Zur Asymmetrie der Unterscheidung

Von Luhmann haben wir gelernt, dass Begriffsbildung sich durch Beobachten oder – was dasselbe ist (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997 = GdG S. 69) – durch Unterscheiden vollzieht.[1] Luhmann seinerseits bezog sich auf George Spencer Browns »Laws of Form«[2]. »Draw a distinction«[3], so beginnt Spencer Browns Formenkalkül. Triff eine Unterscheidung und bezeichne das Unterschiedene, so beginnt nach Luhmann jede Beobachtung. Unterscheiden heißt, eine Grenze zu ziehen und damit eine Differenz zu konstatieren.

Begnügt man sich mit dem Imperativ »Draw a distinction!«, dann bleibt die andere Seite des Unterschiedenen zunächst unbelichtet. Das macht Spencer Brown auch bildlich klar, indem er uns vorschlägt, wir sollten uns auf einer Fläche einen Kreis denken, den wir durch Überschreitung der Grenze in den Kreis markieren. Nur der eingegrenzte Kreis ist dann der »markierte« Raum. Luhmann interpretiert diese Operation als asymmetrische Zwei-Seiten-Form.

»Deutlicher, als dies bei Spencer Brown geschieht, sollte hier festgehalten werden, daß Unterscheidungen deshalb in einer fundamentalen Weise asymmetrisch sind – so wie ja auch Lust/Unlust, System/Umwelt, wahr/unwahr, gut/schlecht usw., die nur mit einer beträchtlichen intellektuellen Anstrengung ihr Präferenzgefälle abstreifen und resymmetrisiert werden können.«[4]

Dem im Prozess der Begriffsbildung durch Unterscheiden begrifflich Ausgeschlossenen, also der oder den Alternativen, schenkt Luhmann anscheinend wenig oder gar keine Aufmerksamkeit. Praktisch wird aus der Unterscheidung eine Dichotomie, und zwar eine Dichotomie durch Verneinung: Dies oder alles andere = nicht dies.

Muss das so sein? Hier kreuzen sich zwei Fragen, die Fragen nämlich, ob Unterscheidungen notwendig binär und damit (?) asymmetrisch ausfallen.

Spencer Browns Metapher von Fläche und Kreis legt beides nahe, Binarität sowohl wie Asymmetrie. Der Kreis als Innenseite der Unterscheidung ist geschlossen. Die umgebende Fläche als Außenseite scheint grenzenlos zu sein. Der Asymmetrieverdacht erhält Nahrung, wenn zunächst nur die Innenseite bezeichnet und benannt wird. Da bleibt die zweite Seite unterbelichtet. Sie wird zum unbezeichneten Rest; man könnte sagen der Un-Kreis = nicht das Innere. Gerhard Wagner hat jedoch darauf hingewiesen, dass diese Interpretation Spencer Brown falsch rezipiert.[5] Er zitiert dazu aus den Law of Form« (S. 1) mit der Betonung auf »each«:

»Once a distinction is drawn, the spaces, states, or contents on each side of the boundary, being distinct, can be indicated.«

Wagner verweist ferner auf die S. 59, wo Spencer Brown (jeweils mit einer Zeichnung) von einer markierten Außenseite ausgeht, ebenso auf S. 70 und 73. Die Kreismetapher führt also in die Irre. Wenn schon Metapher, dann besser nur eine Linie. Bei Spencer Brown ist die Unterscheidung also wohl binär, aber nicht asymmetrisch. Dennoch legt die mit seinem Entscheidungsmodell unweigerlich verbundene Metaphorik eine Asymmetrie gleich dreifach nahe, erstens weil die Unterscheidung schon mit der Markierung nur einer Seite vollzogen ist[6], zweitens weil die Unterscheidung als ein zeitraubender Vorgang gedacht wird, bei dem zunächst die eine und erst danach die andere Seite bezeichnet werden kann, und drittens, weil eine explizite Bezeichnung der anderen Seite gar nicht notwendig erscheint, denn ihr Inhalt ergibt sich aus einem Subtraktionsverfahren; die unmarkierte Seite ist dasjenige, was zusammen mit der markierten die Einheit des Unterschiedenen ausmacht. So wird die Außenseite zum Stiefkind der Unterscheidung.

