich solche in Ansehung der Personen und ihrer Relationen.[9] Es ist alte juristische Tradition, politische oder moralische Gesichtspunkte nur ganz ausnahmsweise heranzuziehen, wenn die Anwendung einer Regel im Einzelfall zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

Regelbewusstes Entscheiden ist nicht unbedingt »rationaler« als die fallorientierte Abwägung. Die unvermeidliche »Irrationalität« wird nur vom konkreten Fall auf die abstraktere Regel verlagert. Ob man sich der Entscheidung mit einer Regel nähert, von der man unter ganz besonderen Umständen abweicht, oder ob man von vornherein auf die besonderen Umstände des Falles abstellt, läuft auf eine unterschiedliche Verteilung der Argumentationslast hinaus. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass sich auch der Gleichheitssatz, ja vielleicht sogar die Grundrechte, in Argumentationslastregeln erschöpfen.

Regelbildung ist grundsätzlich nicht das Ziel der Rechtsprechung.[10] Die Gerichte haben Einzelfälle zu entscheiden. Doch diese Funktionsbeschränkung gilt nur, solange Regeln vorhanden sind. Fehlt es an einer Regel, so ist Rechtsfortbildung gefordert. Auch wenn man nicht so weit geht wie Langenbucher[11], die die Ausarbeitung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, die in künftigen Gerichtsurteilen als Entscheidungsgrundlage dienen kann, zum Ziel der Rechtsfortbildung erklärt, so bleibt der Grundsatz der Verallgemeinerung, nach dem man sich jede Einzelfallentscheidung als regelgeleitet vorstellt, doch die regulative Idee, die der Entscheidung ihre Rechtsqualität verleiht. Dazu muss die Regel gar nicht abstrakt ausformuliert werden. Aber sie sollte jedenfalls aus dem Präjudiz rekonstruierbar sein und eine Rekonstruktion nicht durch einen Einzelfallvorbehalt abgeblockt werden. Die Verfassungsrechtsprechung neigt dazu, regelverachtend die in Gesetz und Dogmatik vorhandenen Strukturen »durch immer feiner ziselierende und letztlich nur im Einzelfall und in der Einzelfallgerechtigkeit ein Ende findende Verhältnismäßigkeitsüberlegungen« aufzulösen.[12] Sie sollte stattdessen, um es mit Alexy zu formulieren, Vorrangbedingungen festlegen, unter denen das eine oder andere der konkurrierenden Rechtsgüter zu weichen hat.

Fortsetzung:
Die Allgemeinheit des Gesetzes


[1] Arthur Kaufmann, Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 1992, 77-100. In der ersten Hälfte des Vortrags zählt Kaufmann auf, was er alles nicht behandeln will. In der zweiten Hälfte unterbreitet er die These von der Universalisierbarkeit eines negativen Utilitarismus.

[2] Klaus Lüderssen, Regel und Fall, ARSP-Beiheft 45 1992, 129-142.

[3] Franz Bydlinski, Allgemeines Gesetz und Einzelfallgerechtigkeit, in: Christian Starck (Hg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 49-79;

[4] Nicht hierher gehören die Fälle in denen die Generalisierung in einem Gesetz generell angreifbar ist, insbeondere weil sie gegen Grundrechte verstößt. So können Gesetze allgemeine, personenbezogene Merkmale verwenden, die sich unter Gleichheitsgesichtspunkten als diskriminierend erweisen. Das ist das Thema von Gabriele Britz, Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung. Verfassungsrechtliche Grenzen statistischer Diskriminierung, 2008. Britz sprich von »Generalisierungsunrecht«.

[5] Hans-Martin Pawlowski, Allgemeines Persönlichkeitsrecht oder Schutz der Persönlichkeitsrechte?, JbRSozRTh 12, 1987, 113-132, S. 118.

[6] Hans-Martin Pawlowski, Werte versus Normen, ZRph 2004, 97-110.

[7] Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988, S. 188.

[8] Ingeborg Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 1989, 191–210, 199.

[9] Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3 Aufl. 1999, 25 ff.

[10] Auf der IVR-Tagung 1990 referierten Jörg Berkemann und Günter Ellscheid zum Thema »Probleme der Regelbildung in der richterlichen Entscheidungspraxis« (ARSP-Beiheft 45, 1992, 7-22, und 23-35). Berkemann ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Rechtsprechung Normen zu bilden hat, und konzentrierte sich auf eine Kritik der Methodenlehre. Ellscheid begann (S. 23)  mit der Feststellung: »Der Gleichheitssatz verlangt, dass der Richter, soweit er bei einer Konkretisierung und Fortbildung des Rechts Entscheidungs- oder Ermessensspielräume hat, diese nach einheitlichen, und das kann nur heißen, fallübergreifenden Kriterien ausfüllt, also die Regel angibt, nach der er entchieden hat und daß er eine etwa von ihm aufgestellte Regel nicht leichtfertig wieder aufgibt.«, um sich dann Problemen der Abwägung bei der Konkretisierung von Grundrechten und unbestimten Rechtsbegriffen zu widmen.

[11] Katja Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996.