»Eine Form ist die Unterscheidung einer Innenseite (des Unterschiedenen) von einer Außenseite (des Sonstigen).«[7]

Das alles ändert aber nichts daran, dass die Form der Unterscheidung als solche bei Spencer Brown seitenneutral ist.[8] Auf den ersten Blick scheint Luhmann sie anders rezipiert zu haben, wenn er von »der in der Ausgangsoperation bereits angelegten Asymmetrie«[9] spricht. Aber man darf solche aus dem Zusammenhang gerissenen Formulierungen nicht auf die Goldwaage legen. Der Mathematiker Boris Hennig erklärt, der »ganze Artikel [Luhmanns sei] offenbar ein Versehen«.[10] Ein solches Urteil traue ich mir nicht zu. Es ist aber wohl richtig, wenn Wagner (und später auch Wille) Luhmann dahin verstehen, er habe die Asymmetrie erst nachträglich in die Form der Unterscheidung eingeführt, und zwar mit der Zusatzannahme, dass nur die zuerst markierte Seite zum Anknüpfungspunkt für weitere Operationen werden könne und damit ein Gewicht erhalte, dass sie zur präferierten Seite mache mit der Folge, »daß anschlußfähige Unterscheidungen eine (wie immer minimale, wie immer reversible) Asymmetrisierung erfordern.«[11] Diese Annahme ist durchaus plausibel. Sie verweist auf kommunikative Vorzüge der asymmetrischen Unterscheidung, Vorzüge, die Luhmann, wie gleich noch zu zeigen, auch der Zweiseitenform der Unterscheidung zuschreibt. Auf diesem Weg, so Wagner, sei Luhmanns These von der Asymmetrie der Unterscheidung die theoriestrategische Basis für die Unterscheidung von System und Umwelt geworden.

Die Philosophin Katrin Wille hält Luhmann vor, er habe mit seiner Behauptung der Asymmetrie der Unterscheidung Ross und Reiter oder vielmehr Form und Inhalt (»Struktur«) vermengt.[12] Das Ungleichgewicht entstehe erst, wenn die Form durch Inhalt aufgefüllt werde. Das ist einleuchtend, wenn man mit Wille die Möglichkeit einer leeren Form jedenfalls als analytisches Modell akzeptiert. Wille liefert freilich ihrerseits einen Eiertanz, wenn sie auch »Medium« und »Motiv« schon in die leere Entscheidung einbaut. Sie sagt selbst, das sei schwierig und nur begrenzt möglich (2007:29). Als Medium nennt sie »Rahmen, Raum, Ort, Kontext, Horizont, Situation« und später auch »Natur« (2007:22). Das ist wenig erhellend. Das »Motiv« geht auf Spencer Browns »Definition« zurück: »There can be no distinction without motive«[13]. Ein motivloses (leeres) Motiv ist schwierig zu denken. Man kann sich mit der Vorstellung einer formalen Markierung behelfen, die durch das Interesse des Mathematikers an weiteren formalen Operationen motiviert wird, damit die Unterscheidung leer bleibt. Wille (2007:20; 2009:276) spricht von einer »vollständig relationalen Gedankenbewegung …, die durch nichts als sich selbst determiniert ist«.

Wenn die Unterscheidung die reale Welt betrifft, ist sie nicht mehr leer, hat also ein materielles Motiv, das den Unterschied relevant macht. Die Relevanz kann individuell psychisch oder sozialpsychologisch begründet sein. Jedenfalls verleiht sie der Innenseite der Unterscheidung ein anderes Gewicht als der Außenseite. Die bei praktischen Unterscheidungen zu beobachtende Wertasymmetrie ist daher nicht in der Form der Unterscheidung angelegt, sondern sekundär in ihrem Gebrauch.

Verfolgt man die Operation zurück, werden aus Unterscheidungen Vergleiche. Die Vergleichsobjekte müssen etwas gemeinsam haben und etwas, was sie unterscheidet. Was sie gemeinsam haben, macht ihre Identität aus. Im tertium comparatonis liegt der Unterschied. In der an Luhmann und Spencer Brown anknüpfenden Diskussion um die Form der Entscheidung, die Wagner bis auf Hegels Logik zurückführt, geht es um eine erste Unterscheidung aus dem unmarkierten Raum, das heißt aus dem Nichts. Anders herum: Die erste Entscheidung legt als Identität »die Welt« zugrunde. Auf diese Unterscheidung gründet Luhmann die Unterscheidung von System und Umwelt und damit das Gebäude der Systemtheorie. Damit – so die These Wagners – misslingt Luhmann die beabsichtigte Vermeidung einer identitätstheoretischen Fundierung seiner Theorie.