[12] Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401–409, S. 408.

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Abstrakt und konkret

Der Gegensatz von Form und Inhalt, von dem im letzten Eintrag die Rede war, hängt eng mit dem Begriffspaar abstrakt und konkret zusammen. Inhalte müssen eine Form annehmen, um transportierbar zu werden. Damit werden sie von konkreten Situationen abstrahiert.

Nur unmittelbares Erleben ist konkret. Das Erleben ereignet sich in einer Situation, das heißt, in einer mehr oder weniger einmaligen Konstellation von Leib und Materie, Raum und Zeit. Jede Mitteilung = Kommunikation über das Erleben ist eine Darstellung (Repräsentation) in einem Medium (Wort, Bild, Schrift) und damit immer schon eine Abstraktion. Ein berühmtes Beispiel von Gilbert Ryle[1] ist der Stadtplan. Auch ein geübter Kartenleser gewinnt nicht die gleiche Sicherheit der Orientierung wie der Einwohner, der die Straßen kennt. Das gilt auch für andere Darstellungen. Die Aussage eines Zeugen ist eine Abstraktion von dem, was der Zeuge erlebt hat. Das Protokoll der Zeugenaussage ist noch einmal eine Abstraktion der Abstraktion. Allerdings gibt es unterschiedliche Grade der Abstraktion von Darstellungen. Bilder wirken konkreter als Texte, bleiben aber trotzdem abstrakt im Verhältnis zu dem, was sie zeigen. Das gilt selbst für die multimediale Kommunikation, wie sie in Corona-Zeiten üblich geworden ist. Die Videokonferenz kann die Präsenzveranstaltung nicht wirklich ersetzen.

Oft wird konkret mit anschaulich gleichgesetzt. Das ist jedoch zu einfach. Die als Justitia allegorisch dargestellte Idee der Gerechtigkeit mag anschaulich sein, der Gedanke bleibt dennoch abstrakt. Allegorien und Metaphern sind nur pseudokonkret, denn sie erwecken den Anschein des unmittelbar sinnlich Wahrnehmbaren.

Der Vergleich von Bildern und Sprache zeigt den Weg zu den Begriffen. Der Weg führt über die Dimension intensional – extensional. Realistische Bilder ohne Kontext sind wie Namen, das heißt, sie identifizieren Gegenstände und haben damit extensionale Bedeutung. Solche isolierten Bilder können nur bezeichnen und aufzählen. Sprache dagegen kann von den konkreten Gegenständen absehen, indem sie intensional das Gemeinte repräsentiert. Aus der Zugspitze, dem Matterhorn und dem Montblanc werden Berge. Aus Peter, Emil, Gerda und Kathrin werden Menschen. Sprache ist abstrakt in dem Sinne, dass sie viele mögliche bildliche Darstellungen zulässt. Realistische Bilder bleiben (relativ) konkret. Ein Bild kann nicht »die Berge« oder »die Menschen« zeigen – wiewohl Künstler das immer wieder versuchen – , sondern nur bestimmte Berge oder Menschen. Worte fassen zusammen, was Bilder trennen.

»All that words can deal with are similarities (not differences).«[2]

Abstraktion führt zur Begriffsbildung, Begriffsbildung setzt Abstraktion voraus, denn Begriffe sind Namen für eine Klasse von Gegenständen. Sie werden gebildet, um einzelne Objekte einer Klasse = Gattung zuzuordnen oder als Element der Klasse wiederzuerkennen. Damit kehren unter dem Aspekt der Abstraktion alle Gesichtspunkte wieder, die mit den Begriffen verbunden sind. Auch wenn alle Begriffe insofern abstrakt sind, als sie vom Einzelfall absehen, so sind sie doch darauf angelegt, bekannte und unbekannte Einzelfälle wieder­zuerkennen.

Begriffe werden gewöhnlich durch Worte repräsentiert. Nackte Symbole, wie sie in der formalen Logik üblich sind, können sowohl (als Namen) für konkrete Gegenstände als auch für Begriffe stehen.

Wiewohl Begriffe insofern abstrakt sind, als sie nicht Individuuen benennen, sondern eine Klasse von Gegenständen, gibt es doch auch insoweit unterschiedliche Grade der Abstraktion. Begriffe, die, wenn auch verallgemeinernd, Sinneswahrnehmungen oder wahrnehmbare Objekte bezeichnen, bleiben anschaulich, ganz gleich ob von Autos oder von Wolken die Rede ist. Eine höhere Stufe wird erreicht, wenn die Sprache Relationen zwischen anschaulichen Gegenständen benennt und damit Begriffe schafft, die nicht mehr auf Anschauliches verweisen. Das beginnt mit so einfachen Begriffen wie Verwandtschaft, Besitz oder Eigentum und endet noch nicht mit Forderung, Schaden oder Erfüllung. Eine weitere Steigerung der Abstraktion besteht darin, abstrakte Relationen zwischen verschiedenen Abstracta zu benennen (z. B. »eine strukturelle Kopplung zwischen dem Rechtssystem und dem politischen System«).

Schlichtes Denken ist konkret. Es verbindet Eigenschaften mit einem Gegenstand, redet also nicht von Größe an sich, sondern von großen Bäumen oder Bergen, nicht von Klugheit schlechthin, sondern von klugen Füchsen oder Menschen, nicht von der Güte als solcher, sondern von der Güte einer Mutter oder der Güte Gottes. Früher war man deshalb der Ansicht, Abstraktion vollziehe sich als Verselbständigung von Eigenschaften anschaulicher Gegenstände. Als Beispiel galt etwa die Abstraktion des Weißen als Eigenschaft aller weißen Gegenstände, vor allem aber die Abstraktion von Zahlen von den gezählten Objekten. Bei der üblichen intensionalen Definition war genus proximum dann der »Gegenstand«, differentia specifica die Eigenschaft, der Schimmel also ein weißes Pferd. Aber was wir Gegenstand nennen und was uns als Eigenschaft erscheint, ist ein bloßes Konstrukt unseres Kognitionssystems. Diese Sichtweise düfte auf einem ontologischen Vorurteil beruhen, denn es gibt keinen Grund für die Annahme, dass ein Pferd wesentlicher sei als eine Farbe oder, abstrakt formuliert, die Eigenschaft wesentlicher als der Gegenstand. Aber es bleibt dabei, das sie Verselbständiung von Eigenschaften eine Abstraktion bedeutet.

Diese Form der Abstraktion äußert sich sprachlich durch Substantivierung. An die Stelle von Prädikaten, die bis dahin stets mit konkreten Objekten zusammengedacht wurden, treten Substantive, die anscheinend keine Ergänzung mehr durch einen Objektbereich nötig haben. Noch Aristoteles behandelte die Gerechtigkeit als eine Tugend, d.h. als eine Eigenschaft konkreter Menschen. Das war jedoch ein Rückfall in der Entwicklung zum abstrakten Denken, die in der griechischen Philosophie längst stattgefunden hatte. Erst Abstraktion und die mit ihr verbundene Substantivierung machten Platons Ideenlehre möglich, in der die von aller Substanz befreite Idee des Guten den höchsten Platz einnimmt.

Die Abstraktionen der Philosophen (und Juristen) haben sich im europäischen Kulturkreis weit bis in die Alltagssprache hinein ausgebreitet. Wie selbstverständlich reden wir von Sein oder Nichtsein, Wesen und Struktur, Idee und Realität und nicht zuletzt auch vom Recht. Die Reihe solcher Substantivierungen ist unerschöpflich. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie wir ohne sie reden und denken würden. Aber es ist sicher, dass die abstrahierende Substantivierung in viele künstliche Probleme führt. Vielleicht zählt dazu auch der Kampf der Werte im Wertehimmel. Oft ist es hilfreich, den Prozess des Weglassens von konkreten Details umzukehren, wenn sich die Probleme anders nicht lösen lassen. Wenn Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte im Streit liegen, so kann man beides gar nicht direkt gegeneinander abwägen, sondern muss im Prozess der Abstraktion eine oder mehrere Stufen zurückgehen, um vielleicht Literatur gegen Jugendschutz oder noch konkreter das Werk eines bestimmten Autors gegen die Persönlichkeit des darin verunglimpften Helden ins Auge zu fassen.

Das Recht hat sich mit Hilfe der Sprache seine eigenen Abstraktionen geschaffen. Der wichtigste Abstraktionsmodus des Rechts ist die Formulierung allgemeiner Regeln, die nur wenige Kriterien für relevant erklären und von den vielen Besonderheiten, die jeder konkrete Fall mit sich bringt, absehen. Damit wären wir wieder bei dem allgemeinen Gesetz als Rechtsform.

Die Abstraktion wird immer wieder als Krankheit des Rechts angesprochen. Sie bildet aber ein allgemeineres Problem. In den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht eine Tendenz, allgemeinere Theorien zugunsten immer weiter gehender Differenzierungen (Nuancen) zurückzuweisen. So werden immer detailliertere empirische Beschreibungen verlangt und sie werden von einem nicht endenwollenden Ausbau der Begriffssysteme begleitet, die immer weitere Sachverhalte abdecken sollen.[3] Juristen fühlen sich an die Forderung nach der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erinnert. Es bedarf eines langen Trainings, um die in ihrer Konkretheit unendlich differenzierte Wirklichkeit in wissenschaftlichen Texten zu repräsentieren, das heißt, sie in (abstrakte) Theorie zu bringen. Theorie arbeitet notwendig mit Verallgemeinerungen, die immer zugleich eine Abstraktion darstellen. Es bedarf des Selbstbewusstseins erfahrener Juristen, um dem differenzierten Theoriemosaik der philosophisch und sozialwissenschaftlich inspirierten Rechtstheorie einigen Gewinn abzuringen.


[1] Abstractions, Dialogue (Canadian Philosophical Review) 1, 1962, 5-16.

[2] William M. Ivins, Jr., Prints and Visual Communication, 8. Aufl. 1992, S. 139.

[3] Kieran Healy, Fuck Nuance, Sociological Theory 35, 2017, 118-127.

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