Wie zur Bestätigung dieser These erklärt Luhmann in GdG, dass die Asymmetrie der Unterscheidung eine Konsequenz der primary distinction, der Anfangsunterscheidung zwischen Sein und Nichtsein ist. Das Unterscheiden beginnt mit einer ersten, grundlegenden Unterscheidung, die das Nichtsein auf die unbezeichnete Außenseite schiebt:

»Diese fundierende Asymmetrie bildet den Grund für alle anderen asymmetrischen Oppositionen der Tradition, … . Immer ist die positive Seite der Unterscheidung die, mit der man etwas anfangen kann, weil sie seinsbezogen oder, als Variante des 19. Jahrhunderts, geltungsbezogen gedacht ist.« (GdG 899)

Und noch einmal GdG 904f:

»Das Seinsschema ist jedoch asymmetrisch angelegt und die Logik symmetrisch. Das Seinsschema besitzt nur einen Wert mit Designationsfunktion. Der anderes Wert (die Außenseite der Form) bezeichnet nichts. In der Logik besteht dagegen ein Umtauschverhältnis zwischen den beiden Werten wahr und unwahr. … Diese symmetrische Zweiwertigkeit steht jedoch voll im Dienst der (Erkenntnis der) ontologischen Einwertigkeit. … die Elementarkontextur der Weltbeobachtung ist sowohl einwertig als auch zweiwertig, sowohl symmetrisch als auch asymmetrisch, aber diese Unterscheidung ist im Sinne einer hierarchischen Opposition geregelt. Das heißt, die Asymmetrie hat als Ordnungswert den Vorrang ….«

Mit dieser Erklärung kann sich anfreunden, wer Lösungen für die letzten Welträtsel sucht. Die Dichotomie von Differenz und Substanz führt nicht weiter.[14] Für das operative Unterscheiden ist die Frage nach der ersten Unterscheidung abgehakt, denn in der Praxis sind immer schon Unterscheidungen vorhanden. »Die unmarkierte Seite, von der Spencer Brown, Luhmann und Wagner reden, gibt es nicht.[15] Praktisch beginnen Unterscheidungen mit der Identifizierung von individuellen Objekten. Der zweite Schritt ist deren (begriffliche) Kategorisierung. Dahinter steht immer ein Motiv. Nicht die Form, sondern das Motiv macht Unterscheidungen prinzipiell asymmetrisch.

Damit ist noch nicht geklärt, ob Unterscheidungen grundsätzlich nur binär ausfallen können. Dafür benötige ich eine weitere Fortsetzung.


[1] Fortsetzung des Eintrags über Die normative Kraft von Dichotomien vom 19. Januar 2021.

[2] George Spencer Bown, Laws of Form, 1969, hier zitiert nach einer im Internet verfügbaren Ausgabe im Verlag The Julian Press, New York, 1972.

[3] S. 3.

[4] Niklas Luhmann, Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen, ARSP 72, 1986, 176-194, S. 181.

[5] Gerhard Wagner, Am Ende der systemtheoretischen Soziologie. Niklas Luhmann und die Dialektik, Zeitschrift für Soziologie 23, 1994, 275-291, S. 278f.

[6] Die Markierung ist kein separater Vorgang. Das Unterscheiden selbst ist die Bezeichnung. (Boris Hennig, Luhmann und die Formale Mathematik, in: Peter-Ulrich Merz-Benz, Hg., Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns, 2000, 157-198, S. 159).

[7] Frauen, Männer und George Spencer Brown, Zeitschrift für Soziologie 17, 1988, 47-71, S. 48 r. SP.

[8] Boris Hennig S. 167.

[9] S. 49 r. Sp.

[10] S. 180 Fn. 55.

[11] Z. B. Frauen, Männer und George Spencer Brown, Zeitschrift für Soziologie 17, 1988, 47-71, S. 49 r. Sp.

[12] Katrin Wille, Gendering George Spencer Brown? Die Form der Unterscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Genderforschung, in: Christine Weinbach (Hg.), Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, 2007, 15-50, S. 17, 33ff, dies., Form und Geschlechterunterscheidung, in: Tatjana Schönwälder-Kuntze u. a. (Hg.), George Spencer Brown. Eine Einführung in die »Laws of Form«, 2. Aufl., 2009, 273-285.

[13] Boris Hennig (wie Fn. 6 S. 160) hält den »Motivsatz« für einen Fremdkörper im Kalkül Spencer Browns, der ohne Konsequenzen bleibt.

[14] Wil Martens, Der verhängnisvolle Unterschied, Bemerkungen zu den Beiträgen von Gerhard Wagner und Niklas Luhmann in der ZfS 4 und 6, 1994, Zeitschrift für Soziologie 24, 1995, 229-234.

[15] Martens S. 231.

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